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Edith Lindenbauer Mathematikunterricht mit GeoGebra zur Unterstützung des funktionalen Denkens in der Sekundarstufe 1 Die Verwendung von dynamischer Mathematiksoftware wie GeoGebra bietet die Möglichkeit, dass sich funktionales Denken nicht nur auf ein Denken in und mit Funktionen beschränkt, sondern auch auf ein Denken mit Veränderungen von Objekten erweitert werden kann. Dieser Beitrag enthält einen Überblick über ausgewählte Forschungsergebnisse zum Lernen von und Arbeiten mit Funktionen im Unterricht und die Darstellung einiger technologiebasierter Materialien für den Einsatz in der Sekundarstufe 1. Diese legen einen Schwerpunkt auf den dynamischen Aspekt von Funktionen und bieten eine Gelegenheit, funktionales Denken von Schülerinnen und Schülern zu fördern. 1.Funktionales Denken „Funktionales Denken ist eine Denkweise, die typisch für den Umgang mit Funktionen ist“ (VOLLRATH 1989, S. 6). Der Umgang mit funktionalen Abhängigkeiten wiederum ist typisch für die Mathematik. Bereits vor über hundert Jahren hoben Klein und Gutzmer in den Reformvorschlägen von Meran erstmals die „Erziehung zur Gewohnheit des funktionalen Denkens“ (GUTZMER 1908, S. 53) als besondere Aufgabe hervor. Nicht nur in der Arithmetik, sondern auch in der Geometrie sollte das funktionale Denken „durch fortwährende Betrachtung der

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Edith Lindenbauer

Mathematikunterricht mit GeoGebra zur Unterstützung des funktionalen Denkens in der Sekundarstufe 1

Die Verwendung von dynamischer Mathematiksoftware wie GeoGebra bietet die

Möglichkeit, dass sich funktionales Denken nicht nur auf ein Denken in und mit

Funktionen beschränkt, sondern auch auf ein Denken mit Veränderungen von

Objekten erweitert werden kann. Dieser Beitrag enthält einen Überblick über

ausgewählte Forschungsergebnisse zum Lernen von und Arbeiten mit Funktionen im

Unterricht und die Darstellung einiger technologiebasierter Materialien für den

Einsatz in der Sekundarstufe 1. Diese legen einen Schwerpunkt auf den

dynamischen Aspekt von Funktionen und bieten eine Gelegenheit, funktionales

Denken von Schülerinnen und Schülern zu fördern.

1. Funktionales Denken

„Funktionales Denken ist eine Denkweise, die typisch für den Umgang mit

Funktionen ist“ (VOLLRATH 1989, S. 6). Der Umgang mit funktionalen

Abhängigkeiten wiederum ist typisch für die Mathematik. Bereits vor über hundert

Jahren hoben Klein und Gutzmer in den Reformvorschlägen von Meran erstmals die

„Erziehung zur Gewohnheit des funktionalen Denkens“ (GUTZMER 1908, S. 53) als

besondere Aufgabe hervor. Nicht nur in der Arithmetik, sondern auch in der

Geometrie sollte das funktionale Denken „durch fortwährende Betrachtung der

Änderungen gepflegt werden, die die ganze Sachlage durch Größen- und

Lageänderungen im einzelnen erleidet.“ (GUTZMER 1908, S. 61)

Was versteht man nun unter funktionalem Denken? Vollrath (1989, S. 8–16) nennt

dazu drei Aspekte:

1. „Durch Funktionen beschreibt oder stiftet man Zusammenhänge zwischen

Größen: einer Größe ist dann eine andere zugeordnet, so dass die eine

Größe als abhängig gesehen wird von der anderen.“

2. „Durch Funktionen erfasst man, wie Änderungen einer Größe sich auf eine

abhängige Größe auswirken.“

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3. „Mit Funktionen betrachtet man einen gegebenen oder erzeugten

Zusammenhang als Ganzes.“

Malle (2000, S. 8) formuliert in leichter Abwandlung folgende Aspekte des

funktionalen Denkens:

Zuordnungsaspekt: Jedem Argument x wird genau ein Funktionswert f(x)

zugeordnet.

Kovariationsaspekt: Wird das Argument x verändert, so ändert sich der

Funktionswert f(x) in einer bestimmten Weise und umgekehrt.

Typische Aufgabenstellungen im Schulunterricht, die den Zuordnungsaspekt von

Funktionen betreffen, sind folgende:

Ermittle den Funktionswert an einer bestimmten Stelle x0!

Ermittle, an welcher Stelle x0 der Funktionswert einen bestimmten Wert f(x0)

annimmt!

Typische Aufgabenstellungen zum Kovariationsaspekt sind:

Beschreibe die Veränderung des Funktionswerts wenn x größer/kleiner wird!

Ermittle allgemein, wie sich der Funktionswert verändert, wenn das Argument

x dreimal so groß wird!

Berechne, wie sich das Argument x verändert, wenn der Funktionswert

halbiert wird! (vgl. MALLE 2000, S. 9)

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Abbildung 1 Darstellungsarten von Funktionen (eigene Abbildung nach MALLE 2000, S. 9)

Abbildung 1 zeigt die typischen Darstellungsformen einer Funktion – Tabelle, Graph

und Funktionsgleichung. Beide Aspekte von Funktionen sind – direkt oder indirekt –

aus diesen Darstellungsarten ersichtlich (vgl. MALLE 2000, S. 8).

In einer Tabelle ist in einer Zeile für jeden Wert x der zugeordnete Funktionswert f(x)

ersichtlich. Liest man die Tabelle senkrecht, z. B. bei der Fragestellung wie sich der

Funktionswert f(x) verändert, wenn der Wert x größer wird, wird der

Kovariationsaspekt betont. Bei Wertetabellen überwiegt die Betrachtung

‚waagrechter‘ Zusammenhänge zwischen den beiden Spalten für die unabhängige

und abhängige Variable, ‚senkrechte‘ Zusammenhänge und damit der

Kovariationsaspekt treten in den Hintergrund.

Auch bei der Darstellung als Funktionsgraph ist der Zuordnungsaspekt für jeden

Punkt des Funktionsgraphen ersichtlich, der Kovariationsaspekt hingegen wird erst

dadurch betont, dass eine Dynamisierung der x-Koordinate bei gleichzeitiger

Betrachtung des zugehörigen Funktionswerts erfolgt. Bei einer Funktionsgleichung

ist nur mehr der Zuordnungsaspekt direkt ersichtlich.

Somit ist der Kovariationsaspekt seltener direkt ersichtlich, das ist bereits bei der

Darstellung einer Funktion als Graph oder Term erkennbar, und zugleich wird er im

Unterricht, z. B. bei der Verwendung von Wertetabellen, seltener thematisiert.

2. Problemstellung

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In der Literatur werden verschiedenste Schwierigkeiten von Schülerinnen und

Schülern im Zusammenhang mit funktionalen Abhängigkeiten angeführt. Besonders

stechen dabei ein mangelhaft entwickelter Kovariationsaspekt, der Graph-als-Bild

Fehler und die sogenannte ‚Illusion of linearity‘ hervor.

2.1. Kovariationsaspekt von Funktionen

Eine typische Fragestellung, die im Schulunterricht behandelt wird, ist folgende: ‚Wie

verändert sich der Flächeninhalt eines Kreises, wenn man den Radius verdoppelt.‘

Diese Aufgabe betont den Kovariationsaspekt des funktionalen Zusammenhangs

zwischen Radius und Flächeninhalt eines Kreises. Es handelt sich dabei um keine

schwierige Aufgabenstellung, trotzdem haben Schülerinnen und Schüler

erfahrungsgemäß immer wieder Probleme mit solchen Fragestellungen,

insbesondere, wenn die beiden Größen nicht direkt proportional zueinander sind.

Für das praktische Arbeiten mit Funktionen ist der Kovariationsaspekt sehr wichtig.

Empirische Untersuchungen zeigen jedoch, dass vor allem dieser Aspekt des

funktionalen Denkens bei Schülerinnen und Schülern unterentwickelt ist (vgl. DE

BOCK et al. 1998; MALLE 2000; HOFFKAMP 2011).

Im Unterricht kommen Funktionen, die nicht explizit durch Terme dargestellt werden,

selten vor. Die Termdarstellung betont dabei den Zuordnungsaspekt von Funktionen.

Zudem werden Funktionsgraphen im Unterricht häufig nur statisch betrachtet und

dadurch die dynamische Sichtweise, die der Kovariationsaspekt beinhaltet, nicht

gefördert.

Empirische Untersuchungen (vgl. MALLE 2000, S. 9; DE BOCK et al. 1998, S. 80)

scheinen darauf hinzudeuten, dass der Kovariationsaspekt in situativen

Einkleidungen leichter erwerbbar ist als im Rahmen von abstrakten

Aufgabenstellungen, vor allem bei zeitabhängigen Größen.

Dynamische Mathematiksoftware (DMS) wie GeoGebra vereint dynamische

Geometrie, Tabellenkalkulation sowie Computeralgebra und ermöglicht die

Förderung des funktionalen Denkens (vgl. HOHENWARTER 2006). Sie eignet sich

durch ihre interaktiven Darstellungen besonders, um den Kovariationsaspekt von

Funktionen hervorzuheben. Dadurch soll die Entwicklung des funktionalen Denkens

und der Erwerb von Kompetenzen im Zusammenhang mit Funktionen unterstützt

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werden. Durch die Verwendung von Technologie muss sich funktionales Denken

nicht nur auf ein Denken in und mit Funktionen beschränken, sondern kann infolge

der möglichen Beweglichkeit von Figuren auch auf ein Denken mit Veränderungen

von Bildern und Mustern erweitert werden. Auch geometrische Figuren und

algebraische Objekte eignen sich dazu.

Beispiele

Alle folgenden GeoGebra-Applets findet man unter dem Link http://ggbtu.be/b95856

(Stand: 14.05.2014).

Abbildung 2 zeigt die Simulation eines senkrechten Wurfs. Dabei wird ein Ball aus

einer Höhe von h0 Meter mit einer Geschwindigkeit von v0 Meter pro Sekunde

senkrecht nach oben geworfen. Für die Darstellung werden drei Fenster gewählt:

eine Situationsdarstellung sowie eine Darstellung der Funktion in Form einer Tabelle

und eines Funktionsgraphen. Während die Animation abläuft, entsteht parallel dazu

im Koordinatensystem eine Darstellung des Funktionsgraphen. Dadurch wird sowohl

der Zuordnungsaspekt (durch punktweises Entstehen des Funktionsgraphen infolge

der Verwendung des Spurmodus) als auch der Kovariationsaspekt (durch die

Betrachtung der Höhenänderung des Balles im Zeitablauf) ersichtlich.

Abbildung 2 GeoGebra-Applet: Senkrechter Wurf

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Dieses Applet ermöglicht die Variation innerhalb dieser Anwendungssituation als

auch, durch Verändern der Ausgangswerte mit Hilfe der Schieberegler, die Variation

der Situation. Ganz bewusst wird dabei nicht die Funktionsgleichung in den

Mittelpunkt der Betrachtungen gestellt.

Ähnlich aufgebaut ist folgendes dynamisches Arbeitsblatt (Abbildung 3) mit einer

Simulation der Begegnung zweier Fahrzeuge, die sich jeweils gleichförmig

aufeinander zubewegen. Auch bei diesem Applet werden Situationsdarstellung,

Funktionsgraph und Tabellendarstellung miteinander kombiniert und die

Verknüpfung verschiedener Repräsentationen für Funktionen in den Mittelpunkt

gestellt. Erst der flexible Wechsel zwischen unterschiedlichen Darstellungsformen

(graphisch, tabellarisch, symbolisch) ermöglicht einen differenzierten Zugang zu

mathematischen Inhalten und bildet die Grundlage für nachhaltigen

Kompetenzerwerb (vgl. DUVAL 2006, S. 127–128).

Abbildung 3 GeoGebra-Applet: Bewegungsaufgabe

Das Ziel dieser Aufgabe ist die Entwicklung der Funktionsgleichung und die

Berechnung des Treffpunkts. Zudem kann durch Veränderung der

Geschwindigkeiten der Fahrzeuge deren Einfluss auf die Wertetabelle, auf den

Verlauf der Funktionsgraphen und auf den Treffpunkt untersucht werden. Natürlich

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kann dieses Applet durch veränderte Aufgabenstellungen auch dazu verwendet

werden, ganz bewusst nicht die Funktionsgleichung zu ermitteln und den

Schwerpunkt auf die Betrachtung des Kovariationsaspekts zu legen.

Zu situativen Einkleidungen, die den Erwerb des Kovariationsaspekts fördern sollen,

gehören auch Aufgaben in einem geometrischen Kontext. Pinkernell (2010, S. 17)

nennt verschiedene Möglichkeiten, diesen Aspekt anhand von geometrischen

Aufgaben zu betrachten:

Aufgaben ohne Betrachtung der Funktionsgleichung

Auswahl unterschiedlicher geometrischer Figuren

Verwendung von verschiedenen geometrischer Größen in wechselnden

Abhängigkeiten

Aufgabenumkehr – zu einem gegebenen Funktionsgraphen ist eine passende

geometrische Figur zu finden

Austausch von Ausgangsgröße und zugeordneter Größe und Vergleich der

Funktionsgraphen – ohne Funktionsgleichung ist keine Termumformung nötig

Die folgenden beiden Applets behandeln den funktionalen Zusammenhang zwischen

Radius und Umfang bzw. Flächeninhalt eines Kreises in wechselseitigen

Abhängigkeiten. Der Funktionsterm wird bewusst nicht angeführt.

In Abbildung 4 sind Umfang und Flächeninhalt eines Kreises in Abhängigkeit des

Radius dargestellt. Die Funktionsgraphen entstehen punktweise und können sowohl

einzeln als auch gemeinsam betrachtet werden. Mit diesem Applet können typische

Fragen zum Kovariationsaspekt, beispielsweise ‚Wie verändert sich der

Flächeninhalt eines Kreises wenn sich der Radius verdoppelt?‘ untersucht werden.

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Abbildung 4 GeoGebra-Applet: Kreis 1

Beim nächsten dynamischen Arbeitsblatt (Abbildung 5) ist jeweils die

Ausgangsgröße (Radius r) mit der jeweils zugeordneten Größe (Umfang U bzw.

Flächeninhalt A) vertauscht. Gemeinsam können die Applets von Schülerinnen und

Schülern dazu genutzt werden, um sich intensiv mit den wechselseitigen

Abhängigkeiten dieser Größen auseinandersetzen, z. B. Eigenschaften entdecken,

Zusammenhänge erkennen und die Art der Zusammenhänge beschreiben.

Erwähnenswert ist auch, dass an solchen Aufgaben Schülerinnen und Schüler

Erfahrungen mit nichtlinearen Zusammenhängen machen können.

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Abbildung 5 GeoGebra-Applet: Kreis 2

DynaGraph

Der Kovariationsaspekt betrachtet die dynamische Abhängigkeit zweier Größen.

Dieser Aspekt kann mit dem sogenannten DynaGraph einmal anders dargestellt

werden.

Derzeit ist im Schulunterricht die Darstellung von Funktionen im kartesischen

Koordinatensystem vorherrschend. Eine andere, manchmal bessere, Möglichkeit ist

die DynaGraph-Darstellung. Dabei werden anstelle von zwei orthogonalen zwei

parallele Achsen, vorzugsweise ohne Skalierung, verwendet (vgl. GOLDENBERG et

al. 1992, S. 244–249).

Abbildung 6 GeoGebra-Applet: Dynagraph

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Das dynamische Arbeitsblatt Lineare Funktion – Dynagraph zeigt eine solche

Funktionsdarstellung. Die dargestellte lineare Funktion kann anhand der

Schieberegler für die Parameter k und d verändert werden. Auf der unteren Achse ist

das jeweilige Argument x0 und auf der oberen der zugehörige Funktionswert f(x0) der

linearen Funktion ersichtlich. Durch Verschieben von x0 bewegt sich simultan der

zugehörige Funktionswert f(x0). Anders als im kartesischen Koordinatensystem

verändert sich hier die Variable x tatsächlich. Diese Darstellung ermöglicht eine

bessere Betrachtung des Kovariationsaspekts, weil Schülerinnen und Schüler

Funktionsgraphen im kartesischen Koordinatensystem oft nur als statische ‚Bilder‘

wahrnehmen und der dynamische Aspekt von Funktionen in den Hintergrund rückt

(vgl. MALLE 2000, S. 10).

2.2. Graph-als-Bild Fehler

Ein mangelhaft entwickelter Kovariationsaspekt von Funktionen ist unter anderem

auch am Auftreten des Graph-als-Bild Fehlers erkennbar (vgl. CLEMENT 1989,

S. 77–87; SCHLÖGLHOFER 2000, S. 16; HOFFKAMP 2011, S. 12–14). In diesem

Fall sehen Schülerinnen und Schüler Funktionsgraphen als photographisches Abbild

einer Realsituation. Derartige Fehler werden durch den dargestellten Sachkontext

entsprechend provoziert und treten daher situationsabhängig auf.

Durch eine bewusste Auseinandersetzung mit solchen Aufgaben soll das

Verständnis für die Interpretation von Funktionsgraphen vertieft werden. Vor allem

eine dynamische Darstellung der jeweiligen Situation, eine – räumliche und zeitliche

– Trennung von Situationsdarstellung und grafischer Darstellung und ein

punktweises Entstehen des Funktionsgraphen sollen dazu beitragen.

Ausgangspunkt für ein weiteres dynamisches Arbeitsblatt ist eine Aufgabe von

Schlöglhofer (2000, S. 17).

Das GeoGebra-Applet Billard (Abbildung 7) simuliert folgende Situation: Vom Punkt

P aus wird eine helle Billardkugel entlang der angegebenen, strichliert dargestellten

Bahn geschossen. Der Funktionswert d(t) gibt den Abstand der Kugel vom oberen

Rand des Billardtisches an. Das dynamische Arbeitsblatt enthält sowohl eine

Situationsdarstellung als auch ein Grafikfenster mit dem zugehörigen

Funktionsgraphen. Durch eine entsprechende Umsetzung haben Schülerinnen und

Schüler die Möglichkeit, zuerst nur die Bewegung der Billardkugel zu betrachten und

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anschließend eine Hypothese über den Verlauf des Funktionsgraphen zu bilden.

Zum Schluss kann der Funktionsverlauf im Koordinatensystem angezeigt und damit

die gebildete Hypothese überprüft werden.

Abbildung 7 GeoGebra-Applet: Billard

Das folgende Beispiel (Abbildung 8) ist ähnlich aufgebaut, basiert ebenfalls auf einer

Aufgabe von Schlöglhofer (2000, S. 17) und wurde von Hoffkamp (2011, S. 79–124)

im Hinblick auf (Prä-)Konzepte zur Analysis genauer untersucht. Wie bei den bereits

beschriebenen dynamischen Arbeitsblättern zum Kreis handelt es sich um eine

Aufgabe in einem geometrischen Kontext. Dieses bietet jedoch den Vorteil, dass für

den schattierten Flächeninhalt eine Funktionsgleichung von Schülerinnen und

Schülern nicht ohne Weiteres ermittelt werden kann und dadurch eine mentale

Dynamisierung der Situation mit Hilfe eines Terms nicht umgangen werden kann

(vgl. PINKERNELL 2010, S. 16).

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Abbildung 8 GeoGebra-Applet: Dreieck

Schülerinnen und Schüler sollen eine Hypothese zum Verlauf des Funktionsgraphen

bilden. Dieser gibt den markierten Flächeninhalt links von der strichlierten Linie in

Abhängigkeit von x (horizontaler Abstand des hellen Punkts vom Eckpunkt A) an.

Der Flächeninhalt wird durch Ziehen des hellen Punkts verändert und der

zugehörige Wert durch Anklicken des Kontrollkästchens als Hilfestellung angezeigt.

Erst zum Schluss sollen sich Schülerinnen und Schüler den Funktionsgraphen im

rechten Fenster anzeigen lassen, um damit ihre Vermutungen über den Verlauf des

Graphen zu überprüfen.

Manche Situationen verleiten besonders zu Fehlinterpretationen von

Funktionsgraphen. Schlöglhofer (2000, S. 16) gibt dazu folgendes Beispiel an:

„Fährt das Auto über eine Kuppe oder eine Mulde?“

Abbildung 9 Fährt das Auto über eine Kuppe?

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Bei einer Fehlinterpretation im Sinne eines Graph-als-Bild Fehlers wird die Antwort

von Schülerinnen und Schülern sein: ‚Das Auto fährt über eine Kuppe‘. Um diese

Fehlkonzepte zu verändern, ist eine intensive Auseinandersetzung mit der Aufgabe

nötig, zum Beispiel durch gezielte Fragestellungen der Lehrperson. Eine Möglichkeit

besteht darin, den Verlauf von Funktionsgraphen in Form von Geschichten mündlich

oder schriftlich beschreiben zu lassen. Eine andere Möglichkeit ist der Einsatz

dynamischer Arbeitsblätter. Diese können, vor allem im Anfangsstadium der

Auseinandersetzung mit diesem Problem, eine Hilfestellung bieten und Schülerinnen

und Schüler bei der Beschreibung von Funktionsgraphen unterstützen.

Abbildung 10 GeoGebra-Applet: Ball rollt über einen Hügel

Das Applet Ball rollt über einen Hügel zeigt in der Situationsdarstellung einen Ball,

der über einen Hügel rollt, wobei dessen Geschwindigkeit zuerst kleiner und

anschließend wieder größer wird. Im unteren Grafikfenster kann, sinnvollerweise

nachdem eine Diskussion über einen möglichen Verlauf des Funktionsgraphen

erfolgt ist, dieser im Spurmodus angezeigt werden.

2.3. Illusion of linearity

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Eine weitere Schwierigkeit von Schülerinnen und Schülern ist die sogenannte

‚Illusion of linearity‘. Bei einer Untersuchung von Markovits et al. (1988, zit. n. TALL

1997, S. 10–11) wurde Schülerinnen und Schülern folgende Abbildung vorgelegt und

die Frage gestellt: ‚Wie viele Funktionsgraphen kannst du zeichnen, die durch alle

folgenden Punkte gehen?‘.

Abbildung 11 Untersuchung zur Illusion of linearity (eigene Abbildung nach TALL 1997,

S. 299, bezugnehmend auf MARKOVITS et al. 1988)

Im ersten Fall (Abbildung 11 links) wurde oft eine Gerade angegeben. Im zweiten

Fall (Abbildung 11 rechts) sagten Schülerinnen und Schüler – beeinflusst durch die

besondere Lage der Punkte – unter anderem, dass diese Punkte auf zwei

unterschiedlichen Geraden liegen und es demzufolge keine Funktion als Lösung

gibt.

Einige Zitate von Schülerinnen und Schülern aus der Untersuchung von Hoffkamp

(2011, S. 107f) verweisen ebenfalls auf diese Fehlvorstellung:

„... die Funktion hat keinen Anstieg, weil, wenn sie einen Anstieg hätte, wäre

sie gerade.“

„... Graph ist doch immer eine Gerade.“

Mit ‚Illusion of linearity‘ ist gemeint, dass lineare oder direkt proportionale Modelle

bevorzugt für die Beschreibung von Relationen verwendet werden (vgl. DE BOCK et

al. 2002, S. 311–314; HOFFKAMP 2011, S. 24–28). Vielfältige Erfahrungen mit

diesen Modellen, vor allem in der Sekundarstufe 1, führen zu der Fehlvorstellung,

dass lineare Modelle sozusagen universal anwendbar sind. Diese Fehlvorstellung

kann einigermaßen leicht überwunden werden, wenn es um Aufgaben in einem

realistischen Kontext geht (vgl. DE BOCK et al. 1998, S. 80). Hierzu eignen sich

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beispielsweise die oben beschriebenen dynamischen Arbeitsblätter. Es erscheint

sinnvoll, Schülerinnen und Schüler regelmäßig mit nichtlinearen funktionalen

Zusammenhängen zu konfrontieren, damit sie vielfältige Vorstellungen zum

Funktionskonzept bilden können. Dazu eignen sich auch Aufgaben in einem

geometrischen Kontext.

3. Applets für die Primarstufe

Als Vorstufe zum Arbeiten mit Funktionen können bereits in der Primarstufe

beziehungsweise zu Beginn der Sekundarstufe 1 funktionale Abhängigkeiten etwa

an geometrischen Objekten betrachtet werden.

Abbildung 12 GeoGebra-Applet: Geobrett – Quadrat

Im Geobrett-Applet (Abbildung 12) wird durch Variation der Seitenlänge die

Abhängigkeit des Flächeninhalts bzw. des Umfangs eines Quadrats von seiner

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Seitenlänge dynamisch betrachtet. Damit können frühe Erfahrungen zum

Kovariationsaspekt gesammelt werden und durch die Betrachtung des

Flächeninhalts zudem ein nichtlinearer funktionaler Zusammenhang untersucht

werden.

Das nächste dynamische Arbeitsblatt (Abbildung 13) behandelt funktionales Denken

an einem algebraischen Objekt – der Zahlenmauer. Es eignet sich, um den Einfluss

einer Eingangsgröße (in diesem Fall des Zahlenwerts in einem Basisstein der

untersten Reihe der Zahlenmauer) auf eine Ausgangsgröße (den Wert im obersten

Stein) zu untersuchen.

Abbildung 13 GeoGebra-Applet: Zahlenmauer

Diese Übung kann bereits in der Primarstufe eingesetzt werden und ist eine

propädeutische Übung zum funktionalen Denken. Durch unterschiedliche

Fragestellungen werden sowohl der Zuordnungsaspekt als auch der

Kovariationsaspekt betont.

Typische Fragestellungen zum Zuordnungsaspekt – bei einer Grundeinstellung von

1 in allen Basissteinen – sind:

Welche Zahl erscheint im obersten Stein, wenn der zweite Basisstein die Zahl

2 enthält?

Welche Zahl muss im zweiten Basisstein eingestellt sein, damit das Ergebnis

im obersten Stein 15 ist?

Typische Fragestellungen zum Kovariationsaspekt sind:

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Wie verändert sich das Ergebnis im oberen Stein, wenn die Zahl jeweils um 1,

2, … erhöht wird?

Wähle einen beliebigen Basisstein aus. Verändere diese Zahl und beobachte,

wie sich das Ergebnis verändert. Mache nun dasselbe im Stein rechts

daneben. Was fällt dir auf? Beschreibe deine Beobachtungen!

Dabei sind auch Aufgaben interessant, die keine Lösung haben. Der

Schwierigkeitsgrad dieser Fragestellungen wird erhöht, indem die Zahlen in zwei

oder mehr Basissteinen verändert werden. Zudem kann die Komplexität der

Fragestellungen durch eine Vergrößerung dieser Zahlenmauer bis zu maximal

10 Basissteinen verändert werden.

4. Zusammenfassung

Vollrath & Weigand (2007, S. 140) weisen darauf hin, dass sich funktionales Denken

entwickelt. Dies umfasst beispielsweise die Entwicklung folgender Fähigkeiten:

Schülerinnen und Schüler können

Zusammenhänge zwischen Größen feststellen, angeben, annehmen und

erzeugen.

Hypothesen über die Art des Zusammenhangs und über den Einfluss von

Änderungen bilden, kontrollieren und eventuell revidieren.

Es stellt sich die Frage, inwieweit diese Entwicklung durch den Mathematikunterricht

gefördert werden kann.

„Mathematics instruction should offer experiments to the students from which

they can gain experience. Problems should lead to conjectures, and they

should get the opportunity to check them.” (VOLLRATH 1986, S. 399)

Der Mathematikunterricht soll so gestaltet werden, dass Schülerinnen und Schüler

die Möglichkeit haben, vielfältige Erfahrungen zu funktionalen Abhängigkeiten zu

machen. Durch die Auseinandersetzung mit problemhaltigen Aufgabenstellungen

können sie die oben genannten Fähigkeiten schulen und somit funktionales Denken

entwickeln. Die vorgestellten technologiegestützten Materialien bieten die

Gelegenheit, Zusammenhänge zwischen verschiedensten Größen zu betrachten, zu

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beschreiben und zu analysieren und auch Hypothesen über diese Zusammenhänge

zu bilden und diese zu kontrollieren. So können die dynamischen Arbeitsblätter dazu

dienen, funktionales Denken von Schülerinnen und Schülern zu fördern.

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