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2. Exegetische Methoden als Hilfen zum wissenschaftlichen Lesen und Yerstehen Biblische Exegese versteht sich als wissenschaftlicherUmgang mit der Heiligen Schrift. Als wissenschaftliche Form des Lesens der Schrift weist sie jene Merkmale auf, die für das wissenschaftliche Lesen yon Texten allgemein gelten: Sie erstrebt mit Hilfe wissenschaftlichabgesi- cherter Verfahren eine Vergewisserung über den Sinn des Textes und eine intersubjektive Nachprüfbarkeit der Ergebnisse. Sie versucht, den besonderenSchwierigkeitendes Verstehens des biblischen Textesals ei- nes geschichtlichen Dokumentes gerecht zu werden. So muß die Ex- egeseimmer auch historisch und kritisch sein (gegen vereinfachende Vereinnahmung). Eine solche wissenschaftliche Vergewisserung ist nicht für jeden Le- ser gleich notwendig; es gibt auch andere berechtigte und notwendige Formen der Vergewisserung:das persönliche, unbefangene Lesen der Schrift, das Hören aufdas Wort Gottes in der Liturgie und in der kirchh- chen Verkündigung, das Schriftgespräch und die praktische Bibelarbeit. Die einzelnen Formen unterscheiden sich durch Intention, Int€nsität der Arbeit, Grad der Reflexion, Lebensbezogenheit, Kommunikations- situationusw.r5. 2.1 Vielfalt der wissenschaftlichen Methoden und Integration der Methoden Um den vielfältigen Aspekten neutestamentlicher Texte gerecht zu werden, wird in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Neuen Testament ein vielfältiges Methodeninstrumentar verwen- det. 'a vsl, G/tnz (s. Anm. l0). '5 Zur Reflexion überdeo nichtwissenschaftlichen Umgang mit der Schrift vgl. W.Eg- ger.Die zweite Uabefangenheit desBibellesens: Biblit 50 (1976) 247-255: J. KrcneL Die Bibel ei ach lesen. Bibelwissenschaftliche Erwägunge[ zum dchtwissenschaftli- chen Umgarg mir der Heiligen Sch.ifr (FS Kardinal König) (Wien 1980) 327-361; de6., Die Bibel - ein Buch für alle (Stuttgart 1986). Aus ded Behelfen der praktischen Bibelarbeit seiengenan t I1/.Erl - F. Carter. Neue Methoded der Bibelarbeit (Tübin- gen 1969); Praktische Bibelarbeit heute. Hrsg.vom Katholischen Bibelwerk (Stuttgart 1913):W. Egge\ Ge'l.einsam Bibel lesen, 20

 · Created Date: 4/30/2008 10:34:11 AM

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2. Exegetische Methoden als Hilfen zum wissenschaftlichen Lesenund Yerstehen

Biblische Exegese versteht sich als wissenschaftlicher Umgang mit derHeiligen Schrift. Als wissenschaftliche Form des Lesens der Schriftweist sie jene Merkmale auf, die für das wissenschaftliche Lesen yonTexten allgemein gelten: Sie erstrebt mit Hilfe wissenschaftlich abgesi-cherter Verfahren eine Vergewisserung über den Sinn des Textes undeine intersubjektive Nachprüfbarkeit der Ergebnisse. Sie versucht, denbesonderen Schwierigkeiten des Verstehens des biblischen Textes als ei-nes geschichtlichen Dokumentes gerecht zu werden. So muß die Ex-egese immer auch historisch und kritisch sein (gegen vereinfachendeVereinnahmung).

Eine solche wissenschaftliche Vergewisserung ist nicht für jeden Le-ser gleich notwendig; es gibt auch andere berechtigte und notwendigeFormen der Vergewisserung: das persönliche, unbefangene Lesen derSchrift, das Hören aufdas Wort Gottes in der Liturgie und in der kirchh-chen Verkündigung, das Schriftgespräch und die praktische Bibelarbeit.Die einzelnen Formen unterscheiden sich durch Intention, Int€nsitätder Arbeit, Grad der Reflexion, Lebensbezogenheit, Kommunikations-situation usw.r5.

2.1 Vielfalt der wissenschaftlichen Methoden und Integration derMethoden

Um den vielfält igen Aspekten neutestamentlicher Texte gerechtzu werden, wird in der wissenschaftl ichen Beschäftigung mit demNeuen Testament ein vielfält iges Methodeninstrumentar verwen-det.

'a vsl, G/tnz (s. Anm. l0).

'5 Zur Reflexion über deo nichtwissenschaftlichen Umgang mit der Schrift vgl. W. Eg-ger. Die zweite Uabefangenheit des Bibellesens: Biblit 50 (1976) 247-255: J. KrcneLDie Bibel ei ach lesen. Bibelwissenschaftliche Erwägunge[ zum dchtwissenschaftli-chen Umgarg mir der Heiligen Sch.ifr (FS Kardinal König) (Wien 1980) 327-361;de6., Die Bibel - ein Buch für alle (Stuttgart 1986). Aus ded Behelfen der praktischenBibelarbeit seien genan t I1/. Erl - F. Carter. Neue Methoded der Bibelarbeit (Tübin-gen 1969); Praktische Bibelarbeit heute. Hrsg. vom Katholischen Bibelwerk (Stuttgart1913): W. Egge\ Ge'l.einsam Bibel lesen,

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Allgemein in der Forschung anerkannt ist der Methodenkornplex, dermit dem Stichwort,,historisch-kritische Methode" zusammengefaßtwird. Dazu gehören: Textkdtik (Rekonstruktion des griechischen Urtex-tes des Neuen Testamentes), Literarkritik (Feststellung schriftlicherQuellen des Neuen Testamentes), Traditionskritik/-geschichte (mündli-che Vorgeschichte der Texte) und Redaktionskritik,/-geschichte (Samm-lung und Überarbeitungen des Materials) 16. Diese Methoden lesen denText vor allem unter diachronem Aspekt, also unter dem Aspekt derEntstehung des Textes, und sehen vor allem in der Rekonstruktion derEntstehungsgeschichte einen Weg zum Sinn des Textes. Zu diesen schonklassisch gewordenen Methoden sind in letzter Zeit Anregungen ausvielen Teilgebieten der modernen Sprachwissenschaft (Textlinguistik,strukturalistische Betrachtungsweise, Semantik, Pragmatik) getreten.Diese neueren Methoden bemühen sich vor allem, den Text unter syn-chronem Aspekt zu erfassen. Sie ergänzen die historisch-kritische Ar-beitsweise, indem sie die Beobachtung der Textphänomene zu einemexpliziten Schritt der Textanalyse machen und den schon in der Form-geschichte begonnenen Prozeß der Formalisierung von Texten fortset-zen.

Die soeben genannte Einteilung in synchrone und diachrone Aspektehat sich in der Methodendiskussion eingebürgert: ,,Synchrone" (grie-chisch ,,gleichzeitig") Methoden untersuchen ein System in jener Ge-stalt, die es zu einern bestimmten Zeitpunkt hat, z,B. die deutscheSprache der Gegenwart, oderjene des 19. Jahrhunderts. In der synchro-nen Textanalyse neutestamentlicher Texte wird der Text injener Gestaltuntersucht, die er zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Geschichte hat,wobei jedesmal auch das Kommunikationssystem, in das der Text ein-gebettet ist, berücksichtigt wird t7. Die synchrone Analys€ kann auf derStufe der Endredaktion vorgenommen werden, aber auch an den ver-schiedenen Fassuqgen des Textes in den Stufen der Tradition. Die Ent-stehung und Veränderung eines Systems (bei Texten: Verwendung undUberarbeitung von Quellen) hingegen werden mit den sogenannten dia-chronen Methoden untersucht. Die neueren Methoden der Exegese be-tonen vielfach sehr stark di€ Notwendigkeit der synchronen Analysever-fahren. Die historisch-kritische Methode beschäftigt sich nun zwarbesonders mit der Entstehung der Texte, sie ist jedoch nicht einfachhinmit den diachronen Methoden gleichzusetzen; sie beachtet nämlich

'6 Die vierteiliSe Gliederung vor, Zimmeman\ Methodenlehre (1. bis 6. Aufla8e),gibt eitre Übersicht über die Arbeitsschritte der historisch-kririschen Methode; diemeisten Methodenlehren bieten eine s!ärkere Gliederung der Methoden.t7 Synchrone Analyse bedeutet nämlich nicht notwendig eine rein textimmanenteAuslegung.

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auch viele synchrone Aspekte, wie auch nicht alle neueren Methodenden Text rein synchron betrachten.

In die befeits klassischen Methoden der Exegese sind die neuerenVerfahren zu integrieren.

Jede Methode macht durch ihre Frag€stellung auf bestimmte Aspektedes Textes aufmerksam. Der Vielfalt der Aspekte des Textes entsprichteine Vielfalt von Methoden. Damit durch die Beachtung der vielenAspekte nicht die Einheit des Textes übersehen wird, ist der Zusammen-hang der Methoden zu klären. Dies geschieht vor allem anhand des text-theoretischen Modelles der ..Kommunikation durch Texte"r3 undanhand der hermeneutischen Überlegungen zum Akt des ,,Lesens undVeßtehens"re.

5 4 Tcxte als Ergebnis von Rezeption undUberarbeitung

Die neutestamentlichen Texte sind nicht nur in ein synchrones Netz vonBeziehungen eingebettet, sondern stehen auch in einer diachronen Ent-wicklung, insofem sie Ergebnis eines längeren Prozesses mündlicherund schriftlicher Weitergabe sind.

Literutut zur Ebtf)hrung :In den Methodenbüchem zum Neuen Testament werden bei d€n ein-zeln€n Methodenschritten meist auch kurz die Auffassungen über dieEntstehung der Texte dargelegt.Als Ansätze zu einer systematisch refl€ktierten Theorie zur Entste-hung biblischer Texte sind bemerkenswert: Chr. HardmeieL Text-theorie und Exegese (zum Alten Testament) und F. Muß er, l[letho-dologie der Frage nach dem historischen Jesusr.

1. Die Entstehung der neutestammtlichen Schriften

Die neutestamentlichen Texte sind das Produkt eines über einenlängeren Zeitraum währenden Prozesses mündlicher und schrift l i-cher Überarbeitung und Weitergabe.

Die Überlieferung der Worte und Tat€n Jesu und der Botschaft von Todund Auferstehung ist Rezeption und Überarbeitung von Texten: DasSinnereignis des Lebens, des Todes und der Auferstehung Jesu von Na-zaret wurde reflektierend und aktualisierend weitergegeben. In den ver-schiedenen Stufen der Überlieferung wurden neue Akzente gesetzt undtraten auch manche Aspekte zurück.

1.1 Die Etappen der Textentstehung

Die Entstehung der neutestamentlichen Schriften läßt sich in drei Etap-pen gliedern: vorösterliche Zeit2, nachösterliche mündliche Überliefe-rung, Verschriftlichung der Texte r-

I Hatdmeier,'fexttheorie und Exegese 109-153: F. Mußner, Methodologie der Fragenach dem histo schen Jesus: tr tr€rt?/ge (Hrsg.), Rückfrage nach J€sus (QD 63; FreFburg 1974) t18-147. Die folgenden Überlegungen schließen sich eng an die Ausfüh-rungen dieser beiden Autore[ an.I In der klassischen Formgeschichte wurde die Bedeutung der vorösterlichen Zeit fürdie Traditionsbildung schw€igedd übergangen. Eine neue Sicht eröffnete t/. Scrtr-manr, Die vorösterlichen AnläItge der lngiefltradition. Versuch eines formgeschichtli-chen Zugangs zum L€b€n Jesu, ilr: Traditionsgeschichtliche Urtersuchungen zu densynoptischen Evangelierl Beitläge (Düsseldorf 1968) 39-65.3 Diese Gliederung wird von der Offetrbarungskonstitütion

-Dei Verbum" des Zwel-

ten Vatikanischen Konzils gewählt: Kap. 5.

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JesuslogienErzählungen über Jesus

Glaubens- und Bekenntnisformeln

B efedesPaulus

mündl iche Überl ieferungvon lrgien, Erzählungen, Homologien

(,,Gebrauchstexte" in der Kirche)

Mk Niederschrift (in Etappen)

l--.----..*----/'-.--.J:'/\

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JohAbb. 5: Die Etappen der TexteDtstehung des Neuen Teslaments

In Abb. 5 sind die Etappen und die wichtigsten neutestamentlichenTextgruppen veneichnet.

Das auslösende Moment der Textentstehung sind Wort und WirkenJesu von Nazaret, genauer formuliert: die von Jesus selbst g€äußertenWorte (Logien) und die von den Zeugen geformten Texte überJesus (Er-zählungen). Schon auf dieser Stufe ist allerdings auch ein gewisser Re-zeptionsprozeß am Werk, insofern Texte des Alten Testaments zum Teilkritisch aufgenommen werden. Schon in der vorösterlichen Zeit sind dieJünger Schüler im echten Sinn des Wortes: Sie sind um Jesus versam-melt, teilen sein Wanderleben und seine Lebensform, wissen sich aufseine Person verpflichtet.. Mit ihnen beginnt die (vorösterliche) Logien-tradition. Eine Reihe von Beobachtungen an den Jesusworten bestätigtdiese Auffassung von Textproduktion und -rezeption schon in der vor-österlichen Zeit5: a) Als messianisches Gut forderten die AussprücheJesu zum Behalten auf; b) Jesus war es gewohnt, knapp formulierte Zu-sammenfassungen seiner Lehre zu geben; c) einige AusdrucksweisenJesu lassen sich als Aufforderung zum Mernorieren auffassen; d) derrätselhafte und prophetische Charakter vi€ler Jesuswort€ legte es nahc,sie zum Bedenken zu bewahren; e) die bewußt mnemonische Formung

t VBl. dazv R. Riesner, Jesus als Irhrer. Einc UntersuchuDg zum Ursprung der Evan-gelien-ÜberlieferunS (WUNT 2.7; Tübingen'tet+; aOS-+t-e.t Die folgende Liste der Eigentürnlichkeiten ist fast wörtlich übernommen aus Ri€r-n€,i Jesus als Irhrer 433 (donjeweils mit Belegstellen). Grundlegend ist für diese Auf-tasstlng Schütmann, Die vorösterlichen Anfänge der Logientradition.

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des größten Teils der synoptischen Wortüberlieferung förderte, ja for-derte ihr Einprägen. Als Methode des Einprägens ist wohl das Auswen-diglernen, das Memorieren anzunehmen6. Damit ist schon im voröster-lichen Jüngerkreis mit dem Traditionsprinzip 7 und mit mehr Treue inder Traditionsübermittlung zu rechnen, als dies die klassische Formge-schichte angenommen hatte 3. Schon in der vorösterlich€n Zeit unterlie-g€n die Textproduktion von Erzähltexten und die Rezeption derJesuslogien durch die Jüngerjenen Bedingungen, die in der Forschungbesonders hinsichtlich der nachösterlichen Tradition erarbeitet wurden.Zu diesen Bedingungen gehören z. B. Selektion, Umprägung und Neuin-terpretatione.

Durch die Ostererfahrung kommt es zu €iner Produktion neuer Texte:Die Ostererfahrung wird in den Osterbekenntnissen als Homologeseformuliert t0: ..Gott hat ihn von den Toten auferweckt." Diese neuenTexte gehen dann in die Tradition ein: Sie werden rezipiert und weiter-gegeben (vgl. I Kor 15,3). Daneben werden auch die Jesuslogien unddie Jesuserzählungen weitergegeben, freilich nun in einem neuen Licht.Als neue Texte entstehen in dieser Zeit die Briefe des Paulus, die Zeug-nis für die Produllion neuer Texte, aber auch für die Rezeption alterTexte sind, indem in diese Briefe Glaubensformeln, missionssprachli-ches Vokabular, alttestamentliche Zitate aufgenommen werden. Die Re-zeption der Traditionen unterliegt bestimmten Bedingungen rr.

In der Verschriftlichung der Verkündigung sowohl in den Evangelien(bzw. ihren Vorlagen) als auch in den übrigen Schriften des Neuen Te-staments (Apg, Briefe, Offu) erreichen Rezeption und Neugestaltungvon Texten eine neue Stufe!': Die Texte erhalten nun eine endgültigfeststehende sprachliche Gestalt; die ursprünglich isolierten Kurztextewerden Teil eines größeren Ganzen und sind damit in diesem neuen Zu-sammenhang zu lesen; die Texte werden in gewisser Weise selbständig,lösen sich vom Tradenten bzw. Tradentenkreis und auch vom Adressa-

5 Rierrer. Jesus als Irhret 440-443.7 Riesrer, Jesus als khrer 423f.3 P Stuhlmacher (Htsg.), Das Evangelium und die Evangelien (WUNT 28; Tübiqen1983) 431.

'Vgl. dazu a lldrl, Methodologische Überlegungen zur Rückfrage nach Jesus:K. Kelt?ke (Hrsg.), RückfraSe nach Jesus l1-?7, bes. l,+-26 (allerdings hier vor allembezüglich des Übergangs von der vor- zur nachösterlichen Z€it).r0 Zu einer anderen Gattutrg g€hören die Ostererzählungen.It Siehe unten.tt Vgl. oben über die Eig€nart von (schdftlichen) Texten. IIl der Evangelienfoßchungwurde auf diesen Unterschied zwischen Schriftlichleit udd Mündlichkeit besondersdutch E. Güttgemanns, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums (Mün-chen '1971) aufmerksam gemacht.

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tenkreis. Die Kanonbildung ist die Besiegelung der in der Kirche vollzo-genen Rezeption der normativen Schriften.

1.2 Modell der Textverarbeitung

Der Prozeß der Textentstehung der neut€stamentlichen Schriften isteine Folge von Textüberarbeitungen. Bei jeder Textverarbeitung voll-zieht sich Rezeption und (Re-)Produktion von Texten, wobei die Text-verarbeitung jedesrnal auch als Teil eines Kommunikationsprozessesaufzufassen ist. Das Ergebnis der Textverarbeitung kann dann wiederAusgangspunkt einer neuen Überarbeitung bildentr. Abb. 6 zeigt denVerlauf der Überarbeitunsen.

Zßit- l. Überarbeitungs-achse stufe

2. Überarbeitungs-stuf€

Aus-gangs- -)text

Textverarbeitungdurch

Textrezeptionund

Text(re-)produktion Endtext

II+

Ausgangs-text -) Textrezeption

Text(re-)End-text+

Abb. 6: Textüberlieferung als Folge von TextüberarbeitunSen

Durch die Überarbeitung erzielen die Texte neue Wirkung bei geän-dertem Adressatenkreis und werden zu einer Antwort in gewandelten Si-tuationen. Die wichtigsten Faktoren, die auf die überarbeitung(Selektion, Veränderung und Umprägung, Neuinterpretation) einwir-ken, sind folgendera:- der Einfluß einer expliziten Christologie: Die Bedeutung der Person

Jesu wurde immer deutlicher erkannt und hat ihren Niederschlagauch in den Texten gefunden, vor allem durch die Einführung von Be-kenntnisformeln in die Texte d€r Evangelien, vgl. etwa Mk8,27-301'

tr Das Modell wird mit Abänderungen aus I1a rdmeieLTexttheorie 80, übernommen." Im einzelnen dargelegt bei flaftn, Methodologische üb€rlegungen 14-26.

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- der Einfluß des Alten Testaments sowohl durch Zitate als auch durchdas Angebot von Erzählmustern (etwa vom verfolgten Gerechten inder Leidensgeschichte);

- mehr oder weniger geringfi.igige Anderungen an Texten und Verdop_pelungen, etwa die Speisungswunder I die Fassungen des Varer-unsels;

- der Einfluß volkstümlicher Erzählweise, z. B. Steigerung des Wunder_baren usw.;

- Kontamination von ursprünglich getrennten Texten;- die Ausrichtung von Einzelperikopen aufdie Leidensgeschichte hin;- die Offnung der Gemeinden zu den Heiden hin;- die wachsende Auseinandersetzung mit dcm Jud€ntum, besonders

mit dem pharisäisch geprägten Judentum.

2. Lesen als Suche nach den Spuren der Textentstehung

D€r andauernde Prozeß von Textproduktion, -rezeption und -überarbei-tung hat seine Spuren im Text des Neuen Testaments hinterlassen. Man_che (Teil-)Texte spiegeln eine einmalige, nicht wiederholbare Situationwider, in der Jesus sich vor Ostern Israel gegenüber befand; es gibtTexte, die zur nachösterlichen Missionssituaiion widersprüchlich säd ;manche Texte vertreten eine offene, ,,vage,, (,,indirektei.) Christologieund Soteriologie usw. Andere Teiltexte verraten den Einfluß der christ_logischen Homologese und der nachösterlichen Soteriologie, der nach-österlichen Missionserfahrung und Verfolgungserfahrungf din Versucnder Enträtselung dunkler Jesusworte usw.l. So trägt deiText die Spu_ren der Entstehung mit sich. Für den Exegeten sind;olche Beobachtun-gen am Text ein Fingerzeig, um die Entstehung des Textes nachzuzeich_nen.

tt Mußne\Methodotogie, l33f 136f, fühft diese und andere Beobachtungen als Krite-rien an, die.ein lrgion als genuin jesuanisch oder als nachösterliche Bildu"ng erkennenlassen: doch können diese Eeobachtungen auch ganz allgemein als Hinwelse auf dieEntstehung des Textes gelten.

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3. Teil

Lektüre unter synchronem Aspekt

Die Analyse eines Textes beginnt am besten mit einer Analyse, die un-mittelbar von dem uns vorliegenden Text und seinen Strukturen aus-geht. Dies geschieht in der synchronen Analyser.

Das Text- und Verstehensmodell der synchronen Lektüre

Die synchronen Methoden sehen den Text als eine strukturierte kohä-rente Größe, Die Elemente des Text€s stehen zueinander in Beziehung.Aus diesen Beziehung€n erwächst eine Gestalteinheit. Allerdings ist derText nicht ein geschlossenes System, er kann in mannigfachen Bezie-hungen zu anderen Größen stehen, vor allem ist die Einbettung d€s Tex-tes in ein Kommunikationsgeschehen zu beräcksichtigen.

In der synchronen Analyse wird der Text als eine strukturierte ko-härente Größe, die in einen größeren Kommunikationsvorgangeingebettet ist, analysiert,.

Mit diesem Textmodell ist auch ein Verstehensmodell (Abb. 9)3 gege-ben: Der Sinn des Textes steckt nicht irgendwie hinter dem Text, son-dem steckt in den (inner- und außertextlichen) Beziehungen derTextelem€nte.

Die synchrone Analyse gibt nun Anweisungen, wie die Beziehungenzwischen den Elementen innerhalb des Textes und die Beziehungen zwi-schen Text und außertextlich€n Faktoren gefunden werden können. Da-durch gibt sie gleichzeitig auch Anweisungen, wie der Sinn des Textesgefunden werden kann.

' Zum Primat der Synchronie vor der Literarkritik vgl. auch M. Theobald, Der PÄmatderSynchronie vor der Diachronie als Crundaxiom der Literarkritik, Methodische Er-wägungen an Hand von Mk 2,1-17 /Mt 9,rl3t BZ 22 (1978\ 16l-186.I Im einzelnen wurden die Faktorel des Modells, das der synchronen Analyse zu-grunde liegt, in $ 2+ dargestellt.3 Im Anschluß aD Foljior, Lcggere le scritture 24.

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Modell l :Sinn hinter dem Text

Modell2:Sinn in den Strukturen dcs Textes

Abb. 9: Zwei Modelle des Textverstehens

Die Arb€itsschritte der synchronen Analyse

Nach der vorausgehenden Sicherung der Textgestalt einer ersten Orien-tierung über den Text und die Übersetzung ($ 5-7) werden am gewähl-ten Text die einzelnen Methoden der synchronen Analyse angewendet.

I

I

In der Lektüre unter synchronem Aspekt werden folgende Metho-denschritte vollzogen: die sprachlich-syntaktische, semantische,narrative und pragmatische Analyse und die Analyse der Textsor-ren.

Die methodische Trennung und Reihung der Afteitsschritte ist sachlichbegründ€t und hat sich bei den Vertretern dieser Methoden eingebür-gerta, Sie beruht auf den Bezugsebenen, in denen sprachliche Zeichen

. Nach C. W. Morris, eirem der Begründer der modernen Semiotik, gliedert sich dieSemiotik (Wisseßchaft voo del ichen) in die Bereiche: Semantik, Syntaktik undPragmatik. Vgl. dazu Schober, Funktionen der Sprache 11, der die Auffassutrg votrMorris so zusammenfaßt: -Die Semantik handelt vom Verhältnis der Z€ichetr zu detr,Sachen', die Syntaktik von den Kombinationsmöglichkeiten der Zricheo unabhängigvofl den bezeichneten Sachen wie vom Verhalte[ der Benutzer, die Pmgrnatik votr denBeziehungen zwischen Z€ichen uld Benutzern, also von den Zweckea ulrd Wirkungender Zeichen im Verhaltea.' Die Binteiludg ilr drei Bereiche: Syataktik, Pragmatik, Se-dantik wird u,a. ttertreteln yoni Akmajian - Demers - Hamßh, Lidguistica. Iotrodu-zione a1 littguaggio e alla comunicazione; Funk-Kolleg Sprache: Kaherkimper,Orientierung zur Textlitrguistik; P/€rt, Textwisseflschaft ; Sowinski, Textlinguistik(statt Syqtaktik spricht er votr Textgradmatik und Textstilistit). Im exegetischen Be-reich vertretea aus aethodischetr udd arb€itst€chdischen Gründen eine solche Einte!lung in syntaktische, senrar ische uod pragmatische Analyse: IL Rirt, Das RedenGottes im Sohn. Zur textlinguistischen Methode der neutestamentlichen Bxegese;Schreiner - Dautzenberg, Gestalt und Aßpruch des Neuen Testameils; Zimmermann,

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stehen: die Beziehung Zeichen-Zeichen, Zeichen-Interpret, Zeichen-Objekte5. Noch einmal sei betont, daß auch bei der synchronen Analysein allen Arbeitsschritten die Berücksichtigung der kulturellen Welt derTexte unabdingbar ist.

Die eigentliche Analyse setzt mit der sprachlich-syntaktischen Ana-lyse ein. Die Durchsicht des Textes aufdie in ihm verwendeten sprachli-chen Zeichen und die Kombination dieser Zeichen sind der ersteSchritt, um die Eigenart des Textes zu erfassen, ,,denn alle folgendenSchritte gehen yon Beobachtungen aus, die sich aus der sprachlichenAnalys€ des Textes ergeben" 6.

Der z\Ä'eite Arbeitsschritt ist die scmantische Analyse. Hier geht es umdie Frage, was ein Wort, ein Satz, ein Text bedeutet und aufwelche Ge-gebenheiten sich ein Wort,/Satz,/Text bezieht. Zur Semantik zählt auchdie na[ative Analyse.

Der dritte Arbeitsschritt ist die pragmatische Analyse. Sie untersuchtden Bezug zwischen Text und Leser, also die Wirkung, die der Text aufden Leser ausübt, wobei besonders die konkrete Kommunikations- undHandlungssituation zu berücksichtigen ist.

Im nächsten Schritt, der Analys€ der Textsorten, ist zu untersucherr,zu welcher Textsorte/Gattung ein Text gehört. Dabei werden die Ergeb-nisse der vorausgehenden Arbeitsschritte verwendet: Anhand des Ver-gleichs von Texten (deren sprachliche, semantisch€, narrative undpragmatisch€ Eigenart schon untersucht sein muß) werden Texte aufihre Ahnlichkeit überprüft und werden die mehreren Texten gemeinsa-men Strukturmuster festgestellt.

Die historisch-kritische Methode erfährt durch diese Methoden eineErweiterung der Untersuchungsmethoden: Zwar geht auch die histo-risch-kritische Methode von einer Reihe von Beobachtungen am Textaus: doch werden in ihr häufig bestimmte Beobachtungen (2. B. Span-nungen im Text) privilegiert, während andere übersehen werden. In densynchronen Methoden wird nun die systematische und umfassende Be-obachtung der Textphänomene zu einem expliziten Arbeitsschritt ge-macht. Darüber hinaus wird die Tendenz zur Formalisierung, die schonin der Formgeschichte bemerkbar ist, weitergeführt. Durch diese stär-

Methodenlehre; tuankemölle, Kommunikativ€s Handeln 2lf. W. Schenk, Philippe:.briefe l9-26. In mehreren Monographien werden syntakrische und semanrische Äna-lyse angestellt, j€doch ohne pragmatische Analyse, so bei Olsson, Structure andMearin$ Minguez, Pentecostes; fialref, Abschlußerzählwrg; M. Theobold, Im An-fang war das WorL Textlinguistische Studie zum Johannesprolog (SBS 106;Stu[gart1982). Vgl. Egge\ Nachfolge 195-20?. (,,Die Kommunikationsstruktur von Mk10. t7-31').r P&tr. Textwissenschaft 52.6 Fohrc\ Exegese 5l.

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kere Formalisierung und die systematische Beobachtung von Textphä-nomenen werden die neueren Methoden zu einem noch geeigneterenKontrollinstrument für das rechte Verständnis der Texte und dadurchfür die ExeeeseT.

4. Teil

Lektüre unter diachronem Aspekt

Die synchronen Analyseverfahren eröffnen den Weg zum Sinn des Tex-tes, indem sie die Strukturen zeigen, die in einem Text vorhanden sind;die diachronen Analyseverfahren eröffnen hingegen den Zugang zumText, indem sie die innertextliche Vorgeschichte des Textes erhellen.Aus der Berücksichtigung der dialektischen Beziehungen von T€xtphä-nomenen und Quellen des Textes ergibt sich ein vertieftes Verständnisdes Textesr, von dem der geschichtlich denkende Mensch nicht absehenkann. Darüber hinaus bietet die Einsicht in die Entstehungsgeschichteder neutestamentlichen Texte Einblick in das Glaubensleben der erstenchristlichen Gemeinden und in deren Bemühen, den Sinn der FrohenBotschaft für neue Situationen zu deuten.

Die Informationen über die Vorgeschichte der neutestamentlichenTexte sind im wesentlichen anhand der Texte selbst zu erheben. Zwargibt es auch andere Nachrichten darüber (seit Papias von Hierapohsusw.), doch werfen diese Zeugnisse viele Fragen auf und bedürfen vorallem einer genauen Uberprüfung anhand der biblischen Texter. Dermethodische Zugzng zur Entstehungsgeschichte der neutestamentli-chen Texte besteht darin, Beobachtungen zu sammeln, aus denen dannRückschlüsse auf die Entstehungsgeschichte zu ziehen sind.

Das Textmodell der diachronen Analyse

Während die synchronen Analyseverfahren den Text unter dem Aspektbetrachten, daß der Text Teil eines zu einem bestimmten Zeitpunkt ge-gebenen Kommunikationsyorgangs und Teil eines vielfältigen Netzesvon (gleichzeitig gegebenen) Beziehungen ist, sehen die diachronenAnalyseverfahren den Text unter dem Aspekt der Entstehung.

I W. Babilos, Tradition und Interpretation (München l9?l) 60.'1 Vgl. die Einleitungen in das Neue Testaftent.

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Die neutestamentlichen Texte sind Ergebnisse eines über einenlängeren Zeitraum währenden Prozesses mündlicher und schriftl i-cher Überarbeitung und Weitergabe von Texten3.

Den Etapp€n der Textentstehung entsprechen, wie Abb. 26 zeigt, im we-sentlichen die verschiedenen Methoden der diachronen Analyse:

Mündliche Überlieferung(vor uEd nach Ostern)

JesuslogienEzählung€n über JesusGlaubens- und Bekenttnisformeln

Niederschdft (in Etappen)

Redaktioflskritik

Abb. 26i Etappen der Textentstehung utrd exegetische Methoden

Die Methoden der diachronen Analyse

Die Vertreter der historisch-kritischen Methode haben die heute alsklassisch geltenden Methodenschritte erarbeitet: Textkritik, Literarkri-tik, Form- uid Traditionsgeschichte,/-kritik, Redaktionsgeschichte./-kritik. An diese Methodenschritt€ wird hier angeknüpfta. Die folgendeDarlegung beschränkt sich allerdings (im Unterschied zur üblichen hi-storisch-kritischen Methode) streng auf den diachronen Aspekt, alsoauf die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der neutestamentli-chen Texte5. Einige Arbeitsschritte, die in der historisch-kritischen Me-thode im Zusammenhang dieser Arbeitsschritte dargestellt werden, diejedoch mehr synchroner Natur sind, wurden schon in der synchronenAnalyse dargestellt. Die Textkritik wurde wegen ihrer Sonderstellungschon im zweiten Teil behandelt.

Hinsichtlich der nicht immer einheitlichen Fachterminologie ist fot-gendes zu beachten: Ziel der diachronen Analyse ist die Rekonstruktiondes geschichtlichen Verlaufs, in dem di€ Texte ihre endgültige Form er-

i Siehe g 4.a Es wäre zwar eine stärkere Integratiod der historisch-kritischen Methode in die mo-dernell Analyseverfahred möglich; doch werden aus didaktischefl Gründen die her-kömdliched Methodetr d€r historisch-kritischeo Methode eigens dargestellt, um demAnfänger einen Zugadg zur diesbezüglichen Forschung zu eröffnen. - Die histodsch-kritische Methode unterscheidet insofern zwischen synchronen und diachronenAspekten, als häufig zwischen Gattungskritik und Gattungsgeschichte, Redaktions-und Kompositions-Kdtik und Redaktionsgeschichte unterschieden wird.I Der synchrone Aspekt der Textsorten wurde eigens dargestellt.

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t*0n,"*0.n,*

Literarkritik

reicht haben. Die Wortbildungen ,,Traditions- und Redaktionsge-schichte" bezeichnen diesen geschichtlichen Verlauf. Um diesen zurekonstruieren, sind,,kritische" Beobachtungen am Text €rforderlich,Darauf deuten die heute bevorzugten Wortbildungen ,,Literar-, Tradi-tions- und Redaktionskritik" 6. Da unter den einzelnen Bezeichnunscnin der Forschung nicht immer dasselbe vers[anden wird, werden diä inder vorliegenden Methodenl€hre yertretenen Auffassungen im folgen-den geklärt.

Im Arschluß an das texttheoretische Modell ergeben sich folgende Ar-beitsschritte:

Die Litorarkritik untersucht die vorgegebene Textfassung im Hinblickauf eventuell feststellbare literarische (schriftliche) Quellen.

Die Traditionskritik untersucht die Vorgeschichte der biblischenTexte, soweit sie aufmündlichen Quellen beruhen. Rückschlüsse daraufund auf den Sitz im Leben der ursprünglich isoliert überlieferten Text-einheiten beruhen auf den Beobachtungen zu Kont€xt, Form und Text-sorte der neutestamentlichen Texte.

Die Redaktionskritik untersucht, wie der Redaktor aus den ihrn zurVerfügung stehenden Materialien ein einheittiches Werk geschaffen hat.Die Hochschätzung des Evangelisten als Autor war am Beginn derFormgeschichte gering, indem der Evangelist einfach als Sammler vonTraditionen angesehen wurde; doch wurde dann auch die theologischeLeistung der Evangelisten gesehen.

Was die Reihenfolge der Arbeitsschritte betrifft, kann zwar keinSchritt ohne den anderen vollzogen werden. Die Redaktionskritik kannmehr anallisch geschehen und somit am Anfang der Schritte stehen,oder mehr synthetisch-zusammenfassend: dann steht sie (wie in diesemBuch) am Schluß der diachronen Verfahren.

6 Diese Spmchregelung geht vom folgetrden (umgangssprachlich vefitandtchen) Ba-sissatz aus:

"Durch kritische Beobachtungen am Text l?ißt sich die Traditions-/Redak-

tionsgeschichte des Text€s nachzeichnel",fraditio6-/Redaktio4sgeschichte" ist mdiesem Sprachgebrauch also nicht die Bezeichnutrg ei[er Methode ; sprachlich möglichsind die Bezeichnu[geot realaktionskritische/-geschichtliche Method€. Diese Sprach-regelung will nicht die diesbezüglichen Probleme lösen, sondern nur darlegeq welcheTerminologie in diesem Methodenbuch gewehlt wird.

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