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,, Ich habe keine Zeit gehabt zuendezuschreiben“ Vom Leben und Dichten der Selma Merbaum Facharbeit von Sarah Weber __________________________________________________ Kurs: Seminarfach Israel, Jahrgang 12 Lehrkraft: Juliane Hinrichs Schuljahr: 2017/18 Ausgabetermin: 16.01.2017 Schule: FCSO Abgabetermin: 27.02.2017

,, Ich habe keine Zeit gehabt zuendezuschreiben“ · vervollständigen dadurch die Biografie, die in dem ersten Kapitel noch unvollständig ist. Im Im Hauptteil wird auf das Leben

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,, Ich habe keine Zeit gehabtzuendezuschreiben“

Vom Leben und Dichten der Selma Merbaum

Facharbeit von Sarah Weber

__________________________________________________

Kurs: Seminarfach Israel, Jahrgang 12 Lehrkraft: Juliane Hinrichs

Schuljahr: 2017/18 Ausgabetermin: 16.01.2017

Schule: FCSO Abgabetermin: 27.02.2017

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung………………………………………………………………………...... 3

2. Biografie ………………………………………………………………………….. 5

2.1 Selmas Familie ……………………………………………………………. 5

2.2 Schulleben vor 1940 ………………………………………………………. 6

2.3 Hashomer Haizair …………………………………………………………. 8

3. Selmas Empfinden im Jahre 1940, anhand ihrer Gedichte ………………………. 10

3.1 Rote Nelken ……………………………………………………………… .11

3.2 Schlaflieder …………………………………..............................................12

3.3 Gedichte des 30. Juni ………………………...............................................15

3.4 Poem …………………………………………........................................... .16

3.5 Tragik ……………………………………….............................................. 18

4. Fazit ………………………………………………................................................ 21

5. Anhangverzeichnis ………………………………………………………………. 22

6. Anhang ……………………………………………............................................... 23

7. Abbildungsverzeichnis ………………………………………………………….. 30

8. Literaturverzeichnis/ Quellenverzeichnis…………................................................ 33

9. Selbstständigkeitserklärung ……………………………………………………… 34

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Ich habe keine Zeit gehabt zuendezuschreiben.

Schade daß du dich nicht von mir empfehlen

wolltest.

Alles Gute Selma.

1. Einleitung

Selma Merbaum war eine jüdische Dichterin, die von 1924 bis 1942 in Czernowitz lebte, be-

vor sie, wie viele andere Juden, den Nationalsozialisten zum Opfer fiel. Heute zählen ihre

Werke zur Weltliteratur. Außerdem hat der Schweizer Musiker David Klein die Gedichte der

Jüdin mithilfe bekannter Musiker wie Xavier Naidoo, Yvonne Catterfeld, Thomas D, Stefanie

Kloß und vielen anderen vertont. In ihren Gedichten beschreibt sie ihre Gefühlslage in ver-

schiedenen Lebenssituationen, so dass man sich heute in sie und in die damalige Zeit hinein

versetzen kann.

Nachdem ich durch meinen Musiklehrer das erste Mal auf das jüdische Mädchen aufmerksam

wurde, fing ich an, mich mit der Lebensgeschichte der jungen Selma Merbaum zu befassen.

Nach ersten Recherchen haben mich die Erfahrungen, die das jüdische Mädchen schon in

jungen Jahren machen musste, zutiefst bewegt. Am eigenen Leib spürte sie den

Antisemitismus einer ganzen Nation. Außerdem hatte ich nach dem Besuch des Museums

„Yad Vashem“, welches ich im Rahmen meines Israelaustausches im Oktober 2017 besucht

hatte, das Anliegen, mich noch näher und intensiver mit dem Holocaust zu beschäftigen. In

diesem Museum habe ich Einblicke in verschiedene Schicksale von Menschen bekommen,

die den Holocaust überlebt haben oder die dabei ihr Leben lassen mussten. Schnell fiel für

mich die Entscheidung, meine Facharbeit über dieses Mädchen zu schreiben.

Der oben aufgeführte Satz hat mich schon beim ersten Lesen berührt. Die Dichterin schrieb

ihn unter ihr letztes Gedicht, welches ihrer Gedichtsammlung „Blütenlese“ entstammt. Diesen

fügte sie mit einem Rotstift hinzu, weshalb auch ich ihn in dieser Farbe hervorhebe.

Außerdem habe ich ihn nach dem originalen Wortlaut zitiert, der nach heutigem

standartsprachlichen Reglements Rechtschreibfehler beinhaltet. Ihre bekannte

Gedichtsammlung „Blütenlese“ umfasst 58 Gedichte, welche sich auf die Jahre 1939 bis 1941

beziehen. Sie besteht aus einem ersten und einem zweiten Teil. Renée Abramovici-Michaeli,

welche einer gute Freundin von Selma Merbaum war, ist es gelungen, die Gedichtsammlung

zu erhalten und nach

3

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Israel zu bringen. Ein ehemaliger Lehrer von Selma, Hersch Segal, wurde auf diese

bemerkenswerten Verfassungen aufmerksam und veröffentlichte sie. 1

Über die Schreibweise ihres Namens wird diskutiert.2 Ob Selma neben ihrem Geburtsnamen

„Merbaum“ ebenfalls den Namen des zweiten Ehemannes ihrer Mutter Leo Eisinger trug, ist

umstritten. Friederika heiratete Leo Eisinger, nachdem ihr Mann Max Merbaum kurz nach der

Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Selma starb. Ihren Zeugnissen und dem Gemeinderegister

nach trug Selma, genau wie ihre Mutter Friederika, nur den Nachnamen „Merbaum“, so

bevorzuge auch ich diese Schreibweise.3 Da es nur begrenzte Informationen über das Leben

von Selma gibt, wurde bei der Recherche größtenteils das Buch „Selma Merbaum, Ich habe

keine Zeit gehabt zuende zu schreiben, Biografie und Gedichte“ von mir genutzt. Dieses

wurde von der Autorin Marion Tauschwitz verfasst, welche nach Dokumenten suchte, die

Auskunft über Selmas Leben geben konnten. Außerdem dienen ihre Gedichte als Zeugnis für

die politische Lage und den Antisemitismus zu Selmas Lebzeiten. Aus diesem Grund werden

die Gedichte in dieser Ausarbeitung im Vordergrund stehen und dabei helfen, Selmas

Persönlichkeit und die von ihr gemachten Erfahrungen zu repräsentieren. Aufgrund dessen

werden bereits in der Einleitung und in der Biografie vereinzelt Gedichte erwähnt. Es wird

vorwiegend auf die Jahre 1939 bis 1941 eingegangen, da aus diesen Jahren Gedichte erhalten

geblieben sind. Die zitierten Gedichte sind durch die kursive Schreibweise gekennzeichnet. In

dem Absatz 2.3 und im Hauptteil werden einige Gedichte von Selma interpretiert. Sie

vervollständigen dadurch die Biografie, die in dem ersten Kapitel noch unvollständig ist. Im

Hauptteil wird auf das Leben von Selma zur Zeit des Antisemitismus eingegangen. Es werden

jeweils nur ein paar Verse aus den aufgeführten Gedichten zur Verdeutlichung genutzt. Alle

thematisierten Gedichte sind im Anhang dieser Arbeit zu finden. Ziel der Arbeit ist es, Selmas

Leben nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, denn das „Vergessen werden“ bereitete der

jungen Dichterin Kummer. „Das ist das Schwerste: sich verschenken und wissen, daß man

überflüssig ist […].“4( siehe Anhang 9) Ihr Talent und ihre Erfahrungen sollen in Erinnerung

bleiben. Auf den nächsten Seiten wird sich mit der Frage, inwiefern sich ihr Lebenswille und

1 Vgl. Bartfeld-Feller (2013), S. 16

2 Vgl. Serke (1984), S. 13

3 Vgl. Tauschwitz (2014), S. 59

4 May (2013), S. 105

4

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ihre Lebenskraft in ihren Gedichten widerspiegeln, beschäftigt. Außerdem wird untersucht,

wie sich ihre Gedichte den jeweiligen Lebenssituationen anpassen, und wie sich ihr Verhalten

im Laufe der Zeit verändert.

2. Biografie

2.1 Selmas Familie

Selma Merbaum wurde am 5. Februar 1924 in der Stadt Czernowitz, welche zu diesem

Zeitpunkt zu Rumänien zählte, geboren. Sie ist die eheliche Tochter von Friederika (geb.

Schrager) und Max Merbaum (geb. Chaim Meier). Friederika besaß einen kleinen Kramladen

mit dem sie ihre Familie versorgte5. Im Geburtsjahr von Selma erkrankte Max Merbaum an

Tuberkulose. Die Krankheit schwächte ihn, und seine Kräfte ließen von Tag zu Tag stark

nach. Obwohl seine Frau keine Kosten und Mühen scheute, um ihn mit besten medizinischen

Leistungen zu versorgen, raubte ihm die Krankheit am 9. November schließlich das Leben.

Selma war zu diesem Zeitpunkt noch kein Jahr alt.6 Im Jahre 1927 heiratete Friederika den

Händler Leo Eisinger. Da ihre Mutter und ihr Stiefvater berufstätig waren, ist zu vermuten,

dass Selma ihre Mutter schon in jungen Jahren bei der Hausarbeit unterstützte.7 Selma wuchs

in ärmlichen Verhältnissen auf. Sie lebten gemeinsam in einer kleinen Wohnung, die am

Rande der Habsburghöhe lag. „Die Wohnung bestand aus einer Küche und einem großen

Zimmer. Man ist reingekommen durch einen langen Gang, ein paar Stiegen führten in den

ersten Stock direkt in die Küche. Elektrisches Licht gab es nicht. Im großen Zimmer standen

die Ehebetten. Am Fußende ein Sofa, auf dem Selma schlief, dann zwei Schränke und

dazwischen ein kleiner Schreibtisch für Selma. Kein fließend Wasser, kein Bad“8, berichtete

Renée Abramovici- Michaeli in dem Buch von Jürgen Serke, „Selma Meerbaum-Eisinger, Ich

bin in Sehnsucht eingehüllt, Gedichte“. „Selma war um die 1,60 Meter groß, hatte braune

Augen, gekräuseltes brünettes Haar“.9Da ihre Haare schwer zu bändigen waren, kam es

häufig zu Streitereien zwischen Selma und ihrer Mutter. Ihre Mutter bestand darauf, die Haare

ihrer Tochter täglich zu bürsten und anschließend zu zwei Zöpfen zu flechten. Diese

5 Vgl. Tauschwitz (2014), S. 21 f.

6 Vgl. Ebd., S. 35

7 Vgl. Ebd., S. 40 ff.

8 Vgl. Serke (1984), S. 15

9 Vgl. Ebd. S. 16

5

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Handlung war sehr zeitraubend, so dass Selma oftmals Schwierigkeiten hatte, pünktlich in der

Schule zu erscheinen.10 Zu ihrer Großmutter, Henriette Schrager, hatte Selma ein besonders

gutes Verhältnis. Sie wurde Selmas wichtigste Bezugsperson. Im Laufe des Jahres 1939 zog

die junge Dichterin bei Henriette ein, womöglich da das Verhältnis zu ihrer Mutter noch

schlechter wurde. Dieses lässt sich aus dem Gedicht „ Lied“ entnehmen. „Heute tatest du mir

weh. Rings um uns war Schweigen nur, Schweigen nur und Schnee. […] Heute tatest du mir

weh. Heute sagtest du mir: geh! Und ich-ging“11( siehe Anhang 1). Gemeinsam lebten sie in

einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Frau Schrager war sehr belesen. Außerdem prägte und

förderte sie Selmas Musikalität.12

Selma verbrachte viele Nachmittage damit, ihrer besten Freundin Renée zuzuhören, wenn sie

das Klavier spielte. Gemeinsam saßen sie viele Stunden wortlos zusammen. Außerdem

widmete sich Selma in diesen Stunden dem Lesen, denn Renées Familie besaß viele Bücher.13

Ihre Freizeit verbrachte Selma außerdem in der Natur. Zusammen mit Paul Celan, ihrem

Cousin 2. Grades, und ihrer Cousine Edit verbrachte sie sonnige Tage in den Parkanlagen und

Grünflächen, welche die Stadt Czernowitz zu bieten hat.14 Nach der Schule ging Selma gerne

mit ihren Freundinnen spazieren. Diese Spaziergänge ermöglichten ihnen, sich noch länger

nahe zu sein. Auf der Habsburghöhe trug Selma ihre verfassten Gedichte vor. Diese waren

schon damals von Sehnsucht geprägt.15

2.2 Schulleben vor 1940

Selma hat ab dem Jahre 1930 eine Volksschule besucht, jedoch liegen keine Zeugnisse aus

dieser Zeit vor. Erfolgreich abgeschlossene Ausnahmeprüfungen ermöglichten ihr einige

Jahre später den Eintritt in das „Hoffmann-Lyzeum“. Die Schule war ein reines staatliches

Mädchengymnasium, welches vor allem jüdische Mädchen besuchten.16

10Vgl. Ebd. S.16

11 May (2013), S. 11

12 Vgl. Tauschwitz (2014), S.42 f.

13 Vgl. Ebd., S. 72

14 Vgl. Ebd., S.47

15 Vgl. Bartfeld-Feller (2013), S. 23

16 Vgl. Tauschwitz (2014), S. 54

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In dieser Schule galt die Rumänische Sprache als Pflichtsprache. Die Einhaltung dieser

Sprache wurde von Inspekteuren kontrolliert und bei Widersetzung bestraft. In ihrer Freizeit

sprach die Dichterin Deutsch. Deutsch wollte sie auch in der Schule sprechen. Aus diesem

Grund entwickelte Selma mit ihren Freundinnen eine „Geheimsprache“, die die Kontrolleure

in der Schule nicht verstanden. Sie hängten deutschen Wörtern rumänische Endungen an. 17

Selma war ein sehr sprachbegabtes junges Mädchen. Ungehemmt konnte sie zwischen

verschiedenen Sprachen variieren und „schlüpfte in die jeweilige Sprache wie in ein

bereitliegendes Kleid.“18 In der Schule lernte sie Rumänisch, Französisch, Deutsch und

Latein.19 Selma konnte neben den oben aufgelisteten Sprachen ebenfalls Jiddisch lesen,

verstehen und schreiben. Viele jiddische Gedichte übersetzte sie ins Deutsche, welche in ihrer

Gedichtsammlung „ Blütenlese“ zu finden sind20. Selmas ehemalige Mitschülerin, Margit

Bartfeld-Feller, berichtete, dass Selma oftmals heiter und lebhaft, aber auch nachdenklich

war. So wurde der Bereich unter ihrer Bank in der letzten Reihe des Klassenzimmers zu ihrem

Rückzugsort, indem sie ihren Gedanken folgen konnte. Sie saß dort, las und schrieb Gedichte.

Sie teilte sich ihre Bank mit Renée Abramovici-Michaeli. 21

Im Jahre 1937 wurde die wirtschaftliche Lage in Czernowitz immer schlechter.

Grundnahrungsmittel waren kaum bezahlbar, was dazu führte, dass die Menschen anfingen

einen Schuldigen zu suchen. Jemanden, den sie für diese miserable Situation verantwortlich

machen konnten. Die Schuldigen waren schnell gefunden. Der Hass gegen die Juden stieg.

Die Gesellschaft war vom Antisemitismus geprägt. Viele Lehrer in Selmas Schule verloren

ihre Arbeitsstelle, da sie Juden waren.22 Die Rumänisierung verlangte den Schülern einiges

ab. Viele von Selmas Klassenkameradinnen verließen Czernowitz, um sich vor den Rumänen

zu schützen. Kinder wurden auf dem Nachhauseweg verprügelt und gemobbt. Selmas

Freundin Renée bekam mit, wie ein jüdischer Schüler gezwungen wurde aus dem Fenster zu

springen. Die Situation nahm überhand.23 Sie mussten samstags, am Tag, an denen die Juden

den Sabbat feiern, Prüfungen absolvieren. Die orthodoxen Juden schreiben an ihrem Feiertag17 Vgl. Ebd., S.58

18 Vgl. Ebd. S.51

19 Vgl. Tauschwitz (2014), S 67

20 Vgl. May (2013), S.73 u. 77

21 Vgl. Bartfeld-Feller (2013), S.21

22 Vgl. Tauschwitz (2014), S. 58

23 Vgl. Ebd., S.78

7

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nicht, so dass davon auszugehen ist, dass die schulexternen Kommissionen die Juden bewusst

diskriminieren wollten.

Selma wehrte sich nicht gegen die rumänische Sprache, so dass sie in diesem Schulfach mit

bemerkenswerten Noten glänzte. Die meisten anderen Schulfächer lagen ihr ebenfalls, somit

war sie eine gute Schülerin.24 Ihre Noten verschlechterten sich im Jahre 1940 jedoch

drastisch, und ihre Fehlzeiten fielen beim Anblick ihrer Zeugnisse ins Auge. Dieses lag zum

einen an der immer antisemitischer werdenden Politik, zum anderen jedoch an Selmas Beitritt

in die Jugendgruppe „Hashomer Haizair“ im Jahre 1939. In ihren Lieblingsfächern, wie

Handarbeit, Zeichnen und Sport, erschien sie regelmäßig. Ihre besondere Stärke war die

deutsche Sprache. Hier erreichte Selma die Bestnote.25

2.3 Hashomer Haizair

Das Kriegsgefühl drang bis in Selmas Heimatstadt Czernowitz. Selma suchte neue

Möglichkeiten um sich zu entfalten, denn auf Grund der politischen Geschehnisse veränderte

sich ihr Leben drastisch. Die irritierten und teils hoffnungslosen jüdischen Jugendlichen

fanden in den zionistischen Jugendgruppen, die sich in dieser Zeit bildeten, Zugehörigkeit.

Gemeinsam mit ihren Freundinnen Margit und Renée machte sich Selma ein Bild von den

unterschiedlichen Gruppenangeboten. Ausflüge und Wanderungen waren Teil ihres

Programmes. Außerdem boten sie sportliche Wettkämpfe an. Der größte Unterschied

zwischen den zionistischen Jugendgruppen war deren politische Orientierung. Selma und

Renée traten der Hashomer Haizair (Junge Wächter) bei.26 Es ist zu vermerken, dass diese

Jugendgruppe links-orientiert war. Aufgrund des immer grausamer werdenden Hasses gegen

die jüdische Bevölkerung verbrachten die Jugendlichen ihre Freizeit im Rahmen der

zionistischen Jugendgruppe. Selma vernachlässigte die Schule und fehlte vermehrt.27 Im

Rahmen dieser Jugendgruppe lernte Selma Leiser Fichmann kennen. Die beiden freundeten

sich an. Ob sich schließlich eine Liebesbeziehung entwickelte, ist nicht bekannt.

In ihrem Gedicht „Gilu“( siehe Anhang 1) beschreibt Selma das beliebte Herumtollen, dass

sie „Treiben“ nannten. Außerdem handelt es von den Schneeballschlachten, die sie mit den

24 Vgl. Ebd., S.66 f

25 Vgl. Ebd., S. 82f.

26 Vgl. Tauschwitz (2014), S. 77ff.

27 Vgl. Ebd., S. 81ff.

8

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Mitgliedern der Jugendgruppe veranstaltete. Es ähnelt einem Tagebucheintrag. Es soll kein

Gedicht zum Nachdenken sein, sondern den Leser einen Teil dieses „Treibens“ werden

lassen. Dieses Gedicht gibt Einblicke in das noch recht unbeschwerte Leben von Selma. Von

den aufkommenden politischen Veränderungen, die bei Betrachtung der Historie zu erahnen

waren, spürt man beim Lesen dieses Gedichtes nur wenig. Ein kleiner Ausschnitt aus dem

Gedicht lässt jedoch darauf schließen, dass Selma sehr wohl wusste, wie es um die jüdische

Bevölkerung stand:

„Für uns ist es das Symbol unseres Lebens, unserer Wünsche: „Freiheit auf allen

Gebieten“.28

Selmas Verhalten hat sich nach dem Beitritt in die links-orientierte Jugendgruppe verändert.

Die einst so ruhige und in sich gekehrte junge Frau, die gerne mit ihren Worten alleine war,

genoss zugleich den Trubel und das wilde Herumtollen.

„[…] Gilu… Alle in uns aufgespeicherten Energien verausgaben wir

in diesem Jauchzen, Singen, Stampfen-

Für den Außenstehenden mag dieser Tanz nichts mehr

als ein ungeordnetes Schreien und Trampeln

bedeuten-

Für uns ist es das Symbol unseres Lebens, unserer

Wünsche:

„Freiheit auf allen Gebieten!“

[…] Alle lachen wir und alle singen und jubeln wir mit- und

tanzen, tanzen- als gelte es unser Leben…[…]“29

Selma suchte nach Halt und Zuflucht. Die Jugendgruppe bot ihr beides, jedoch scheint es, als

wäre sie auch dort nicht unbeschwert gewesen. Sie passte sich den wilden und tollenden

28 May (2013), S.65

29 May (2013), S. 65

9

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Jugendlichen an. Ob sie es jedoch genossen hat, bleibt auch beim Anblick des Schlusses

fraglich.

„[…] Endlich löst sich die Verschlingung, und wir sind müde und heiser und atemlos- aber

glücklich.“30

Das Wort „ Endlich“ hat zwei grundlegende Bedeutungen. Zum einen kann mit diesem Wort

ausgedrückt werden, dass man sich das Ende einer Handlung oder Tätigkeit sehnlichst

wünscht und erhofft. Zum anderen wird dieser Begriff als Synonym für „Schließlich“,

„zuletzt“ und „am Ende“ genutzt.

Anhand der unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes „Endlich“ fällt es schwer

herauszustellen, wie die junge Dichterin diese Schneeballschlachten und auch das

Miteinander in der Jugendgruppe wahrgenommen hat. Außerdem haben ihre Freunde der

Jugendgruppe kein Verständnis für Selmas Gedichte gehabt. Selma las ihnen einmal ein

selbstverfasstes Gedicht vor, woraufhin ihre Freunde lachten.31 Selma musste dieses gekränkt

haben, denn sie las keine weiteren Gedichte in der Gruppe vor, sondern zog sich „stumm wie

eine Schnecke in ihr Häuschen zurück“. Sie wird sich missverstanden gefühlt haben, denn

ihre Gedichte verweisen auf ihre Gefühlslage. Aus diesem Grund bevorzugte sie es wieder,

einer vertrauten Person ihre Gedichte zu präsentieren. Else, ein Mitglied der Jugendgruppe,

schien Interesse an ihren Gedichten gefunden zu haben. Außerdem veranstaltete Selma mit

ihren besten Freundinnen, Margit und Renée, vermehrt nächtliche Spaziergänge. Ungestört,

ohne wildes Herumtollen, genoss sie die Natur und die Ruhe, die dem jungen Mädchen

unentbehrlich waren.

3. Selmas Empfinden im Jahre 1940/41, anhand ihrer Gedichte

„Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön, so hell undbedroht.“- Hilde Domin.32

Die jüdische Bevölkerung von Czernowitz litt unter der stetig schlechter werdenden

politischen Lage. Die Menschen waren beunruhigt. Selma schrieb im Jahre 1940 neun30 Ebd.

31 Vgl. Tauschwitz (2014), S.91

32 Vgl. Serke ( 1984), Buchrücken

10

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Gedichte. Sie schrieb kein Tagebuch, wie es viele andere taten, sondern sie vermerkte ihre

Erfahrungen und Gedanken in ihren Gedichten. Selma bezog die Natur als Symbol für ihre

Sehnsucht mit ein. Sie war darin begabt, freudige wie auch traurige, nachdenkliche Gedichte

zu verfassen. Aus diesem Grund kann man anhand ihrer Gedichte die guten und die

schlechten Zeiten ihres Lebens nachvollziehen und verfolgen.33

In den folgenden Kapiteln werden Gedichte, die Selmas Gedichtsammlung „Blütenlese“

entstammen, interpretiert. Sie dienen als Zeugnis ihrer Gefühle und Erlebnisse in der Zeit, als

der Hass gegen die jüdische Bevölkerung wuchs. Anhand dieser wird die Biografie ebenfalls

fertiggestellt. Es werden jeweils nur ein paar Verse aus den aufgeführten Gedichten zur

Verdeutlichung herangeführt. Selma richtete diese Gedichte an Leiser Fichmann.

Wie es auch die Lyrikerin Hilde Domin in dem oben aufgeführten Satz beschreibt, sind diese

Gedichte „rein, schön, hell“ und doch von der bedrohten Situation geprägt.

3.1 Rote Nelken

[…]Es tut so weh, allein zu sein. Drum komm, ich warte ja.

[…]Schau mich doch an. Ist wohl mein Bild noch da in deinem

fernen Blick?

Ich will dich, wie die Traube will, daß man sie, wenn sie

reif ist, pflückt.

[…] Du bist so stark. Ich möchte mich so gerne in deine Arme

lehnen. Wenn du mich führst, so geh ich schnell.

Entsinnst du dich noch jene Nacht, der Schnee war weich

und klingend hell,

33 Vgl. Tauschwitz (2014), S.84 f.

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in der dein Arm mich stark umfing und ich so schnell und

sicher ging, als wär’ ich groß wie du?

[…] ich bin dann sicher nicht mehr klein

und brauche keine Ruh“.34

Nachdem die rumänische Armee die Provinzgebiete zwangsweise räumen musste, verließen

viele Bewohner der Stadt Czernowitz ihre Häuser und flohen. Sie waren von dem plötzlichen

Aufbruch der Armee verunsichert und wollten fliehen, solange es ihnen noch möglich war.

Selma und die Mitglieder der Jugendgruppe „ Hashomer Haizair“ sahen den Einzug der Roten

Armee am 22. Juni 1940 mit Freude entgegen. Sie erhofften sich baldige, politische

Veränderungen unter den neuen Machthabern. Außerdem erhofften sie sich, dass sie dem

Antisemitismus ein Ende setzen würden.35 Die Russen versprachen Gleichheit und mehr

Freiheit für jedermann. Außerdem versuchte die sowjetische Armee und Verwaltung das

Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen.

Viele der jungen jüdischen Mädchen fanden Gefallen an den Soldaten. Ob Selma ebenfalls für

einen der Soldaten geschwärmt habe, ist fraglich. Fest steht jedoch, dass sie im Frühjahr 1941

ein Gedicht verfasste, welches den Namen „Rote Nelken“ trägt (siehe Anhang 3). Rote

Nelken stehen für ungestillte Leidenschaft. Für wen sie dieses Gedicht geschrieben hat, ist

nicht bekannt, jedoch lässt sich vermuten, dass Selma dieses Gedicht nicht wie die anderen

Gedichte für Leiser Fichmann schrieb, sondern womöglich an einen der sowjetischen

Soldaten.

Selma fühlte sich in dieser Zeit einsam. Womöglich stimmte sie das schlechte Verhältnis zu

ihrer Mutter traurig. Sie ist jedoch ebenfalls als Frau gereift und es erscheint, als wolle sie als

Erwachsene angesehen werden. Ihre Jugendgruppe folgte den zehn Grundsätzen der Schomer,

welche auch besagten, dass vorehelicher Geschlechtsverkehr untersagt ist. So ist zu vermuten,

dass Selma ihrer leidenschaftlichen Lust in diesem Gedicht nachgehen wollte.36 Ebenso

verdeutlicht sie es in ihrem Gedicht „Rote Nelken“, dass sie eine junge Frau geworden sei.

Der Vers „als wär‘ ich groß wie du?“, verweist darauf, dass Selma dieses Gedicht an einen

34 May (2013), S. 56 ff.

35 Vgl. Tauschwitz (2014), S. 112f.

36 Vgl. Tauschwitz (2014)., S. 97f.

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älteren Mann adressiert haben muss, da sie deutlich macht, dass sie sich seinem Alter

entsprechend verhalte und somit besonders reif sei.

3.2 Schlaflieder

Auffällig sind die vier Gedichte vom Januar 1941, die vom Einschlafen handeln. Selma

schrieb Gedichte, die die Überschriften „Schlaflied für mich“, „Schlaflied“ und „Wiegenlied“

tragen. Im Laufe des Jahres schrieb sie noch weitere Schlaflieder, wie das „ Schlaflied für die

Sehnsucht“, „Schlaflied für dich“, „Schlaflied“ und „Müdes Lied“. Es scheint, als habe

Selma eine Vorahnung gehabt, was für schreckliche Dinge den Juden in den nächsten

Monaten und Jahren widerfahren wird. Die beängstigenden Aussichten werden sie oftmals um

den Schlaf gebracht haben. Selma war ein nachdenklicher Mensch, der Zuflucht in der

Literatur und der Sprache suchte. In ihrer Jugendgruppe wurde oft über den politischen

Werdegang gesprochen. Selma verbrachte viel Zeit mit Berta, welche ebenfalls sehr

wissbegierig und über die politischen Ereignisse aufgeklärt war.37

Selma hatte Angst, Angst davor, ihre Träume nicht verwirklichen zu können. Womöglich litt

sie in dieser Zeit der Ungewissheit unter Schlafstörungen. So ist es anzunehmen, dass Selma

diese „Schlaflieder“ abends schrieb, an jenen Tagen, an denen ihr das Einschlafen schwer fiel.

Sie sang diese Gedichte, da sie die Musik liebte. Sie sang sehnsüchtig von Momenten, die sie

nie wieder erleben würde. Außerdem versuchte sie, für einen kurzen Moment die schreckliche

Realität auszublenden. Für einige Minuten erinnerte sie sich an die Tage, die ihr Freude

bereitet hatten. Tage, an denen sie mit ihren Freunden gelacht und herum getollt hat. Selmas

Lachen war ihr Markenzeichen, mit dem sie die anderen ansteckte.38

In dem Gedicht „ Schlaflied für mich“( siehe Anhang 4) heißt es:

„[…]Ich singe und singe und sing‘ mir ein Lied,

ein Lied von Hoffnung und Glück,

ich sing‘ es wie der, der geht und nicht sieht,

daß er nimmermehr gehen kann zurück. […]“39

37 Vgl. Ebd., S. 113

38 Vgl. Tauschwitz (2014), S. 103

39 May (2013), S. 37

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Sie versucht das Lied unbeschwert zu singen, womöglich in der Hoffnung, ihrer

aufgebrachten Seele Ruhe zu gewähren.

Viele Eltern singen ihren Babys und Kleinkindern während des Einschlafprozesses

Schlaflieder vor. Dieses bewirkt, dass die Kinder sich entspannen und das Einschlafen leichter

fällt. Selma schrieb sich selber Schlaflieder, die sie sich selber vorsang. Trotz ihres

zunehmenden Alters griff sie auf Methoden zurück, die vor allem bei Babys angewendet

werden. Der frühe Tod ihres Vaters Max wird der Familie stark zugesetzt haben, und

womöglich musste auch die hilflose, kleine Selma unter dieser Situation leiden. Sie war

wenige Monate alt, als ihr Vater starb. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten nahm ihre

Mutter ihre Arbeit frühzeitig wieder auf. Sie war für das Wohl und das Einkommen der

trauernden Familie verantwortlich. Ob ihre Mutter ihr nach langen Arbeitstagen die nötige

Liebe geben konnte, bleibt fraglich. Womöglich haben Selma Geschichten und Lieder zum

Einschlafen gefehlt, und einige Jahre später sehnt sie sich danach. Auf der anderen Seite ist es

jedoch auch möglich, dass Selmas Mutter ihre kleine Tochter abends in ihrem Kinderbett in

den Schlaf sang. Dies wird bei Selma bleibende Spuren hinterlassen haben, so dass sie in ihrer

Jugend daran erinnert wird. Obwohl das Zusammenleben von Selma und Frieda nicht

besonders harmonisch einherging und sie schlussendlich bei ihrer geliebten Großmutter

einzog, ist es möglich, dass Selma in der Zeit der Ungewissheit die Zuneigung ihrer Mutter

vermisst hat. Jedes Kind sehnt sich nach Liebe und Aufmerksamkeit, besonders innerhalb der

Familie. Selmas Gedichten lässt sich entnehmen, dass sie sehr empfindsam und sensibel war,

denn sie schreibt ihre Empfindungen und Sehnsüchte auf eine besonders rührende und

bemerkenswerte Art und Weise nieder.

Wenn man Selmas Gedicht „ Schlaflied“ (siehe Anhang 5) liest, spürt man förmlich, wie das

lyrische Ich zu einem spricht. Es klingt, als wäre das lyrische Ich eine Mutter, die ihr von der

Außenwelt aufgeschrecktes Kind beruhigen möchte.

„Schlaf mein Kindchen, so schlaf schon ein,

so schlaf doch und weine nicht mehr.

Sieh nur, im Schlaf ist die Welt ja dein,

so schlaf und wein nicht so sehr.

[…] Im Schlafe da gibt es nicht Haß, nicht Hohn,

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im Schlafe, da ist es nicht kalt.

[…] Schlafe mein Kind und vergiß, was dich schmerzt,

dunkel ist für dich der Tag.

Hell ist die Nacht, wenn der Traum dich herzt,

so schlafe mein Kindchen, so schlaf.“40

Eines ihrer letzten erhaltenen Gedichte trägt den Namen „ Müdes Lied“ (siehe Anhang 6).

Selma schwärmt vom Träumen. Sie träumt von einer besseren Welt. In ihren Träumen kann

sie sie selbst sein, unbeschwert und gleichberechtigt. Sie entkommt der Realität, welche für

die Juden nichts Gutes bereithält.

„[…] Schlaf‘ ich einmal, so träume ich auch,

und Träume sind so wunderschön.

Sie zaubern einen lächelnden Hauch

auch übers schwerste Geschehn. […]“41

3.3 Gedichte des 30. Juni

„[…]Der Regen weint

Mit mir vereint,

Fern und nah.[…]

Von Tränen schwer

Gespenstisch leer

Ist mein Blick. […]“42

40 May (2013), S. 61

41 Ebd., S.103

42 May (2013), S. 46

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Vom 30. Juni 1941 sind vier Gedichte erhalten geblieben, die die Namen „ August“, „Herbst“,

„Lied“ und „Herbstregen“ tragen. Diese verweisen auf die unklare und bedrohliche Situation,

in der sich die Bevölkerung, wie auch Selma, befand. Aus ihren Gedichten spricht die pure

Verunsicherung, welche anhand unvollständiger Sätze deutlich wird. Die Form, in der sie die

vier Gedichte niederschrieb, unterscheidet sich von den anderen ihrer Gedichtreihe

„Blütenlese“. „Was Selma sagte, hatte Sinn oder bekam Sinn, nichts war banal oder

belanglos“43, so sagte es ihr ihre Freundin Berta nach. Nicht nur in politischen Fragen wird

Selma ihre Taten und Äußerungen mit Sinn und Verstand ausgeführt haben, sondern auch in

ihren Gedichten. Aufgrund Bertas Satzes scheint es sinnvoll, über die Form der

niedergeschrieben Gedichte nachzudenken.

Selma wollte auf die Unterdrückung und die Einschränkungen, unter denen die Juden litten,

hinweisen. Die Freiheit der Juden wurde eingeschränkt. Außerdem wurden sie gezwungen,

am Rande der Gesellschaft zu leben. Es gab das Judenviertel und schließlich das Ghetto,

welches die Juden von dem Rest der Bewohner der Stadt Czernowitz isolierte.

Möglicherweise wollte die junge Dichterin mit dieser Schreibweise auf die Diskriminierung

aufmerksam machen. Am Rande der Gesellschaft lebte sie, und so schrieb sie auch ihre

Gedichte des 30. Juni, am Rande des Papieres. Genügend Platz lassend für den Rest der

Bevölkerung. Selma scheint sprachlos gewesen zu sein, denn sie war von Antisemiten

umgeben, die sie spüren ließen, dass die Juden unerwünscht waren. Ihr Kummer darüber wird

in ihrem Gedicht „August“( siehe Anhang 7) deutlich, welches oben auf dieser Seite

aufgeführt wurde.

3.4 Poem

Das Gedicht „Poem“ (siehe Anhang 8) wurde in der Zeit geschrieben, als die rumänische

Armee Czernowitz zurückgewann und besetzte. In der Zeit, als die Sowjetunion die Stadt

verließ und die Rumänen ihre machtpolitischen Positionen noch nicht vollständig

eingenommen hatten, wurden viele Juden auf grausame Weise ermordet. Sie wurden von

Nachbarn und Freunden auf die Straße gezerrt und brutal getötet. Tagtäglich sah Selma

unzählige Menschen sterben. Selma hatte Todesangst. Sie hatte Wünsche, Hoffnungen und

Ziele, die sie verwirklichen wollte.

43 Vgl. Tauschwitz (2014), S. 91

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[…] Ich möchte leben.

Ich möchte lachen und Lasten heben

und möchte kämpfen und lieben und hassen

und möchte den Himmel mit Händen fassen

und möchte frei sein und atmen und schrein.

Ich will nicht sterben. Nein!

Nein.

Das Leben ist rot.

Das ist mein Leben.

Mein und dein. Mein.44

Selma sehnte sich nach einem intakten Leben. Sie wollte eine normale Jugend durchleben, in

der es gute und schlechte Tage gibt. Selmas Überlebenswille wird in diesem Gedicht

besonders deutlich. Das Wort „ will“ hat eine enorme Kraft in dem Vers „ Ich will nicht

sterben. Nein! Nein.“45 Diese Aussage verstärkt sie durch zwei folgende „Nein! Nein.“

Sterben kam für Selma nicht in Frage. Sie wollte um ihr Leben kämpfen. Für sie war das

Leben rot. Rot ist die bleibende Farbe des Blutes und der Lebenskraft, so beschreibt es Margit

in ihrem Buch „Selma- Meerbaum-Eisinger, Erinnerungen ihrer Schulfreundin“. Ebenso ist

„rot“ ein Synonym für das Wort „ linksorientiert“, so dass dieser Begriff eine unterschiedliche

Bedeutung hat, denn Selma gehörte einer linksorientierten Jugendgruppe an.

Im Laufe des Gedichtes verändert sich die Form des Geschriebenen. Immer kürzer werden

Selmas Sätze. Selma wurde immer trauriger und sprachloser. Sie muss traumatisiert gewesen

sein, denn der Tod begegnete ihr täglich. Selma versucht ihren üblichen Naturbeschreibungen

treu zu bleiben, die man in all ihren Gedichten finden kann. In diesem Gedicht scheinen diese

positiven Beschreibungen jedoch Geschwafel zu sein, denn Selma durchlebte eine schlimme

Zeit, der nichts Positives nachzusagen ist.

44 May (2013), S. 43

45 Ebd.

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„[…] Du willst mich töten. Weshalb?[…]“46

Selma stellt die rhetorische Frage, warum Menschen sie und die anderen Juden töten wollen.

Aus dieser Frage spricht Selmas pure Verzweiflung. Sie kann nicht verstehen, warum so viele

Menschen die Juden hassen und ihnen das Leben in Frieden und Freiheit nicht gewähren

lassen wollen.

„[…]Sie kommen dann

und würgen mich.

Mich und dich

tot.

[…] Über Nacht

bin ich

tot. […]“47

Selma plagen die Albträume. Sie stellt sich vor, wie sie gewürgt wird, da sie dieses auf den

Straßen vor ihrer Wohnung beobachtet haben musste. Ein ähnlicher Vorfall wird ihr beim

Schreiben dieses Verses im Gedächtnis gewesen sein. Bertas Familie musste ihr Haus

verlassen und zu der benachbarten Tante ziehen. Selma half beim Umzug, indem sie den

schweren Notenständer trug. Auf der Straße wurden sie von Antisemiten provoziert und

gedemütigt, während sie das Klavier auf einem Holzkarren transportierten. Ein Rumäne riss

Selma den Notenständer aus den Händen und schlug ihr diesen auf den Kopf, so dass sie zu

Boden fiel.48 Am Ende des Gedichtes scheint ihre Lebenskraft zu schwinden, denn sie ist sich

bewusst, dass auch sie den Antisemiten zum Opfer fallen kann. Der zu Anfang oft

wiederholte Satz „Ich will leben“ taucht am Ende des Gedichtes nicht mehr auf. Der Tod kam

für viele Juden unerwartet, und auch Selma wird sich mit diesem frühzeitigen Tod

auseinander gesetzt haben. „Über Nacht bin ich tot“. Selma wusste, wie unerwartet der Tod

sie treffen könnte.

46 May (2013), S.44

47 Ebd.

48 Vgl. Tauschwitz (2014), S. 142 f.

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Ab dem 10. Oktober 1941 wurden die Juden dazu gezwungen, im Ghetto zu leben. Die

Wohnung von Selmas Großmutter, in der die beiden lebten, lag innerhalb des Grenzgebietes,

welches das Ghetto darstellen sollte. Die Menschen hatten Angst. Der Tod war ihr ständiger

Begleiter, denn unzählige Menschen kamen aufgrund der mangelnden Hygiene und den nicht

zugänglichen Lebensmitteln ums Leben. Viele litten unter Krankheiten, die sich schnell im

Ghetto ausbreiteten. Die sensible Selma musste diese Ausrottung der jüdischen Bevölkerung

mit ansehen. Bis zu ihrer Deportation lebte sie mit ihrer Großmutter und der Familie von

Berta zusammen. Es wird eng und ungemütlich gewesen sein. Selma hat sich oftmals

zurückgezogen, um ihre Empfindungen niederzuschreiben. Sie fand Zuflucht in ihren

Gedichten. Von der einst so lebhaften Selma, die sie zurzeit der Jugendgruppe war, ist in

ihren später verfassten Gedichten wenig zu erkennen. Die politische Lage hat sie erneut

verändert. Selma scheint überfordert und traumatisiert zu sein, und so widmet sie sich ihren

Gedichten. Es sind besonders viele Gedichte aus dem Jahre 1941 erhalten geblieben.

3.5 Tragik

„Das ist das Schwerste: sich verschenken

und wissen, daß man überflüssig ist,

sich ganz zu geben und zu denken,

daß man wie Rauch ins Nichts verfließt.“49

Das Gedicht „Tragik“ (siehe Anhang 9) ist das vorletzte Gedicht der Gedichtsammlung

„Blütenlese“. Diesem Gedicht entstammt der in Rot vermerkte Satz, welcher auf dem

Titelblatt und über der Einleitung meiner Facharbeit steht. Selma schrieb dieses Gedicht am

23.12.1941.

Den darunter stehenden Satz schrieb sie jedoch erst kurz vor ihrer Deportation. Auf ihre

letzten Worte wird in Kapitel 4 abschließend eingegangen.

49 May (2013), S. 105

19

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Selma sah der dunklen, traurigen Realität ins Auge. Sie wusste, dass es keinen Ausweg mehr

gab. Bald würde auch sie ein Opfer der Deportation sein. Das Gedicht weist Selmas Angst

vor dem „Vergessen werden“ auf. Dieses bestätigt vor allem der letzte Vers, „daß man wie

Rauch ins Nichts verfließt“50, welcher eine Metapher in sich birgt. Selma wollte mit diesem

keine Anspielung auf die Leichenverbrennungen in den Vernichtungslagern machen, denn die

Juden wussten vor ihrer Ankunft in den Lagern nicht, welche Gräueltaten sie erleben und

erleiden werden.51Aufgrund ihrer Bestimmung, als Jüdin auf die Welt gekommen zu sein,

konnte sie ihre Lebensziele nicht erreichen. Diese Tatsache wird sie verletzt haben, denn sie

wollte so viel ausführen. Sie wollte nach dem Tod nicht wie viele andere Juden vergessen und

weggescharrt werden, sondern sie wollte in den Erinnerungen bleiben. Dass ihre Gedichte

eines Tages zur Weltliteratur zählen werden, konnte die junge Dichterin zu ihren Lebzeiten

nicht erahnen.

Kurz vor ihrer Deportation kam Selma ihrer Freundin Else Schächter-Keren den Auftrag, ihre

„Blütenlese“ zu Leiser Fichmann zu bringen. Die Tatsache, dass Leiser kein Interesse an ihr

hatte und ein Wiedersehen undenkbar war, stimmte sie traurig. Wie sehr muss sie gehofft

haben, dass Leiser diese Gedichte zu Gesicht bekommen wird, denn sie hatte keine

Möglichkeit gehabt, sich von dem jungen Herrn Fichmann zu verabschieden. Kurz bevor

Leiser die Reise nach Palästina antrat, der er lange Zeit sehnsüchtig entgegen blickte, las er

die Gedichte, die Else Schächter-Keren ihm übergab. Diese gab er ihr jedoch zurück, als er

das Schiff bestieg, welches ihn in sein Wunschland bringen sollte. Das Schiff verunglückte

auf dem Weg und kam nicht in Palästina an. Leiser Fichmann kam dabei ums Leben.52

Am 19. August 1942 wurden Selma, Frieda und ihr Stiefvater Leo ins Zwangsarbeitslager

Michailowka gebracht. Dem Maler Arnold Daghai ist es zu verdanken, dass der

Lageraufenthalt von Selma nachvollzogen werden kann. Er war ebenfalls ein Gefangener in

Michailowka.53 Selma arbeitete in einer Kiesgrube, in der Steine behauen werden mussten.

Sie suchte auch in dieser schwierigen Lebenssituation nicht die Nähe ihrer Mutter, sondern

ging ihren Weg alleine. Der Alltag war hart, doch das in dieser Zeit auffällig gereifte

50 May (2013), S. 105

51 Vgl. Tauschwitz (2014), S. 173

52 Vgl. Ebd., S. 183 f.

53 Vgl. Ebd., S.209

20

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Mädchen blieb stark.54 Wie schon in mehreren Lebenssituationen festgestellt wurde, war

Selmas Lebenswille beachtlich. Auch im Zwangsarbeitslager gab sie ihr Leben nicht auf.

Selma wollte mithilfe einer Dorfwache aus dem Lager fliehen. Sie muss alle Gräueltaten, die

sie tagtäglich umgaben, ausgeblendet haben, denn die Flucht war nahezu unmöglich und

wurde mit dem Tod bestraft. Die junge Frau war jedoch fest entschlossen. Niederschmetternd

muss die Tatsache gewesen sein, dass eine Flucht aufgrund des Schneefalles undenkbar war,

denn die Spuren in der Schneedecke hätten sie verraten.55

Selma erkrankte an Typhus. Sie kämpfte gegen diese Krankheit und nahm ihre Arbeit täglich

auf, doch ihre Kräfte schwanden von Tag zu Tag mehr. An eine Flucht war nicht mehr zu

denken. Am 16. Dezember 1942 hörte Selmas Herz auf zu schlagen. Die Krankheit und die

Erschöpfung zwangen die lebensfreudige junge Frau in die Knie.56

4. Fazit

„Ich habe keine Zeit gehabt zuendezuschreiben. Schade daß du dich nicht von mir empfehlen

wolltest. Alles Gute Selma.“57

Abschließend wird Bezug auf den oben aufgeführten Satz genommen, welcher auf meinem

Titelblatt und über der Einleitung zu finden ist. Zudem werden die in der Einleitung

aufgeführten Leitfragen beantwortet.

Selma dokumentiert ihr Leben auf eine besonders poetische Art und Weise. Leicht lassen sich

ihre Erfahrungen, Gefühle und Erlebnisse nachvollziehen. Ihr Verhalten und ihre

Charaktereigenschaften verändern sich aufgrund der politischen Lage im Laufe der Zeit.54 Vgl. Tauschwitz., S. 219

55 Vgl. Ebd., S. 220 ff.

56 Vgl. Ebd., S. 226

57 May (2013), S. 105

21

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Selma war hoffnungsvoll, als die Sowjetunion die Macht übernahm und führte ein

ausgelassenes, zum Teil aber auch getrübtes Leben in der Jugendgruppe „Hashomer Haizair“.

Als sich der Himmel über der jüdischen Bevölkerung zuzog, wurde Selma wieder ruhiger und

fand Zuflucht in ihren Gedichten. In Anbetracht des letzten Gedichtes und dem darunter

stehenden Satz, welcher vermehrt zitiert wird, wird ihre erstaunliche Lebenskraft und ihr

Lebenswillen deutlich. Für sie ist es „das Schwerste“ sich „verschenkt“ zu wissen. Der Satz

„Ich habe keine Zeit gehabt zuendezuschreiben“, hat eine enorme Aussagekraft. Sie macht

hiermit kenntlich, dass sie noch viel hätte sagen wollen. Selmas Gedichte begleiteten sie auf

diesem schweren Weg, der von Antisemitismus geprägt war. Vor allem ihr Gedicht „ Poem“

und „ Tragik“ spiegeln ihre Lebenskraft wider. Sie wollte nicht so früh sterben und gab ihr

Leben auch im Zwangsarbeitslager nicht auf.

Insgesamt stellt Selma Merbaum eine bewundernswerte Persönlichkeit im Holocaust dar.

Trotz ihres jungen Alters hinterließ sie ihre Gedichte, die den Menschen in der heutigen Zeit

dazu verhelfen, sich in die Gefühle der Juden im Antisemitismus hineinzuversetzen.

Deswegen erscheint die weitere Thematisierung und das „Nicht-Vergessen“ ihrer Geschichte

als erheblich.

Anhangverzeichnis

1. Lied ………………………………………………………………………………………. 23

2. Gilu ………………………………………………………………………………………. 23

3. Rote Nelken ……………………………………………………………………………… 24

4. Schlaflied für mich ………………………………………………………………………. 25

5. Schlaflied ………………………………………………………………………………… 26

6. Müdes Lied ………………………………………………………………………………. 26

7. August …………………………………………………………………………………… 26

8. Poem …………………………………………………………………………………........27

22

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9. Tragik ……………………………………………………………………………………..29

5. Anhang

1.Lied

Heute tatest du mir weh. Rings um uns war Schweigen nur,Schweigen nur und Schnee.Himmel war, nicht wie Azur, blau jedoch und voll mit Sternen.Windeslied erklang aus fernsten Fernen.

Heute warst du mir ein Schmerz.Häuser waren da, so weiß verschneit,alles in des Winters Kleid.Ein Akkord in tiefer TerzWar in unserer Schritte Klang.Bahnsirenen heulten lang…

23

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Heute war es wunderschön.Schön wie tiefverschneite Höh’n,eingetaucht im Abendglutenring.

Heute tatest du mir weh.Heute sagtest du mir: geh!Und ich- ging.

2. Gilu

Gilu… Eine Kette von glühenden, hingerissenen Menschen, die nichts wollen als sich austoben-

Gilu…Alle in uns aufgespeicherten Energien verausgaben wirIn diesem Jauchzen, Singen, Stampfen-Für den Außenstehenden mag dieser Tanz nichts mehrAls ein ungeordnetes Schrein und TrampelnBedeuten-Für uns ist es das Symbol unseres Lebens, unserer Wünsche:„ Freiheit auf allen Gebieten!“Und wie sich aus dem anfangs sanften Wiegen- hin undher, hin und her- plötzlich der Tanz löst, stürmisch alles mit sich fortreißend…Alle lachen wir und singen und jubeln wir mir- undTanzen, tanzen- als gelte es unser Leben…Endlich löst sich die Verschlingung, und wir sind müdeUnd heiser und atemlos- aber wir sind glücklich!

3. Rote Nelken

Ich habe Angst. Es drückt auf mich das Dunkel jeder schwülen Nacht.Es ist so still, und mich erstickt des großen Schweigens schwere Pracht.Warum, warum bist du nicht da? Ich hab‘ gespielt, ich weiß – verzeih.Ich hab‘ mit meinem Glück gespielt – es gingentzwei – verzeih.Es tut so weh, allein zu sein. Drum komm, ich warte ja.Wir lachen uns ein neues Glück, so glaub es doch und komm zurück- es ist ja so viel Lachen da.Schau mich doch an. Ist wohl mein Bild noch da in deinem fernen Blick?Ich will dich, wie die Traube will, daß man sie, wenn sie reif ist pflückt.Mein Haar, es wartet. Und mein Mund will, daß du wieder mit ihm spielst.

24

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Sieh, – meine Hände bitten dich, daß du sie in die deinen hüllst.Sie sehnen sich nach deinem Haar und sehnen sich nach deiner Haut,wie nach dem Traum sich sehnt ein Kind, das ihn auch nur einmal geschaut.Schau, es ist Frühling. Doch ist er blind, er weint ja immerfort.Solange wir nicht beisammen sind, so lange weint er wie der Wind, dem der liebste Wald verdorrt.Sieh, alles wartet nur auf uns: es warten alle Wege, alle Bänke.Es warten alle Blumen nur, daß ich sie pflücke und dir schenke.Du hältst die Sterne, die auf unsrer Schnur noch fehlen, in der Hand.Du hast sie keiner anderen umgehangen.Und findest du für sie nicht bald ein neues Band,so hast du mit den vollen Händen nicht was anzufangen.Sieh – unsre Schnur, sie wartet noch. Ich hab‘ sie zärtlich aufgehoben.Es fehlt auch nicht ein einz’ger Stern und’s ist kein fremder mit verwoben.Wir müssen nicht um neue Schnüre fragen. Die alte ist noch schön und lang.Und hast du auch noch tausend Sterne in der Hand – sie kann noch zehnmal tausend tragen.Du bist so stark. Ich möchte mich so gern in deine Arme lehnen. Wenn du mich führst, so geh ich schnell.Entsinnst du dich noch jener Nacht, der Schnee war weich und klingend hell,in der dein Arm mich stark umfing und ich so schnell und sicher ging, als wär‘ ich groß wie du?O, komm und führe mich so gut von Hindernis zu Hindernis. Ich will gewiß nicht müde sein,ich bin dann sicher nicht mehr kleinund brauche keine Ruh‘.Und dann – in unsrem Liebeszelt, o dann, dann werfen wir der Welt das hellste Lachen zu.Nicht wahr, du kommst? Ich wein‘ nicht mehr. O nein, ich bin ja nicht mehr leer,du kommst gewiß, du kommst geschwind, o du mein starker, schöner Wind-du wirst zum Sturm und reißt mich mit in deinem heißen, wilden Ritt.Ich bin noch hier. Der Traum ist aus. Ich bin allein – wie roter Wein, so kocht mein heißes Blut.Du bist nicht da – und warst so nah, und warst so süße, wilde Glut.Der Frühling weint. Er weint um uns. Wirst du ihn ewig weinen lassen?Du bist so gut. Drum komm zurück – du sollst mich um die Schultern fassen-wir wollen glühn so wie im Traum, wir wollen blühn wie Baum nach Baum aufblühen werden dicht bei uns.

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Ich will dann lachen. Und dann klingt die ganze Luft – die Sonne klingt. Das Wasser klingt, es klingt die Nacht –so hör, ich hab‘ für dich gelacht!

4. Schlaflied für mich

Ich wiege und wiege und wiege mich einmit Träumen bei Tag und bei Nachtund trinke den selben betäubenden Weinwie der, der schläft, wenn er wacht.

Ich singe und singe und sing‘ mir ein Lied,ein Lied von Hoffnung und Glück,ich sing‘ es wie der, der geht und nicht sieht,daß er nimmermehr gehn kann zurück.

Ich sage und sage und sag‘ mir die Mär,die Mär vom Liebesgeflecht,ich sage sie mir und glaub‘ doch nicht mehrund weiß doch: Das Ende ist schlecht.

Ich spiele und spiele mir die Melodeider Tage, die nicht mehr sind,und mache mich von der Wahrheit freiund tue, als wäre ich blind.

Ich lache und lache und lache mich ausob dieses meines Spiels.Und spinne doch Träume, so wirr und so kraus,so bar eines jeden Ziels.

5. Schlaflied

Schlaf mein Kindchen, so schlaf schon ein,so schlaf doch und weine nicht mehr.Sieh nur, im Schlaf ist die Welt ja dein,so schlaf schon und wein nicht so sehr.

Schließe die Augen und schlafe schon,hör nur, es rauschet der Wald.Im Schlafe da gibt es nicht Haß, nicht Hohn,im Schlafe, da ist es nicht kalt.

Schlafe mein Liebling und lächle, Kind,höre, der Fluß singt sein Lied. Schlafe, dann singt dir vom Glück der Wind Und singt dir vom Frühling, der blüht.

Schlafe mein Kind und vergiß, was dich schmerzt,dunkel ist für dich der Tag.Hell ist die Nacht, wenn der Traum dich herzt,

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so schlafe mein Kindchen, so schlaf.

6. Müdes Lied

Ich möchte schlafen, denn ich bin so müd,und so müd und wund ist mein Glück.Ich bin so allein- selbst mein liebstes LiedIst fort und will nicht mehr zurück.

Schlaf‘ ich einmal, so träum ich auch,und Träume sind so wunderschön.Sie zaubern einen lächelnden HauchAuch übers schwerste Geschehn.

Träume tragen Vergessen mit sich Und schillernden bunten Tand.Wer weiß es-vielleicht auch bannen sie mich Für ewig in ihr Land.

7. August

Es ist so kalt-GeistergestaltSitz’ ich da.Der Regen WeintMit mir vereint,Fern und nah.

Die Sehnsucht blautMir nah vertrautUnd bekannt.Sie ist in mirUnd blickt zu dirWie gebannt.

Von Tränen schwerGespenstisch leerIst mein Blick.Er sieht dich anVoll Leid und kannNicht zurück.

8. Poem

Die Bäume sind von weichem Lichte übergossen,im Winde zitternd glitzert jedes Blatt.Der Himmel, seidig-blau und glatt,ist wie ein Tropfen Tau vom Morgenwind vergossen.Die Tannen sind in sanfte Röte eingeschlossenund beugen sich vor seiner Majestät, dem Wind.Hinter den Pappeln blickt der Mond aufs Kind,das ihm den Gruß schon zugelächelt hat.

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Im Winde sind die Büsche wunderbar:bald sind sie Silber und bald leuchtend grünund bald wie Mondschein auf lichtblondem Haarund dann, als würden sie aufs neue blühn.

Ich möchte leben.Schau, das Leben ist so bunt.Es sind so viele schöne Bälle drin.Und viele Lippen warten, lachen, glühnund tuen ihre Freude kund.Sieh nur die Straße, wie sie steigt:so breit und hell, als warte sie auf mich.Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigtdie Sehnsucht, die sich zieht durch mich und dich.Der Wind rauscht rufend durch den Wald,er sagt mir, dass das Leben singt.Die Luft ist leise, zart und kalt,die ferne Pappel winkt und winkt.

Ich möchte Leben.Ich möchte lachen und Lasten hebenUnd möchte kämpfen und lieben und hassenUnd möchte den Himmel mit Händen fassenUnd möchte frei sein und atmen und schrein.Ich will nicht sterben. Nein!Nein.Das Leben ist rot,das Leben ist mein.Mein und dein.Mein.

Warum brüllen die Kanonen?Warum stirbt das Lebenfür glitzernde Kronen?

Dort ist der Mond.Er ist da.Nah.Ganz nah.Ich muß warten.Worauf?Hauf um HaufSterben sie.Stehn nie auf.Nie und nie.Ich will leben.Bruder, du auch.Atemhauchgeht von meinem und deinem Mund.Das Leben ist bunt.

Du willst mich töten.Weshalb?

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Aus tausend Flötenweint Wald.

Der Mond ist lichtes Silber im Blau.Die Pappeln sind grau.Und Wind braust mich an.Die Straße ist hell.Dann...Sie kommen dannund würgen mich.Mich und dichtot.Das Leben ist rot,braust und lacht.Über NachtBin ichtot.

Ein Schatten von einem Baumgeistert über den Mond.Man sieht ihn kaum.Ein Baum.EinBaum.Ein Lebenkann Schatten werfenüber denMond.EinLeben.Hauf um Haufsterben sie.Stehn nie auf.Nieund nie.

9. Tragik

Das ist das Schwerste: sich verschenkenund wissen, daß man überflüssig ist,sich ganz zu geben und zu denken,daß man wie Rauch ins Nichts verfließt.

29

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Abbildungsverzeichnis

1. Bild, Blütenlese original Fassung………………………………………………...…32

2. Bild, Aufschrieb des Gedichtes Tragik……………………………………………...32

3. Bild, Selma mit Ball……………………………………………………………….. 33

4. Bild, Selma und Else……………………………………………………………….33

30

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1. Bild

31

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58

2. Bild

59

3. Bild

58 Lyrikwelt.de, http://www.lyrikwelt.de/gedichte/meerbaum-eisingerg2.htm

59Yadvashem.org, http://www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/traveling_exhibitions/spots_of_light/panel_1.asp

32

Selmas Gedichtreihe „Blütenlese“, inder originalen Fassung.

Selmas Aufschrieb des Gedichtes „Tragik“, mit dem darunter geschriebenen Satz „Ich habe keine Zeit gehabt zuendezuschrieben. Schade, daß du dich nicht von mir empfehlen wolltest. Alles Gute Selma.“, aus der „Blütenlese“.

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60

„Selma mit Ball“.

Von oben links: 1.Selma, 2. Renèe Abramovici( vom Ball verdeckt), 4. Margit Bartfeld-Feller.61

4. Bild

62

Selma und ihre Freundin Else beim Stadtbummel.63

60 dubistanders.de, https://www.dubistanders.de/media/filter/m/img/gruppenbild_selma.jpg

61 Vgl. Bartfeld-Feller (2013), S.43

62 taz.de ,http://www.taz.de/picture/569744/948/N46_nordkultur_aufm_Meerbaum_Eisinger_4sp_CYMK.jpg

63 Tauschwitz (2014), S.103

33

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Literaturverzeichnis

1. Bartfeld-Feller, Margit: Selma Meerbaum-Eisinger 1924-1942, Erinnerungenihrer Schulfreundin. 1. Auflage. Hartung- Gorre Verlag Konstanz 5. Dezember2013.

2. May, Markus ( Hrsg.): Selma Meerbaum- Eisinger, Blütenlese, Gedichte. Nr.19059. Phillip Reclam jun. GmbH& Co. KG, Stuttgart 15. Februar 2013.

3. Serke, Jürgen( Hrsg.): Selma Meerbaum-Eisinger, Ich bin in Sehnsucht eingehüllt,Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund. Fischer TaschenbuchVerlag GmbH, Frankfurt am Main Januar 1984.

4. Tauschwitz, Marion: Selma Merbaum, Ich habe keine Zeit gehabt zuende zuschreiben, Biografie und Gedichte. 1. Auflage. Zu Klampen 25. August 2014.

Quellenverzeichnis

1. google.de, https://www.google.de/search?

q=selma+meerbaum+eisinger&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0ahUKEwjM1

pHfz7fZAhXMJFAKHR32DhcQ_AUICigB&biw=1280&bih=918#

2. Lyrikwelt.de, http://www.lyrikwelt.de/gedichte/meerbaum-eisingerg2.htm

3. yadvashem.org, http://www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/traveling_exhibitions/spots_of_light/panel_1.a sp

4. dubistanders.de,https://www.dubistanders.de/media/filter/m/img/gruppenbild_selma.jpg

5. taz.de, http://www.taz.de/picture/569744/948/N46_nordkultur_aufm_Meerbaum_Eisinger_4sp_CYMK.jpg

34

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Selbstständigkeitserklärung

Ich versichere, dass ich die vorgelegte Facharbeit ohne fremde Hilfe verfasst und keine

anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Ich bestätige ausdrücklich, Zitate und

Quellenangaben mit größter Sorgfalt und Redlichkeit in der vorgeschriebenen Art und Weise

kenntlich gemacht zu haben.

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(Ort, Datum) ( Unterschrift)

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