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ivo andric - ein geistiger brandstifter
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Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON Samstag, 01.04.2000 Nr.78 65
Schauplatz Bosnien
Ivo Andric – ein geistiger Brandstifter?In der Inquisition treffen sich Nationalisten aller Lager
Wohl kein anderer jugoslawischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gilt bis heute dermassen alsliterarische Verkörperung Bosniens wie der vor 25 Jahren verstorbene Ivo Andric. Doch Nationalisten aller Lager tun sich heute schwer mit ihm. Von bosnischmuslimischer Seite wird ihm sogarvorgeworfen, in seinen Werken den Hass gegen ihre Volksgruppe geschürt zu haben.
Ivo Andric (1892–1975) gilt bis heute als dieliterarische Stimme Bosniens schlechthin. DieRomane «Wesire und Konsuln», «Die Brückeüber die Drina» und «Das Fräulein» sowie dernicht vollendete und postum erschienene «OmerPascha Latas», die Novelle «Der verfluchte Hof»,über hundert Erzählungen, Essays und Gedichtebilden das umfangreiche Werk, in dem er Bosnienzur literarischen Landschaft der Weltliteratur gestaltete. Dafür wurde er 1961 mit dem Literaturnobelpreis geehrt und ist bis heute der einzigeLaureat aus dem ehemaligen Jugoslawien geblieben. – Doch nach dem Zerfall Jugoslawiens undder Katastrophe, die über Bosnien hereingebrochen ist, tun sich Nationalisten aller Lager schwermit Andric. Die serbische Seite nimmt ihn zwargerne für sich in Anspruch, und sein Konterfeiwurde auf Banknoten in der BundesrepublikJugoslawien sowie der Republika Srpska in Bosnien gedruckt. Zugleich wurde aber der in Belgraddomizilierten AndricStiftung weitgehend ihr Besitz entzogen: als Katholik kann der Schriftstellerin den Augen serbischer Nationalisten ohnehinkein «echter» Serbe gewesen sein. Kroaten stossen sich an einem seiner Herkunft nach kroatischen Autor, der wie viele andere seiner Generation ein Befürworter des gemeinsamen Staates mitden Serben war. Als überzeugter Jugoslawe gälteer ihnen heute als «JugoNostalgiker».
Nach Den Haag
Am vehementesten artikuliert sich das Unbehagen an Andric in nationalistischen Kreisen derbosnischen Muslime, dem schon mehrere Denkmäler des Schriftstellers zum Opfer gefallen sind.Im vergangenen Jahr erreichte die Debatte überihn ihren Höhepunkt, als der Vorsitzende dermuslimisch orientierten Kulturgesellschaft «Preporod» (Wiedergeburt) in Tuzla forderte, dienach Andric benannte Strasse in der Stadt umzubenennen. Der Schriftsteller habe in seinen Werken den Hass gegen die Muslime und den Islam
geschürt. Wäre er noch am Leben, müsste manihn gemeinsam mit Karadzic und General Mladicdem Gerichtshof in Den Haag überstellen, da erzu den ideologischen Architekten der grossserbischen Politik gehört habe.
Die Ankläger Andrics stützen sich vor allemauf die Untersuchung des Sarajewoer Literaturwissenschafters Muhsin Rizvic «Die bosnischenMuslime in Andrics Welt», die 1996, zwei Jahrenach dem Tode ihres Verfassers, erschienen ist.Rizvic examiniert in seinem umfangreichen, sichhäufig wiederholenden Buch Andrics Werk anhand eines einfach gestrickten Kriterienkatalogs,der die Darstellung der Muslime, des Islams undder osmanischen Herrschaft in bezug auf ihreheutige politische Korrektheit befragt. Als entscheidendes corpus delicti gilt Rizvic Andrics Dissertation aus dem Jahre 1924 über «Die Entwicklung des geistigen Lebens in Bosnien unter derEinwirkung der türkischen Herrschaft». Diesewar in der Zeit, als Andric als jugoslawischerVizekonsul in Graz weilte, an der dortigen Universität entstanden. Gewiss stellte bereits dasGutachten des Doktorvaters, das sonst nicht mitLob für die Arbeit geizte, fest, dass sie jede kulturfördernde Wirkung der türkischen Herrschaftin Bosnien negiere. Diese negative Sicht desosmanischen und islamischen Einflusses durchden Historiker Andric hinderte den SchriftstellerAndric indessen nicht, gerade die kulturelle undreligiöse Vielfalt Bosniens zum Mittelpunkt seinesliterarischen Werks zu machen. Im Gegensatz zuden Ideologen der neunziger Jahre bejahte er diePluralität seiner Heimat und versuchte nicht, sierückgängig zu machen. Im übrigen scheint sichAndric in späteren Jahren von seiner Dissertationdistanziert zu haben: er zeigte auch nie ein Interesse daran, sie zu veröffentlichen. Dies geschaherst Jahre nach seinem Tod.
Die AndricInquisitoren werfen dem Schriftsteller auch vor, er habe die Vertreibung der Albaner aus Jugoslawien befürwortet. Das Dokument,
© 2000 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 1
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das diese Behauptung belegen soll, war jedoch zueinem anderen Zweck verfasst worden. Es handeltsich um ein Exposé, das Andric 1939 als stellvertretender Aussenminister Jugoslawiens verfassthatte, um die aussenpolitischen MöglichkeitenJugoslawiens angesichts der auf Expansion angelegten italienischen Balkanpolitik auszuloten. Dabei ging es nicht zuletzt um das Schicksal Albaniens, auf das Mussolini sein Auge geworfenhatte. Im Unterschied zu anderen Vertretern desBelgrader Aussenministeriums plädierte Andricdafür, die Unabhängigkeit Albaniens zu unterstützen. Nur für den Fall, dass Italien das Land okkupieren sollte, schlug er vor, dass auch JugoslawienTeile Nordalbaniens für sich beanspruchen sollte.
Andrics politische Überzeugungen waren dasErgebnis seiner Suche nach einem Ausweg ausengstirnigen Nationalismen. So wurde er ein entschiedener Anhänger der jugoslawischen Ideeund blieb es zeit seines Lebens. Sein politischesLeben blieb dabei nicht frei von Widersprüchen.Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte er MladaBosna (Junges Bosnien) an, jener aus jungen bosnischen Serben, Kroaten und Muslimen bestehenden Organisation, die die Vereinigung aller Südslawen in einem gemeinsamen Staat auf ihr Banner geschrieben hatte. Proserbisch waren sie indem Sinne, dass Serbien damals der einzige unabhängige südslawische Staat war und deshalb ihreSympathien genoss. Obwohl selbst kein Serbe,diente er dem in der Zwischenkriegszeit serbischdominierten jugoslawischen Staat als Diplomatund brachte es bis zum stellvertretenden Aussenminister und Botschafter in Berlin. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, den er in Belgrad verbrachte, wo er seine grossen Romane verfasste, stand er loyal zum neuen, kommunistischgeführten Jugoslawien unter Tito und wurde einerder bekanntesten literarischen Repräsentantendes Landes.
Verhängnisvoller Ruhm
Sein literarischer Ruhm und sein Ansehen alsbosnischer Schriftsteller par excellence sind
Andric in gewisser Weise zum Verhängnis geworden. In den neunziger Jahren glaubten manchePolitiker, ihn für ihre eigenen propagandistischenZwecke einspannen zu können. Die kurze Erzählung «Brief aus dem Jahre 1920», in der Bosnienals Land des Hasses evoziert wird, schien für einepolitische Verwertung besonders geeignet zu sein.Radovan Karadzic liess diese Erzählung an dieausländischen Diplomaten, die ratlos das Blutvergiessen betrachteten, verteilen, um sie davon zuüberzeugen, dass der Hass und die daraus resultierende Gewalt ein unveränderlicher Bestandteilder bosnischen Mentalität und Geschichte seien,weshalb ein Eingreifen auswärtiger Mächte nichtgerechtfertigt sei. Bei nicht wenigen fiel dieseArgumentation auf fruchtbaren Boden. Andricging es jedoch nicht um den Hass als spezifischbosnisches, sondern universales Phänomen. AmSchluss der Erzählung ist die Rede von dem weiteren Schicksal Max Löwenfelds, des Verfassersdes bewussten Briefes. Er liess sich, nachdem erBosnien verlassen hatte, als Arzt in Paris nieder;nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegsmeldete er sich als Freiwilliger zur republikanischen Armee. Bei einem Luftangriff auf das Lazarett, in dem er Dienst tat, kam er mit seinenPatienten ums Leben. «So endete das Leben desMenschen, der vor dem Hass geflohen war.»
Tröstlich stimmt, dass Andrics Werk für Literaturkenner weiterhin die Quintessenz des literarischen Erbes Bosniens bleibt. Bei einer Umfrage,die die liberale Sarajewoer Zeitschrift «Dani» imvergangenen Jahr unter Literaturkritikern undtheoretikern durchgeführt hat, um eine Liste derzehn besten bosnischen Romane des 20. Jahrhunderts zu erstellen, war Andric mit drei Werken deram häufigsten vertretene Autor. An der Spitzestand «Der verfluchte Hof», der wegen seinerKomposition besonders geschätzt wird, aufPlatz 3 und 6 folgten «Wesire und Konsuln» und«Die Brücke über die Drina».
Ekkehard Kraft
© 2000 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 2