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Zeit von Martin Zenhäusern ([email protected] ) Zeit ist relativ. Je älter wir werden, desto schneller vergeht sie. Das ist zumindest unser Eindruck – und er ist richtig. Wir sprechen von: Zeit haben, Zeit gewinnen, Zeit verlieren. Im Sommer ist traditionell Ferienzeit. Wir verfügen über ein grosses Angebot, uns die Zeit zu vertreiben. Die Tourismus-Industrie bietet Fun und Abenteuer, Nervenkitzel und Spektakuläres. Wir versuchen, so viel wie möglich zu unternehmen, weil wir dazu gehören, Neues erleben wollen. Andere lehnen sich zurück, liegen in der Sonne, lesen, tun einfach einmal gar nichts, und lassen es sich gut gehen. Die Zeit vergeht, und wir haben uns – vermeintlich oder tatsächlich – erholt oder viel erlebt. Wer eine Reise tut, der hat was zu erzählen... Was allerdings auffällt, ist, dass wir bei dem riesigen Angebot immer weniger Zeit haben für Dinge, die für uns früher besonders wichtig waren, wie das Gespräch, das einfache Zusammensein, das sich um den anderen kümmern. Wir erleben immer wieder die paradoxe Situation, dass zwei Menschen beim Essen im Restaurant sich gegenüber sitzen, und beide haben ihr Handy am Ohr, um mit einem anderen zu sprechen. Derjenige, den man trifft, kommt dann zu kurz. Vielleicht sprechen wir mit ihm ja erst wieder dann direkt, wenn wir mit einem anderen zu Essen verabredet sind – per Handy. Wann nehmen wir uns Zeit für uns selber? Einmal nachdenken, was war, was wir tun, wohin wir wollen? Warum erst dann, wenn die Sinnkrise oder ein Burn-out drohen, wenn wir auf der Couch des Psychiaters liegen oder in ärztlicher Behandlung sind? Ein Paradox ist es ebenso, dass wir Zeit gewinnen wollen und dabei Zeit verlieren. Je effizienter wir werden, desto mehr Zeit haben wir, noch mehr zu arbeiten. Die Belastung steigt, der Druck ebenso, und irgendwann sind wir so effizient, dass wir das Doppelte leisten können. Dies ist mitunter auch ein Syndrom der Workaholics, die nicht mehr aus diesem Hamsterrad aussteigen können. Ferien sind eine herrliche Zeit. Eine ideale Gelegenheit, sich einmal ein paar Gedanken zu machen über das Tempo, in dem wir leben, über unser Leben und wie wir es leben wollen, über Zeit haben und Musse. Wie bei vielem im Leben, ist es die richtige Mischung, welche Sinn stiftet und uns zufrieden macht. Noch etwas: Lassen wir uns durch den Kopf gehen, was Seneca gesagt hat: „Alles ist fremdes Eigentum. Nur die Zeit gehört uns: Einzig dieses flüchtige, leise enteilende Gut hat uns die Natur wirklich zu Eigen gegeben, und doch vertreibt uns daraus jeder Beliebige.“ Nehmen wir uns genügend Zeit – für uns?

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Ferien sind eine herrliche Zeit. Eine ideale Gelegenheit, sich einmal ein paar Gedanken zu machen über das Tempo, in dem wir leben, über unser Leben und wie wir es leben wollen, über Zeit haben und Musse. Wie bei vielem im Leben, ist es die richtige Mischung, welche Sinn stiftet und uns zufrieden macht.

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Zeit von Martin Zenhäusern ([email protected]) Zeit ist relativ. Je älter wir werden, desto schneller vergeht sie. Das ist zumindest unser Eindruck – und er ist richtig. Wir sprechen von: Zeit haben, Zeit gewinnen, Zeit verlieren. Im Sommer ist traditionell Ferienzeit. Wir verfügen über ein grosses Angebot, uns die Zeit zu vertreiben. Die Tourismus-Industrie bietet Fun und Abenteuer, Nervenkitzel und Spektakuläres. Wir versuchen, so viel wie möglich zu unternehmen, weil wir dazu gehören, Neues erleben wollen. Andere lehnen sich zurück, liegen in der Sonne, lesen, tun einfach einmal gar nichts, und lassen es sich gut gehen. Die Zeit vergeht, und wir haben uns – vermeintlich oder tatsächlich – erholt oder viel erlebt. Wer eine Reise tut, der hat was zu erzählen... Was allerdings auffällt, ist, dass wir bei dem riesigen Angebot immer weniger Zeit haben für Dinge, die für uns früher besonders wichtig waren, wie das Gespräch, das einfache Zusammensein, das sich um den anderen kümmern. Wir erleben immer wieder die paradoxe Situation, dass zwei Menschen beim Essen im Restaurant sich gegenüber sitzen, und beide haben ihr Handy am Ohr, um mit einem anderen zu sprechen. Derjenige, den man trifft, kommt dann zu kurz. Vielleicht sprechen wir mit ihm ja erst wieder dann direkt, wenn wir mit einem anderen zu Essen verabredet sind – per Handy. Wann nehmen wir uns Zeit für uns selber? Einmal nachdenken, was war, was wir tun, wohin wir wollen? Warum erst dann, wenn die Sinnkrise oder ein Burn-out drohen, wenn wir auf der Couch des Psychiaters liegen oder in ärztlicher Behandlung sind? Ein Paradox ist es ebenso, dass wir Zeit gewinnen wollen und dabei Zeit verlieren. Je effizienter wir werden, desto mehr Zeit haben wir, noch mehr zu arbeiten. Die Belastung steigt, der Druck ebenso, und irgendwann sind wir so effizient, dass wir das Doppelte leisten können. Dies ist mitunter auch ein Syndrom der Workaholics, die nicht mehr aus diesem Hamsterrad aussteigen können. Ferien sind eine herrliche Zeit. Eine ideale Gelegenheit, sich einmal ein paar Gedanken zu machen über das Tempo, in dem wir leben, über unser Leben und wie wir es leben wollen, über Zeit haben und Musse. Wie bei vielem im Leben, ist es die richtige Mischung, welche Sinn stiftet und uns zufrieden macht. Noch etwas: Lassen wir uns durch den Kopf gehen, was Seneca gesagt hat: „Alles ist fremdes Eigentum. Nur die Zeit gehört uns: Einzig dieses flüchtige, leise enteilende Gut hat uns die Natur wirklich zu Eigen gegeben, und doch vertreibt uns daraus jeder Beliebige.“ Nehmen wir uns genügend Zeit – für uns?