7
Exzerpt „Zur Geschichte der Juden in Hessen-Darmstadt“ (Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (1988): Jüdisches Leben in Darmstadt. Dokumente 1629-1940) 1. Vom kaiserlichen Kammerknecht zum Schutzjuden Bereits in den ersten Jahrhunderten nach Christus hatten sich Juden im Rheinland angesiedelt. Im Mittelalter lebten viele Menschen jüdischen Glaubens innerhalb der Grenzen des heiligen Römischen Reichs. Sie wurden vor allem nach drei Aspekten beurteilt. Zunächst nach der Konkurrenz, die besonders die Handwerker und Zünfte durch jüdische Trödler und Händler verspürten. Dann nach der Möglichkeit des Adels sie mithilfe von Sondersteuern besonders effektiv als Geldquelle benutzen zu können, ohne dass sie über starke Abwehrmechanismen verfügt hätten. Schließlich in theologischer Hinsicht als die Schuldigen am Tode Jesu Christi, die zwar für die Erlösung notwendig waren, durch ihren Makel jedoch ungeeignet erschienen, um gleiche Rechte zu erhalten. Dementsprechend wurde ihnen sowohl in kirchlicher, als auch in kaiserlicher Gesetzgebung die Knechtschaft gegenüber der christlichen Gemeinschaft zugewiesen. Mit der so genannten kaiserlichen Kammerknechtschaft erhielten die Juden besondere Schutzrechte und mussten dafür zusätzliche Abgaben leisten. Einen Schutz vor Übergriffen mussten sich die Juden also erkaufen. Tatsächlich blieb diese Konstellation über das Mittelalter hinweg weitgehend stabil. Auch wenn sich Legenden um die fremden jüdischen Rituale rankten und es immer wieder zu Vorwürfen kam, war das Zusammenleben von Juden und Christen vergleichsweise friedlich. Es gab aber Ausnahmen. Im Zuge des Ersten Kreuzzugs kam es am Mittelrhein, vor allem in Speyer, Worms und Mainz im Jahr 1096 erstmals zu Judenpogromen. Viele Juden wurden umgebracht, die jüdischen Gemeinden vertrieben. Ab dem 14. Jahrhundert wurde das Recht auf die Besteuerung der Juden dann immer häufiger einzelnen Territorialfürsten oder Stadtherren übergeben. Beispielsweise mussten die jüdischen Familien im Herrschaftsgebiet des Grafen von Katzenelnbogen eine zusätzliche „Judensteuer“ entrichten. Im Gegenzug wurden ihnen Aufenthalts- und Schutzrechte ganz individuell zugewiesen und in einem Schutzbrief festgelegt. Diese Absicherung als Schutzjude wurde umso notwendiger, als mit der großen Pestepidemie ab 1349 die Bevölkerungsgruppe der Juden immer stärker angefeindet, schwerer Verbrechen bezichtigt, angegriffen oder vertrieben wurde. Dabei vermischten sich abergläubische, religiöse und ökonomische Motive. Häufig bedeutete die Vertreibung eines geldverleihenden Juden auch die Befreiung von einem lästigen Gläubiger. Mit der zunehmenden Emanzipation der einzelnen Territorien vom Reich und dem gleichzeitigen Ausbau der Verwaltung und Rechtsordnung wurden die individuellen Schutzbriefe für Juden von allgemeinen Judenordnungen abgelöst. Die Bevölkerung jüdischen Glaubens stand damit häufig im Spannungsfeld zwischen Vertreibungen und Verfolgungen in einzelnen Regionen und relativer

Zur geschichte der juden in hessen darmstadt

  • Upload
    da-plus

  • View
    217

  • Download
    3

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Zur Geschichte der Juden in Hessen-Darmstadt

Citation preview

Page 1: Zur geschichte der juden in hessen darmstadt

Exzerpt „Zur Geschichte der Juden in Hessen-Darmstadt“(Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (1988): Jüdisches Leben inDarmstadt. Dokumente 1629-1940)

1. Vom kaiserlichen Kammerknecht zum SchutzjudenBereits in den ersten Jahrhunderten nach Christus hatten sich Juden im Rheinland angesiedelt. Im

Mittelalter lebten viele Menschen jüdischen Glaubens innerhalb der Grenzen des heiligen

Römischen Reichs. Sie wurden vor allem nach drei Aspekten beurteilt. Zunächst nach der

Konkurrenz, die besonders die Handwerker und Zünfte durch jüdische Trödler und Händler

verspürten. Dann nach der Möglichkeit des Adels sie mithilfe von Sondersteuern besonders

effektiv als Geldquelle benutzen zu können, ohne dass sie über starke Abwehrmechanismen

verfügt hätten. Schließlich in theologischer Hinsicht als die Schuldigen am Tode Jesu Christi, die

zwar für die Erlösung notwendig waren, durch ihren Makel jedoch ungeeignet erschienen, um

gleiche Rechte zu erhalten. Dementsprechend wurde ihnen sowohl in kirchlicher, als auch in

kaiserlicher Gesetzgebung die Knechtschaft gegenüber der christlichen Gemeinschaft

zugewiesen. Mit der so genannten kaiserlichen Kammerknechtschaft erhielten die Juden

besondere Schutzrechte und mussten dafür zusätzliche Abgaben leisten. Einen Schutz vor

Übergriffen mussten sich die Juden also erkaufen.

Tatsächlich blieb diese Konstellation über das Mittelalter hinweg weitgehend stabil. Auch wenn sich

Legenden um die fremden jüdischen Rituale rankten und es immer wieder zu Vorwürfen kam, war

das Zusammenleben von Juden und Christen vergleichsweise friedlich. Es gab aber Ausnahmen.

Im Zuge des Ersten Kreuzzugs kam es am Mittelrhein, vor allem in Speyer, Worms und Mainz im

Jahr 1096 erstmals zu Judenpogromen. Viele Juden wurden umgebracht, die jüdischen

Gemeinden vertrieben. Ab dem 14. Jahrhundert wurde das Recht auf die Besteuerung der Juden

dann immer häufiger einzelnen Territorialfürsten oder Stadtherren übergeben.

Beispielsweise mussten die jüdischen Familien im Herrschaftsgebiet des Grafen von

Katzenelnbogen eine zusätzliche „Judensteuer“ entrichten. Im Gegenzug wurden ihnen

Aufenthalts- und Schutzrechte ganz individuell zugewiesen und in einem Schutzbrief festgelegt.

Diese Absicherung als Schutzjude wurde umso notwendiger, als mit der großen Pestepidemie ab

1349 die Bevölkerungsgruppe der Juden immer stärker angefeindet, schwerer Verbrechen

bezichtigt, angegriffen oder vertrieben wurde. Dabei vermischten sich abergläubische, religiöse

und ökonomische Motive. Häufig bedeutete die Vertreibung eines geldverleihenden Juden auch

die Befreiung von einem lästigen Gläubiger.

Mit der zunehmenden Emanzipation der einzelnen Territorien vom Reich und dem gleichzeitigen

Ausbau der Verwaltung und Rechtsordnung wurden die individuellen Schutzbriefe für Juden von

allgemeinen Judenordnungen abgelöst. Die Bevölkerung jüdischen Glaubens stand damit häufig

im Spannungsfeld zwischen Vertreibungen und Verfolgungen in einzelnen Regionen und relativer

Page 2: Zur geschichte der juden in hessen darmstadt

rechtlicher Sicherheit in anderen. Dies verlangte von den jüdischen Familien zwar eine hohe

Leidensbereitschaft und Mobilität, gleichzeitig ermöglichte es jedoch auch den Verbleib großer

jüdischer Bevölkerungsteile auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reichs. Ganz anders war

diese Situation in stärker zentralistisch geführten Territorien Europas. So verwiesen in Spanien die

Katholischen Könige Isabella I. und Ferdinand II. alle Juden des Landes.

2. Die Schutzjuden in Hessen nach der ReformationDieser stetige Wechsel zwischen Vertreibung und Duldung kennzeichnete auch die Situation in

den Gebieten der Landgrafschaft Hessen, an die die Grafschaft Katzenelnbogen 1479 gefallen

war. Als sich Landgraf Philipp der Großmütige 1524 der Reformation anschloss, kündigte er

gleichzeitig allen Juden die Duldungsrechte auf. Zu einer vollständigen Vertreibung aus Hessen

kam es jedoch nicht, da die ökonomischen Zwänge dagegen standen. Zu wichtig waren die

zusätzlichen Abgaben der Juden und ihre Finanzdienstleistungen. So erließ Philipp 1539 die

hessische Judenordnung, die den Handlungsraum der Juden stark einschränkte. So durften sie

sich nicht mehr überall ansiedeln, Handwerk und Gewerbe nur an zunftfreien Orten ausüben, keine

Synagogen errichten und höchstens 5% Zinsen verlangen. Sie wurden außerdem gezwungen an

christlichen Missionspredigten teilzunehmen und ihre eigene Religion nicht weiter zu verbreiten.

In der Folge dieser restriktiven Ordnung ging die Zahl der Juden in Hessen stetig zurück. Erst nach

der Teilung der Landgrafschaft in Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel und dem Erlass

liberalerer Gesetze unter Georg I. (1567-1596) und seinem Sohn Ludwig V. (1596-1626) kehrte

sich dieser Trend um. Die Juden durften wieder höhere Zinsen verlangen und sie profitierten vom

wirtschaftlichen Aufschwung zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Erst Georg II. (1626-1661) griff

wieder auf die alten Gesetze zurück und verschärfte sie zusätzlich. Mit dem Ziel die Juden aus

Hessen zu vertreiben bediente er die starken antijüdischen Ressentiments, die es nicht nur in der

protestantischen Kirche gab. So baten beim Regierungsantritt Georgs II. Bürgermeister und Rat

der Stadt Darmstadt „um Abschaffung der Juden“, um sich lästiger wirtschaftlicher Konkurrenz zu

entledigen.

Gegen die neuerlichen Vertreibungen riefen die Juden das Reichskammergericht an. Auch wenn

sie damit keinen Erfolg hatten, wurden sie in der Folge nicht gänzlich vertrieben, sondern aufs

platte Land verdrängt. So kam es zu der Hessen-Darmstädter Besonderheit, dass die Juden nicht

in den Städten konzentriert, sondern über das flache Land verstreut waren. Das Ausbleiben einer

vollständigen Vertreibung war jedoch weniger dem Reichskammergericht geschuldet, als der

schieren Notwendigkeit die Juden im Lande zu halten, um den Wiederaufschwung nach dem Ende

des 30jährigen Krieges nicht zu gefährden. Die Juden waren für diese wirtschaftliche Erholung

dringend notwendig, hatten sie sich doch inzwischen als Geldverleiher und Händler in zentralen

Bereichen etabliert.

Page 3: Zur geschichte der juden in hessen darmstadt

3. Hoffaktoren und Betteljuden im absolutistischen Hessen-DarmstadtSo bildete die Judenordnung von 1629 einen äußerst engen Rahmen, innerhalb dem die Juden

leben und handeln konnten. Sie wurde bis Ende des 18. Jahrhunderts immer wieder neu

verkündet.

Damit blieb die Duldung der Juden zeitlich befristet. Rein rechtlich drohte damit jederzeit die

Vertreibung. In der Realität setze sich jedoch bald eine Koexistenz durch. Die meisten Juden

lebten auf den Dörfern und waren kleine Händler oder auch Handwerker, so es keine eigene

zünftige Organisation in ihren Dörfern gab. Wenige Juden konnten dagegen mit

Sondergenehmigungen in der Stadt bleiben und waren als Kreditbeschaffer im großen Rahmen für

die absolutistisch regierenden Fürsten unerlässlich. Auch wenn die christlichen Konkurrenten

immer wieder aufbegehrten und teilweise auch scharfe Verordnungen gegen die Juden erstellt

wurden, hatte sich das jüdische Leben in der Landgrafschaft zum 18. Jahrhundert hin deutlich

konsolidiert.

So kamen gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Oberhäupter der jüdischen Familien zu so

genannten Landtagen zusammen, um Rechtsfälle zu lösen und die Verteilung der Abgabenlasten,

Steuern und Schutzgeldern zu beraten. Unter Landgraf Ernst Ludwig (1688-1739) wurden

schließlich jüdische Gottesdienste in Hinterzimmern erlaubt, jedoch „in der Stille ohne lautes

Geschrey“. 1737 konnte die jüdische Gemeinde Darmstadt in der Großen Ochsengasse ihre erste

Synagoge einrichten. Bereits seit etwa 1680 besaß die Gemeinde in Bessungen einen eigenen

Friedhof.

Die Schere zwischen den armen Juden auf dem Lande, von denen viele bald als Betteljuden

umherzogen und den wohlhabenden in der Stadt öffnete sich dabei immer weiter. Viele Hofjuden

wurden mit Geldgeschäften reich, weil sie die Herrschaftstechnik des Absolutismus, die besonders

auf Repräsentation ausgerichtet war durch die Kreditvergabe ermöglichten. Sie wurden in diesen

entscheidenden Positionen auch deswegen geduldet, weil man sie beinahe beliebig besteuern

konnte, wie eine „Federlappengeld“ oder das „Kainbrot“ beweisen, die beide zur Finanzierung der

landgräflichen Jagd von den Juden eingezogen wurden.

4. Kontrolle und Erziehung: Beginn der Emanzipation im aufgeklärtenAbsolutismusDie Aufklärung hatte sich unter anderem die Emanzipation der bisher unterdrückten

Bevölkerungsgruppen zum Ziele gesetzt. Mit der Modernisierung der alten ständischen Ordnung

sollte auch die Stellung der Juden verbessert werden. Christian Wilhelm von Dohms Lehrschrift in

Preußen „Über die bürgerliche Verbesserung des Juden“ (1781) wollte durch staatliches Eingreifen

die Bedingungen verändern, unter denen die Juden nicht nur selbst zu leiden hätten, sondern die

sie auch zu einer Lebensweise zwangen, die ihnen Feindschaft und Verachtung anderer

Page 4: Zur geschichte der juden in hessen darmstadt

Bevölkerungsteile eintrug.

In demselben Geist ist auch die Schrift des Regierungsrates Georg Konrad Stockhausen 1784

gehalten, der zum „Commissär“ für die Darmstädter Stadt- und Landjuden bestellt worden war.

Diese Verbesserung der Lebensverhältnisse der Juden sollte dabei, ganz im Geist der Aufklärung,

durch Erziehung und Bildung geleistet werden. Gleichzeitig wurde das Ziel verfolgt die Juden für

den Staat „nützlich zu machen“. Die Hebräische Sprache sollte nur noch im Gottesdienst

verwendet werden, damit die Unterlagen und Gespräche von staatlichen Stellen kontrolliert werden

könnten. Außerdem sollte ihnen durch Umschulungen in Handwerksberufe die Möglichkeit eröffnet

werden aus der Sackgasse des „wucherischen“ Handels herauszukommen.

Tatsächlich gingen die Versuche einer Emanzipation in Darmstadt jedoch nicht so weit wie in vielen

anderen Gebieten. So ließ eine allgemeine rechtliche Gleichstellung in Darmstadt auf sich warten.

Sie wurde nur allmählich durch den Erwerb des Bürgerrechts durch einzelne Juden erreicht. Als

erster wurde am 3. Februar 1796 der Uhrmacher Abraham Jakob Linz in die Darmstädter

Bürgerschaft aufgenommen. Auch die unter napoleonischem Einfluss stehende Gesetzgebung der

Rheinbundstaaten und ihre Versuche einer Vereinheitlichung wirkten sich auf das Verhältnis von

Christen und Juden aus. Die Vorschrift, dass Juden von nun an deutsche Namen zu tragen hätten,

entfernte sich dabei bereits vom Gedanken der Emanzipation und näherte sich demjenigen der

Integration an.

5. Von der Emanzipation zur Integration im 19. JahrhundertDie voranschreitende Emanzipation der Juden, beispielsweise durch den Wegfall aller

Sonderabgaben 1824, stand ein Aufleben antijüdischer Ressentiments in nationalistischen Kreisen

gegenüber. Zeugnis legt davon das Verbot von Juden in den Burschenschaften ab. Auch in der

ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu Ausschreitungen gegen Juden. Die Integration in

den Staatsdienst und in zünftige Berufe gelang ebenfalls nur teilweise. Die meisten Juden blieben

Händler oder verfolgten akademische Professionen außerhalb des Staatsdiensts, etwa Arzt oder

Rechtsanwalt. Ein großer Teil wurde auch Handwerker, beispielsweise Optiker oder Juwelier, da

diese keine Zunftordnungen kannten. Im Jahre 1848 bekamen schließlich alle Männern, egal

welchem Glauben sie anhingen, die gleichen politischen und bürgerlichen Rechte.

Mit der Industrialisierung erlebte auch Handel und Gewerbe einen Aufschwung und einigen Juden

gelang es bis in die Riege der wohlhabendsten Familien der Stadt aufzusteigen. Die Regel war das

allerdings nicht und viele jüdische Familien blieben arm. Die jüdische Bevölkerung stieg in dieser

Zeit von einigen hundert auf etwa 1.000 im Jahre 1861 und bereits 1.689 im Jahr 1900.

Diese Entwicklung blieb nicht ohne Konflikte. So beklagten viele der Juden aus Dörfern, die in

dieser Zeit in die Stadt kamen, jedoch den langen Anpassungsprozess derjenigen, die schon

länger Stadtjuden waren, nicht mitgemacht hatten, die liberalen Auslegungen des Talmuds und der

Religionsausübung allgemein. So trennten sich schließlich die traditionell eingestellten

Page 5: Zur geschichte der juden in hessen darmstadt

Gemeindemitglieder von den progressiveren und errichteten eine orthodoxe Synagoge für ihre

neue Gemeinde. In den Folgejahren bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs wurden die

Synagogen beider Gemeinden größer und eindrucksvoller neu errichtet. Die Einweihungen mit der

Teilnahme hoher Beamter und Mitgliedern der großherzoglichen Familie machten die große

Wertschätzung für das jüdische Leben deutlich.

6. Integration und AntisemitismusIn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Menschen jüdischen Glaubens im deutschen

Reich aber auch in Darmstadt immer einflussreicher. Sie profitierten von den gewaltigen

wirtschaftlichen Umbrüchen, die das klassisch-zünftig geprägte Handwerk ins Abseits drängte,

dafür den Handel immer mehr in den Vordergrund stellte.

Dieser Erfolg der jüdischen Emanzipation im 19. Jahrhundert und ihrer weitergehenden Integration

trug jedoch bereits den Keim für den Antisemitismus in sich. Besonders die wirtschaftlich

benachteiligten Klassen, die mit den wirtschaftlichen Turbulenzen im letzten Drittel des 19.

Jahrhunderts zu kämpfen hatten, waren empfänglich für antisemitische Hetze. Dabei verbanden

sich die klassischen Muster antijüdischer Ressentiments – besonders wegen ihrer unbekannten

Riten und ihrem geschäftlichen Erfolg – mit kruden pseudowissenschaftlichen Thesen und der

Konstruktion einer aggressiven „jüdischen Rasse“. Eines der Sprachrohre für antijüdische

Propaganda in Südhessen war der „Landwirth und Bienenzüchter“ ebenso die „Neue Hessische

Volkszeitung“ oder „Hessische Reform“. Teilweise konnten antisemitische Bündnisse bei Wahlen

Erfolge erringen und Vertreter in die Parlamente entsenden. Zu jener Zeit stand jedoch die

Obrigkeit noch deutlich auf der Seite des Rechts und den freiheitlichen Werten. So wurden

Diffamierungen untersagt und großherzoglichen Beamten die Betätigung in solchen antijüdischen

Zirkeln untersagt.

7. Vom „wilden“ zum staatlich organisierten AntisemitismusAuch nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs 1918 waren viele bereit die Schuld an der

Niederlage und besonders den wirtschaftlichen Problemen nach dem Weltkrieg im vermeintlich

zentral gesteuerten Handeln des „Weltjudentums“ zu suchen. In den Zeiten der wirtschaftlichen

Erholung der zwanziger Jahre konnte diese Sichtweise nicht recht Raum greifen. Im Volksstaat

Hessen ging die sozialdemokratische Regierung unter Bernhard Adelung noch zielstrebiger gegen

solche Verleumdungen vor, als es der Großherzog getan hatte. Innenminister Wilhelm Leuschner

und sein Pressesprecher Carlo Mierendorff versuchten gegen den immer stärker werdenden

Nationalsozialismus zu agieren, konnten die Entwicklung jedoch nicht aufhalten. Inzwischen hatte

sich die wirtschaftliche Lage wieder verschlechtert und die Weltwirtschaftskrise trieb den radikalen

Parteien die Wählerstimmen zu. Auch in Darmstadt erreichte die NSDAP, die bereits seit 1929 in

Page 6: Zur geschichte der juden in hessen darmstadt

der Stadtverordnetenversammlung saß, bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 ein Ergebnis von

genau 50%. Kurz nach der Machtergreifung erfolgte dann die Gleichschaltung des Volksstaates

Hessen, die sozialdemokratische Regierung Hessens wurde abgesetzt und der bisher weitgehend

unorganisierte Hass auf die „jüdische Rasse“ konnte sich mit staatlicher Billigung und

Unterstützung in organisierter Weise Bahn brechen. Zunächst hauptsächlich durch Boykotte,

Enteignungen und Einschüchterungen.

8. Versuch der Reorganisation eines autonomen jüdischen LebensDie „Reichsvertretung der deutschen Juden“ wurde als zentrales Organ und Vertretung der

deutschen Juden installiert. Während zu Beginn der Naziherrschaft noch Zuversicht vorherrschte,

wurde durch die Entfernung der Juden aus dem Beamtenwesen und später auch vieler anderer

akademischer Berufszweige klar, dass die Emanzipation wieder einer rechtlichen und sozialen

Sonderstellung weichen sollte.

Eine eigene „Judenwirtschaft“ sollte errichtet werden. Dazu waren auch Umschulungen von

akademischen und Händlerberufen zu handwerklich und landwirtschaftlichen nötig. Ziel sollte die

Auswanderung nach Palästina sein. Tatsächlich kam es zu einer großen Auswanderungswelle, an

welcher der Nazistaat kräftig mitverdiente, weil Werte und Immobilien häufig gezwungenermaßen

weit unter Wert abgegeben werden mussten. Zusätzlich wurde die so genannte

„Reichsfluchtsteuer“ erhoben.

Diese Notlage und die zunehmende Ausgrenzung führte zu einer raschen Wiederbelebung der

innerjüdischen Solidarität, wie sie vor der Emanzipation zu erkennen gewesen war. Auch

besannen sich die in Deutschland verbliebenen Juden wieder stärker ihrer Identität. So wurde das

Hebräische vermehrt gesprochen und die Mitgliederzahlen in jüdischen Organisationen nahm

erheblich zu.

Diesem letzten Aufflackern jüdischen Lebens im Inneren stand eine immer stärkere Isolierung und

Diskriminierung nach außen gegenüber. Schließlich wurden sämtliche jüdischen Versammlungen

die nicht rein der religiösen Andacht dienten verboten.

9. Vom Pogrom zum Holocaust: das Ende jüdischen Lebens in DarmstadtNach den Olympischen Spielen 1936 wurde mit schnellen Schritten die vollständige Ausschaltung

der Juden aus dem öffentlichen Leben vorangetrieben. Der Rasse-Antisemitismus wurde zur

Grundlage der Gesetzgebung. Juden durften keine Deutschen mehr heiraten oder mit ihnen

sexuellen Kontakt haben. Bald wurde auch der Besuch von Kinos, Schwimmbädern, Ausstellungen

und Bibliotheken verboten. Außerdem mussten alle Juden ihrem Namen ein „Sara“ für Frauen und

ein „Israel“ für Männer beifügen.

Kurz darauf wurde klar, dass es nicht nur bei rechtlichen Restriktionen bleiben würde. In der so

Page 7: Zur geschichte der juden in hessen darmstadt

genannten „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 brannten auch in Darmstadt

die Synagogen, jüdische Geschäfte wurden demoliert und reichsweit Tausende Juden in

Konzentrationslager eingeliefert.

In den Jahren bis 1940 konnten noch einmal viele auswandern, so dass 364 als Juden

klassifizierte Menschen in Darmstadt übrig blieben. Zwangsarbeit, der Judenstern und Internierung

in Ghettos und Judenhäusern waren jetzt an der Tagesordnung. Noch immer wurde von Seite der

Nazis angeblich das Ziel einer Übersiedlung nach Palästina oder nach Russland verfolgt und die

Juden auf die erhoffte Auswanderung vorbereitet. Tatsächlich begann jedoch im Jahre 1942 der

Transport in die Vernichtungslager des Ostens. Der Judenreferent der Darmstädter Gestapo,

Georg Dengler, vermeldete im Juni 1943 Darmstadt sei „judenrein“.