Zur Konstitution der Borwasserstoffe

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E. Wiberg. Znr Konstitution der Borwasserstoffe. 309

Zur Konstitution der Borwasserstoffe. (Erwiderung auf die Kritik von ERICH MULLEX.)

Von EGON WIBERG. I m Band 176, Seite 205ff. dieser Zeitschrift unterwirft Herr

ERICH MULLER meine im Baud 173, Seite 199ff. dieser Zsitschrift erschienene Abhandlung uher die Konstitution des einfachsten Bor- wasserstoffs einer Kritik, die er mit den folgenden Worten schlieht: ,,Solange Herr N'IBERG- nicht zeigt, da6 seine Annahme geeignet ist, auch auf andere Borverbindungen anwendbar zu sein, und dartut, warum er andere Formeln ablehnt, ist man eher geneigt, seine eingangs zitierte Behauptung umzukehren, daB namlich nicht andere, sondern seine eigene Formel unfahig ist zur Deutung der gesamten Erscheinungswelt der Borchemie."

Es war ursprunglich geplant, die Erwiderung auf diese Kritik hinauszuschieben, bis das Ergebnis einer Reihe von Versuchen uber das chemische Verhalten des his jetzt noch wegig untersuchten Bor- wasserstoffs B,H,, vorlag und damit dik Zeit f:jr eine zusammen- fassende Darstellung des gesamten Borwasserstoffproblems gekommen war. Da sich aber diese Untersuchungen, mit denen ich zurzeit als Nitarbeiter A. STOCK'S beschaftigt bin, noch einige Zeit hinausziehen werden, scheint es mir doch geboten, schon jetzt auf diese Kritik einzugeheo, um den Anschein zu vermeiden, die Einwande E. MujLLER's bestanden zu Recht. Bezuglich aller Einzelheiten sei auf die be- absichtigte zusammenfassende Darstellung hingewiesen.

Entsprechend der Aufforderung E. MULLEEL'S gliedert sich die vorliegende Erwiderung in einen ersten Teil (I), der die Griinde fur eine Ablehnung der MuLLER'schen Borwasserstofformeln darlegt, und einen zweiten (II), der die von mir beim Diboran verwandten Bau- prinzipien auf die ubrigen Rorwasserstoffe ubertragt. I n diesem Rahmen wird sich Gelegenheit bieten, auch auf die ubrigen Ein- waude E. MULLER'S einzugehen.

I. Die von mir zur Losung des Borwasserstoffproblems vor- geschlagene Hypothese la& sich folgendermagen formulieren: ,, AuUen- elektronen konnen nicht nur zwei, sondern unter gewissen Be-

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dingungen auch drei oder vier Atomen gleichzeitig angehiiren". MULLER'S Hypothese l) demgegeniiber : ,,Jnnenelektronen konnen nicht nur einem einzigen, sondern unter gewissen Bedingungen auch zwei Atomen gleichzeitig aiigehoren". Meine Hypothese verlangt also von den AuBen-, MULLEB'S Hypothese von den I n n e n elektronen im Falle des Bors eine Verteilung auf mehr Atome als unter normalen Verhaltnissen. E. MULLER beanstandet nun diese von mir vor- geschlagene Hypothese der ,,Mehratombindung" und glaubt, der von ihm vorgeschlagenen der Valenzbetatigung von Innenelektronen den Vorzug geben zu mussen.

Hierzu zuniichst eine Betrachtung mehr allgemeiner Art. Wahrend die gleichzeitige Beanspruchung von Innenelektronen durch mehrere Atome bei den hier in Betracht kommenden Elementen nie beobachtet wird, d. h. notwendig gefordert werden mug, stellt die Verteilung von AuBenelektronen auf mehrere Atome das Fundament der Lehre von der homoopolaren Bindung dar. Wahrend also bei den i l i u ~ ~ ~ ~ ' s c h e n Formeln die Aufstellung einer ganz neuen, durch die chemische Erfahrung in nichts gerechtfertigten Hypothese er- forderlich ist, verlangt die Aufstellung der von mir vertretenen Bor- wasserstofformeln lediglich die Erweiterung einer durch ihre Erfolge gestiitzten, inzwischen wohl allgemein als Theorie anerkannten Hypo- these; eine Erweiterung des Inhalts, daB ein Elektronenpaar auch mehr als zwei Atomen zugeordnet werden kann.

Eine solche Betrachtung allgenieiner Art stellt aber naturlich noch keinen genugenden Grund fur oder gegen die eine oder andere Auffassung dar. Es seien daher im folgenden die Punkte erortert, die die von mir vertretene Mehratombindung wahrscheinlich machen (l), um dann auf die Grunde einzugehen, die E. MULLBR fur seine Hypo- these vorbringt (2).

1. Drei Tatsachen stutzen die von mir vorgeschlagene Hypo- these der Mehratombindung: Die Analogie bei anderen Verbin- dungen (a), der GRIMM'SChe Hydiidverschiebungssatz (bj und die Addition von Ammoniak an Diboran (c).

a) Den Fall, daB ein AuBenelektronenpaar die Bindung zwischen mehr als zwei Atomen bewerkstelligt, finden wir auch auBerhalb der Borwasserstoff welt bei Elementen der kurzen Perioden verwirklicht. So kijnnen z. B. an die Stelle des Sauerstoffs im Phosphoroxychlorid, dem die Konstitution I zuzuschreiben ist, auch zwei Chloratome treten,

I) E. MULLER, Z. Elektrochem. 31 (1925)' 382.

Zur Konstitution der Borwasserstoffe. 311

wodurch wir zum Phosphorpen tachlorid kommen, dem nach SUGDEN~) die Formel I1 zuzuerteilen ist:

CI c 1 Cl : P : c1 c1: P : CI

0 I

c1 “CI I1

Wir finden damit die Analogie zwischen Verbindungen der links neben der Kohlenstoffgruppe stehenden Borgruppe und der rechts neben ihr befindlichen Stickstoffgruppe (vgl. (BF,)K und (NH,)Ci) auch auf die Mehratombindung ausgedehnt.2) Auch die Additions- verbindungeu von Sauren an Ather, sowie die Jodidchloride gehoren dieser Reihe an3):

H,C : 0 : CH, : J : CH, H Cl c1 c1

Alle auf diese Weise gebundenen Atome sind dadurch charakteri- siert, da8 sie weniger fest gehalten, also leichter abgegeben werden als die ubrigen, an dasselbe Zentralatom gebundenen Atome oder Gruppen; eine Tatsache, die sicb, wie wir spater sehen werden, beim Diboran wiederfindet.

Die Mehratombindung findet also, entgegen dem Einwand E. MULLER’S, bei anderen Elementen durchaus ihr Analogon. MULLER’S Hypothese dagegen nicht; denn die von ihm angefuhrte Analogie zwischen Bor- und Eisenverbindungen stellt, wie sich nachher er- geben wird, nicht einen Beweis fur , sondern gegen seine An- schauungen dar.

b) Eine zweite Stutze fur die Hypothese der Mehratombindung bietet der GRrMm’sche Hydridverschiebungssatz.“) Dehnen wir diesen Satz auf die Borwasserstoffe Bus6), so ergibt sich, dab die BH,- Gruppe einem Fluoratom, die BH,-Gruppe einem Sauerstoffatom im Bau und chemischen Verhalten gleichen mug. Die erste Forderung

l) SUGDEN, Journ. Chem. SOC. London 1927, 1173; vgl. auch E. B. R. PRI- DEAUX, Chem. and Ind. 42 (1923), 672.

2, Naturlich ist, entsprechend der verschiedenen Gruppenstellung von Bor und Phosphor im Periodischen System, die Verteilung der beiden Elektronen auf die drei Atome im Phosphorpentachlorid eine andere als etwa im Bor- trimethyl, wo wir ebenfalls eine solche Verteilung eines Elektronenpaares auf drei Atome (H, B und C) annehmen miissen.

’) Ebenso vielleicht auch das Ammoniumchlorid im Gaszustande. 4, GRIXM, Z. Elektrochem. 31 (1925), 474. 5, Vgl. hierzu auch M. v. STACKELBERG, Z. Elektrochem. 34 (1928), 443;

G. GLOGKLER, Science 68 (1928), 305; F. EPHRAnI, Helv. chim.Acts 11 (1928), 1094.

312 E. Wiberg.

finden wir in Form des BF,-Ions experimentell bestatigt, die zweite durch die Tatsache; daB die BH,-Gruppe ebensowenig wie das Sauerstoffatom in ,,atomaremCL Zustande zu exivtieren vermag, sich

B C N 0 F N e N a BH CH NH OH FH -

BH, CH, NH, OH, FB, RH, CH, NH, OH,

BH, CH, NH, vielmehr zu einer ,,Molekel" polymerisiert. Die Elektronenkonfigu- ration urn die beiden Boratome mu6 dabei derjenigen um die beiden Sauerstoffatome gleichen:

: B : : B : : o : : o : Da sich in die so geforderte Elektronenhulle sechs Protonen teilen miissen, von denen nur vier vermittels gewohnlicher homoopolarer Bindungen von j e zwei ELektronen gehalten werden konnen :

.. .. .. ..

H H H : B : : B : H ,

ergibt sich, falls man den Boden der Oktettlehre nicht verlassen will l), zwangslaufig der SchluB, daE die beiden restlichen Protonen zur Bindung Elektronenpaare benutzen miissen, die bereits zur Bindung zweier Atome dienen. Hier sind drei Losungen mBglich, von denen, wie hier nicht niiher ausgefiihrt sei,z) die von mir gewahlte den chemischen Eigenschaften der Borwasserstoffe am besten gerecht wird.

Die von mir vorgeschlagene Elektronenkonfiguration des Di- borans wird also auch durch den GRIMM'schen Hydridverschiebungs- satz gefordert, im Unterschied zu der von E. MULLER vertretenen, die damit nicht in Einlrlang steht.

c) Eine dritte Stiitze fur die Mehratombindung sehe ich schlieB- lich in der Addition von Ammoniak an Diboran. Vergleichen wir die Leichtigkeit der Abgabe von Protonen an Ammoniak in der Reihe von FH iiber OH, und NH, nach CH, hin, die alle nur Wasserstoffatome enthalten, welche durch gewijhnliche homoopolare Bindungen yon j e zwei Elektronen gebunden werden, so stellen wir fest, da6 diese Leichtigkeit von rechts nach links im Periodischen System abnirnmt. FH bildet leicht ein Ammoniumsalz, H,O schon schwerer, NH, kaum noch3) und CH, iiberhaupt nicht mehr. Der

Die j a fur jedes Wasserstoffatom die Heliumschale fordert. 2, Wie aus der geringen Eigenleitfahigkeit des Ammoniaka hervorgeht,

die j a auf gebildetes Ammoniumsalz (NH,)NH, zuruckzufuhren ist. '1 Vgl. hierzu die gleichzeitig in den Helvetica chimica Acts. erscheinende

Bemerkung zu der Arbeit von F. EPHRAIX (loc. cit.) uber die Konstitution der Borwasserstoffe.

.. ..

Zur Honstitution der Borwasserstoffe. 313

Rauptgrund hierfiir liegt in der Abnahme der Kernladung des Zen- tralatoms, d. h. in der Abnahme der auf das Proton wirkenden abstoBenden Kraft. Gehen wir vom Kohlenstoff zum Bor mit seiner noch kleineren Kernladungszahl uber, so mussen wir erwarten, da6 Wasserstoffatome, die durch gewohnliche Kovalenzen gehalten werden, nicht an Ammoniak abgegaben werden konnen. Da nun das Ex- periment zeigt, daB zwei von den sechs Wasserstoffatomen leicht eine solche Abliiisung erfahren, sind wir zu dem Schlu6 genotigt, da6 zwei von den sechs Wasserstoffatomen anders, und zwar weniger fest, gebunden sind, so schwach namlich, daB die geringe abstoBende h a f t des Borkerns genugt, um eine Ablosung zu ermoglichen. Die von mir vorgeschlagene Formel tragt diesem Punkte Rechnung; sie enthalt zwei Wasserstoffatome, welche durch Mehratombindung ge- halten werden, die, wie wir oben bei R,P : Cl,, R,O : HCL und ELJ : C1, sahen, in der Tat vie1 schwacher ist ale die gewohnliche Zweiatom- bindung. Der von E. MULLER gemachte Einwand, da6 meine Formel im Vergleich mi t der seinigen den Nachteil der ,,Asymmetric“ habe, indem den sechs an sich gleichberechtigten Wasserstoffatomen kaum eine so verschiedene Funktion zukomme, ist dtther in Wirklichkeit umzukehren in den Einwand, da6 MULLER'S Formel im Vergleich mit der meinigen den Nachteil der ,,Symmetric“ besitzt, indem bei Gleichberechtigung aller sechs Wasserstoffatome man allen diesen sechs Atomen die Fahigkeit zu- oder %bsprechen muB, sich an Ammoniak anzulagern , falls man nioht zu Sonderhypothesen greifen will.

2. E. MULLEB vergleicht die Chemie des Bors mit der des Eisens. Wie das Eisen, so sei auch das Bor imstande, Elektronen aus der Innenschale in die AuBenschale zu ubernehmen. Aus dieser Moglichkeit des Ubergangs von Innenelektronen in die Au6enschale erklare sich der Wechsel zwischen Drei- und Vier-Wertigkeit des Bors ebenso, wie der zwischen Zwei- und Drei-Wertigkeit des Eisens im Eisen (11)- und Eisen (111)-Ion. Der einzige Unterschied sei der, daB das Eisen aus sich heraus imstande sei, Elektronen aus der vorletzten in die letzte, die Valenzschale, zu ubernehmen, wahrend beim Bor dazu die Anwesenheit eines zweiten Atoms erforderlich sei.

Hierzu ist verschiedenes zu bemerken. Zunachst ist die Gegen- uberstellung der Reaktionen

B,H, + 2 Na = B,H,-- + 2 Na+ Fe+++ + Na = Fe+ + + Na+

2. anorg. II. allg. Chem. Bd. 179. 21

314 E. Wiberg.

als Beispiel fur den Wechsel zwischen Drei(?)- und Vier(?)-Wertigkeit des Bors in Analogie zum Wertigkeitswechsel des Eisens unver- standlich. Beim Eisen handelt es sich allerdings um einen Wertig- keitswechsel, beim Bor jedoch nicht. Das Bor bleibt auch bei Zu- grundelegung der Munm'schen Diboranformel im Verlaufe dieser Natriumeinwirkung konstantwertig; und zwar weder drei- noch vier-, sondern funf - wertig, indem einfach eine hombopolare Valenz (be- wirkt durch das gemeinsame Innenelektronenpaar) in eine hetero- polare iibergeht, die Na-Einwirkung also eine Addition an eine Doppelbindung, d. h. die Aufrichtung der letzteren darstellt. Hierin driickt sich eben der oben angefiihrte, von E. M ~ L E R selbst zu- gegebene Unterschied aus.

Dieser Unterschied in der Obernahme von Innenelektronen in die AuBenschale wird von E. MULLER damit abgetan, da5 die Innen- schale des Eisens ,,elastisch", die des Bors dagegen ,,unelastisch': sei. Es erhebt sich hier aber naturlich die Frage, worauf diese Elastizitat oder Unelastizitat zuriickzufuhren ist. Die Antwort ist leicht. Beim Eisen ist die betreffende Elektronenschale noch un- abgeschlossen, beim Bor jedoch bereits abgeschlossen. Und damit beruhren wir den Kernpunkt der hier zu erbrternden Frage. Die ganze Oktettlehre ruht auf der Vorstellung, dad K-Schalen von zwei und L- oder M-Schalen von acht Elektronen, die um ein einzelnes Atom herum abgeschlossen, also ohne Mitwirkung von Elektronen anderer Atome zustandegekommen sind, chemisch indifferent, d. h. unfahig sind, andere Atome zu binden. MULLER'S Hypothese ver- letzt also ein Grundgebot der Oktettlehre; sie versucht - drastisch ausgedriickt - die Oktettlehre dadurch zu retten, da5 sie sie ver- wirft. Wenn man im Falle des Bors von der abgeschlossenen K-Sohale verlangt, daB sie von anderen Atomen mitbeansprucht werden kbnne, also nicht ,,unelastisch" sei, so kann man mit dem- selben Rechte verlangen, da6 auch die abgeschlossene K-Schale des Heliums gleichzeitig anderen Atomen anzugehoren rermoge, etwa einem Sauerstoffatom unter Bildung eines Oxyds He:O:, oder da6 das Li-Ion in wa5riger Lasung chemisch reaktionsfahig 'sei, was, wie wir wissen, erst nach der Entladung an der Kathode, d. h. nach der Zerstarung der bestandigen Zweierschale der Fall ist.

Die Annahme, daB die Heliumschale eines Boratoms von einem zweiten Boratom oder einem Kohlenstoffatom I) mitbeansprucht werden

*) Wie es in der MiiLLm'schen Formel fur Bortrimethyl gefordert wird.

Bur Konstitution der Borwasserstoffe. 315

konne, ist also von vornherein unwahrscheinlich. Ganz unhaltbar ist aber die dann notwendige weitere Annahme, daB bei der Bindung der beiden Atome durch das Innenelektronenpaar sogar noch so riel Energie frei wird, daB der ungeheure Energiebetrag gedeckt werden kann, der zum Heben zweier K-Elektronen auf die L-Schale er- forderlich ist. Diese Energiemenge betriigt niimlich nach den Be- rechnungen von R. H, FOWLER’) z. B. beim Kohlenstoff 6000000 cal je Qrammatom, ubersteigt also um ein Vielfaches die Warmetonung irgendeiner bekannten chemischen Umwandlung.

Nimmt man zu diesen schweren Bedenken gegen die Qrund- annahme der MijLLER’schen Formeln noch die - auch von F. EPHRAIN~) schon betonte - Tatsache, daB es rein riiumlich schwierig zu deuten ist, wie ein Elektron als Innenelektron bei zwei Boratomen wirken kann, wenn doch jedes dieser Boratome von einer vollen Schale von AuBenelektronen umgeben ist, so erledigt sich wohl der Einwand MULLEX’S von selbst, daB seine Formeln von mir nicht mit der geniigenden Genauigkeit auf ihren Wert hin Re- prii€t worden seien. Urn so mehr noch, als im folgenden zweiten Teil der Beweis gefuhrt werden wird, daE die MumER’schen Formeln auch dem chemischen Verhalten der Borwasserstoffe nicht gerecht werden.

11. Ein wesentlicher Einwand E. MULLER’S ist, daE es seinen eigenen Bemuhungen zufolge unmoglich sei, meine Hypothese auf die iibrigen Borwasserstoffe anzuwenden, auEer wenn man meine Annahme dahin erweitere, daE ein Elektronenpaar noch mehr als vier Atome gleichzeitig zu umkreisen vermochte. Dieser Einwand beruht auf einem Irrtum. Die Ubertragung meiner Hypothese auf die ubrigen Borwasserstoffe ist ohne eine solche Erweiterung moglich. Ja, sie fiihrt zu Formeln, die gegenuber den MijLLm’schen den Vorzug der grijEeren Einheitlichkeit im Elektronenauf bau (l), der Innehaltung der Koordinationszahl4 f ir das Bor (2) und der zwang- losen Deutung des chemischen Verhaltens aller Borwasserstoffe (3) haben.

1. Wir unterscheiden unter den Borwasserstoffen bestandigere: B,H,, B,H,, B,H,, und B,,H,, und sehr leicht zersetzliche: B4H10 und B6H,,. Die bestandigen entsprechen der Formel BnHn+a, die zersetzlichen der Formel B,H,+G. Lassen wir zunachst die Stellung der Protonen noch auEer acht, so ergeben sich nach der Oktettlehre

l) R. H. FOWLER, Chem. and Ind. 42 (1923), 623. 3 F, EPHFIAIM, Chemieche Valenz- und Bindungslehre, Leipzig 1928.

21*

316 E. Wiberg.

fur alle diese Borwasserstoffe folgende anschauliche Elektronen- anordnungen:

.. .. BDHll,, *

BPH6 : :B: :B: B6H0 : :B: :B: :B: :B: :B: B,E,, :

Bl,,Hr4:

.. ..

:B: :B: :B: :B: :B: :B: :B: :B: :B: :B: :B: :B: :B: ; B : :B: :B: ..

* . . . . . . . . B,H,, : :B::B:B::B: B,H,, : :B: : B : B : :B: :B:

.. .. ..

Die Verteilung der Protonen auf die einzelnen Elektronenkonfigura- tionen ergibt sich leicht aus folgendem:

In der Reihe B,H,+k konnen bei allen Borwasserstoffen je vier, in der Reihe B,Hn+G, die sich von der ersteren nur durch eine aufgerichtete Doppelbinduog unterscheidet, je sechs Protonen an freie Elektronenpaare aogelagert werden. Damit verbleibt j e weils eine der Zahl der Boratome entsprechende Zahl von Protonen, welche sich paarweise in der beim Diboran vorgeschlagenen Art an j e ein bereits zwei Boratomen angehorendes Elektronenpaar heften. Bei den Borwasserstoffen mit ungerader Zahl von Boratomen, B,H, und B,H,,, bleibt dabei naturgemaB ein Proton ohne Partner, wird also durch Dreiatombindung gebunden und unterscheidet sich damit in seiner Bindung von den vier oder sechs durch Zwei- und den vier durch Vieratombindung gebundenen Protonen, was durch das Ex- periment bestatigt wird, welches z. B. fur die neun Wasserstoffatome des Borwasserstoffs B6H9 bezuglich ihrer Bindung eine Unterteilung in Gruppen von 4 + 4 + 1 fordert (9. w. u.),

Wahrend also die Mumm’sche Hypothese fur einen Teil der Borwasserstoffe Ketten-, fur einen anderen Ringformeln fordert und dam zwingt, im einen Borwasserstoff die Boratome durch zwei Innen- und zwei AuBenelektronen, im anderen durch ein Innen- und ein AnBen- oder ein Innan- und drei AuBenelektronen verkniipft an- zunehmen, gilt nach den von mir gegebenen Formeln fur alle Bor- wasserstoffe das gleiche einheitliche Auf bauprinzip.

Schreibt man die Formeln in gewohnliche Valenzformeln urn, so entsprechen sie in der Anordnung der Atome vollkommen den von A. STOCK l) selbst aufgestellten; sie unterscheiden sich von ihnen

*) A. STOCK, B. 69 (1926), 2228.

Zur Konstitution der Borwasserstoffe. 317

nur dadurch, daB sie an die Stelle des drei- und vierwertigen Bore das der Stellung im Periodischen System entsprechende fiinfwertige Bor setzen.

2. Die oben vorgeschlagenen Borwasserstofformeln haben weiter den Voraug, die Koordinationszahl des Bors nicht zu uberschreiten. Die MuLLEdsche Hypothese dagegen verlangt eine Koordinations- zahl des Bors von mindestens 5, indem nach ihr fur den Borwasser- stoff B,H,, nur eine cyclische Formel moglich ist, welche fur zwei Boratome die Koordinationszahl 5 in sich schlieBt. Diese unver- meidliche Forderung der Koordinationszahl 5 fur das Bor ist ein gewichtiger Grund gegen die MuLLER'sche Hypothese; denn die Hiichstkoordinationszahl 4 fur das Bor in den Borwasserstoffen geht aus zwei Tatsachen hervor : Aus der Nichtexistenz gewisser Bor- wasserstoffe (a) und aus dem chemischen Verhalten der Borwasser- stoffe (b).

a) Der einfachste Borwasserstoff der Reihe BnHn+4 ist der Bor- wasserstoff B2H6, der einfachste der Reihe B;H,+6 der Borwasser- stoff B,H,,. Trotz genauester Untersuchung aller irgendwie dar- stellbaren Borwasserstoffe gelang es A. STOCK und seinen Mit- arbeitern niemals, einfachere Verbindungen der beiden Reihe? auf- zufinden, obwohl diese bei der Feinheit der experimentellen Ver- fahren auch in kleinsten Mengen der Beobachtung nicht entgehen konnten. Wenn nun die Koordinationszahl des Bors den Wert 4 nicht uberschreiten kann, so wird die Nichtexistenz dieser Bor- wasserstoffe sofort verstandlich. Der Monoborwasserstoff der Reihe B,H,+* besiiBe die Formel BH,. Er kann nicht existieren, da er die Koordinationszahl des Bors uberschritte. Der Borwasserstoff B,H6 ist der erste, der ihr gerecht wid, und damit der einfachste. In der Reihe B,H,,G hatte der Monoborwasserstoff die Formel BH,, der Diborwasserstoff die Formel B,H, und der Triborwasserstoff die Formel B,H,. Alle drei verlangen vom Bor Koordinationszahlen uber 4. Der Borwasserstoff B,Hl, ist der erste, der der Koordi- nationszahl 4 geniigt. Damit ist er der einfachste dieser Reihe, wie es auch dem Ergebnis des Experiments entspricht.

Nach E. M~LLER, dessen Hypothese die Koordinationszahl 5 fordert, ware BH, der einfachste existenzfahige Borwasserstoff der Reihe B,H, + 4 und B,H, der entsprechende der Reihe B,H, + 6, was dem Experiment widerspricht. Der Elektronenbau dieser Verbin- dungen entsprache durchaus der von E. MULLER fur die Borwasser-

318 E. Wiberg.

stoffe vorgeschlagenen Hypothese l): die K-Elektronen des Bors dienen gleichzeitig einem zweiten Atom, hier einem Wasserstoffatom, als Heliumschale:

H H H H , H H , H ,' B'G i B : B ;

H" XH H f i g X E I

Jedes Boratom hat seine zwei K-Elektronen und sein L-Oktett, jedes W asserstoffatom sein K-Dublett.

Der Einwand E. MULLER'S, daB nach seiner Hypothese die Zusammenlagerung von Boratomen eine notwendige Bedingung sei, wahrend sie bei mir eine Forderung lediglich der Koordinationszahl 4 darstelle, ist also unrichtig. Denn nach dem eben Auvgefiihrten ist diesem letzteren Aggregierungsprinzip entschieden der Vorzug zu geben. Dieses fordert in der Tat eine Aneinanderreihung von mindestens zwei Boratomen im Falle der bestandigeren, von min- destens 4 im Falle der zersetzlichen Borwasserstoffe, wahrend nach der MuLmdschen Hypothese eine solche Zusammenlagerung durchaus nicht a priori gefordert wird, wie wir am Falle des Monoborwasser- stoffs BH, sehen.

b) Die Koordinationszahl4 fur das Bor geht weiterhin aus dem chemischen Verhdten der Borwasserstoffe hervor. So li8t sich z. B. das verschiedene Verhalten des Diborans gegeniiber Na, NaOH und HOH nur verstehen, wenn wir die Koordinationszahl 4 an- erkennen. Nur d a m , bei gleichzeitiger Beriicksichtigung des Dm- standes, daS Metalle durch die funfte Valenz des Bors heteropolax gebunden werden kijnnen [vgl. (BF,)-E+], fur die Koordinationszahl also nicht in Betracht kommen, ist ohne weiteres ersichtlich, daS die Einwirkung von Natrium bei der Addition zweier Natriumatome haltmachen wird, wahrend die Einwirkung von Natriumhydroxyd unter Entwicklung eines Mols Wasserstoff und Bindung zweier NaOH-Molekiile je Mol Diboran erfolgen mu8 und die Einwirkung von Wasser erst mit der Bildung von Borsaure unter Entwicklung von sechs Molen Wasserstoff zum Stillstand kommen kann (siehe Formeln auf nachster Seite).

3. Zum SchluB noch ein Wort iiber die Deutung des chemischen Verhaltens der Borwasserstoffe durch die Mumm'schen Formeln.

l) Falls nicht die Zusatzhypothese ZII Hilfe genommen wird, daB die beiden K-Elektronen des Bors zwar einem anderen Boratom oder einem Kohlen- stoffatom, nicht aber einem Wasserstoffatom gleichzeitig als K-Elektronen an- gehBren k6nnen.

Zur Konstitution der Borwasserstoffe. 319

E. MULLEB schreibt, er habe seine Hypothese a n allen ihm bekannten Borverbindungen gepruft und brauchbar gefunden. Nach meiner Meinung stellt aber die Tatsache, daB +

seine Hypothese den Aufbau von Oktet- ten fur alle Boratome in allen Bor- ,q ' wasserstoffen zula,Bt, noch keinen hin- I W -w -o reichenden Beweis fur ihre Brauchbar- I

-F9 -o keit dar, da es selbstverstindlich bei I W

M der durch Heranziehung der Innen- - elektronen erzielten Vermehrung der + aw Kombinationsm6glichkeiten leichter ist, Oktettgebaude zu konstruieren.') Die Brauchbarkeit einer Hypothese uber +*

I 2

s I"

f 1

wtrl i'

den Bau der Borwasserstoffe wird erst , R A durch die Moglichkeit erwiesen, samt- I liche Eigenschaften der letzteren voraus- -F9 II -o W zusehen. Und hier versagen die MUL- I B wdschen Formeln. A

derzugeben. Nach ihnen sollte z. B. , I , , I

B,H,,, namentlich im Hinblick auf die gleichzeitig vorhandenen Singlettbin- dungen2), wiihrend es in Wirklichkeit

W

w So vermSgen sie die Stabilitatsver- hiiltnisse der Borwasserstoffe nicht wie-

BsH, ebenso unbestandig sein wie

+ + i cd

% ,

- I) So leicht sogar, dab eine gewisse Un-

bestimmtheit in die Formel mancher Verbin- dungen hineingetragen wird. So ist z. B. fur das Na-Hypoborat, f ~ r das nach meinen Darlegungen nur die ,,dimere" Formel w

(NaOBH,), I w -m -M in Betracht kommt, nach der MuLLER'schen II a*-x

I ,,dimere" Formel miiglich : w Hypothese sowohl die ,,monomere" wie die

H H 1 .. H 1- -[ .. .. .. .. 1 - Na" Na+ 1 H : O : B : B : O : H . . . . . . . .

L H H In der ersten hatten dabei Sauerstoff und Bor ein Innenelektron gemeinsam, wie dier, auch bei den Pentaborwasserstoffen angenommen wird.

'j DieZuruckfiihrung ihrer StabiIitat aaf die gleichzeitige Mitwirkung des ge- meinsamen Innenelektrons ist doch nur eine ad hoc aufgestellte Zusatzhypothese.

320 E. Wiberg. Zur Konstitution der Borwasserstoffe.

nachst B,H, der bestandigste der leichtfliichtigen Borwasserstoffe ist. Nach den von mir vorgeschlagenen Formeln mussen dagegen alle Borwasserstoffe der Reihe B,H,+, zersetzlicher sein als die der Reihe BnHn+4, da sie im Unterschied zu den letzteren mittel- stindige Boratome von der Koordinationszahl 4 aufweisen, Bor- atome also, die bei voller Ausnutzung ihrer Koordinationszahl 4 zwei riiumlich groBe BorwasserstofTreste zu tragen gezwungen sind. Weiterhin geht aus den &luLLER’sChen Formeln nicht der Zusammen- hang zwischen den einzelnen Borwasserstoffen hervor. Die Formeln fur B6H,, und B,,H,, lassen z. B. nicht erkennen, da6 letzteres aus ersterem entsteht, wahrend bei meinen Formeln das B,,K14 auch wirklich zweimal die Elektronenkonfiguration des B, H,, enthllt. Weiterhin l a B t sich aus M~LLER’S B,H,-Formel nicht ersehen, daS im Pentaboran vier Wasserstoffatome an Ammoniak abgegeben, vier weitere durch Chlor ersetzt werden konnen, wahrend bei meiner Formel, wie oben schon erwabnt, diese Unterteilung der Wasserstoff- atome in Gruppen von 4 + 4 + 1 zum Ausdruck gebracht ist. Die MuLLER’sChe B,H,-Formel gibt auch nicht wieder , warum das Pentaboran gegeniiber dem Diboran ein bestandigeres Hypoborat liefert, wahrend dies aus meiner Formel ohne weiteres zu entnehmen ist, da hier im Unterschied zum Diboran Boratome von der Koordi- nationszahl 3 vorhanden sind, an die sich NaOH ohne Uberschreitung der Koordinationszahl4 anlagern kann.

Schon diese wenigen Beispiele, deren Zahl sich leicht vermehren lieBe, scheinen mir geniigend darzutun, daB die von mir aufgestellten Borwasserstoffformeln die Erscheinungswelt der Borchemie zwang- loser deuten als diejenigen E. MULLER’S.

EarZsrzche, Chemisches Institut der Techmiwhen Hochschule.

Bei der Bedaktion eingegangen am 15. Januar 1929.

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