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Zur Geschichte der Juden in Hessen-Darmstadt
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Exzerpt „Zur Geschichte der Juden in Hessen-Darmstadt“(Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (1988): Jüdisches Leben inDarmstadt. Dokumente 1629-1940)
1. Vom kaiserlichen Kammerknecht zum SchutzjudenBereits in den ersten Jahrhunderten nach Christus hatten sich Juden im Rheinland angesiedelt. Im
Mittelalter lebten viele Menschen jüdischen Glaubens innerhalb der Grenzen des heiligen
Römischen Reichs. Sie wurden vor allem nach drei Aspekten beurteilt. Zunächst nach der
Konkurrenz, die besonders die Handwerker und Zünfte durch jüdische Trödler und Händler
verspürten. Dann nach der Möglichkeit des Adels sie mithilfe von Sondersteuern besonders
effektiv als Geldquelle benutzen zu können, ohne dass sie über starke Abwehrmechanismen
verfügt hätten. Schließlich in theologischer Hinsicht als die Schuldigen am Tode Jesu Christi, die
zwar für die Erlösung notwendig waren, durch ihren Makel jedoch ungeeignet erschienen, um
gleiche Rechte zu erhalten. Dementsprechend wurde ihnen sowohl in kirchlicher, als auch in
kaiserlicher Gesetzgebung die Knechtschaft gegenüber der christlichen Gemeinschaft
zugewiesen. Mit der so genannten kaiserlichen Kammerknechtschaft erhielten die Juden
besondere Schutzrechte und mussten dafür zusätzliche Abgaben leisten. Einen Schutz vor
Übergriffen mussten sich die Juden also erkaufen.
Tatsächlich blieb diese Konstellation über das Mittelalter hinweg weitgehend stabil. Auch wenn sich
Legenden um die fremden jüdischen Rituale rankten und es immer wieder zu Vorwürfen kam, war
das Zusammenleben von Juden und Christen vergleichsweise friedlich. Es gab aber Ausnahmen.
Im Zuge des Ersten Kreuzzugs kam es am Mittelrhein, vor allem in Speyer, Worms und Mainz im
Jahr 1096 erstmals zu Judenpogromen. Viele Juden wurden umgebracht, die jüdischen
Gemeinden vertrieben. Ab dem 14. Jahrhundert wurde das Recht auf die Besteuerung der Juden
dann immer häufiger einzelnen Territorialfürsten oder Stadtherren übergeben.
Beispielsweise mussten die jüdischen Familien im Herrschaftsgebiet des Grafen von
Katzenelnbogen eine zusätzliche „Judensteuer“ entrichten. Im Gegenzug wurden ihnen
Aufenthalts- und Schutzrechte ganz individuell zugewiesen und in einem Schutzbrief festgelegt.
Diese Absicherung als Schutzjude wurde umso notwendiger, als mit der großen Pestepidemie ab
1349 die Bevölkerungsgruppe der Juden immer stärker angefeindet, schwerer Verbrechen
bezichtigt, angegriffen oder vertrieben wurde. Dabei vermischten sich abergläubische, religiöse
und ökonomische Motive. Häufig bedeutete die Vertreibung eines geldverleihenden Juden auch
die Befreiung von einem lästigen Gläubiger.
Mit der zunehmenden Emanzipation der einzelnen Territorien vom Reich und dem gleichzeitigen
Ausbau der Verwaltung und Rechtsordnung wurden die individuellen Schutzbriefe für Juden von
allgemeinen Judenordnungen abgelöst. Die Bevölkerung jüdischen Glaubens stand damit häufig
im Spannungsfeld zwischen Vertreibungen und Verfolgungen in einzelnen Regionen und relativer
rechtlicher Sicherheit in anderen. Dies verlangte von den jüdischen Familien zwar eine hohe
Leidensbereitschaft und Mobilität, gleichzeitig ermöglichte es jedoch auch den Verbleib großer
jüdischer Bevölkerungsteile auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reichs. Ganz anders war
diese Situation in stärker zentralistisch geführten Territorien Europas. So verwiesen in Spanien die
Katholischen Könige Isabella I. und Ferdinand II. alle Juden des Landes.
2. Die Schutzjuden in Hessen nach der ReformationDieser stetige Wechsel zwischen Vertreibung und Duldung kennzeichnete auch die Situation in
den Gebieten der Landgrafschaft Hessen, an die die Grafschaft Katzenelnbogen 1479 gefallen
war. Als sich Landgraf Philipp der Großmütige 1524 der Reformation anschloss, kündigte er
gleichzeitig allen Juden die Duldungsrechte auf. Zu einer vollständigen Vertreibung aus Hessen
kam es jedoch nicht, da die ökonomischen Zwänge dagegen standen. Zu wichtig waren die
zusätzlichen Abgaben der Juden und ihre Finanzdienstleistungen. So erließ Philipp 1539 die
hessische Judenordnung, die den Handlungsraum der Juden stark einschränkte. So durften sie
sich nicht mehr überall ansiedeln, Handwerk und Gewerbe nur an zunftfreien Orten ausüben, keine
Synagogen errichten und höchstens 5% Zinsen verlangen. Sie wurden außerdem gezwungen an
christlichen Missionspredigten teilzunehmen und ihre eigene Religion nicht weiter zu verbreiten.
In der Folge dieser restriktiven Ordnung ging die Zahl der Juden in Hessen stetig zurück. Erst nach
der Teilung der Landgrafschaft in Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel und dem Erlass
liberalerer Gesetze unter Georg I. (1567-1596) und seinem Sohn Ludwig V. (1596-1626) kehrte
sich dieser Trend um. Die Juden durften wieder höhere Zinsen verlangen und sie profitierten vom
wirtschaftlichen Aufschwung zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Erst Georg II. (1626-1661) griff
wieder auf die alten Gesetze zurück und verschärfte sie zusätzlich. Mit dem Ziel die Juden aus
Hessen zu vertreiben bediente er die starken antijüdischen Ressentiments, die es nicht nur in der
protestantischen Kirche gab. So baten beim Regierungsantritt Georgs II. Bürgermeister und Rat
der Stadt Darmstadt „um Abschaffung der Juden“, um sich lästiger wirtschaftlicher Konkurrenz zu
entledigen.
Gegen die neuerlichen Vertreibungen riefen die Juden das Reichskammergericht an. Auch wenn
sie damit keinen Erfolg hatten, wurden sie in der Folge nicht gänzlich vertrieben, sondern aufs
platte Land verdrängt. So kam es zu der Hessen-Darmstädter Besonderheit, dass die Juden nicht
in den Städten konzentriert, sondern über das flache Land verstreut waren. Das Ausbleiben einer
vollständigen Vertreibung war jedoch weniger dem Reichskammergericht geschuldet, als der
schieren Notwendigkeit die Juden im Lande zu halten, um den Wiederaufschwung nach dem Ende
des 30jährigen Krieges nicht zu gefährden. Die Juden waren für diese wirtschaftliche Erholung
dringend notwendig, hatten sie sich doch inzwischen als Geldverleiher und Händler in zentralen
Bereichen etabliert.
3. Hoffaktoren und Betteljuden im absolutistischen Hessen-DarmstadtSo bildete die Judenordnung von 1629 einen äußerst engen Rahmen, innerhalb dem die Juden
leben und handeln konnten. Sie wurde bis Ende des 18. Jahrhunderts immer wieder neu
verkündet.
Damit blieb die Duldung der Juden zeitlich befristet. Rein rechtlich drohte damit jederzeit die
Vertreibung. In der Realität setze sich jedoch bald eine Koexistenz durch. Die meisten Juden
lebten auf den Dörfern und waren kleine Händler oder auch Handwerker, so es keine eigene
zünftige Organisation in ihren Dörfern gab. Wenige Juden konnten dagegen mit
Sondergenehmigungen in der Stadt bleiben und waren als Kreditbeschaffer im großen Rahmen für
die absolutistisch regierenden Fürsten unerlässlich. Auch wenn die christlichen Konkurrenten
immer wieder aufbegehrten und teilweise auch scharfe Verordnungen gegen die Juden erstellt
wurden, hatte sich das jüdische Leben in der Landgrafschaft zum 18. Jahrhundert hin deutlich
konsolidiert.
So kamen gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Oberhäupter der jüdischen Familien zu so
genannten Landtagen zusammen, um Rechtsfälle zu lösen und die Verteilung der Abgabenlasten,
Steuern und Schutzgeldern zu beraten. Unter Landgraf Ernst Ludwig (1688-1739) wurden
schließlich jüdische Gottesdienste in Hinterzimmern erlaubt, jedoch „in der Stille ohne lautes
Geschrey“. 1737 konnte die jüdische Gemeinde Darmstadt in der Großen Ochsengasse ihre erste
Synagoge einrichten. Bereits seit etwa 1680 besaß die Gemeinde in Bessungen einen eigenen
Friedhof.
Die Schere zwischen den armen Juden auf dem Lande, von denen viele bald als Betteljuden
umherzogen und den wohlhabenden in der Stadt öffnete sich dabei immer weiter. Viele Hofjuden
wurden mit Geldgeschäften reich, weil sie die Herrschaftstechnik des Absolutismus, die besonders
auf Repräsentation ausgerichtet war durch die Kreditvergabe ermöglichten. Sie wurden in diesen
entscheidenden Positionen auch deswegen geduldet, weil man sie beinahe beliebig besteuern
konnte, wie eine „Federlappengeld“ oder das „Kainbrot“ beweisen, die beide zur Finanzierung der
landgräflichen Jagd von den Juden eingezogen wurden.
4. Kontrolle und Erziehung: Beginn der Emanzipation im aufgeklärtenAbsolutismusDie Aufklärung hatte sich unter anderem die Emanzipation der bisher unterdrückten
Bevölkerungsgruppen zum Ziele gesetzt. Mit der Modernisierung der alten ständischen Ordnung
sollte auch die Stellung der Juden verbessert werden. Christian Wilhelm von Dohms Lehrschrift in
Preußen „Über die bürgerliche Verbesserung des Juden“ (1781) wollte durch staatliches Eingreifen
die Bedingungen verändern, unter denen die Juden nicht nur selbst zu leiden hätten, sondern die
sie auch zu einer Lebensweise zwangen, die ihnen Feindschaft und Verachtung anderer
Bevölkerungsteile eintrug.
In demselben Geist ist auch die Schrift des Regierungsrates Georg Konrad Stockhausen 1784
gehalten, der zum „Commissär“ für die Darmstädter Stadt- und Landjuden bestellt worden war.
Diese Verbesserung der Lebensverhältnisse der Juden sollte dabei, ganz im Geist der Aufklärung,
durch Erziehung und Bildung geleistet werden. Gleichzeitig wurde das Ziel verfolgt die Juden für
den Staat „nützlich zu machen“. Die Hebräische Sprache sollte nur noch im Gottesdienst
verwendet werden, damit die Unterlagen und Gespräche von staatlichen Stellen kontrolliert werden
könnten. Außerdem sollte ihnen durch Umschulungen in Handwerksberufe die Möglichkeit eröffnet
werden aus der Sackgasse des „wucherischen“ Handels herauszukommen.
Tatsächlich gingen die Versuche einer Emanzipation in Darmstadt jedoch nicht so weit wie in vielen
anderen Gebieten. So ließ eine allgemeine rechtliche Gleichstellung in Darmstadt auf sich warten.
Sie wurde nur allmählich durch den Erwerb des Bürgerrechts durch einzelne Juden erreicht. Als
erster wurde am 3. Februar 1796 der Uhrmacher Abraham Jakob Linz in die Darmstädter
Bürgerschaft aufgenommen. Auch die unter napoleonischem Einfluss stehende Gesetzgebung der
Rheinbundstaaten und ihre Versuche einer Vereinheitlichung wirkten sich auf das Verhältnis von
Christen und Juden aus. Die Vorschrift, dass Juden von nun an deutsche Namen zu tragen hätten,
entfernte sich dabei bereits vom Gedanken der Emanzipation und näherte sich demjenigen der
Integration an.
5. Von der Emanzipation zur Integration im 19. JahrhundertDie voranschreitende Emanzipation der Juden, beispielsweise durch den Wegfall aller
Sonderabgaben 1824, stand ein Aufleben antijüdischer Ressentiments in nationalistischen Kreisen
gegenüber. Zeugnis legt davon das Verbot von Juden in den Burschenschaften ab. Auch in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu Ausschreitungen gegen Juden. Die Integration in
den Staatsdienst und in zünftige Berufe gelang ebenfalls nur teilweise. Die meisten Juden blieben
Händler oder verfolgten akademische Professionen außerhalb des Staatsdiensts, etwa Arzt oder
Rechtsanwalt. Ein großer Teil wurde auch Handwerker, beispielsweise Optiker oder Juwelier, da
diese keine Zunftordnungen kannten. Im Jahre 1848 bekamen schließlich alle Männern, egal
welchem Glauben sie anhingen, die gleichen politischen und bürgerlichen Rechte.
Mit der Industrialisierung erlebte auch Handel und Gewerbe einen Aufschwung und einigen Juden
gelang es bis in die Riege der wohlhabendsten Familien der Stadt aufzusteigen. Die Regel war das
allerdings nicht und viele jüdische Familien blieben arm. Die jüdische Bevölkerung stieg in dieser
Zeit von einigen hundert auf etwa 1.000 im Jahre 1861 und bereits 1.689 im Jahr 1900.
Diese Entwicklung blieb nicht ohne Konflikte. So beklagten viele der Juden aus Dörfern, die in
dieser Zeit in die Stadt kamen, jedoch den langen Anpassungsprozess derjenigen, die schon
länger Stadtjuden waren, nicht mitgemacht hatten, die liberalen Auslegungen des Talmuds und der
Religionsausübung allgemein. So trennten sich schließlich die traditionell eingestellten
Gemeindemitglieder von den progressiveren und errichteten eine orthodoxe Synagoge für ihre
neue Gemeinde. In den Folgejahren bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs wurden die
Synagogen beider Gemeinden größer und eindrucksvoller neu errichtet. Die Einweihungen mit der
Teilnahme hoher Beamter und Mitgliedern der großherzoglichen Familie machten die große
Wertschätzung für das jüdische Leben deutlich.
6. Integration und AntisemitismusIn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Menschen jüdischen Glaubens im deutschen
Reich aber auch in Darmstadt immer einflussreicher. Sie profitierten von den gewaltigen
wirtschaftlichen Umbrüchen, die das klassisch-zünftig geprägte Handwerk ins Abseits drängte,
dafür den Handel immer mehr in den Vordergrund stellte.
Dieser Erfolg der jüdischen Emanzipation im 19. Jahrhundert und ihrer weitergehenden Integration
trug jedoch bereits den Keim für den Antisemitismus in sich. Besonders die wirtschaftlich
benachteiligten Klassen, die mit den wirtschaftlichen Turbulenzen im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts zu kämpfen hatten, waren empfänglich für antisemitische Hetze. Dabei verbanden
sich die klassischen Muster antijüdischer Ressentiments – besonders wegen ihrer unbekannten
Riten und ihrem geschäftlichen Erfolg – mit kruden pseudowissenschaftlichen Thesen und der
Konstruktion einer aggressiven „jüdischen Rasse“. Eines der Sprachrohre für antijüdische
Propaganda in Südhessen war der „Landwirth und Bienenzüchter“ ebenso die „Neue Hessische
Volkszeitung“ oder „Hessische Reform“. Teilweise konnten antisemitische Bündnisse bei Wahlen
Erfolge erringen und Vertreter in die Parlamente entsenden. Zu jener Zeit stand jedoch die
Obrigkeit noch deutlich auf der Seite des Rechts und den freiheitlichen Werten. So wurden
Diffamierungen untersagt und großherzoglichen Beamten die Betätigung in solchen antijüdischen
Zirkeln untersagt.
7. Vom „wilden“ zum staatlich organisierten AntisemitismusAuch nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs 1918 waren viele bereit die Schuld an der
Niederlage und besonders den wirtschaftlichen Problemen nach dem Weltkrieg im vermeintlich
zentral gesteuerten Handeln des „Weltjudentums“ zu suchen. In den Zeiten der wirtschaftlichen
Erholung der zwanziger Jahre konnte diese Sichtweise nicht recht Raum greifen. Im Volksstaat
Hessen ging die sozialdemokratische Regierung unter Bernhard Adelung noch zielstrebiger gegen
solche Verleumdungen vor, als es der Großherzog getan hatte. Innenminister Wilhelm Leuschner
und sein Pressesprecher Carlo Mierendorff versuchten gegen den immer stärker werdenden
Nationalsozialismus zu agieren, konnten die Entwicklung jedoch nicht aufhalten. Inzwischen hatte
sich die wirtschaftliche Lage wieder verschlechtert und die Weltwirtschaftskrise trieb den radikalen
Parteien die Wählerstimmen zu. Auch in Darmstadt erreichte die NSDAP, die bereits seit 1929 in
der Stadtverordnetenversammlung saß, bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 ein Ergebnis von
genau 50%. Kurz nach der Machtergreifung erfolgte dann die Gleichschaltung des Volksstaates
Hessen, die sozialdemokratische Regierung Hessens wurde abgesetzt und der bisher weitgehend
unorganisierte Hass auf die „jüdische Rasse“ konnte sich mit staatlicher Billigung und
Unterstützung in organisierter Weise Bahn brechen. Zunächst hauptsächlich durch Boykotte,
Enteignungen und Einschüchterungen.
8. Versuch der Reorganisation eines autonomen jüdischen LebensDie „Reichsvertretung der deutschen Juden“ wurde als zentrales Organ und Vertretung der
deutschen Juden installiert. Während zu Beginn der Naziherrschaft noch Zuversicht vorherrschte,
wurde durch die Entfernung der Juden aus dem Beamtenwesen und später auch vieler anderer
akademischer Berufszweige klar, dass die Emanzipation wieder einer rechtlichen und sozialen
Sonderstellung weichen sollte.
Eine eigene „Judenwirtschaft“ sollte errichtet werden. Dazu waren auch Umschulungen von
akademischen und Händlerberufen zu handwerklich und landwirtschaftlichen nötig. Ziel sollte die
Auswanderung nach Palästina sein. Tatsächlich kam es zu einer großen Auswanderungswelle, an
welcher der Nazistaat kräftig mitverdiente, weil Werte und Immobilien häufig gezwungenermaßen
weit unter Wert abgegeben werden mussten. Zusätzlich wurde die so genannte
„Reichsfluchtsteuer“ erhoben.
Diese Notlage und die zunehmende Ausgrenzung führte zu einer raschen Wiederbelebung der
innerjüdischen Solidarität, wie sie vor der Emanzipation zu erkennen gewesen war. Auch
besannen sich die in Deutschland verbliebenen Juden wieder stärker ihrer Identität. So wurde das
Hebräische vermehrt gesprochen und die Mitgliederzahlen in jüdischen Organisationen nahm
erheblich zu.
Diesem letzten Aufflackern jüdischen Lebens im Inneren stand eine immer stärkere Isolierung und
Diskriminierung nach außen gegenüber. Schließlich wurden sämtliche jüdischen Versammlungen
die nicht rein der religiösen Andacht dienten verboten.
9. Vom Pogrom zum Holocaust: das Ende jüdischen Lebens in DarmstadtNach den Olympischen Spielen 1936 wurde mit schnellen Schritten die vollständige Ausschaltung
der Juden aus dem öffentlichen Leben vorangetrieben. Der Rasse-Antisemitismus wurde zur
Grundlage der Gesetzgebung. Juden durften keine Deutschen mehr heiraten oder mit ihnen
sexuellen Kontakt haben. Bald wurde auch der Besuch von Kinos, Schwimmbädern, Ausstellungen
und Bibliotheken verboten. Außerdem mussten alle Juden ihrem Namen ein „Sara“ für Frauen und
ein „Israel“ für Männer beifügen.
Kurz darauf wurde klar, dass es nicht nur bei rechtlichen Restriktionen bleiben würde. In der so
genannten „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 brannten auch in Darmstadt
die Synagogen, jüdische Geschäfte wurden demoliert und reichsweit Tausende Juden in
Konzentrationslager eingeliefert.
In den Jahren bis 1940 konnten noch einmal viele auswandern, so dass 364 als Juden
klassifizierte Menschen in Darmstadt übrig blieben. Zwangsarbeit, der Judenstern und Internierung
in Ghettos und Judenhäusern waren jetzt an der Tagesordnung. Noch immer wurde von Seite der
Nazis angeblich das Ziel einer Übersiedlung nach Palästina oder nach Russland verfolgt und die
Juden auf die erhoffte Auswanderung vorbereitet. Tatsächlich begann jedoch im Jahre 1942 der
Transport in die Vernichtungslager des Ostens. Der Judenreferent der Darmstädter Gestapo,
Georg Dengler, vermeldete im Juni 1943 Darmstadt sei „judenrein“.
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