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 · Die hoheren Menschen aller Zeiten und Volker, die großen Denker und .Künstler vor allem die großen Künstler und unter ihnen wieder ganz besonders die großen Dichter haben

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DAS THEATER BD . ! VIIAUFGABEN DES MODERNEN THEATERS VONCARL HAGEMANN o o o o

DAS THEATEREINE SAMMLUNG V ON MONOGRAPHIEEN

HERAUSGEGEBENV ONDR .CARLHAGEMANNMITBUCHSCHMUCK GEZIERTV ONE.M.LILIEN

ALLE RECHTE V ORBEHALTEN

Die hoheren Menschen aller Zeiten undVo lker, die großen Denker und .Künst ler

vor allem die großen Künstler und unterihnen wieder ganz besonders die großenD ichter haben als Grundthema ihresSchaffens und Wirkens in erster Linie die

Frage zu beantworten gesucht : wie befreieich m ich und damit denn auch alle die an.

deren, die meine Werke genießen, von denNöten der A l ltägl ichkeit wie lasse ich am

leichtesten, s ichersten und vo l lständigsten

die erdgeborenen Attribute des Seins zu

rück und wie verschaffe ich mir ein von al ledem geklärtes

,a lso idealeres Wohlbefinden !

Wie kann ich (mit anderen Wo rten) dasMenschendase in adeln adeln im S inne

e iner höheren allgemeinen Sittl ichke it !Das Erlösungsmotiv i s t also das Grund

motiv a lles künstlerischen Schaffens .Und auf ganz verschiedenen Wegen

glauben nun die verschiedenen großen

Männer dieses Ziel zu erreichen . Um nur

HAGEMANN

einige “Beispiele aus unseren Tagen zu

nennen : Leo To lstoi versucht es durch eineAbtötung des Trieblebens und durch einedarauf begründete entsagende Ethik . Mau

rice Maeterlinck empfiehlt nach dem Bei !

sp iele der a lten Mystiker,s ich in die

eigene Seele zu versenken und hier Zwiesprache mit Gott zu halten . Emile Zolahingegen wil l die Blicke der Menschen auf

die Wirk l ichkeit hinlenken . Er schildertdas Leben ab , indem er immer wi edergleichsam ausruft : seht her

,so ist es ! da

gegen hilft nichts ! Henrik Ibsen meint ,daß nur durch Wahrhaftigkeit und Aufrich

tigkeit im Verkehr der Menschen mit einander eine neue Gemeinschaft begründetwerden kann . Er setzt s ich dam it instren-

gsten Gegensatz zu O sk ar Wi lde , demgerade das Künstliche

,dem Künstlichkeit

im Leben,Denken und Fühlen das Wün

sehenswerte ist . Nach ihm müssen wir dasLeben unter Kunst setzen

,um es ertragen

zu können .

Von a l len am weitesten und t iefsten abergeht R ichard Wagner

,der die große Kunst

und zwar die nationa le Kunst a ls hehrs ten

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AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

Erlosungsfaktor pre ist . Durch Kunst zum

Leben,zu einem höheren

,würdigen , men

schenwürdigen Leben diese Forderung

wirft er stets von neuem in die dem Alltäglichen verfallene Menschheit hinein . Nur

von einem reineren,aufrichtigeren Verhält

hältnis des Menschen zur Kunst als zu denIdealen des Lebens erho fft er eine bessere

Zukunft .

Und e i n Kunstzweig ist es dabei ganzbesonders

,der ihm für diese Aufgabe so

recht passend erscheint : D a 3 T h e a t e r .

Das Theater gi lt Wagner als diehochste, weiteste und allgemeinste Machtsphäre des schaffenden Künstlers . Hier

,wo

sich so ziem l ich al le Kunstzweige zu einemweitschichtigen

,aber einheitsvollen Ganzen

mitgestaltend betätigen,wo jahr ein jahraus

Hunderttausende und AberhunderttausendeErbauung, Genuß, Anregung und Zerstreuung suchen suchen

,ohne dies

alles aber schließ l ich zu finden,wenig

stens in einer angemessenen,ausgie bigen

Weise , das heißt folgerichtig und restlos zufinden . Das

-

Theater könnte ja noch ganzandere asthetische Werte ausgeben

,al s es

HAGEMANN

heute gemeinhin zu tun pflegt,wennnur

die meist schlummernden Kräfte gewecktund dann zu einem großen künstlerischenO rganismus gebändigt würden Wenn manim Publikum überhaupt nur wüßte

,was die

Schaubühne,was die deutsche Schaubühne,

die S chaubuhne Richard Wagners seinkönnte : was s ie in s ich birgt und so gernab leisten möchte . Man braucht ja nur „zu

wo l len “

, und „man hätte eine Kunst“

: dortoben auf den Brettern und im Direktions

zimmer unten im Parterre und in denZeitungs

- Redaktionen .

Die Liebe,die Schwarmerei fur die

offentliche Schaubühne ist aber heute sowah l los

,so unkritisch

,und die Ansprüche

des großen Pub l ikums sind so gering unddeshalb so leicht befriedigt

,daß es garnicht

einmal merkt,wie verhältnismäßig tief ihre

Leistungen doch eigentlich stehen : wiewenig das

,was unsere Durchschnitts - The

ater vie lfach bieten,eigentl ich mit Kunst,

mit reiner,voraussetzungs loser Kunst zu

tun hat wie doch eigentl ich so manchesnur handwerksmäßige Fertigkeit ist und

von niedrigem Geschafts und Berufsge

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AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

bahren zeugt, was doch auf kunstlerischer

Eingebung beruhen und allen wirtschaftl ichen Zufäll igkeiten entrückt sein so llte .

Es ist wahr und muß wieder einmal ausgesprochen werden : Unsere öffent l icheSchaubühne befindet s ich im Durchschnittin einer künstlerischen Verfassung

,d ie der

V\’ürde des modernen Ku lturmenschen, voral lem des deutschen Kunstfreundes nichtrecht entspricht . E ine Reform muß hier

eintreten w ie s ie ja in kleine ren Kunstzweigen

,zum Be ispiel in der Wohnungs

kunst,in der Kunst des Buchschmuck3, ja

in neuester Zeit auch in der Kleiderkunst

schon heute tatsächlich eingetreten is t. Darüber herrscht bei allen ernsten Theaterfachleuten nur eine Stimme .

Aber wo anfangen ! und wie anfangen ’

Unter Theater verstehen wir die ernsteSchaubühne : das öffentliche Forum fürFeste des Lebens und der Kunst

, das heißtfür künst lerisch geschautes und künstle

risch dargeste lltes Leben. Dieses Theaterbietet uns Vortragskunst und zwar Aufführungen V on Werken der Grosskunst

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HAGEMANN

der Großkunst im Gegensatz zur Kleinkunst . Die Vortragskunst kann s ich näm

l ich in doppe lter Weise betätigen kannfür die künstlerische Pra ! is nach zwei Richtungen hin genützt werden

,die wesensver

schieden sind . Ich nehme den Begriff Vortragskunst hier einmal so weit wie mögl icha ls die mehr oder weniger ! ffentl iche Dar

ste llung al ler dazu geeigneten l iterarischenmusikalischen und l iterarisch - musikal ischenKunstprodukte durch nachschaffendeKünstler oder Kunstl iebhaber .Man denke sich e inmal Folgendes : In

einem angemessen hergerichteten Raums itzt eine Anzahl Personen

,die ein gemein

sames Sehnen und Wünschen"

nach höherenWerten des Daseins zusammengeführt hat ,in einer gehobenen

,wenn auch zwanglosen

Unterha ltung bei einander. Der gedeckteTisch und ebenso jede Art von n iedrigemGewitzel und Geflirt s ind ausgeschaltet, wo

mit dann also eine verhältnismäß ig hohegese l lschaft liche Stufe erreicht wurde . Da

tritt nun nach einer k leinen W'

eile j emandaus der Gesellschaft heraus und singt einLied

,etwa von Hugo Wo lf. Er i st dabei

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AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

des Interesses seiner Gese llschaft gewiß,er

steigert es und sammelt die Einzelnen

gleichsam zu einem geschlossenen , auf

nahmefähigen Ganzen ein, indem er an denFlügel geht und mit seinem Begleiter dieVorbereitungen trifft er befriedigt es

durch seinen Vortrag,er befriedigt es mehr

oder weniger,und tritt alsdann unter die

Gesellschaft zurück . Und wieder nach einerkleinen W

'

eile macht es ein anderer ähnlich :

er l iest ein Gedicht,etwa von Dehmel . Zwei

andere wissen später für eine besondersgeistvol le Stelle eines Dialoges

,etwa von

He rmann Bahr, zu interessieren. Undso fort .Wi r haben es hier dann gle ichsam m it

der weiteren Hebung der an sich schongeade lten Gemeinschaft in eine höhe reSphä re

,in ‘die Sphäre künstleri scher Be

tätigung zu tun . Das he ißt j ene kunstlerischen Ereignisse wurzeln in den Zu

hörenden . D ie Stimmung der Zuhörenden

ist die Voraussetzung die künstlerischenEreignisse (das Lied , die lyrischen Strophenund das Dialog- Stück) sind das Ergebni s,das nun a llerdings wieder auf die Stimmung

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HAGEMANN

der Zuhorer befruchtend wirkt das die

zunachst noch gebundene St immung gewißzu Zeiten bis zur elementaren Erschütterung steigern kann.

Wa s hier getrieben wird, mochte ich m itKleinkunst bezeichnen. We il es sich um

formal kleine (keineswegs m inderwertige)Kunstwerke

,um ihrer Art und ihrem Um

fange nach einfachere Erscheinungen eineskünstlerischen Bewußtseins handelt : um

ganz bestimmte O ffenbarungen des kuustlerischen Genius

,die wesentlich nur für einen

Vortrag unter den eben beschriebenen Umständen gedacht sind die nur hier ihrenkünstlerischen Widerhall finden . Ins gäh

nende Logenhaus oder in den langenund hohen Konzertsaa l verpflanzt vortausend Zuhörer gezerrt

, die in gar ke ineroder nur geringer Beziehung zu e inanderstehen

,bekommen sie diesen Widerha l l

nicht, zumindest nicht in dem gewünschtenMaße.Deshalb wahlen unsere Konzertsänger

auch so gern etwas Massigeres, wenn schoneinmal Kleinkunst von ihnen gefordertwird : sie bringen mit Vorl iebe große Arien

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AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

oder doch Balladen zu Gehor, oder setzenkleinere Lieder wenigstens zu Gruppen zusammen

,die dann effektvoll zu irgend

e inem beifallsicheren Schlager hin gestei

gert sind . Und deshalb geht j etzt , wo unsdurch Hugo Wol f

,Richard Strauß

,Hans

Pfitzner, Theodor Streicher und Ma ! Reger

e ine neue lyrische Kleinkunst bescheert

wird, das Streben nach mögl ichst intimen

Konzertsälen .

Ganz anders die Großkunst .

H ier entsteht das Kunstwerk ganz j enseits des Publikums und kommt m it e inerverhaltnismäßig großen äußeren und innerenWucht zur Erscheinung. Es muß die Zuhörer, die Zuschauer erst kraftvol l, machtvo l l bezwingen, ehe die Stimmung e intritt ,die den Genuß verbürgt . Fremde Menschen stellen hier etwas an s ich Selbständiges dar : ein selbstherrl iches Werk mitkünstlerischer Schwere und künstlerischer

Größe.

Das Werk der Kleinkunst wachst alsoaus . dem Alltag hervor. Das Werk derGroßkunst setzt sich zum Alltag in Gegensatz und zwingt den Al ltag gleichsam13

HAGEMANN

nieder. Es stel lt eine geschlossene idealeWelt her

,die im Drama ihre höchste Ge

schlossenheit erreicht . Die intime Kleinkunst gehört desha lb in den Salon . Diepathetische Großkunst ins Theater . Undmit dem Theater als Dars tellungsfeld fürWerke der Großkunst haben wir es im Fol

genden zu tun.

Ausgeschaltet wird dabei natürl icher

weise a l les Artistentum,wie es im Variété

und im Zirkus zur Geltung kommt. Ausge

schaltet werden auch die Cabarets, die zur

Kleinkunst gehören,und schließlich auch die

sogenannten Ueberbrettl .

Das Fiasko der Ueberbrettl—Bewegungl iefert ubrigens e in treffendes Schulbeispielfür die innere Verschiedenheit von Kleinkunst und Großkunst . Herr von Wolzogen

hat in ganz stilloser Weise Produkte derKleinkunst in das Theater, in den Nutzbaufür Produkte der Großkunst verpflanzt undso einen künstlerischen Zwitter geschaffen ,

dessen Lebenstage gezählt sein mußten . Er

hat den durchaus geschmackvo llen PariserCabaret - Gedanken völlig m ißverstanden .

Doch brachte er immerhin etwas an s ich‘

ne,

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

Neues und wurde Mode . Weil sein ganzes

Tun aber keine innere Berechtigung hatte ,mußte es trotz besten Wi llens bei Leitendenund Ausführenden absterben

,a ls die Mode

vorüber war.Ein Gutes haben die Ueberbrettl aber

doch geze itigt, und das sol l ihrem Begrün

der nicht v ergessen werden : Die intimeKunst

,die Kle inkunst ist seitdem wieder zu

Ehren gekommen in vielen Salons wirddoch j etzt wieder so etwas wie Kunstgeboten . Die Herrschaft des Klavierschmarrens , des Erik Meyer - Helmund

Liedes und der Klassiker - Parodie ist ge

brochen. Man zeigt in den deutschenSalons seit ein paar Jahren wieder etwaskünstlerisch - ;g esellmhaftliehes Anstands

gefühl .

Doch wir wol len beim Theater bleibenund seine Aufgaben für die nächste Zukunft

,wenigstens in ihren Grundzügen ,

kurz festlegen : die Normen für eine folgerichtig

'

e,innerl ich begründete Entwicklung

unserer Schaubühne aufzufinden uns bemühen . Wir wol len die Pfl ichten zu er

IS

HAGEMANN

kennen versuchen,d ie dem Theater als

e inem der wesentlichsten Kulturfaktorenerwachsen die Pfl ichten, die nicht etwavon außen, mehr oder weniger wi llkürlichherangetragen und als unumstoßliche Gesetze formul iert werden können, sondern d iesich zwangvoll aus den Daseinsbedingungenund Zweckbestimmungen der im Theatergezeigten dramatischen Kunst ergeben .

Daß die Schaubuhne eine Kulturmacht

werde und sei : das ist wohl in erster Lini efür j eden Zeitabschnitt die große Aufgabedes Theaters das ist die unbedingtePflicht a ller derer

,die hier an leitender

und wirkender Ste lle zu tun haben . DieSchaubühne kann nicht anders gefaßtwerden denn als künstlerischer Ausfluß derherrschenden

‚Kultur, das heißt der in der

Gesellscha ft Waltenden Kräfte : der ethischen

,ästhetischen und sozialen Werte .

Wir müssen in unserer theoretischenBetrachtung vor allem Ursache und Wirkung richtig erkennen . Und da ergibt s icheben, daß der nutzbare Wert oder Unwertder künstlerischen

,das heißt der ästhetisch

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HAGEMANN

mehr V orspanner her, die sich nun ihrerseits erst an den Kulturwagen anseilen . DerUniversitäts lehrer steht mit dem Vo lke in

so gut wie gar keiner Beziehung. SeineWorte sind meist ohne weiteres dem Laienganz unverständl ich. Sie brauchen Mittle r,Aus leger . Der gebildete Journa l is t stehtzwischen Univers itätslehrer und Volk .

N icht so im Theater . Das Theater iste in Vo lksinstitut die Theaterkünstler (ina l len ihren Erscheinungen vom selbstherr

l ichen Dramatiker bis hin zum Vertreterletzte r Ro l len) sind volksgeboren. Die Universität ist aristokratisch . Die Schaubühneist demokratisch . Und die Ki rche (um denBundesdritten hier auch noch flüchtig heranzuziehen) mochte beides sein und ist heuteso recht keins von beiden .

Das Theater unterscheidet sich nun insofern von den übrigen Kunstzweigen, a lses mehr wie sie unmittelbar auf der ethischen und ästhetischen V olkskraft ruht . Imdeutschen Reiche sind heute über 20 000

Schausp ieler tätig,die aus a l len Schichten

der Bevölkerung zusammen strömen . Und

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AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

das Publikum des Theaters ubertrifft schonan Zahl das Publikum der übrigen Kunstzweige um ein Vielfaches . Beziehungenunseres Theaters zum V olksganzen wirdman aber niemals ungestraft lockern dürfen .

In unseren Tagen weniger denn j e . Undwenn man heute das Theater hier als e inekünstl ich - verfeinerte Liebhaberei durchb ilden wil l, wie da s in einigen l inks stehenden hauptstädtischen Bühnen manchmal zuTage tritt

,oder dort a ls eine feierl ich - pathe

tische Eigenart ausbauen möchte,wie es

der sonst mit Recht geschatzte Wohnungs

künstler Peter Behrens in seinem BüchleinFeste des Lebens und der Kunst anzuregenversuchte , so kann man das ja immer tunund e inigen wenigen damit einen Gefallenerweisen . Dem geschichtlich erhärtetenGrundcharakter des Theaters entsprichtdies aber durchaus nicht . Die Schaubühnewar und ist das Forum für künstlerische

Gebilde aus den vielfach in und durcheinander greifenden Kräften des mensch licha llmenschlichen Trieblebens

,das in diesen

künstlerischen Gebi lden, in den drama

tischen Kunstwerken nach s ittlichen Konse

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HAGEMANN

quenzen geregelt oder nicht geregelt erscheint und das sich zu Macht P fl icht und

Rechtsfragen verdichtet : allen verständlich ,weil es a lle trifft

,alle angeht. So war es

und so dürfte es auch bleiberi.Dabei wird das Theater um so geschlos

sener sein,j e geregelter und gefestigter die

Weltanschauung der Ausübenden und vora ll em auch der Genießenden ist die Weltanschauung und die Kunstanschauung.

N icht zu letzt auch die Kunstanschauung :

die Fähigkeit zu geschlossenen ästhetischenUrteilen

,der lebhafte unerläßliche Anspruch

auf höhere künst lerische Bedingungen , nachdenen das Drama für sich abzulaufen hatund nach denen es von Bühnenkünstlern

darzustellen ist . Auf der Szene und im ParterreKulturmenschen

,besser : Zeitmenschen

weil man Ku ltur so le icht m it Bildungoder gar mit Wissen verwechselt dannhätten wir ein Theater

,hätten wir d a s

Theater. Aber eine solche Forderung ist natürlich nur ein Ideal . Diesem Ideal j edochmögl ichst nahe zu kommen, bleibt dieHauptaufgabe fur al l e Menschheitsbe

glücker.

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

Dann hatte man ubrigens auch die Gewahr, daß die Schauspielszene nicht zurParteitribühne und nicht zur Kanzel gemacht

,sondern ein freies Forum für das

Spiel und Widerspiel menschlicher Leidenschaften

,für das Austragen menschlich be

deutsamer Prob leme darstellen würde . D ie

Schaubühne ist keine Fesselstätte w ie

(leider) die Schule . Sie is t vielmehr eineBefreiungstatte : e ine Freistatt . Nur sois t d as große Ergebnis denkbar

, das uns

j edes künstlerisch übermitte lte Dramahöchster Potenz bieten kann und soll : daßnämlich der E inzelne durch ein tiefesSchauen in die Geheimnisse des Seins undWerdens

,in die Mysterien des Leids und

der Freude,des Großen

,Guten und Schonen

zu einem höchsten persönlichen Freiheits

bewußtsein und dadurch zu einer innerenEntwicklungs

- Moglichkeit,zum letzten .Aus

druck seiner eigensten Persönl ichkeit hingelangt.Dann wird auch der schl immste Feind

des Theaters,der Philister ausgeschaltet

sein . Der Philister, der ja überhaupt e inFeind aller freien Entfaltung von höheren

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HAGEMANN

Kräften und Werten ist weil er aus

Mangel an Spannkraft des Verstandes und

der Seele, j edes wunsch und sehnsuchtsvo l len Trieblebens bar

,durchaus im Alltäg

l ichen befangen b leibt,befangen b leiben

muß und aus Unkenntnis der tieferen Da.seins - Erscheinungen sich und seinesgleichenfür den Mittelpunkt hält

,um den die Gesell

schaft kreis t (der Phil ister aus Dummheitder harm losere) . Oder wei l er für sein

bißchen Ruhe,für die satte Behäbigkeit

eines unwürdigen Schmarotzerlebens fürch

tet , weil er j ede Art von innerer Aufregungund vor allem j ede Art von Arbeitsaufwandvermieden wissen wi l l (der Phil ister ausFeigheit und -Faulheit der gefährl ichere) .Durch den Mangel j edes kernhaft idea

listischen Schwunges , durch das E inschätzena l ler Dinge und Geschehnisse nach demEllenmaß einer möglichs t bequemen, al lesvereinfachenden Regel und unter dem Gesichtspunkt einer möglichst großen augenblicklichen Nützl ichkeit für die e igene ,wichtige Person

,durch das Sichwohlfühlen

in der Gebundenheit einer alles gleichma

chenden Autorität und unter dem schützen

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AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

den Dach der absoluten Mehrheit durchdiese wenig erbaulichen E igenschaften

bringt es der Phi li ster a llerhochstens zu derPhilosophie der sogenannten goldenenMittelstraße, die in mögl ichst bequemerFahrge legenheit langsam dahin zu gleitensein letztes Daseinsidea l ist . E in bißchen

Rührung anstatt aufwühlenden Erlebens,recht vie l Pathos und Scheinromantik anstatt schl icht dargeste l lter freier ethischästhetischer

-Lebenswerte bei diesem

Wünschen und Wöl len muß ihm ja gerade

das Uebertägliche, das in se iner Wahrhaftigkeit Beunruhigende des Dramas einGreuel sein : die hüllenlose

,wundervolle

Aufrichtigkeit der letzten seelischen Bezie

hungen der Menschen unter und gegeneinander

,des Menschen zu sich selbst , zu

Gott und a l len Teufe ln das Zurückführendes Seelenlebens auf unantastbare Normendie Erkenntnis von der Beschränktheit

a lles Endlichen das schonungslose Auf

wühlen der herkömmlich eingedämmtenLeidenschaften und Triebe : kurz das im

Philistersinne Tugendlose des Dramas , des

Theaters .

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HAGEMANN

Die Kulturgeschichte ist die Geschichtedes immer wieder überwundenen Phil isters .

Der Fort schritt der Menschheit wurde stetsnur dadurch erreicht, daß irgend ein Ganzgroßer die starre Masse des schläfrigenDurchschnitts überrannte . Mag dieser

Ganzgroße nun Buddha, Jesus oder LutherAle ! ander, Caesar oder Napoleon

La—ot - se, Platon oder Kant Aeschylos ,

Shakespeare,Goethe oder Wagner heißen .

Und so ist denn auch die Aufgabe desTheaters : den Philiste r überwinden .

HAGEMANN

nung bringt und auf den einmal festl iegenden Voraussetzungen aufbaut . Für j edenreformatorischen Eingriff ist die Erkenntnis des Anfangspunktes und die freie Uebersicht über den Weg bis hin zum Ende vona l lergrößter Bedeutung. Denn um etwasEndliches handelt es sich hier ja dochallemal .Die Manner um Ernst Wachler meinen

es gewiß sehr gut . Ihre eng begrenzte,geschlossene nationale Schaubühne kann esaber heute nicht geben sie kann es nichtmehr geben . Sie ist eine Idee von aufrich

tigen,aber beschränkten Idealisten ein

Traum von romantisch veranlagtenDeutschtumlern ein kulturgeschicht

l iches Mißverständnis,das s ich wie von

selbst lösen wird,das sich heute eigentl ich

schon gelöst hat . Geschlossene Nationa ltheater

,in denen möglichst völkische Stoffe

in eigenartig- einheitlicher,den S tammes

richtungen entsprechender Weise künstlerisch zum Drama ausgestaltet und in einemeigenartig einheit l ichen Darstellungstil

vorgeführt werden,sind nur unter ganz be

sonderen Bedingungen möglich : nur wenn

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AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

es eine geschlossene V olkheit mit einem geschl ossenen s itt li chen und kulturel len Bewußtsein gibt . Die Griechen ha tten einNationaltheater in diesem Sinne . DieRömer schon nicht mehr. Später brachteman es dann noch einma l in Spanien dahin

,

als für kurze Zeit sehr günstige pol itische ,religiöse und künstlerischeUmstände zusammentrafen (Calderon, Lope de Vega, Moreto) und in England

,das unter der Kö

nigin El isabeth berufen war, das Theaterder Renaissance zu b eherbergen (Shakespeare) .Unsere Kultur aber zeigt von alledem

so gut wi e nichts . Heute gibt es n ichtnur ein ausgewähltes Kulturvolk im Gegensatz zu Barbaren oder doch zu weiter zu

rückgebliebenen Menschenarten . Heutegibt es Kulturvolker, die sich standig imWettkampf m iteinander befinden , die nebeneinander stehen die aber auch gegenseitig abgeben, die sich gegenseitig beeinflussen. Von einer Geschlossenheit derNation im engeren Sinne, wie sie also fruherbestand, i st j etzt ke ine Rede . Vielmehrfindet unentwegt ein Angleich, e in Aus

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HAGEMANN

gleich der Nationen statt . Das Interesse furWe ltkultur, für die Sitten und Gebräucheund nicht zu letzt fur die Kunst auch deranderen Völker ist überall im Wachsen .

Heute gibt es ke ine kulturelle Vormachtals Ganzes mehr. Heute verteilt s ich die

Herrschaft in den einzelnen Kunstzwe igenauf d ie einzelnen Völker.Da liefert Deutschland d ie Mus iker,

Frankreich die Maler und Bildhauer, Ital iend ie Schauspieler, England die Wohnungskünstler. Deutschland ist die Wiege dermodernen Lyrik, Frankre ich der Prosaskizze und Skandinavien des modernenDramas . Paris l iefert die besten Bronzen,Kopenhagen das beste Porzellan und

London die geschmackvollsten HerrenArtikel . Aus Wien bezieht man die Operetten - Dirigenten

,aus Paris die Conféren

ciers und aus Newyork die Konzert undTheater - Agenten . In Paris spielt man heute

Wagner häufiger als irgend einen anderenOpernkomponisten

,in London und Peters

burg sind stehende deutsche Theater und inBerlin genießt Herr Leoncavallo die Gastfreundschaft des Kaisers . Erst durch die

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AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

Propaganda des deutschen Theaters wurdeIbsens Ruf als europäischer Dramatiker begründet und den Straußischen Walzer spieltman heute in der ganzen WeltUnter diesen Umständen bleibt ein

Harzer Bergtheater wo man übrigensdichterisch so gut wie belanglose Dramolets

in ganz unzulängl icher , im Grunde st illoserInszenierung bietet eine Liebhaberei ,und zwar eine altertumelnde Liebhaberei ,die nur einen ganz kleinen Kreis von Anhängern finden kann wie ja der Kassenausweis in den letzten Sommern wohl auch

bestätigt hat .

Das moderne deutsche Kultur - Theaterhat ganz andere

,hat viel we itere Aufgaben ,

d ie allerdings auch auf nationaler Grundlageruhen . Unsere Schaubühne muß insoferndurchaus nationa l sein und immerdar

bleiben,als deutsche Schauspieler für deut

sche Zuschauer deutsche dramatische Dich

tungen (neben den besten des Auslandesldarzustel len haben : das heißt mit d e n

Ich habe im letzten Kapitel meines Buches Operund Szene (V erlag von Schuster Loefl

'

l er, Berl in), aus ,

fiihrlich darüber gesprochen .

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HAGEMANN

Mitteln und E igenschaften,die unserem

Stamme eignen für die ästhetischen Be

dürfnisse des deutschen Kulturmenschen .

Wir Deutschen sind nun aber keineSchauspieler—Nation und werden schon deshalb die theatra l ische Wirkung niemals aufreine Schausp ieler - Leistungen aufbauenkönnen . Uns wäre damit auch keineswegsgenüge geschehen . Unser Sinn für die Geschlossenheit der künstlerischen Erschei

nung,

'unser Anspruch auf Erschöpfungihres letzten Gehaltes läßt uns nicht bei derSchauspielkunst stehen bleiben, sondern

läßt uns zu dem Begriff der Bühnenkunstkommen . Die Bühnenkunst

,die alle übrigen

Künste und Kunstzweige nach ganz bestimmten Gesichtspunkten

,zu ganz be

stimmten,oft kleinen und oft ganz großen

Dienstleistungen heranzieht,is t ein Ausfluß

des deut schen Wesens : nur das auf derBühnenkunst beruhende deutsche Theater

kann ein Nationaltheater werden, wenn mandieses schöne Wort auch heute noch ge

brauchen wil l .Die Aufgabe des modernen deutschen

Theaters als unseres Nationaltheaters is t

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AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

also : die gesamte Buhnenkuns t zur Darste l lung von rein menschl ich bedeutsamen

Kunstwe rken heranzuziehenDer uns d iesen Weg wies

,war natürl ich

ein deutscher Meister : es war,wie al le

wissen,Richard Wagner .

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Wenn man in unseren Tagen die Leuteuber das Theater reden hört

,so muß man

darauf gefaßt sein,auf zwei Urteile von ganz

entgegengesetzter Art zu stoßen,die von

ihren Trägern stets mit einer gewissenLeidenschaftl ichkeit vorgetragen werden .

Die einen pflegen das Theater schlecht

weg zu verdammen und j ede Erörterungdarüber kurz von der Hand zu weisen, indem sie den ganzen Zuschn itt des künstle

risch so durchaus minderwert igen Theater

betriebes als j edes geb ildeten Kulturmenschen unwürdig erklären . E ine ganzeAnzahl von Kunstfreunden

, darunter unsereerlesensten Ge ister

,betreten n iemals oder

doch nur zu besonderen Anlässen das Theater . Ich kenne manche Verehrer desdeutschen Musikdramas

,die s ich Wagners

Werke nur in Bayreuth ansehen .

Die anderen dagegen glauben fest an diegroße Bedeutung des heutigen Theaters .

S ie übersehen in ihrer fanatischen Liebe zur

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HAGEMANN

schamen braucht und dem er sich deshalbpeinl ichst fernhalten muß. Das Theater bedeutet schon jetzt doch immerhin eine nichtohne weiteres weg zu denkende Macht

,die

man mit etwas Beharrlichkeit und vielEnergie , mit etwas diplomatischem Geschickund viel gutem Wi l len

,besonders aber m it

organisatorischem “ Talent und einer verzweigten Kenntnis des künstlerischen undgeschäftl ichen Betriebes

,mit etwas histo

risch geschulter und kulturfroher Eins ichtund viel Selbstlosigke it unschwer in denD ienst wahrer Kultur stellen könnte .

Ich jedenfa lls glaube sicher an die Moglichkeit einer Theaterreform . Sie kostetallerdings Schweiß aber sie scheint mirdes Schweißes wert

Die Theater,vor allem die Provinz

theater die uns hier j etzt vorläufig inerster Linie interessieren sind heute Ge

schäftstheater : es sind Handelshäuser, woan Stel le von verschiedenen Arten Tee undKaffee m it verschiedenen Arten dramatischer Kunst gehandelt wird nach demallgemeinen Marktgesetz von Angebot und

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AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

Nachfrage . Das Publikum wunscht und erhält, was es bezahlen kann und wi l l . Andersausgedrückt : das Pub l ikum hat die wesentl ich bestimmende Macht für die Zusammensetzung des Sp ielplans . Das Pub l ikumherrscht also . Das Publ ikum ist aber keinHerrscher . Nur ein Einzelner kann herrschen er muß allerdings darnach sein .

Der Massenwille is t roh und launischstumpf und träge

,wahllos und rückständig.

Nur der Wille eines E inze lnen ist licht undklar kann wenigstens licht und klar sein .

So hätte denn also auch in unserem Fal leder Einzelne den Spielplan zu bestimmen :der berufene E inzelne der künstlerischeHerrenmensch . Die Masse hat immer Bevormundung gebraucht . Und in der Kunstist diese Bevormundung am nötigsten .

Gewiß soll dem Pub likum das werden ,was es vor allem wünscht und was es , w iedie soz ialen Verhäl tniss e l iegen , auch durchaus gebraucht : näml ich Unterhaltung. Daßman aber in der nationalen Schauburg nurk ü n s t l e r i s c h e Unterhaltung zu suchenund zu finden hat, daß hier bei aller Ausgelassenhe it immer doch eine gewisse

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HAGEMANN

menschliche und kunstlerische Wurde herrsche, daß in erster Linie der gute Geschmackgewahrt bleibt : darüber hätte der berufeneE inzelne zu wachen .

Wer unter diesen Umstanden nicht hineingehen will

,mag doch draußen bleiben .

Es ist ja für pikante Zerstreuungen und füra llerhand kurzwei l ige Vergnügen

,die an

den Geist keinerlei Anforderungen stellen,hinreichend gesorgt . Meinetwegen sollman die Variétés und Zirkushallen verdop

peln oder verdreifachen . Wenn nur dieSchaubühne rein bleibt wenn es nur inj eder Stadt zum mindesten eine Stätte gibt,wo Kunst und Kultur ihren schwesterl ichenReigen schlingen . Zwischen der Fl edermaus und dem Tristan l iegt immerhin nocheine weite Strecke Wegs

,die uns vom

Heiterlieblichen bis hin zum Tiefkluftigheroischen führt . Da kann der Kunstfreundganz nach Laune und Stimmung seine Rastbald hier und ba ld dort halten .

Das Theater steht also auf dem Erfolgbeim zah lenden Pub l ikum

,also bei der

Masse . Und es sol lte doch auf dem Erfolg

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AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

bei den Besten stehen . Sind nun schon ein

ma l empfängl iche und weniger empfängliche

,für künstlerischen Genuß veranlagte

und weniger veran lagte Teilnehmer zu

einem Pub l ikum zusammen geschlossen,so

müßten doch die Ansprüche der Bestenunter ihnen für die Theater leitung maßs

gebend sein .

Dabei so l lte man diese Besten aberkeineswegs nur in den sogenannten hoherenGesellschaftskreisen suchen . Ganz gewißnicht . Da s künstlerische Gefuhl, das ästhe

tische Bewußtsein ist eine rein mensch l icheBegabung

,die durch Bildung

,das heißt

durch Beispiele woh l gefördert , auch geweckt

,nie aber geschaff en werden kann .

Man hat den Sinn dafür oder man hat ihnnicht man hat ihn mehr oder weniger .

Mit der Geldbörse hat das nichts, mit dem

heut e so be l iebten Lehreririnen und demAbiturienten - E ! amen nur sehr wenig zu

tun . Wer von uns i st nicht schon gelegent

l ich beim gemeinen Manne durch ein äußerstfe in gestimmtes Gefühl für Schönes

,weniger

Schönes und Häßliches beschämt worden'

Und wen haben nicht schon Menschen aus

37

HAGEMANN

niedrigen Gesellschaftschichten durch dasVorwa lten eines innerlich vornehmen Lebenstaktes oft auf das Angenehmste überrascht ! Etwas anderes is t es natürlich mitdem ästhetischen Urtei l : mit der Forme lfür das Erlebte . Da b leibt natürlich eine

gewisse verstandesmäßige und dann auchsprachliche Schulung unerlaßlich,

wom it der

sogenannte Gebildete ohne Zweifel besseraufzuwarten vermag. Dies aber steht hiererst in zweiter Linie .

Zunachst schaffe man also die Moglich

keit,daß auf unserer na tionalen Schaubühne

für dramatische Großkunst den Besten derZeit genüge geschehen kann . Diese Möglichkeit wird aber nur eintreten

,wenn man

der aussch l ieß l ichen Herrschaft des täg

l ichen Kassenberichtes ein Ende macht .

Die ernste Bühne der Stadt muß ihren reinenGeschäftscharakter verl ieren, das heißt , s iemuß tatsächlich zu einer s t ä d t i s c h e nSchaubühne werden . Die Reform des modernen Theaters so l lte deshalb überal l damitbeginnen

,daß die Gemeinde al leinige Be

sitzerin des Theatergebäudes und des gesamten Fundus wird und einen gut beso l

38

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

detem, kunstlerisch gebildeten und dam itdann verantwortlichen Leiter des s tädti

schen Theaterwesens als Intendanten bestellt

,der die nötigen Bühnenkräfte im

Namen der Stadt zu verpfl ichten hat ! ) Erstdann und erst

,wenn die städtische Ver

waltung gewillt i st , ihrem Theater eine aus

reichende sachl iche und nicht zuletzt eineenergische moralische Unterstützung zu teilwerden zu lassen

,kann zu weiteren inneren

Reformen geschritten werden . Denn erst,wenn die hastige Betriebsamkeit des geschäftlichen Unternehmens aufgehört hat

,

i st die nötige Muße und der nötige Kunstwi l len dazu vorhanden .

Wenn der Staat hier nicht eingreifen

wi ll , müssen die Stadte eben zur Selbsthülfe schreiten . Die Macht dazu ist ihnen

ja gegeben .

Es is t seltsam : D ie fortgesetzte Anteil

Dies ist in Mannheim der Fall, wo die Stadt demHof und Nationaltheater außerordentlich hohe Zuschüsseleistet und dafur den Intendanten ernennt, den die großherzogliche Regierung alsdann zu bestätigen hat. Fernerwerden die Theater in Straßburg und Freiburg bereits alsstädtische Kunstinstitute geführt .

39

HAGEMANN

nahme der deutschen Regierungen an derWeiterentwickelung unserer heute weltbeherrschenden Universitäten und andererwiss enschaft l ichen und e rzieherischen Ansta lten wird ja schon j etzt a l lseitig än

erkannt . Auch einze lne Kunstzweige,be

sonders die bildenden Künste erfreuensich seitens der Staatsbehörden schonvon j eher dauernder Sympathien . So hatman dem preußischen Kultusministeriumseit langem verschiedene Berichte rstatterfür Kunstange legenheiten beigegeben undihnen die Denkmäler

,die Museen und an

dere öffentl iche Kunstanstalten zur Auf

sicht überwiesen,denen außerdem regel

mäßig namhafte Zuschus se von Staa tswegen zufl ießen . Merkwürdigerweise wurde

aber bisher gerade der Kunstzweig,der

zweife l los bei weitem die größte sozia leWichtigkeit fur die geistigen Bedurfnis se

des Vo lkes beansprucht,dem doch einzig

zuständigen Verwaltungsbereich nichtunterste l lt . Die ganze staat liche Fürsorgedes Thea terwesens erst reckt s ich ausschließ

l ich auf eine po l izei l iche Aufsicht zur Vermeidung von Verstößen gegen die öffent

40

HAGEMANN

hier und da Leuten, die nicht einmal die geforderte Mindestsumme nachweisen können, die Erlaubnis verweigert wird, so dürf tees d och schwer sein

,einen Fall nainhaft zu

machen, wo man einem „Direktor“ wegen

künstlerischer Minderwertigkeit und moralischer Unzuverlässigkeit den Gewerbeschein zum Betrieb eines Schauspiel - Unternehmens “ vorentha lten hätte .

Hier an der Wurzel m üßte Wandel geschaffen das System müßte von Grundaus gewechsel t werden .

Und dann mag auch die Bi ldung, dieSchulung des Publikums einsetzen, die ge

wiß nicht von der Hand zu weisen ist .

Dürfte das moderne Theater schon ganzallgemein kunstlerisch und finanziel l um sobesser gedeihen

,j e mehr s ich die Gebildeten

zu einer Gesellschaft zusammen schl ießen,das heißt j e mehr die Berufs StammesReligions und Famil ien - Interessen zu

Gunsten des Reinmenschlichen,des Allge

meinen zurücktreten,so wird dies in ganz

besonderem Maße der Fall sein, wenn s ichinnerhalb der allgemeinen Gesellschaft noch

42

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

wieder verschiedene Kreis e m it kunstle

rischen Bestrebungen bilden . Im Rheinlande und auch anderswo hat man ja mitGründungen von literarischen und musikali

schen Vereinigungen einen bescheidenenAnfang gemacht . Ebenso bestehen ja fürweitere V olkschichten fas t übera ll bereitssogenannte Bildungsvere ine , die mit ihren

oft treffl ich zusammengestellten Vortragsordnungen eine segensreiche Wirksamkeitentfa lten . Und seit einigen Jahren gibt esin manchen größeren Städten al lgemeineVo lksunterhaltungsabende, wo der Arbeiter

oft schon für zehn Pfennige ein paar Stunden im Banne der Kunst verbringen kann .

Auf diesen Wegen wäre gewiß auch imS inne einer gründlichen Reform der öffent

lichen Schaubühne fortzufahren .

43

Die vom Theater geforderte Leistungbesteht im Grunde darin

,dramatische

Kunstwerke in die ihnen angemessene Erscheinung treten zu lassen .

Das Theater ist a lso kein Zweck an s ich ,sondern nur ein Mitte l zum Zweck

,a ller

dings ein sehr notwendiges Mitte l zu einemsehr bedeutsamen Zweck . Seine Aufgabeist da rum verhältnismäßig klein, was dieselbstschöpferischen Werte betrifft

,also

nach der Tiefe zu . Sie ist aber dafür ganzaußerordentl ich groß

,was die nach und

ausschöpferischen Werte betrifft, also nachder Breite zu .

Die wesent l iche Aufgabe des Theatersste llt sich nun in fo lgenden beiden Grundfragen dar :We lche Dramen so l l es spie len ! UndWie so l l es diese Dramen

'

spielen !

Was so l l das Theater sp ielen was solldas moderne Theater spielen !

44

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

Die Antwort kann unmittelbar aus derFrage abgelesen werden . Sie l iegt bereitsin dem Kernwort der Fragestellung

,in dem

Begriff modern : Die Aufgabe des modernenTheaters is t eine angemessene Da rstellungmoderner Dramen .

Dabei gilt für modern naturlicherweise

nicht nur das,was der letzte Theateralma

nach als Neuheit bezeichnet , oder was einpaar literarische Kastenführer als moderneDichtungen ausgeben . Das heute schonrecht abgegriffene

,keineswegs mehr schlag

kräftige Wort modern bedeutet vielmehr imGrunde dasselbe

,was R ichard Wagner m it

reinmenschlich bezeichnete , und was Goethe

allgemein nannte .

Goethe sagte einmal (ich glaube zu

Eckermann) : „Allgemein und poetisch wirdein spezieller Stoff dadurch

,daß ihn der

Dichter behandelt . Für Goethe war alsoj eder Stoff gle ich viel wert . Poetisch wurdeer ihm j edesmal erst durch die Behandlung.

_Und weiterhin heißt es bei Goethe : Ichhabe all mein Wirken und Leisten immernur symbol isch angesehen

,und es war m ir

im Grunde gleichgültig, ob ich Topfe

45

HAGEMANN

machte oder Schusseln . Die Bedeutungeiner dichterischen

,also auch einer drama

tischen Leistung ist deshalb wohl darnachzu messen, wie weit s ie symbol isch aufgefaßt werden kann

,das heißt, ob sie wie ein

Gleichnis zu wirken vermag . Denn daskünstlerische Gleichnis hat für selbständige ,reife Menschen die großte Ueberzeugungs

und dam it auch die größte Stimmungskraft .Wir lehnen es gewöhnl ich ab , einen neuenGedanken rein begrifi

'

lich aufzunehmen, in

unser persönlichstes Dasein zu übertragenwir fürchten einfach die Folgen einer

solchen Umwertung und bleiben deshalbl ieber beim Alten . Viel l eichter zwingt unsschon das künstlerische Gleichnis . Das Er

leben eines symbol ischen,in eine andere

Sphäre versetzten dichterisch geschautenund gestalteten Vorgangs vermag uns eher

zu packen und zu überwäligen. Und dasErgebnis ist meist eine seelische Läuterungund eine andachtsvoll e Stimmung : die Voraussetzungen der künstlerischen Wirkung.

So durfte denn auch N ietzsche sagen : „Aufj edem Gleichn is reitest du zu e iner neuen

Wahrheit . “

46

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

Was wir darnach brauchen und wun

schen , ist eine Bühne der Lebendigen . Das

moderne Theater sol l uns die Meisterwerke

aller Zeiten und Völker darstellen natür

l ich in einer für jede Sp ielzeit folgerichtig

angelegten, geschmackvol len Auswahl .

Es so l l aber ferner auch eine Bühne der

Lebenden se in und damit die Möglichkeit

b ieten,daß schon die M itwelt b is zu ge

wissem Grade erkennen kann,was von den

Schöpfungen der Gegenwart vorauss ichtlich

Anspruch hat,dermaleinst zu den lebendigen

Werken mit Ewigkeitswert und Ewigke its

dauer zu gehören . Das moderne Theater

muß Platz,und zwar hinreichend Platz für

die Kunst,für das Kunstwol len der Wer

denden,Ringenden haben . Es muß regel

mäßige Versuche anstellen_

und som it e in

Stück freie Bühne sein . Denn es erreichtdann gl e ich dreierlei : es verschafft den

Dichtern Gelegenheit,ihre Werke zu sehen

und an ihren Feh lern zu l ernen es gibt

dem Publikum Aufschluß über die künstle

rischen Abs ichten der Zukunftsfrohen

und es stel lt den Bühnenkünstlern neue

47

HAGEMANN

Aufgaben und damit die notigen Bedingun

gen zu neuen schöpferischen Taten .

Neben den anerkannten Vertretern derBuhne der Lebenden (Ibsen, Hauptmann,Schnitzler und andere im Musikdrama\Nagner) müssen auch die Jüngeren undJüngsten erscheinen (al le die WedekindHoffmannsthal

,V ollmoeller, Eulenberg

,

Wilde,Shaw

,Strindberg im Musikdrama

Strauß,Schi l l ings

,Humperdinck

,Wein

gartner,Pfitzner

,B lech

,Siegfried Wagner) .

Und zwar sollten s ich die Provinzbuhnen nicht darauf beschränken

,die erfolg

reichen Neuheiten der Berliner Bühnen unbesehen nachzuspie len oft ohne zufragen

,ob diese Stücke in der Hauptstadt

nicht nur einen Kasten oder gar nur einenDarstellungserfolg erzie lten . Sie so l ltennicht ein paar Verlagsfirmen a uf eigeneFaust und natürlich aussch li eßlich nach bewährten Geschaftsrege ln die dramaturgi

schen Entscheidungen für ganz Deutschlandbesorgen lassen

,sondern j ede für sich mög

lichst se lbständig vorgehen und eine Ehredarin suchen

,unabhängig von j eder persön

l ichen oder finanziel len Bevormundung

48

HAGEMANN

Schon in der Gestaltung des wochentl ichen und täglichen Arbeitsplanes müßteein verläß l icher Takt und Geschmack undvor a l lem auch ein sicheres Sti lgefühlbei der Bühnen leitung zum Ausdruck kommen . Da wäre schwerere und leichterekünst lerische Kost in ein angemessenesVerhältnis zu einander zu setzen und in ab

wechslungsreicher Fo lge darzubieten . Damüßten die Erst und Uraufführungen auf

die ganze Spielzeit,und dann wieder auf

die begrenzteren Sp ie labschnitte nach gewissen Abstanden verteilt werden . Undwenn auch heute nicht mehr wie noch zuAnfang des vorigen Jahrhunderts unter demgroßen Schröder vie lfach steirische Sängerund Tänzer die Verbindung zwischen zweiSingsp ielen oder zwei Einaktern herste l lenwenn auch heute nicht mehr wie noch

um die Mitte des vorigen Jahrhunderts zur

Zeit der genialen Wi lhelmine SchröderDevrient häufig ein Gemisch von drei odervier

,aus ganz verschiedenen Opern stam

menden Akten dargeboten wird,so ist doch

in diesem Sinne immer noch das Letzte zutun . Daß am se lben Abend dem Fidelio das

50

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

Ballett Die Puppenfee oder irgend einschales Tanzensemble vorhergeht oder fo lgt

,

kann man auch heute noch erleben . Ja , eswird einem sogar hin und wieder zugemutet

,vor einer nicht sonderl ich langen

Oper ein einaktiges Schausp ie l mit in denKauf zu nehmen .

Die Elle ist a lso noch fur die Kunst in

Gebrauch : Der zahlende Besucher erwirbt

das verbriefte Anrecht auf drei Stunden langTheaterkunst . Und da nicht immer etwa sleid l ich zu einander Passendes (wie beisp ielsweise die Cava l leria rusticana und derBajazzo) auf Lager, das heißt vorbereitet

ist,so werden eben zwei laufende bel iebige

W'

erke aneinander geschoben .

Im Allgemeinen hatte sich da s Verhaltnis der Aufführungen von Schausp ie len undOpern unter anderem auch mit nach der

Höhe und Bedeutung der Leistungen , nachdem an Zah l verschiedenen Angebot auf

führungswerter Stücke der einen oder an

dern Gattung zu richten . Das wieder ein

ma l aus der Kassenübers icht abgele iteteVerhältnis von Dreifunfte l der gesamtenSp ielzeit fur die Oper und Zweifünftel für

5 1

HAGEMANN

das Schausp iel,ist nach den V oraus setzun

gen unserer Sp ie lp lan - Grundsatze nicht

ohne weiteres stichhaltig . Und dann sollteman doch schl ieß l ich auch acht geben , auf

we lchem Gebiete gerade etwas Besonderesge leistet wird welches Gebiet also auf dieBühne für den Augenblick den größerenAnspruch hat . Da s kann bald die Oper undba ld das Schausp ie l treffen .

Das an den meisten Stadttheatern herrschemde Abonnement müßte dann al lerdingswohl fallen

,wenigstens dürfte es nicht an

bestimmte Wochentage gebunden sein . DasAbonnement

,das die Teilhaber der ver

schiedenen Reihen moglichst gleichmäßigzu bedenken und Wiederholungen vonStucken peinlichst zu vermeiden sucht ,hemmt die großzügig- kunstlerische Durchbi ldung des Spielplans ganz außerordent

l ich . Man‚

setze doch für j eden der verschiedenen P lätze von se iten der stadtischen Be

hörde einen Einheitssatz fest , den nun

j eder bezahlen muß,der das Theater be

suchen wil l . Es ist nicht recht einzusehen,weshalb die Leute

,die in der angenehmen

wirtschaftl ichen Lage sind , das Theater

52

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

häufiger zu besuchen,einen geringeren Be

trag zah len so l len a ls die,die sich nur se l

tener einen Theaterabend leisten können .

Um nun sowoh l das reine Wortdrama

wie das W'

orttondrama in stilvol ler Weisezur Darste l lung zu bringen

,müßte für un

sere moderne Scha ubühne auch ein modernes Theatergebäude geschaffen werden .

Das Renaissance - Theater,das heute noch

a l lgemein ubliche Logenhaus , war fur diedama lige Zeit

,das heißt für Aufführungen

der ita l ienischen Uropern und mit Rücksichtauf die gesel lschaftl ich durchaus getrenntenBevölkerungschichten am P latze . Fürunsere Zeit und unsere verfeinerten buhnenkünst lerischen Ansprüche ist es vö l lig un

brauchbar . Und ob man es nun größer oderk leiner anlegen mag : der Uebelstand i st soziem l ich der gleiche . Nur daß er dort da s

Schausp ie l und hier die Oper trifft . Bautman das Theater näm l ich größer

,so kann

von einer sti lvo llen Bühnenkunst für das moderne See len - Drama und das feine

,sch lag

kräftig zugesp itzte Unterhaltungstück keineRede sein . Und baut man das Theater

kleiner,so ist wieder das moderne Musik

53

HAGEMANN

drama nicht in der gehorigen Weise dar

ste l lbar.

Für mittlere und kleinere Stadttheater

empfiehlt s ich woh l am ehesten das von

Paul Marsop meines Wissens zuerst vorge

schlagene Doppe lhaus : nam l ich ein Haus

mit gemeinschaft licher,nach Breite und

Tiefe bel iebig e inzuschrä nkender Szene , an

die s ich von der einen Seite ein größeres

Amphitheater fur das Tondrama wie für das

gesprochene Stuck mit weitschichtigem Apparat

,von der andern Seite ein k leines

Amphitheater fur intime Schau und Sing

sp i ele angl iederte .

“ Das Logenhaus ware

also im Prinzip aufzugeben und dafür ein

Amphitheater einzurichten man könnte

es ja j edesma l durch einen Logenkranz ab

schl ießen und darüber vie l leicht noch eine

ziem l ich tiefe Gal lerie anordnen . Heutzu

tage fährt ja der hohe Staatsbeamte neben

der Burgers frau , ja sogar neben dem von

seiner Fabrik heimkehrenden Arbeiter ganz

ge lassen in demselben Straßenbahnwagen .

VVesh-

a lb so l lte man sich denn n icht auch im

54

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

Amphitheater ve'

rtragen,das man übrigens

ja immer noch rangmäßig abtei len könnteund aus sozialen Gründen wohl auch abteilen müßte .

Wenn wir a l le die Werke Dichterwerkenennen

,die als Ganzes symbo l isch

,also wie

ein Gleichnis wirken,dann l iegt die Aufgabe

des Theaters offenbar darin,j edes einzelne

Dichtwerk,hier also jedes einzelne Drama

,

so wieder zu geben,daß die Genießenden

mit dem Gefühl ent lassen werden,ein

Gleichnis geschaut zu haben .

Diese Leistung ist aber nur fur den Fal lzu erzie len

,daß zuvörderst zwei wichtige

Bedingungen auf der Bühne erfü llt werden :daß sich ein grundlegendes ethisches Moment gemeinsam mit e inem grundlegendenästhetischen Moment wirksam erweist .Wenn wir ein gewisses schau5pie lerisches ,

ma lerisches oder technisches Können (j enachdem

,welche Art von Buhnenmitglie

dern wir gerade ins Auge fassen) , eine gewisse verstandesmäßige und darstel lerischeFähigkeit des Einzelnen vorausetzen,

soruht j ede wahre Kunst le istung der Schaubühne auf einer ernsthaften Bereitwilligkeit

56

HAGEMANN

die E inze lleistungen zu einem Ganzen zusammenschweißt und dem Ganzen seineneindeutigen künstlerischen Charakter gibtder a l le Mitwirkenden zu einer geschlos

senen künst lerischen Erscheinungsformbändigt . Der Stil

Was ist Sti l ! Was heißt sti l is ieren !

Die fur Andere wahrnehmbaren Aeuße

rungen e ines Menschen, die wir gemeinhina ls sein Benehmen bezeichnen

,ver laufen

nach Maßgabe innerer seel ischer Erschütte

rungen Diese inneren seelischen Er

schütterungen erha lten ihre Richtung voneiner bestimmten seel ischen Verfassung alsDominante

,von einer bestimmten eigen

mensch l ichen An lage,von ganz besonderen

Persönl ichkeitswerten s ie weisen also ge

meinsame Merkmale auf und verlaufen in

einer bestimmten Richtung, nach Maßgabeinnerer und äußerer RegelmäßigkeitenDiese gemeinsamen Merkmale lassen S ichinfolgedessen auch an den für Andere wahr

nehmbaren Aeußerungen,Gewohnheiten

und Betätigungen des Menschen ablesen .

58

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

Und zwar : j e entwicke lter,j e rei fer der

Mensch und j e eindeutiger,begrenzter sein

Seelen leben ist,namentl ich aber j e aufrich

tiger er s ich gibt,j e vollständiger er die in

neren seel ischen Erschütterungen zu sinnfäl liger Darstel lung bringt : umso eher und

leichter kann man aus seinen wahrnehm

baren Aeußerungen a l ler Art auf sein letztesWesen sch l ießen umso einfacher ist es

,

die s innfäl l ige Formel für des Einzelnenhöchst persönl iche Art zu finden

,den Aus

druck seines Wo l lens und Wesens gesetzmäß ig einzufangenDer Künst ler

,fur unsern Fal l a lso der

Dichter und zwar der dramatische Dichterist nun ein solcher Mensch mit einem be

sonders d eutl ichen und bedeutungsvo l lenWesen . Der echte Dichter wenigstens gibtsein ganzes Wesen in seinen Dichtungenaus auch im Drama

,dieser selbstherr

l iebsten Gattung der Dichtkunst Daseinze lne Werk , hier also das einzelneDrama

,is t s e i n e 3 ganz bestimmten We

sens und verlangt deshalb eine ganz bestimmte Art der Aeußerung, der szenischenDarstel lung vom Bühnenkünst ler . Diese

59

HAGEMANN

ganz bestimmte Art der Aeußerung nennenwir : den Sti l .Die vielfa ltige nachschopferische Arbei t

des Buhnenküns tlers,die j eder einze lne Mit

wirkend e für s ich,im Kleinen

,und die der

Regisseur dann fur a l le,fur das Ganze , im

Großen vo l lzieht,untersteht demnach einer

ganz bestimmten inneren Gesetzmäß igkeit

Diese innere Gesetzmäßigkeit wirdgewiß mehr emp funden a ls erdacht

,mehr

unwi l lkürlich erfaßt a ls gelehrt und gelernt .

S ie kann aber zur sinn l ich wahrnehmbarenDarste l lung von Charakteren und vonganzen

,au f diesen Charakteren ruhenden

Hand lungen dennoch einer großen a l lgemeinen Bi ldung und eines scharfen V erstan

des beim Bühnenkünst ler,vor al lem beim

Regisseur nicht entratenNur mit Hü l fe des stil istischen Konnens

vermag das Pub l ikum die eigenste We lt desDramatikers wirk l ich zu erfassen . Und sowird denn die große Bedeutsamkeit des Re

gisseurs am Theater ohne weiteres vers tändlich. Er muß das ästhetisch Kernhaftedes dramatischen Kunstwerks erfühlen und

darste llen : seinen Pu lsschlag,seinen Rhyth

60

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

mus heraushorchen konnen . Er muß das Gewirr der leitenden Motive

,der Stilsymbole

aufzulösen,zu sondern und wieder zusam

menzuschließen verstehen . Der Dichterbraucht den Regisseur . Er braucht ihn notwendig

,wei l se in Kunstwerk ja nicht ohne

weiteres erscheinungsfertig i st . Er brauchtihn für tausend geheime Wünsche

,die zwi

schen den Zeilen des Buches schlummernund die durch di e ahnendeKraft des Bühnen

kunstlers geweckt werden wol len . Und erbraucht ihn eben für das Ganze : für die

stil is tische E instimmung des Ganzen .

Der Regisseur sei desha lb Kunstler undGelehrter zugle ich . Nur ein k luger Künstler

kann Regie führen . Der reine Musiker da rf

getrost unwissend sein . D ie tonkünstle

rische Begabung ist eine Begabung völ l igfür s ich . Auch der B ildhauer darf über das

b il l igste Witzwort seines Kritikers in stau

nende Verzückung geraten . Deshalb kanner doch ein schlagendes Empfinden fur dieAusdruckswerte des menschl ichen Körpershaben. Und zur An lage des FuhrmannHensche l braucht man kein Doktor derPhilosophie zu sein . Der Bühnenkünst ler

6 1

HAGEMANN

in seiner hochsten Potenz : der Regis seurkann j edoch eine hohe Al lgemeinbildungkann vor a l lem eine sch lagende krit ischeBegabung nicht missen .

Da genügt es nicht,daß er kunstlerische

Antipoden wie Ludwig Thoma von MauriceMaeter l inck oder Hebbel von Wi ldenbruchihrem Sti l nach zu unterscheiden versteht .Er muß vielmehr zu empfinden und zu

übermitteln wissen,was zum Beisp iel Shaw,

Wilde und Wedekind gemeinsam haben undwas j eden Einze lnen wieder

,vom Stand

punkt der Bühnenerscheinung ihrer Werkeaus

,für s ich kennzeichnet . Wie man die

Linie von Sudermann uber Hartleben zu

Schnitzler nach oben abzustufen hat . Wieman sogar noch zwischen Fu lda und B lumenthal (wenn diese Leute wirk l ich gesp iel twerden müssen) einen greifbaren Unterschied machen kann . Wie Tolsto i und Gorkidem Ho l lander Heyermans und beide wieder unserem Hauptmann entgegen stehen .

Wie sich Ibsens Vo lksfeind immer noch vonBjörnsons Fa l l is sement , und Dreyers Probekandidat von O tto Ernsts Flachsmann

unterscheidet . Daß der Götz anders a ls der

62

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

Tasso und auch anders a ls Wilhelm Tell an

zufassen is t . Daß Ka l idasa, Sophocles ,Shakespeare

,Calderon

,Sachs Gryphius ,

Schiller,Kleist Ibsen und Wedekind ebenso

viele Welten und Stile bedeuten .

Und im Musikdrama ist es genau so

Hier die Königin von Saba,dort der

Tristan . Hier Mozart und dort Lortzing .

Hier Mozart und Lortzing,dort die Mei

s tersinger . H ier O ffenbach , dort die englische Tanzoperette

,dort die Fledermaus .

Hier Carmen und dort Die lustigen Weiberund so weiter.St il i st al les . Stil ist das Adeln des Stoff

l ichen . Sti l offenbart sich nicht nur darin ,wa s der Künstler weise verschweigt , son

dern was er weise betont Und wiedereinmal bei Goethe heißt es : „Die Kunst

stellt eigentl ich nicht Begri ffe dar . Aberdie Art

,wie s ie darstel lt

,ist ein Begreifen ,

ein Zusammenfassen des Gemeinsamen undCharakteristischen : das heißt der Stil . “

Was wir fur unser deutsches Theater alsofur die nächste Zukunft brauchen

,i s t der

Stilkünstler : der Regisseur als Stilkünstler .

63

Richard Wagner bildete wesent l ich nur

die Aufführungsmöglichkeit se iner eigenenSchöpfung, d es Worttondrama s als Gesamt

kunstwerk durch . Und er hatte in den paarJahren

,die ihm das Geschick und die

stump fe Gleichgü ltigkeit seines Vo lkes dafür

bewil ligten, auch weiß Gott genug hiermitzu tun . Der moderne Opernregisseur hataber weitere Aufgaben zu erfü llen . Ihm istes vom Meister belassen, die neuen Stil

grundsätze Bayreuths auf die anderen Gattungen des musikal ischen Dramas zu übertragen , ohne ihre Eigentümlichkeit auch nurim geringsten zu vergewaltigen . Wie mandies macht

,hat Ernst von Possart ein Jahr

zehnt hindurch mit seinen Münchener Mozartspie len gezeigt .Und die Meininger stimmten ihre tufte

l igen,an sich ja gewiß musterhaften Insze

nierungen der Klass iker immer auf ein biszu gewissem Grade kraftmeierisches Pathos ,das uns heute in seiner Einförmigkeit nichtim mindesten genügt und dessen Uebertragung

,auch mit den notwendigsten Aen

derungen , auf die verschiedenen Arten deseinfachen Wortdramas bedenkl ich erscheint .

64

HAGEMANN

dem der Herr aus Mangel an einer besserenAufenthalts - Ge legenheit einen Freiplatzneben sich dort oben angewiesen hat . I ch

meine : weder der wissenschaftl iche noch derkünstlerische Phantast s ind hier berufen undauserwählt und der nüchterne Lebenskenner mit der wirtschaftl ich abgestimmten,also gefesse lten Klugheit und dem untrüg

l ichen Riecher für das gerade Nötige , das

gerade Verlangte nun schon garnicht . Nurder wahrhaft gebildete

,zur inneren Freiheit

eingegangene Kulturmensch taugt zum

Führer der deutschen Schaubühne einMensch

,der mit beiden Beinen auf der

Erde steht und mit beiden Armen genHimmel weist .Al les in a l lem : der von der stadtischen

Gemeinschaft entbotene Theaterleiter, derdiesen Anforderungen genügt

,ist der The

aterleiter der Zukunft .

Im Jahre 1 731 schrieb der Bandenfuhrer

Neuber an seinen Freund und Gönner, denProfessor Gottsched nach Leipzig : „Vielleicht

,doch nicht gewiß

,würden wir viele

Thaler mehr erobert haben,wenn wir lauter

66

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

abgeschmackte Modestucke auffuhrten ; dawir aber einma l etwas Gutes angefangen,so wi l l ich denn nicht ablassen

,so lange ich

noch meinen Gulden daran zu wenden habe .

Denn gut muß doch gut b le iben,und ich

hoffe bestandig, durch ihre gute Beihilfenoch durchzudringen .

Da müssen sich wirk lich unsere heutigenSta dttheaterpächter durch ein schlichtesDokument aus den kümmerlichen Lehrjahren des deutschen Theaters tief beschämen lassen .

Obwohl sich das deutsche Volk an schauspie lerischer Begabung verschiedenen an

deren Kulturvölkern nicht gl eichstellenkann, ist es dennoch das an Theaternreichste der ganzen Welt . Der kleinsteFürst unterhält s eine Hofbühne und j edeeinigermaßen bevö lkerte Gemeinde hat ihrStadttheater . Und gerade wei l dem so ist,weil unser deutsches Theaterwesen im Vergleich zu anderen schon verhältnismäßiggeregelt erscheint

,könnte und müßte durch

eine bessere Ausnutzung seiner ästhetischenund ethischen Werte

,durch folgerichtige ,

ernste und freie Kunstpflege eine bedeutende Steigerung der gesamten kunstleri

schen Ku ltur in unserem Volke erziel twerden .

Die überwiegende Mehrzah l der Theaterin deutschen Landen sind also Hoftheateroder S tadttheater .Bere its im Jahre 1 783 fordert e Schil ler,

daß sich der Staat a ls pater famil iae der

68

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

offentlichen Schaubuhne anzunehmen hatte .

Und Josef I I . tat dies dann später auch .

Leider schuf er in Wien aber eine Hofbühneund nicht

,wie es eigent l ich doch sein so l lte ,

eine Staatsbühne . Man taufte die neue undso gut gemeinte Gründung zwar Nationaltheater

,machte es j edoch zum Komtessen

theater und legte a ls Maßstab für die Stoffgebiete und für die Darstel lung durchwegMora l und Urteilsvermögen des heranwachsenden jungen Madchens fest . Hinterden Kul is sen sah es dafür dann aber umsoschlimmer aus . Hier herrschte eine e lendeGünst l ings und Ge li ebten - Wirtschaft

,der

das j eden kunstlerischen Aufschwung hemmende Rollenmonopol als ein unabsehbarerKrebsschaden des deutschen Bühnengetrie

bes erwuchs . Die Theater - Skanda le unterIff land

,Schroder und Goethe reden ja

Bände .

Rechtl ich betrachtet is t hiergegen aberwohl nicht allzu viel einzuwenden . Der Fürstzahlt

,

‘ und zwar meistens eine sehr beden

tende Summe,und kann demnach mit Fug

beanspruchen,daß seinen Wünschen nach

gekommen wird . Und diese Wünsche zielen

69

HAGEMANN

zum großten Tei l wenigstens dahin , das

Theater als vornehmstes Hilfsmittel beia l lerle i Hoffest l ichkeiten zu verwenden .

Und so ist denn gewiß auch der gesel lschaftlich tade llose Hofbeamte eigentl ich der geborene Hofthea terleiter .

Nur kam es dabei notwendigerweise zu

einer vo l lständigen Knebelung der Muse .

Die Intendanten se lbst waren meist künstlerisch unfähig

,die Schausp ie ler erniedrigten

sich zu Fürstendienern und gaben mit der

personlichen Freiheit ganz natürl ich aucheinen großen Teil ihrer Schaffens lust undSchaffenskraft dahin und was bei al ledeman Wo l len und Können immer noch regeb lieb

,wurde durch ein zopfiges Beamtentum

vo l lends erstickt . So entwicke lten sich dieeinst mit Freude begrüßten Hoftheater sehrbald zu einem Hemmschuh für die Weiterbildung der dramatischen Kunst in Deutschland

, wie man ihn sch l immer kaum auszu

denken vermag . Und die Reform , die dannSpäter tatsächlich von einem Hoftheaterausging

,war nur mögl ich

,indem die Mei

ninger Bühne aufhörte,ein Hoftheater im

landläufigen Sinne zu sein .

70

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

Und nicht viel besser ging es mit denStadttheatern .

Der Typus der s tadtischen Schaubuhne

wurde bekannt lich durch den großenSchröder in Hamburg begründet und zwarvon diesem Meister sogleich zu einer bedeutsamen B lüte getrieben . N ie wieder,bis hin auf den heutigen Tag

,hat ein Stadt

theater ähnliche Ku lturtaten geleistet . Gelang es doch dem Genius Schröders

,einen

neuen eigenen Sti l der Schausp ie lkunstdurchzubilden und mit Hulfe dieses Rüstzeugs die bedeutendsten Werke Shakespeares wieder auf die deutsche Buhne zu

bringen .

Zwar hat ihm das Pub l ikum diese Tatennur wenig gedankt . Wenn nicht auf Minnavon Barnhelm die Vorführungen einer Sei ltänzer - Gesel lschaft fo lgten

,blieb der Saa l

leer. Nach Lessing fragte man garnichts .

Und a ls die Roheit und Zügel losigkeit auf

der Bühne und im Zuschauerraum zu letztbis ins Maßlose stiegen

,a ls das Theater zum

Musenstall wurde, ließ der gealtert e Schröder seine Ideale fahren und streckte dieWaffen . Wie schon das erste Hamburger

71

HAGEMANN

Nationaltheater, dem doch zunachst sogarein Lessing seine Feder lieh

,an der Tei l

nahmlosigkeit und der Unku ltur der Massegescheitert war

,genau so erging es auch

j etzt wieder dem genia l unternommenenzweiten Versuch . Und kein ernster Künstler hat es seitdem zum dritten Male gewagt .Der Geschäftsmann zog j etzt in die Stadttheater ein : hier in Hamburg und anderorten . Und wir haben gesehen

,daß er bis

heute so ziem l ich der al leinige Herr derKunstlage geb lieben ist .Die Entwicklung der deutschen Buhnen

kunst ging also nicht vom Hoftheater undnicht vom Stadttheater aus . Der Hof kamvor lauter Splitterrichtereien und der Päch

ter der städtischen Bühne vor lauter Er

werbsinn nicht zu freier künstlerischer Entfaltung der in der dramatischen Kunst undin der deutschen Schauspielergilde sehlummernden Kräfte . Die Lösung fortschrittl ich - ästhetischer Aufgaben

,deren wir uns

im letzten Dritte l des vorigen Jahrhundertszu erfreuen hatten, wurden nicht an denStadttheatern und nicht an den Hoftheaterngeleistet sie fanden ihre Zuflucht in ganz

72

HAGEMANN

Künst ler dienstbar zu machen,die im

Zeichen einer schnel l fortschreitenden Kultur des Kunstgewerbes in den lezten Jahrenfür so lche Aufgaben gern zu haben waren ,umsomehr a ls der Direktor mit dem So ldnicht kargte . Wie einst Leonardo da Vincifür die glänzenden Feste beim Herzog vonMailand und Ra ffae l für die Aufführungender Ariost - Komödien

.bei den römischen

Karneva ls feiern unter Leo ! . künst lerischtätig waren

,so standen und stehen heute

unter anderen ein Corinth,Kruse

,Walser,

Orl ik und ein Humperdinck,Pfitzner für

verhältnismäßig doch untergeordnete Hulfs

kunst - Leistungen im Dienste der Reinhardtschen Bühne .

Daß eine bequeme und ruckstandige

Kritik die erstaunl ichen Leistungen Reinhardts und seiner He lfer nun aber hier undda abzuschwächen oder gar durchaus zu

leugnen versucht eine höchst bedauer

l iche Tatsache,die das ohnehin nicht sehr

urteilsfähige Pub likum noch mehr zu verwirren geeignet ist indem sie ihn einerArt von

Kunst - Amerikanismus zeiht undseinen Bühnentaten al lerlei Absichten auf

74

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

äußere Effekthaschereien unterschiebt,darf

unsere Künst ler nicht irre machen . Was davon den älteren und ältesten Her ren derhauptstädtischen Kunstrichterei mit anspruchsvoller Urväterweisheit zusammengeredet wird

,beruht auf einem gradezu

peinlichen Mißverstehen des ganzen neuenBeginnens und seiner Folge für eine weitereEntwicklung der Bühnenkunst .Es ist sch lechterdings nicht wahr, daß im

Reinhardtschen Deutschen Theater dieKlass iker zu Ausstattungstücken herabgemin

dert werden,daß man die einzelnen Kunst

mittel ihrem inneren Werte für die Gesamtleistung nach verkehrt und Nebendinge auf

Kosten des Kernhaften in den Vordergrundschiebt . Wenn der Dichter nicht immer

zu seinem Recht kommt (und das ist gewißmanchmal

,und zwar immer - noch viel zu

häufig,der Fa l l) , so hat das einen ganz an

dern Grund so hängt das mit einemempfindlichen Mangel an genialen Schauspielern

,vor al lem großen Sp

'

rechern , gro

Ma! imil ian Harden hat diesen Gedanken in Num

mer 7 des ! IV . „Zukunft“ - Jahrgangs sehr treffend weiter

75

HAGEMANN

ßen Wortkunstlern in der ReinhardtschenTruppe zusammen . Die Ausstattung

,die

eben im üb l ichen Sinne keine Ausstattungmehr ist

,bedingt dies wahrl ich nicht . Die

Meininger statteten ihre Stücke noch aus

wenn man da s Beispi el der schon etwas zurückliegenden Hamburger Oper des achtzehnten Jahrhunderts hier außer acht lassenwi l l . Und was wirk l iche Ausstattung ist,kann man ja heute noch in Wiesbaden j edenTag beobachten und vor al lem in London .

Reinhardt wi l l ganz etwas anderes und

leistet auch ganz etwas anderes und da

bei nicht einma l so durchaus Ungeheuerliches

,Ueberra schendes . Er setzt schließ

lich doch nur die Darstel lungsart weiter fortund überträgt sie auf andere Probleme, diePossart s Mozart - Aufführungen berühmt gemacht haben

,indem er vor a l lem die künst

lerischen Werte der dekorativen Bestandteile noch verstärkt und vertieft und nun

"

das Neue und Große diesen schönen undwahren Rahmen nicht nur als schönen undwahren Rahmen wirken laßt, sondern dieVortei le der plastisch ausgefuhrten,

nachgeschichtl ichen und malerischen Grund

76

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

satzen angelegten Buhnen - Panoramen zu

Gunsten einer mögl ichst gesteigerten Dar

stel lung des einzelnen Dramas zu verwenden sucht .Denn das ist es

,was alle die Norgler

vollkommen übersehen und wodurch sieihre Unfähigkeit erweisen

,die P läne und

Wünsche einer zukunftsfrohen künstleri

schen Jugend überhaupt nachempfinden zu

können : ihnen gehen die Fo lgen nicht ein,d ie j ene künst lerische und naturmäßige

Durchbi ldung des Sp ielplatzes für einenneuen Sti l der Bühnenkunst in überraschender Weise zeitigen ihnen fehlt so ganzdas Verständnis dafur, daß heute unserganzes Sinnen und Trachten dahin geht,zu einer verläß lichen künstlerischen Kulturzu g e langen, und daß dies nur mögl ich ist ,wenn wir die bel iebteste

,volkstümlichste

und eindringl ichste Kunstgattung, wenn wirdie Schaubühne als eine Mus terstätte fort

schrittlicher Kunstbetätigung herzurichtenund zu nützen uns angelegen sein lassen .

Es ist wirk l ich nicht einzusehen , warumman das Bühnenbild nicht anschau l icher

77

HAGEMANN

machen soll a ls bisher, a ls es vor fünfzig,vor dreißig Jahren möglich war

,wenn die

moderne Technik die nötigen Handhabengibt und der Bühnenmeister Mögl ichkeitenersonnen hat

,um die nunmehr plastisch hin

gezauberten Ausschnitte von Landschaftenund Städtebi ldern in aller Ruhe zum größtenTeil schon vor der Aufführung oder dochwährend des Sp ie ls aufzubauen und nachSch luß der Szene in wenigen Sekunden zu

wechse ln . Wir können der modernen Buhnentechnik die Erlösung von den ewig pa

ra llelen Leinwandfetzen der Ku l issen und

Soffiten, von den schauderhaften Versatzstücken aus Pappe und dem langweil igen

quadratischen Bretterboden meiner Ansichtnach gar nicht genug danken .

Und ebenso dankbar sind wir dem Theaterleiter doch auch dafür

,daß er uns zum

Beisp ie l in Shakespeares Kaufmann keinTheater - Venedig

,sondern ein echtes V e

nedig vor die Augen stel lt . Wir erfreuenuns heute einer verläßl ichen Schulung undvermögen aus der geschicht lich - einwandfreien Herrichtung irgend eines Rahmensbestimmte Genußwerte zu ziehen . Vor a l lem

78

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

und nun kommt das dritte wenn dieserRahmen im ganzen und einzelnen künstlerisch empfunden ist

,das heißt

,wenn seine

ästhetischen Bedingungen aus der Geschichte

,aus den Bühnenverhältnissen und

nicht zu letzt aus der Dichtung selbst abgelesen sind wenn die Dekorationen und dieäußere Herrichtung der Darste l ler

,also Ko

stüme und Masken,einem einzigen künstle

rischen Wil len entspringen,der sich wesent

l ich a ls Helfer des Dramatikers fühlt undal lein die Gesamtwirkung im Auge hat .Konnen nun schon diese Errungenschaf

ten gar nicht hoch genug angeschlagenwerden

,so ergeben sich die eigentl ichen

Werte der neuen Kunstübung aber erst beider Inszenierung des Dramas selbst : wirempfangen dadurch näm l ich bisher ungeahnte

_

Mögl ichkeiten zur schlagenden unddoch künst lerisch - unaufdringlichen Darstel

lung der Szenen,Akte und Stücke . Bi ld

reiht s ich j etzt an Bild,auch innerhalb des

selben Rahmens . Die Personen,die ihrer

ganzen äußeren Erscheinung nach vonKünstleraugen in den Rahmen hineingesetztsind

,erscheinen von Zeit zu Zeit in einem

79

HAGEMANN

andern Verhaltnis zum Rahmen und verändern somit das Bi ld .

Daß dabei der Uebergang ästhetischzweckvoll gewählt wird

,ist Sache des fein

fühligen Regisseurs .

Je nachdem , ob die handelnden Personenich nehme als Beispiel die Berliner Dar

stel lung des Kaufmanns von Venedigvorn in der Mitte

,am Rande des Kanals

,

ob s ie l inks oder rechts seitwärts an denHäuserecken lehnen

,ob sie sich oben auf

der Brücke begegnen und ihre Meinungenund Anschläge tauschen, oder nach hinten zuüber den Laufsteg im Hause verschwinden :j edesma l gibt es einen andern bi ldhaftenAusschnitt

,der dem dichterischen Gehalt

des Dramas für gerade diesen Augenblickdurchaus angemessen ist.Bei den Mitteln der neuen plastischen

Szene wird es demnach in weit höheremMaße a ls bisher möglich, die verschiedenenAuftritte

,Akte und Stücke nach zielsicheren

dramaturgischen Höhepunkten darzustel

len : Wichtiges vOn Minderwichtigem zuscheiden

,gegensätzlich und paral lel empfun

dene Teile in dieser ihrer Eigenschaft von

80

HAGEMANN

den Rahmen eingestimmten Darsteller jetztnicht nur ästhetisch

,sondern auch körper

l ich zu der plastischen Umgebung passen .

Al lerdings ha t der Schauspie ler in diesemFa lle auch die Fo lgen des zur schlagendenTäuschung hin gesteigerten Verfahrens zu

ziehen u nd darf nicht,W1e j ungst Herr

Schi ldkraut als Shylock , in seiner Wut auf

die Ho lzstufen schlagen,die wir uns nun

mehr doch steinern denken .

So werden denn auf diese Weise im Reinhardtschen Theater wahre Stimmungswun

der gezeigt .Da entzuckte in der Kaufmann - Au ffuh

rung vor a l len anderen Porzias Zimmer .Wände

,Treppen und Mobeln sind gold

farbig,mit Plüschläufern und gefäll ig da

rüber hingeworfenen Shawls in Fraise . Dazu rechts der stahlblaue Vorhang als entzückenden Farbenfleck . Und wie man nundie Empore

,die der Breitseite entlang in

die intimen Gemächer der Fürstin einmündet

,zu Darstel lungswerten benutzt !

Wie die Madchen beim spannungsvo l len

Gebahren des letzten , bevorzugten Freiers

82

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

vor den drei Ka3tchen zunachst schuchternnoch und bescheiden oben nahe der Tür dieEntwicke lung der Dinge be lauschen, danndie Stufen hinunterstürmen

,s ich noch ein

mal wieder auf dem absteigenden Treppenast zu einer köst lichen Gruppe zusammenschließen und über das Ge länder lehnen

und endl ich dann der ve rehrten Herrinin wilder Freude zu Füßen fal len : das al leswirkt mit einer fabelhaften Ursprunglichkeit

und ergibt doch nichts weiter als die sachund kunstgemäße Darstel lung vom Inbegriff der ganzen Szene .

Und ein Gleiches gilt fur d ie Durchbil

dung der Straßenauftritte . Dies Venedigmit seinen W

'

assern,Treppen , Brücken ,

Stegen,mit seinen winkel ig zueinander ge

ste l lten,bunt bewegten Häuser - Ansichten

ist das Renaissance Venedig unsererTraume . Und wie dann der Maskenzug ganzhinten im Scheine vereinzelter Fackelngespenstisch vorüberzieht und nur die Ge

sichter und verschiedene he l le Kostüme hinund wieder in mattem Glanze aufleuchten .

mit dem Gemurmel und Gejauchze der tollenMenge ganz aus der Ferne wie sich die

83

HAGEMANN

Gondel von weitem her nähert,eigentlich

nur an ein paar schattenhaften Umrissenund dem einsamen Licht am Bug erkenn

bar : das berührt al les so zart und so nebensächlich

,wie es für den Gang der eigent

l ichen Handlung ja auch ist .Nun denke man aber einmal daran, wie

so etwas in Wiesbaden und anderorten gemacht zu werden pflegt und es kann keinZweife l herrschen

,welche Art von - Bühnen

kunst heute die maßgebenden fortschrittl ichen Werte birgt und diese Werte zu einergewissen Vol lendung zu treiben sucht undwelche Art von Bühnenkunst dem Stadttheater der Zukunft in szenisch - künstleri

scher Beziehung als Vorbild zu dienen hat .

Die Berliner Bühnenkunst der Herren Reinhardt und Brahm wird es sein .

Ich erwähne hier absichtlich auch OttoBrahm

,den man j etzt viel fach über den

neu aufgetauchten Stern vergessen und

abzutun geneigt ist und der doch ebenfallsfür die deutsche Bühnenkunst seine großenVerdienste hat

,wenn sie auch nicht gerad

in die letzten Jahre fallen .

Der mit dem bedeutenden,oder doch fur

bedeutend geha ltenen Mimen getriebenePersonen - Kultus

,der nach bestimmten

,sehr

nahe l iegenden Bedingungen der d ramat ischen Kunstübung ja woh l nie ganzschwinden dürfte

,i st heute gewiß im al lge

meinen auf ein erträgl iches Maß zurückge

führt . Wenigstens wenn man bedenkt, wiezum Beispiel in den ersten Jahrzehnten desvorigen Jahrhunderts bis tief in das Jahrhundert hinein das Theaterfieber wütetewie s ich der Pfahlbürger und vor a l lem diePfahlbürgerin der Biedermeierzeit im Bewundern eines oder mehrerer Lieb l ingschauspieler nicht genug tun konnte : wieman die menschliche und künstlerische Erscheinung des bevorzugten Einze lnen volligvom Ganzen ablöste

,für sich betrachtete

und genoß und damit dann den tiefsten Tiefstand des künst lerischen Kulturspiegels erreichte

,der hier im Gebiet der Schaubühne

überhaupt zu erreichen war .

85

HAGEMANN

Das Kunstwerk und sein Dichter tratenderzeit ganz hinter den persönlichen Eigenschaften des einen oder des andern Darste l lers zurück , dessen süßlich stilis iertesLockenhaupt mit dem zugehörigen Gebahren des schönen, Eindruck heischendenMannes , dessen ba ld wohl erwogene, baldvon überschäumendem Temperament fürden Augenblick wie aufge löste Haltung garzum Entzücken war nein

,dessen Morgen

kaffee - Gewohnheiten und seidener Sch lafrock vie l mehr Interesse beanspruchten alsdas ganze Stück .

Die schöpferische Majestat mußte dama ls a lso dem gaukelspielenden Komödi

anten in der Gunst des zahlenden Pub l ikumsweichen . Und in den Tagen, wo ein Friedrich Hebbe l und ein Richard Wagner betteln gingen

,wo ein Lortzing verhungerte ,

heimsten die Sontag,Emil Devrient und,

was noch vie l schlimmer war, ein ganzesSchock ausländischer Opernstars in deutschen Landen beträcht l iche Vermögen einund brachten es sogar noch dazu, daß einoffenkundiges Genie wie Wilhelmine Schrö

der mit der Zeit an die Wand gedrückt

86

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

wurde und mit dem entsetzl ichen Gedankenstarb

,umsonst gewirkt und gelebt zu haben .

Heute ist das, wie gesagt, etwas besser .Es hat eine stärkere Vermischung der bisherso gut wie ganz abseits stehenden Kreisedes herumziehenden Künstlers und des ansässigen Bürgers stattgefunden . Die bedeutend größere Nachfrage auf dem Theatermarkte so l lte denn doch in die bisherherrschenden Anschauungen ganz erheb

l iche Breschen schlagen . Die Bürgerfami l ien sind heute am Gestel len des Büh

nennachwuchses stark bete il igt . Und man

hat infolgedessen auch längst begonnen, denSchauspielern gesel lschaftliche Gleichbe

rechtigung e inzuräumen , so daß j etzt ein

ganz anderes persönl iches Verhältnis zu denTheaterküns tlern gewonnen wurde . Diewahllose Bewunderung schrumpfte damiteinerseits ebenso zusammen, wie andererseits die al lgemein menschl iche Wertung zu

steigen anfing.

Und was die Hauptsache war : durchBayreuth und Meiningen drang nun gleichzeitig die Bedeutung des ästhetischen Lehrsatzes von der richtigen Kraft an der

87

HAGEMANN

richtigen Stelle, die Bedeutung der scheirirbar kleinsten Leistung für das großGanze Worauf es doch schließlich iTheater al lein ankommt mehr und mehrins Publikum . Das Gastspielen der V irtuosen wurde im letzten Drittel des vo

rigen Jahrhunderts nach und nach eingeschränkt . Und heute gibt es sogar schonTheaterdirektoren

,die sich etwas darauf

zu Gute tun,Wagners R ing oder e ine

Shakespeare - Folge ganz m it eigenen Kräf

ten aufzuführen . Heute gibt es schon einePresse, die dies echt künst lerische Vorhaben unterstützt und begründet

,und es

sind immerhin schon manche im Publ ikum,

die durchaus d am it übereinstimmen, daßman ihnen l ieber das wohl gerundete Zu

sammenspiel eines geschulten Ganzen alsirgend welche V irtuosenleistung innerhalb

einer dem Gaste V öllig fremden Truppebietet .Das aus moglichst guten

,fur ihre Rolle

innerlich und äußerlich tauglichen Darstel

lern bestehende künstlerisch zuchtgewohnte

und für j eden einzelnen Fa l l eingeübte Ensemb le gilt uns a lso heute als das aufs in

88

HAGEMANN

ren stritt man s ich darum,ob Goethe oder

Schil ler der großere wäre, ohne sich um dasweise Wort des überlebenden Freundes zu

kümmern, daß man doch froh sein so lle ,zwei solcher Kerle zu besitzen .

Und warum wil l man sich denn nun heutenicht darüber freuen, daß im Reiche desa lten und doch ewig jungen Thespis gleichein paar tüchtige Männer am Werke s ind ,wenn auch für b eide gewiß noch al lerleiWünsche des gestrengen Kunstrichters zuerfül len bleibenSo verstehe ich nicht

,wie man uber

Brahms Auswahl der Stücke schelten kann .

Sondertheater sind doch heute in einer Millionenstadt mit ihrem gewaltigen Fremdenverkehr das einzig ri chtige heute, woa lles zur Arbeitsteilung drängt

,um höhere ,

um für den erwählten einzelnen Fal l diehöchsten Leistungen zu erzielen (wobei manin der Kunst al lerdings dafür sorgendaß zunächst gewisse allgemeine ästhetBedingungen peinlichst erfüllt werdendie freie Kunstübung nicht in gebunKünstl ichkeit, nicht in Manier umschlagHofrat Barnay hatte d emnach ga

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

recht, als er bei der Uebernahme des Schauspieldirektor

- Postens gesprächsweise äu

ßerte, daß er Ibsen im Königl ichen Schauspielhause nicht in der Vo llendung aufführenkönne wie sie im Lessingtheater dargeboten werde Und er läßt deshalb seineHände auch besser davon . Schon RichardWagner hat bekanntlich für das PariserTheater geschwärmt

,weil h ier seit über

hundert Jahren eine so lche Aufteilung derBühnen nach bestimmten Gattungen Brauchund darum mit den Jahrzehnten eine Theaterkultur erwachsen ist

,wie sie heute in

A lbert Carrés Komischer Oper und in c i

nigen Komödien - Häusern der großen Bou

levards ihre schönsten B lüten tre ibt .

Was macht es denn,daß sich Brahm a ls

einer von fünfzehn Berliner Direktoren auf

die neuesten dramatischen Schöpfungen beschränkt

,seine Truppe nach ihren Bedürf

nissen zusammenste llt und in diesem Zeichen zu höchster Vo l lendung hinanschult !

Und sch ließl ich sind es doch eine ganzeReihe„ die am Kronprinzenufer Einkehrhalten : a lle die Hauptmann , Ibsen , Schnitzler

,Hart leben

,Keyserl ing

,Burckhardt ,

9 1

HAGEMANN

(Sudermann) und gelegentlich auch andere

und sicher sind es immer noch die besten.

Worauf beruht denn Bayreuths Größe,Münchens Ruhm a ls Stadt der Mozart - Re

naissance und die europäische Bedeutung

der Pariser Komischen Oper ! Alle in darauf,daß sie in einer

,daß s ie in ihrer besonderen

Spielart wirklich groß s ind.

Und treibt es denn Ma! Reinhardt

sch l ießlich anders, wenn er im Neuen Thea

ter den Sommernachtstraum über zwei

hundert Mal abspielen läßt,wenn sein Deut

sches Theater seit Monaten m it dem Kät

chen von Heilbronn und dem Kaufmann von

Venedig abwechselt und die seit vielen

Wochen‘

angekündigten Uraufführungen

und Neueinstudierungen immer wieder hinausgeschoben werden !

Was schadet denn das auch ! Wenn sichauf lange Zeit hin Leute genug melden, die

j ene prachtvol len Klassikerabende genießenwo llen

,so hat der betreffende Direktor nicht

nur das Recht,sondern auch die Pflicht, die

mit großer Mühe und bedeutendem Auf

wand eingeubten Dramen weiter zu spie len .

92

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

Und man darf es ihm gonnen, daß er dabeidann auch noch Geld verdient.Sollten in - diesem Fal le wirkl ich ander

weitige Forderungen an die beiden Kulturbiihnen (Reinhardts und Brahms) unerfül ltbleiben

,so müßten eben noch ein paar neue

Schaustätten e ingerichtet werden . Berlinvertrüge meiner Ansicht nach getrost nochzwei bis drei vornehm und fortschrittlich geleitete Sondertheater . So wäre zunä chst einmal noch die Gelegenheit zur Aufführungvon modernen Literatur - Komödien mit satirischen Einschlägen zu schaffen . Ich denkeda an die Stücke von Wilde

,Shaw, Wede

kind und der besseren Franzosen .

Alles in allem : Ich liebe das TheaterO tto Brahms . N icht

,weil es übergroße

l iterarische Bedeutung hätte , denn dieMehrzahl seiner Stücke sind„mit Ausnahmeder Ibsenschen

,an den großen Dramen der

Weltliteratur gemessen,doch immer ziem

l ich unbedeutend . Sondern weil hier Auf

gaben der modernen Schausp ielkunst ge

gebén und ge löst werden, wie kaum sonstauf einer Bühne unseres Erdteils . Die dra

matischen Dichtungen unserer Tage lie fern

93

HAGEMANN

bei a ll ihren l iterarischen und buhnentechnischen Schwächen Ro llen : interessante ,schwierige und glänzende Ro l len unddiese Ro llen gehören im Lessmgtheater

großen,ganz großen Schauspielern, die

ihren seel ischen Gehalt restlos hinauszu

geben vermögen . Und ich liebe nun einmaldie große Schauspie lkunst über alles : diekünst lerische Darstel lung des Mensch l ichsten im Menschen durch den Menschenselbst vor al lem , wenn sich dann mehreresolcher Menschendarste l ler zu einem Lebens und damit zu einem Weltbilde zusammenschließen,

wenn diese Einzel leistungenganz und gar in den Dienst der dichterischenIdee

,in den Dienst eines stilvollen Ganzen

treten . Diese geschlossene Gesamtheitkann gewiß in dem einen Stück besser seinals in dem andern , wobei ja auch der dramaturgische Bau und die dichterischen Eigenschaften des betreffenden Werkes bedeut

sam mitsprechen immer aber spürt manim Berliner Lessingtheater die künstlerischeAbsicht

,dem Dichter und seiner Dichtung

im Kleinen und dann im Großen zu geben ,was des Dichters und seiner Dichtung ist .

94

AUFGABEN DES MODERNEN THEATER

Und gerade heute,wo man sich an einer

ande rn Stätte mit a l lerlei sehr notwendi

gen, für gewisse bühnenkunstlerische Aufgaben höchst wesentl ichen Aussta ttungs

Problemen beschäftigt und die rein schauspielerischen Werte nicht immer so ganz zuihrem Rechte kommen läßt

,scheint es mir

außerordent l ich wichtig zu sein,daß dabei

irgendwo unentwegt glänzend Komödie gesp ie lt wi rd .

Berl iner BuhnenkunstMan kann in des deutschen Reiches

Hauptstadt ein Schaffen und Betätigenneuer bühnenasthetischer Werte beobach

ten,die zu höchster Bewunderung hinreißen .

Berl in ha t j etzt in dieser Hinsicht vollends die Nachfolge von Bayreuth und Meiningen angetreten . Irgendwo mußte derFaden ja aufgenommen und weiter gefuhrt

werden . Denn Meiningen hat seit langerem

der Theaterlust ganz aufgesagt und die be

deutsame Arbeit zu Gunsten lebensvo llerKlassiker - Aufführung en a ls geleistet crachtet . Daß bedauerl icherweise bisher nur sehrwenig davon für eine allgemeine deutsche

95

HAGEMANN

Theaterkultur genutzt wurde,i st ja gewiß

nicht des Herzogs Schuld . Er mag nochheute im Stillen genug darunter leiden . UndBayreuth bewegt sich ja ganz und mit einergewissen Behäbigkeit in der Ueberlieferungseine s Meisters und s ieht damit seinen Ehrgeiz erfüllt .Es mußte demnach schl ießl ich einmal

anderswo weitergebaut werden . Und da lages durchaus in den Verhältnissen

,daß nicht

wieder irgend eine Provinzstadt, nicht wieder ein fürst l icher Mäzen den Thespiskarrenein gut Stück vorwärts schob , Sondern daßsich Berlin mit seinen unbegrenzten Mittelnder Bühnenkunst annahm : Berl in, die heuteviel leicht schon häßlichste , aber so zieml ich temperamentvol lste

,unternehmungslus

tigste , blühendste Großstadt der WeltN icht e twa Wien

,das neuerdings in

j eder Hinsicht,auch im Buhnenwesen,

zu

rückgeblieben ist . Und es galt doch einstals d i e Theaterstadt nicht nur deutscherZunge

,sondern überhaupt. Jene Tage l ie

gen sogar noch gar nicht einmal so weitzurück : als Laube seinen Schauspielern daszwanglose

,aber doch allverständliche Spre

96

HAGEMANN

macht N icht so bei Sauer. Dieserganz außeror-dentliche Schauspieler ist immer derselbe g1roße Kunstler, aber kaum jederselbe wirkliche Mensch . E in ziels ichererKunstwille

,eine erstaunliche Spannkraft des

Geistes meistert die Körperlichkeit zu einerjedesmal durchaus andern Erscheinung umund haucht ihr die zugehörige Seele ein .

Das Technische verflüchtigt s ich dabei so

gut wie ganz . Das Gebilde lebt, wirkt undgibt s ich den Zuschauern vollends zu er

kennen : es wird sinnen und seelenfällig,

das heißt in des Wortes hochster Bedeutungdargestellt .Sauer gehort dem B rahmschen Lessing

Theater an . Und auch so etwas wiedie se Truppe kennt

'Wien nicht . Schonweil dort der Berl iner Kunstbegriff derRegie

,des ästhetisch zweck und zwang

vol len Zusammenspiels,der Gesamtwirkung

als letzter Zweck des Theaterspiels überhaupt unbekannt ist . Noch heute wird zumBeisp iel an der Burg der Posten des Regisscurs immer von einem der Schauspielerverwaltet

, der Wunsch und Willen des Einzelnen genau so zu wahren pflegt , wi e er

98

AUFGABEN DES MODERNEN THEATERS

selbst den se inen als darstellender Kunstlergewahrt wissen will.Es gil t also durchaus von einer Ber

l iner Bühnenkunst zu sprechen . Die Frühjahrs Gastspiele der beiden maßgebendenhauptstädtischen Theater(Brahms und Reinhardts) in München, Wien und O fen - Pestsind dort Ereign isse allerersten Ranges .

Auch die stolze Kaiserstadt kann sich da

gegen n icht wehren,so gern sie es auch

möchte . Dem guten Neuen ist man nun

eben einmal ausgeliefert. Man mag wollenoder n icht. Und seit etwa zehn Jahren istman im Berl iner Theater in diesem Sinnefrisch - froh lich an der Arbeit .Ob man s ich in Berl in nun den Vorort

der modernen Bühnenkunst zu wahren weiß,oder nicht

,mag dahin gestellt b leiben . Je

denfalls scheint es mir s icher - und durchauszweckentsprechend

,daß die Ausnahme

Theater,denen große Kunstler und geld

kräftige Kunstfreunde ihre Hülfe leihen und

die auf ein wechselndes Großstadt - Publikum rechnen dürfen, die dramatische Kunstübung auch fürderhin im Ganzen und imEinzelnen weiterbringen werden . Sie müs

99

HAGEMANN

sen die Erzeuger und Bereiter sein, wahrenddie Hof und Stadttheater wesentlich nura ls Abnehmer in Betracht kommen . Undes so l l uns gewiß durchaus genügen, wenndie Hof und Stadttheater al le die Brrun

genschaften nützen wollen, die in den Ausnahmetheatern*) ihre Feuerprobe bestandenhaben wobei allerdings dann wünschenswert ist

,daß diese Anregungen selbständig

verarbeitet und selbständig erprobt werdenund daß man sich nicht damit begnügt , diein Berl in mit e iner gewissen Absichtl ichkeit

neu einstudierten Stücke einfach nachzu

spielen . Insofern b leibt für die Provinz nochviel

,sehr vie l zu tun und zu leisten übrig.

Und so l lte hie r gar einmal eine Ausnahmedie Regel bestätigen und an einem Hofoder Stadttheater etwas ganz Großes und

Eigenes für die Theaterkultur erblühenum so besser für die Kunst .

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird auch die neueKomische Oper Direktor Gregors hier künftighin mit in

erster Reihe stehen , nachdem e inige Kinderkrankheitenglücklich überwunden sein werden.

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