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MATERIALDIENST Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 70. Jahrgang 12 / 07 ISSN 0721-2402 H 54226 Regelmäßig zu Weihnachten: Abgesänge auf die Kirchen Vor 70 Jahren: Schließung der „Apologetischen Centrale“ „The Sound of Silence“ Zwischen Prophetie und Wellness Ist interreligiöser Dialog zur Konfliktbearbeitung geeignet? Reinhard Bonnke in Stuttgart Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

07 12 Weltanschauungsfragen ISSN 0721-2402 H 54226 ... · Reinhard Bonnke in Stuttgart Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen EZW, Auguststraße 80, 10117 Berlin PVSt,

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ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

70. Jahrgang 12/07IS

SN 0

721-

2402

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4226

Regelmäßig zu Weihnachten:Abgesänge auf die Kirchen

Vor 70 Jahren:Schließung der „Apologetischen Centrale“

„The Sound of Silence“Zwischen Prophetie und Wellness

Ist interreligiöser Dialogzur Konfliktbearbeitung geeignet?

Reinhard Bonnke in Stuttgart

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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Warum Abgesänge auf die Kirchen falsch sind 443

„Illegale Fortbildungsstätte!“ –Vor 70 Jahren wurde die „Apologetische Centrale“ geschlossen 444

Hermann Brandt„The Sound of Silence“ Zwischen Prophetie und Wellness 446

Silvana Lindner Ist interreligiöser Dialog eine geeignete Methode zur Konfliktbearbeitung? 459

Freigeistige BewegungVerstärkte Zusammenarbeit im Bereich der Jugendweihe 465

Pfingstbewegung„Feuerkonferenz“ mit Reinhard Bonnke in Stuttgart 466

Neuapostolische KircheDie NAK hält sich selber in Bewegung 469

Neue OffenbarungenDie Holofeeling-Neuoffenbarung 470

In eigener SacheJoachim Müller verstorben 471

INHALT MATERIALDIENST 12/2007

INFORMATIONENINFORMATIONEN

ZEITGESCHEHEN

IM BLICKPUNKT

BERICHTE

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Hansjörg Schmid, Andreas Renz, Jutta Sperber, Duran Terzi (Hg.)Identität durch Differenz?Wechselseitige Abgrenzungen in Christentum und Islam 472

Richard DawkinsDer Gotteswahn 473

Bruno DeckertAll along the WatchtowerEine psychoimmunologische Studie zu den Zeugen Jehovas 475

Rudolf SimekLexikon der germanischen Mythologie 476

INFORMATIONENBÜCHER

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443MATERIALDIENST DER EZW 12/2007

Warum Abgesänge auf die Kirchen falschsind. In bestimmten Milieus gehört es vorWeihnachten zur „political correctness“,sich in Sachen Religion kirchenapokalyp-tisch zu äußern. Litaneiartig sind mancheZeitungen und Illustrierten damit befasst,den bevorstehenden Untergang der Kir-chen zu prognostizieren. Unterstützt wer-den sie nicht selten von frustrierten me-dienpräsenten Theologinnen und Theolo-gen. „Die Leute laufen den Kirchen weg.“„Mit den zentralen Verkündigungsinhal-ten der Kirche können viele Menschennichts mehr anfangen.“ „Die wirkliche Je-susgeschichte wird in den Kirchen unter-drückt, sie muss ganz anders erzählt wer-den.“ „Religiöse Alternativangebote wer-den immer attraktiver: Buddhismus, Eso-terik, Schamanismus.“ Solche Sätze sindMuster der Berichterstattung. Der Erfolgneuer religiöser Bewegungen wird densich leerenden Kirchen gegenübergestellt.Auf den ersten Blick scheint eine solcheWahrnehmung nicht ganz falsch zu sein.Die Mitgliedszahlen der großen Kirchengehen zurück. Grundlegende Kirchenre-formen werden immer dringlicher. Eineneue Religionsfaszination scheint sichauszubreiten. Menschen sind offen fürTranszendenz und außergewöhnliche Er-griffenheitserfahrungen. Sie suchen nachSinn, nach Erlebnissen kosmischer Ein-heit. Weltanschauliche Alternativen ge-winnen an Attraktivität. Das Motto „Reli-gion ja – Kirche nein“ ist verbreitet. Ins-besondere junge Menschen und junge Er-wachsene machen es sich zu eigen. Eskann weiter präzisiert werden: „Selbstbe-stimmte Religiosität: ja – kirchlich ge-normter Glaube: nein.“ Gleichzeitig verschafft sich ein neuer, ag-gressiver Atheismus Aufmerksamkeit, dergewissermaßen das Gegenbild zu kreatio-

nistischen Diskursen darstellt, die in denSommermonaten die Feuilletons unsererZeitungen füllten. Treten fundamentalisti-sche Formen von Religion, eine militanteReligionslosigkeit und eine unverbind-liche Religionsfaszination an die Stelle,die bisher die Kirchen innehatten?Der Wandel der kirchlichen und reli-giösen Landschaft in Westeuropa ist un-verkennbar. Der gesellschaftliche demo-graphische Wandel betrifft auch die Kir-chen. Die über Jahrhunderte selbstver-ständliche Verknüpfung von Volkszugehö-rigkeit und Kirchenmitgliedschaft lockertsich. Religionsfreiheit, Migration, Globali-sierung verstärken kulturellen und reli-giösen Austausch. Das bisher Üblichewird begründungspflichtig: der Religions-unterricht, die Sonntagsruhe, die christlichgeprägte Feiertagskultur. Religiössein undChristsein treten deutlicher auseinander.Und wer christlich religiös ist, kann diesin sehr verschiedener Weise sein. Derzunehmende religiöse Pluralismus stelltdie christlichen Kirchen zweifellos vorneue Herausforderungen. Deuten solcheEntwicklungen darauf hin, dass die gro-ßen Kirchen ihren prägenden Einfluss ein-büßen, dass ihre Zeit bald abgelaufen ist,wie dies schadenfroh und mit Häme pro-pagiert wird?Ich glaube nicht. Das prognostizierte Endeder Kirchen ist realitätsfernes, kirchenkri-tisches Wunschdenken einiger Journalis-ten. Die Menschen verlassen nicht nur dieKirchen, sie fragen nach der Botschaft derKirchen, und manche kommen zurück.Vieles, was als religiöse Alternative vorge-stellt wird, berührt die Menschen nuroberflächlich. Eine unbestimmte Reli-gionsfaszination vermittelt noch kein Ori-entierungswissen und hat keine Kraft zurreligiösen Identitätsbildung. Könnte esnicht sein, dass sich die Kirchen zu her-vorragenden Konkurrenten auf dem reli-giösen Markt entwickeln? Ist es ausge-

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schlossen, dass sie mit Kreativität und Pro-fessionalität bei den Menschen sind? Ist esrealitätsfern anzunehmen, dass sie neuenMut finden, „allem Volk“ die Botschaftvon der sich selbst mitteilenden LiebeGottes zu erzählen, die in Jesus Christuskonkrete Gestalt gewonnen hat und diesich auf den ganzen Menschen bezieht,auch auf seine leiblichen, seelischen undsozialen Bedürfnisse? Die Gestalt derKirchen wird sich ändern, der Auftrag, dieunverbrauchte Güte Gottes zu bezeugen,bleibt.

Reinhard Hempelmann

„Illegale Fortbildungsstätte!“ – Vor 70Jahren wurde die „Apologetische Cen-trale“ geschlossen. Das Johannesstift inBerlin-Spandau am 10. Dezember 1937:Gegen 10.30 Uhr fahren vier Fahrzeugemit 30 bis 40 Mitarbeitern der GeheimenStaatspolizei zum Haus der Apologeti-schen Centrale (AC). Deren Leiter, WalterKünneth, war an diesem Vormittag nachHannover aufgebrochen, um sich dort mitdem Betheler Pastor Friedrich von Bo-delschwingh zu treffen. Der verantwort-liche Gestapo-Kommissar erläutert denverdutzten elf Mitarbeitern, dass das Insti-tut „aufzulösen und zu verbieten“ sei.Danach nehmen die Beamten eine einge-hende Hausdurchsuchung vor. Der AC-Mitarbeiter Günter von Skarzinski be-richtet einen Tag später über den dramati-schen Vorfall: „Die Mitarbeiter der Apo[lo-getischen Centrale] haben sich in der Zeitvon ½ 11 bis ½ 6 Uhr in dem ihnenzugewiesenen Raum unter Bewachungaufgehalten, haben sich aber in der Zwi-schenzeit telefonisch Essen bestellen kön-nen. Beim Fortgang haben die Beamtensämtliche Räume der Centrale versiegelt,sodaß den Mitarbeitern und Mitarbeiterin-nen der Zutritt nicht möglich ist. Es wur-den auch einige Akten mitgenommen,

doch ist kein Protokoll angefertigt worden,um welche Akten es sich handelt ... DieBeamten haben auch in der Privatwoh-nung von Herrn Dr. Künneth eine Haus-suchung vorgenommen und einen Koffermit Material beschlagnahmt. Um was fürAkten es sich handelte, konnte nicht an-gegeben werden.“ Die gewaltsame Schließung der Stelle, die1921 innerhalb des Verbandsprotestan-tismus als kirchliche Dokumentations- undInformationsstelle für Weltanschauungs-fragen ins Leben gerufen worden war, gingauf das Betreiben des damaligen NS-Reichskirchenministeriums zurück. In demInstitut erblickten die Machthaber eine il-legale Fortbildungsstätte der BekennendenKirche oder – wie es ein „Lagebericht derZentralabteilung II 1 des Sicherheitshaupt-amtes des Reichsführers SS für Januar1938“ konstatierte – „die Zentralstätte derevangelischen Schulungsarbeit“. Seit 1933hatte Künneth zunächst einen Anpas-sungskurs gegenüber den neuen Macht-verhältnissen verfolgt und noch 1936 ineinem persönlichen Schreiben dem „Stell-vertreter des Führers“, Rudolf Heß, seine„politische Zuverlässigkeit“ versichert. EinJahr zuvor hatte sich der bayerische Theo-loge aber auch kritisch mit dem Werk „DerMythus des 20. Jahrhunderts“ des NS-Ideologen Alfred Rosenberg auseinan-dergesetzt. Unter Künneths Führung gerietdie Centrale mit dem von den „DeutschenChristen“ dominierten Centralausschußzunehmend in Konflikt, der das NS-Reichs-kirchenministerium schließlich zum Ein-schreiten aufforderte. Mit der Schließungder Spandauer Stelle fiel der Gestapo dasgesamte Archiv in die Hände. Es umfasstezu dieser Zeit Material „über etwa 500verschiedene Weltanschauungsgruppen“,darunter Freidenker, „Sekten“ und zahlrei-che völkisch-religiöse Gruppen. 1938wurde das gesamte Vermögen – nebendem gesamten Aktenmaterial auch die

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2000 Bücher umfassende Bibliothek –„zugunsten des Preußischen Staates einge-zogen“. Protest gegen die Schließung regtesich in der Kirche nur vereinzelt. Amschärfsten reagierte die Arbeitsgemein-schaft deutscher Volksmissionare, die amVerhalten der sog. intakten Landeskirchenin einem Schreiben vom 31. Dezember1937 heftige Kritik übte: „Wir hätten esnach der ... willkürlichen Versiegelung derApologetischen Centrale als selbstver-ständlich angesehen, daß die dem Luthe-rischen Rat angeschlossenen Kirchen, dieheute allein noch in Deutschland alskirchliche Körper Gewicht haben, nichtnur jede für sich beim Reichskirchenminis-terium mit allem Ernst persönlich vorstelliggeworden wären, sondern daß darüberhinaus auch der Weg in die Gemeindengegangen worden wäre durch einegemeinsame Kanzelkundgebung, die mitunüberhörbaren deutlichen Worten RechtRecht, Unrecht Unrecht, Willkür Willkürnennt ... Wer eine Position wie die Apolo-getische Centrale preisgibt, wird gezwun-gen sein, über kurz oder lang nochwichtigere Positionen aufzugeben. DerKampf um die Apologetische Centrale istein Frontabschnitt, den man unter keinenUmständen preisgeben darf.“ Der Protest verhallte. Mit der Schließungder Apologetischen Centrale war die tradi-tionsreiche publizistisch-apologetische Ar-beit innerhalb des Verbandsprotestantis-mus vollständig zum Erliegen gekommen.23 Jahre später wurde die Weltanschau-ungsarbeit in Stuttgart neu aufgenommen.

Das neue Institut unter der Leitung KurtHuttens erhielt 1960 die eher um-schreibende Bezeichnung EvangelischeZentralstelle für Weltanschauungsfragen.Der Begriff „Apologetik“ hatte zu dieserZeit keinen guten Klang. Die Rahmenbe-dingungen und die Ausrichtung der Arbeithatten sich grundlegend verändert. Neueweltanschauliche Herausforderungen tra-ten hervor, und die Weltanschauungsar-beit erhielt jetzt neue Schwerpunkte. Eswar aber kein Zufall, dass dem ersten Ku-ratorium der EZW die beiden früherenLeiter der Apologetischen Centrale, CarlGunther Schweitzer (1889-1965) undWalter Künneth (1901-1997), angehörten.Seit 1997 ist die EZW nach ihrem Umzugvon Stuttgart wieder in Berlin ansässig.Rückblickend lassen sich für die 16 Jahrewährende Arbeit der Apologetischen Cen-trale Licht- und Schattenseiten, apologeti-sche Aporien – auch Irrwege – und politi-schen Umständen geschuldete Anpas-sungsstrategien erkennen. Auch das gehörtzur Geschichte der evangelischen Apolo-getik. Damit ist dieses Arbeitsfeld für dieKirche keineswegs diskreditiert. Klärungenund Hilfestellungen für die Sprach- undAuskunftsfähigkeit des christlichen Glau-bens im Kontext religiös-weltanschau-licher Vielfalt sind mehr denn je gefordert– für Kirche und Gemeinden und nichtzuletzt für jeden einzelnen Christen, umim Gespräch mit der Zeit Rechenschaftabzulegen über die Hoffnung, die in unsist (vgl. 1 Petr 3,15).

Matthias Pöhlmann

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Die akustische Inszenierung der Stille

Den Anstoß zu den folgenden Betrachtun-gen verdanke ich – Gerhard Polt! Weni-gen ist bekannt, dass dieser „urbayeri-sche“ Kabarettist Skandinavistik studierthat und fließend Schwedisch spricht. Am5. Mai 2007 sendete das Bayerische Fern-sehen im Dritten Programm ein „Porträtzum 65. Geburtstag des Kabarettisten undAutors Gerhard Polt“. Es wurde u.a. einAusschnitt eines Programms gezeigt, dasPolt auf Einladung der schwedisch-deutschen Handelskammer in Stockholmgegeben hatte und das von ihm in einemspäteren Interview kommentiert wurde.Das Fernsehen hatte nicht nur Polt als denStar des Abends gezeigt, sondern auchden im Publikum anwesenden schwedi-schen König und seine deutsche Ehefrau,die beide Polts Pointen offensichtlich ge-nossen.Aber Polt hob weniger die durchaus be-merkenswerte Tatsache hervor, dass sogarder König die Vorstellung mit seiner Ge-genwart beehrt hatte, sondern vor allem,dass dieser kein einziges Wort sagte. DerKönig schwieg. Und eben dies, dass derKönig schweigend anwesend war, habedas Besondere dieses Abends aus-gemacht, sagte Polt. Gerade die Anwesen-heit des schweigenden Königs habe derVorstellung einen einzigartigen Charakterverliehen. Das Schweigen des Königs seidurch das Kabarettprogramm sozusagen

noch verstärkt worden. Polt erläuterte dies– als Filmemacher und Schauspieler – an-hand der Art und Weise, wie die Stille in-szeniert wird, auf der Bühne, der Lein-wand oder auch in der katholischenMesse. Die tiefe Stille werde gleichsam hörbargemacht: Es tropft ein Wasserhahn, estickt eine Uhr, und in der Messe wird derHöhepunkt, die Wandlung, während deralle knien und schweigen, durch den Toneines Glöckchens angezeigt. Die Stillekann gehört werden. In solchen Insze-nierungen durchbricht ein Laut die Stillenicht, sondern verstärkt sie und macht sieals solche wahrnehmbar. Soweit GerhardPolt. – Es gibt einen „Stillen“ (= fried-lichen), „Pazifischen“ Ozean, es gibt eineBeredsamkeit des Schweigens (im Por-tugiesischen: eloquência do silêncio), esgibt einen „sound of silence“.

Beispiele aus Literatur und Zen-Buddhismus

Das erste Kapitel von Orhan Pamuks Ro-man „Schnee“ trägt die Überschrift „DieStille des Schnees“, die des 19. Kapitelsheißt „Und wie schön fiel der Schnee“.Die Stille des Schnees charakterisiert dieinneren Empfindungen von Ka, derHauptperson des Romans. Eine beschnei-te Straße verliert sich in der Dunkelheit:„weiß und geheimnisvoll.“1 Diese Stilleist kein absolutes Schweigen. Sie löst

Hermann Brandt, Erlangen

„The Sound of Silence“Zwischen Prophetie und Wellness

IM BLICKPUNKT

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Empfindungen aus, sie hat Farben, sie istschön und enthält Geheimnisse. Häufigbegegnen in der Literatur Beschreibungender winterlichen Stille wie: „Es war sostill, dass ich den Schnee fallen hörenkonnte.“ Diese Stille ist nicht laut, aber sielässt sich „verlauten“. Indem wir denSchnee fallen hören, wird die Stille nochleiser, als sie ohne den hörbarenSchneefall sein würde. Auch die ersten,zaghaften Vogelgesänge in der Mor-gendämmerung stören ja die frühe Stillenicht, sondern vertiefen sie und machensie erfahrbar.„Sound of silence“ – auf die Frage, wiedies zu übersetzen sei, komme ich nochzurück – ist wohl doch mehr als ein Oxy-moron, d.h. mehr als ein nur „scharf-dummer“ rhetorischer Ausdruck, in demUnvereinbares oder Widersprüchlichesmiteinander verbunden wird (wie „höl-zernes Eisen“). Solche Verbindungen von Gegensätzenhaben keineswegs nur eine Bedeutung fürLyrik und dichterische Prosa, wie beiWikipedia zu lesen ist. Sie bringen z.B.eine charakteristische Intention des Zen-Buddhismus prägnant zum Ausdruck.Man könnte „sound of silence“ mit„Klang der Stille“ übersetzen und hättedamit den Titel einer – sehr empfeh-lenswerten – Einführung in den Buddhis-mus.2 Gleiches gilt von dem Titel „DasKlatschen der einen Hand“3.Ziel der Zen-Meditation ist es, einen Zu-stand der Selbstvergessenheit zu errei-chen, in dem alle Dualität – etwa zwi-schen meinem Selbst und den mich um-gebenden Dingen – überwunden ist. Hier-zu leiten die so genannten Koans an, dieim Zen eine alte Tradition haben. DasKoan ist eine Rätselfrage, die rationalnicht aufgelöst werden kann und soll, wiez.B.: „Wie soll die Gans, die als Küken ineiner Flasche großgezogen wurde, befreitwerden, ohne die Flasche zu zerstören

oder die Gans zu töten?“ Oder das Koanfordert eine auf „normale“ Weise un-durchführbare Praxis, die die gängigeSpaltung in Subjekt und Objekt („ich tuedies“) überwinden und so das Bewusst-sein der Einheit der Wirklichkeit meditativerfahrbar machen soll. Gelegentlich sindsolche Koans zwar nicht nach rationalerLogik, wohl aber intuitiv verständlich: Sohinterfragt das Koan „Wenn etwas krummist, dann ist es gerade“ den Dualismuskrumm/gerade. Andere Koans sind so un-verständlich und antilogisch, dass sieweder rational noch intuitiv einen Sinnergeben – und das sollen sie auch nicht.Koans sind gerade darin Meditationsob-jekte, dass über sie so lange meditiertwird, bis sie nicht mehr provozierend aufdie gängige Logik wirken, nicht mehr„unauflösbar“ erscheinen, sondern sichgleichsam von selbst auflösen. Koanswollen also nicht interpretiert oder erklärtwerden, denn alle verstandesmäßigen Lö-sungen werden als falsch angesehen, weilsie dem Dualismus verhaftet bleiben. Diemeditative Praxis des Zen-Buddhismuszielt somit auf die Auflösung der Illusion,die Dinge seien von mir unterschiedenund „ich“ hätte eine von ihnen abge-grenzte Existenz. Das wohl bekannteste Koan „DasKlatschen der einen Hand“ fordert, diesesKlatschen zu erhorchen: „Wenn beideHände zusammengeschlagen werden, soentsteht ein Ton. Horche auf den Ton dereinen Hand!“ Könnten wir übersetzen:Horche auf den „sound of silence“?

Titel und Refrain des Liedes „The Sound of Silence“

„The Sound of Silence“ heißt der wohlberühmteste Song von Simon & Gar-funkel. Das Folk-Rock-Duo wurde 1956von den US-amerikanischen StudentenPaul Simon und Art Garfunkel gegründet

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und erlebte 1965 mit diesem Song undmit dem kurz danach erschienenengleichnamigen Album seinen Durch-bruch. Genauer gesagt: Der Liedtitelspricht von „The Sound“ im Singular undmit bestimmtem Artikel; der Titel des Al-bums lässt den bestimmten Artikel wegund verwendet den Plural: „Sounds of Silence“. Noch genauer betrachtet: Dieersten drei Strophen des Songs enden mitdem Refrain „... the sound of silence“,also bestimmter Artikel und Singular, dievierte Strophe schließt mit „In the wells ofsilence“ („in den Brunnen-Schächten derStille“). Allein die fünfte, letzte Strophespricht von „the sounds of silence“, behältalso den bestimmten Artikel bei, verwen-det aber den Plural. Die letzte Zeile desganzen Liedes wird wirklich so pianis-simo „gewispert“, dass das Schluss-„s“von „sounds“ nur bei angespannterAufmerksamkeit zu hören ist.Nehmen wir die Worte „sound“ und „si-lence“ für sich, so ergeben sich für dieÜbersetzung vier Möglichkeiten der Kom-bination. Sound kann Geräusch heißen,in dem Sinn, wie wir vom „sound“ einerMaschine sprechen. Aber eben auchKlang oder Ton (etwa einer Klarinette).Und „silence“ kann nicht nur jenesprechende, lebendige Stille meinen, vonder eingangs schon die Rede war, sondernauch das leere Schweigen (silencer ist imEnglischen der Schalldämpfer), die Reg-losigkeit und Lautlosigkeit, die im Gym-nasium früherer Zeiten mit dem Ruf„silentium“ vom Lehrer befohlen wurde.Theoretisch wären also folgende Kombi-nationen möglich: Geräusch des (toten)Schweigens, Geräusch der (lebendigen)Stille, Klang des Schweigens, Klang derStille.Die Einzelanalyse wird noch zeigen, dassvom Liedtext her zunächst die Überset-zung „Klang der Stille“ bzw. – in Bezugauf die letzte Textzeile – „Klänge der

Stille“ sinnvoll ist. Auch die Tatsache, dass„The Sound of Silence“ eben nicht bloßein Text ist, sondern gesungene undgespielte Musik, und dass der Text eineunablösbare Verbindung mit ihr eingegan-gen ist, spricht dafür, „The Sound(s) of Si-lence“ mit „Klang (bzw. Klänge) derStille“ zu übersetzen. Wie meisterhaft Text und Ton zusammen-klingen, sei nur in Erinnerung gerufen.Denn die meisten werden die Melodie imOhr behalten haben, auch wenn sie sichnicht an jedes Detail des Textes erinnern.Wenn man hier trennen wollte, müssteman sagen: Die Faszination dieses Liedesgeht von der Musik aus zum Text, nichtumgekehrt, oder: Die Musik ist derprimäre Impuls für die Resonanz auch desTextes. Die folgenden Beobachtungen könnenam Text der weiter unten wiedergegebe-nen Strophen überprüft werden. Nochbesser wäre es freilich, sich dazu dieentsprechende CD aufzulegen. „TheSound of Silence“ ist ein ungewöhnlichleises Lied. Das heißt aber nicht, dass esgleichtönig leise bleibt. Jede Strophe mitihren sieben Zeilen beginnt tief und still,in Moll. Die Melodie der ersten vierkurzen Zeilen schraubt sich im crescendohinauf. Dieser Aufwärtsbewegung ent-spricht der Wechsel nach Dur. In der fünf-ten Zeile gewinnt die Melodie ihrenHöhepunkt, auch dadurch, dass die fünf-ten Zeilen aller Strophen schon durch ihregleichsam ausbrechende Textlänge einenbesonderen Akzent tragen, wobei geradehier Text und Musik zusammenwirken.Den Kontrast hierzu bildet dann diewieder absteigende sechste Zeile, die nuraus zwei (höchstens vier) Worten besteht,ein verkürztes Echo von Zeile fünf. Dieletzte, siebente Zeile, die jeweils mit demSchlüsselwort „silence“ endet, erreichtdann wieder die Tiefe des Anfangs undverklingt in Moll.

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Die fünf Strophen

1. Hello darkness, my old friend,I’ve come to talk with you again,Because a vision softly creepingLeft its seeds while I was sleeping,And the vision that was planted in my brainStill remainsWithin the sound of silence.

Der Song setzt ein mit einem Gruß desSängers an die Dunkelheit, die er wiedereinmal besucht wie einen alten Freund. Esbesteht Gesprächsbedarf. Es geht um eineVision, die sich nicht wieder abschüttelnlässt. Die Schilderung dieser Vision wirddas ganze Lied ausfüllen. Zunächst aberwird noch nicht ihr Inhalt geschildert,sondern, wie sie sacht und leise heran-gekrochen kam und ihre Samenkörneroder Keime im Sänger zurückgelassen hat.Das Bild der Saat impliziert: Sie wirdwachsen. Es wird also nicht etwa gesagt:„Ich habe eine Vision gehabt“, sonderndie Vision ist Subjekt: Sie hat sich bei mireingenistet, während ich schlief. Dannwird von ihr berichtet, sie sei „in meinGehirn eingepflanzt“ worden. Wer siedort eingepflanzt hat, bleibt offen. (Daskönnte an die religiöse Praxis erinnern,den „Namen“ nicht auszusprechen, son-dern sein Handeln passivisch zu for-mulieren.) Jedenfalls hat sich die nächt-liche Vision nicht verflüchtigt, sondern sieist geblieben, „inmitten des Klangs derStille“. Im Rahmen der ersten Strophe istes zunächst nur diese irritierende, weiterwirkende Gegenwart, das Bleiben der Vi-sion, was den Sänger zu seinem Besuchbei der Dunkelheit veranlasst hat. Undwas den „Klang der Stille“ in dieser erstenStrophe betrifft: Er ist hier sozusagen vi-sionsträchtig: Der Klang der Stille alsGefäß einer Vision. Von einem Gesicht inder Nacht bzw. im Traum zu sprechen, hatübrigens religiöse Tradition, vgl. Hiob33,15, Dan 7,2, Mt 2,12, Apg 16,9 und

18, 9. Aber zunächst wird in der Visionvon Simon & Garfunkel nichts gesagt odergehört, sondern es wird nur gezeigt. Wasdie Vision zeigt, schildern die Strophenzwei und drei.

2. In restless dreams I walked aloneNarrow streets of cobblestone,‘neath the halo of a street lampI turned my collar to the cold and dampWhen my eyes were stabbed by the

flash of a neon lightThat split the nightAnd touched the sound of silence.

Der Sänger sieht sich als einsamen Nacht-wanderer, der seinen Kragen gegen dieKälte und Nässe hochschlägt. Er ist derUnbill der Natur ausgesetzt. Er geht durchleere, enge Straßen mit Kopfsteinpflaster.Sie werden vom Schein („halo“ ist auchder „Heiligenschein“!) einer Straßen-laterne nur dürftig beleuchtet. Plötzlich„wurden meine Augen vom Blitz einesNeonlichts zerstochen“. Dem Ausdruck„stabbed“ entspricht die Aussage, derNeonblitz „zerriss die Nacht“ – beides ge-waltsame Geschehnisse, deren Unheim-lichkeit noch dadurch gesteigert wird,dass sie sich ganz lautlos abspielen. DemNeonblitz folgt kein Donner. Wenn es inder Schlusszeile heißt, der Neonblitz„berührte“ den Klang der Stille, so handeltes sich – wie beim „Zerreißen der Nacht“– nicht um einen akustischen, sondern umeinen optischen Vorgang; alles bleibt still.Die Vision, im genauen Wortsinn des Se-hens, bleibt ohne Audition. Gerade sovermittelt sie das Gefühl von Gewalt-tätigkeit, das schon vorab erweckt wurdedurch den Gegensatz zwischen dem – fastmittelalterlichen – Kopfsteinpflaster unddem künstlichen Neonblitz als Produktmoderner Technik. Eine unheimlicheSzene, in der zwar gefühlt und gesehen,aber nichts gehört wird. Dazu kommt eserst in der folgenden Strophe.

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3. And in the naked light I sawTen thousand people, maybe more.People talking without speaking,People hearing without listening,People writing songs that voices never share And no one dared Disturb the sound of silence.

Hier wird die Vision zur Audition. Abergesehen bzw. gehört wird keine transzen-dente Macht, kein Gott, kein Engel, son-dern eine Masse von Menschen. ImGegensatz (oder in Entsprechung?) dazusteht die Vereinzelung: Keiner kommu-niziert mit dem anderen. Alle bleibenstumm und taub. In den drei mittlerenZeilen wird dieser beklemmende Ein-druck durch drei Gegensatzpaare ver-stärkt: Die Menschen reden, ohne zusprechen, sie hören, ohne zuzuhören, sieschreiben Lieder, die nie gesungen wer-den (wörtlich: an denen Stimmen niemalsteilhaben). Und diese stimmlose Stille,dieser „sound of silence“ hat gar nichtsEinladendes, sondern ist bedrohlich. Sieerscheint als Gegnerin echter mensch-licher Gemeinschaft. Die Menschen sindwie gelähmt, es gibt keinen Schimmervon Hoffnung, und nicht einer wagt es,diese Stille zu „stören“ und auf den an-deren zuzugehen. Alle verharren apa-thisch in Teilnahmslosigkeit, ohne eine Al-ternative zu sehen oder gar zu ergreifen.Eine grelle Szene in einem „nacktenLicht“ (Zeile 1). Für eine Übersetzung insDeutsche legt es sich nahe, „silence“ hiermit „Schweigen“ wiederzugeben.

4. „Fools“, said I, „you do not knowSilence like a cancer grows.Hear my words that I might teach you,Take my arms that I might reach you.“But my words like silent raindrops fell,And echoedIn the wells of silence.

Hier wird der Song zur Prophetie. Die inschweigender Isolation verharrenden

Menschen werden aufrüttelnd als „fools“angesprochen: „Ihr wisst nicht, dass dasSchweigen wächst wie ein Krebs.“ DieserVergleich nötigt dazu, „silence“ spätes-tens hier mit „Schweigen“ zu übersetzen.Es ist ein tödliches Schweigen, aus demdie Menschen herausgerufen werden. DerAppell ist ganzheitlich; er wendet sich anunser Hören und an unser Fühlen. Dem„hört meine Worte“ entspricht das „nehmtmeine Arme“. Aber vergeblich (die Ver-geblichkeit gehört zur Erfahrung der Pro-pheten): Die Worte fallen wie lautlose Re-gentropfen – nicht auf trockenes Land, dassie zum Grünen bringen könnten, son-dern in die Brunnenschächte (des Schwei-gens, des Verstummens). Wasser fällt vonoben ins Wasser unten. Der Prophetrichtet nichts aus. Und dass seine Worteim Echo verklingen, gibt dem Eindruckder Vergeblichkeit noch zusätzlich etwaslang Anhaltendes und Quälendes. Übri-gens arbeitet das Lied in allen Strophen inder jeweils sehr kurzen vorletzten Zeileauch musikalisch mit dieser Echowirkung;aber hier wird sie wörtlich genannt: „andechoed“.

5. And the people bowed and prayedTo the neon God they made.And the signs flashed out its warning,In the words that it was forming.And the signs said, the words of the prophets

are written on the subway wallsAnd tenements halls.And whispered in the sounds of silence.

Im Unterschied zu den vorangegangenenStrophen fehlt in der letzten das „Ich“.Die Vision endet in einem scheinbar dis-tanzierten Bericht und bekräftigt so, dassder prophetische Aufruf (Strophe 4) nichtsausgerichtet hat. Die Menschenmengeverbeugt sich vor und betet zu dem„selbstgemachten Neon-Gott“; hier wirddas zuvor erwähnte kalte Neonlicht auf-gegriffen und gleichsam dechiffriert. Die

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Menschen beten sich selbst an, vermittelsdes von ihnen produzierten Kunstlichts.Und dann ist von dem bzw. den Zeichendie Rede, die sich in Worten ausdrücken.„Zeichen“ – das ist religiöse, auch bibli-sche Sprache, sowohl in bedrohlicher wieverheißungsvoller Bedeutung, vgl. nur dieZeichen an der Wand, das „Menetekel“(Dan 5) und das „das habt zum Zeichen“in der Weihnachtsgeschichte (Lk 2). Obsie Heil oder Unheil ankündigen, wirdausdrücklich nicht gesagt, aber eher dochUnheil, denn sie „warnen“ und verweisenauf „die Worte der Propheten“, diegeschrieben stehen, allerdings nicht in der„Heiligen Bibel“, sondern im säkularenAlltag, an den Wänden der U-Bahn undder Hausflure. Vielleicht ist dieser Hinweis in der längs-ten, mit der Häufung der Silben denRhythmus des Liedes sprengenden Zeileder Spitzensatz: Die warnenden Worteder Propheten sind aus der sakralenSphäre ausgewandert; sie sind überall.Alle könnten sie wahrnehmen. Allerdingswäre dazu ein feines Gehör nötig, um ihr„Wispern“ überhaupt zu bemerken, sie zuhören „in the sounds (hier das einzigeMal im Plural!) of silence“. DieseBotschaft der Propheten ist nicht brachial,kein Donner, sondern ein leicht überhör-bares Flüstern, das am Schluss des Liedesleise verklingt.

Die Stille als Kontra-Dimension

Wie auch immer die Analysen der einzel-nen Strophen aussehen mögen, entschei-dend – auch für die überwältigende Re-zeption dieses Liedes – ist doch wohl dieThematisierung der Stille als einer Kontra-Dimension gegen alles Laute, Ohren-betäubende. Der Klang (bzw. die Klänge)der Stille ist gewissermaßen der Grundton,auf den sich die Einzelstrophen beziehenund in dem sie zusammengefasst werden.

Wie in der Mystik die Stille mit derDunkelheit verwandt ist, so wird der Klangder Stille im Dunkel kommunizierbar (vgl.Strophe 1). Das ist eine uralte Erfahrung,aber sie hat sich im Medium dieses Songserneuert und den Nerv der Zeit getroffen.Die Stille, einschließlich der nächtlichenTräume, ist eben nicht stumm, sonderneröffnet Visionen und Auditionen, die inder rationalen Welt ausgeschaltet undnicht existent sind. Die Flüstertöne derStille stehen im Kontrast zum lautenLeben. Dies ist die primäre Botschaft. Erst danach stellen sich die Fragen nachdem Klang oder den Klängen dieser Stilleund auch die nach ihrem Charakter: Ist siedie lebendige Stille oder das stumme –zum Verstummen gebrachte – Schweigen?Sind die Aussagen der Refrains über „thesound(s) of silence“ positiv oder negativbesetzt? Der Text des Liedes bietet Belege für bei-des: Einerseits ist die Stille gleichsam derOrt, an dem die Botschaft des Liedesentspringt und aufgehoben bleibt (Stro-phen 1 und 5), andererseits heißt es, dasStören des Schweigens würde die Men-schen aus ihrer Isolation herausreißen(Strophe 3), wenn sie es nur wagten. Sobleibt das Lied in einer geheimnisvollenSchwebe. „Silence“ ist mehrdimensional.Sie ist Schweigen und Stille. Sie bedrohtund sie bietet Zuflucht.Möglicherweise ist es manchen meinerZeitgenossen, die in den 60er Jahren desvorigen Jahrhunderts studierten, so gegan-gen wie mir: Es war vor allem dereingängige und faszinierende „sound“dieses Songs, der sie durch die Jahrzehntebegleitet hat, aber weniger oder gar nichtder Sinn des Textes. Dass der Song aucheine eminent kritische, prophetischeBotschaft vermittelt, habe jedenfalls icherst sehr viel später wahrgenommen,nachdem „The Sound of Silence“ längstzum Oldie geworden war.

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Der ursprüngliche Kontext

Im Jahr 1956 hatten die US-amerikani-schen Studenten Paul Simon und Art Gar-funkel ihr Folk-Rock-Duo gegründet.Zehn Jahre später verschaffte ihnen ihrSong „The Sound of Silence“ in einerüberarbeiteten Version den endgültigenDurchbruch. Anfang 1965 standen Textund Musik fest. Die Single kam im Sep-tember 1965 auf den Markt. Bereits einJahr später erschien das Album „Sounds ofSilence“. Nach der (vorläufigen?) Tren-nung der beiden Musiker gab es einige„Wiedervereinigungen“. Die berühmtes-te, unvergessliche war ein Benefizkonzertzur Verhinderung der aus finanziellenGründen geplanten Schließung des Cen-tral Parks in New York, am 19. September1981 ebendort. Eine halbe Million Men-schen nahm teil. Das Konzert sollte miteinem Feuerwerk enden, das aber ausSicherheitsgründen verboten wurde. ZumSchluss wurde „The Sound of Silence“gesungen und gespielt, vor einem Meervon entzündeten Feuerzeugen. So ent-stand hier das Ritual, einen Hit im Dunkelzu spielen, das von Tausenden vonLichtern erleuchtet wurde.Was den zeitgeschichtlichen Kontext be-trifft, so genügen zwei Ereignisse bzw.Daten, um ihn zu veranschaulichen: Am22. November 1963 wurde John F. Ken-nedy erschossen, und der Vietnamkrieg trat1965 in die offene Phase und wurde 1975beendet. Die Fassungslosigkeit über denMord an Kennedy haben damals auchviele Menschen in Europa erfahren: Siewissen noch heute, wo und in welcher Si-tuation sie diese schockierende Nachrichterhielten. Was die Reaktionen in den USAbetrifft, so lösten sie bei vielen Nord-amerikanern ein emotionales Trauma aus,das erst durch das des Terroranschlags vom11. September 2001 „überboten“ wurde.„The Sound of Silence“ trug dazu bei, die

Erschütterung über Kennedys Ermordungzu kanalisieren und die ungelösten Fragenwenn nicht zu beantworten, so doch zu er-tragen. Später wurde der Song zum Aus-druck der Friedensbewegung, zum Protestgegen den Rüstungswettlauf und dieKernkraft (1981: Reagans Beschluss, dieNeutronenbombe zu bauen) und gegen dieallgemeine Verunsicherung durch weitereAttentate (ebenfalls 1981 wurde Anwar elSadat ermordet und wurden Reagan undPapst Johannes Paul II. angeschossen).Vor dem Hintergrund dieser Situationrepräsentierte „The Sound of Silence“ dieAlternative einer ganz anderen Dimen-sion: die der Stille. Angedeutet ist eineZeitdiagnose: der Verlust zwischen-menschlicher Kommunikation, die Ver-einzelung, die Unfähigkeit, auf die an-deren wirklich zu hören. Die Stille wirdzum Gegenmodell. Allerdings geschiehtdie Erinnerung an die Dimension der Stilleimplizit, verschlüsselt. Der Text des Liedesenthält keine direkten Zeitbezüge, keineevidenten kontextuellen Anspielungen wieandere Protestsongs, sondern arbeitet miteinprägsamen Bildern, die vieles offen hal-ten und verschiedene Deutungen zu-lassen: Die Vision in der Dunkelheit, dieVereinsamung, der Heiligenschein derStraßenlampe, die Erschaffung eines eige-nen Gottes, die Vergeblichkeit der War-nung, das bleibende Flüstern der pro-phetischen Worte. Es war zunächst weni-ger der Text, es war vor allem die von derMelodie und ihrem Arrangement insze-nierte Stille, die faszinierte und innehaltenließ. „Viele, die das Album … kauften,kannten die Worte nicht.“4

„Sounds of silence” als Wellness-Angebot

Machen wir einen Sprung in unsereGegenwart. Wer im Internet sucht, erhältein doppeltes Ergebnis. Wer die Autoren

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und den genauen Titel, also „Simon &Garfunkel The Sound of Silence“, eingibt,kann ca. 461 000 Einträge finden. Bei derEingabe nur des unbestimmten Plurals„Sounds of silence“ sind es hingegen ca.2 250 000! Diese Zahlen sprechen fürzwei verschiedene Rezeptionen. Dieniedrigere (aber doch noch recht hohe)Zahl belegt, wie präsent Simon & Gar-funkel und ihr Hit immer noch sind. Die – fünfmal – höhere erklärt sich daraus,dass die „sounds of silence“ sich von denMusikern der 60er Jahre und ihrem be-rühmtesten Lied abgelöst haben und ineinem neuen, aktuellen Bezug stehen:„Sounds of silence“ gehören zu denAngeboten der Wellness-Szene.5Nur wenige Beispiele: Weltbild.ch wirbtfür eine Box mit vier CDs unter dem Titel„Wellness – Sounds Of Silence“. Unterdem Titel das Yin-Yang-Symbol. Der Wer-betext ist überschrieben: „Entdecken Sieden wunderbaren Klang der Stille mitsanften Melodien“ und lautet: „Die idealeHintergrundmusik zum Träumen, Ruhefinden und Entstressen. Ob schon imAuto, auf dem Heimweg von der Arbeit,oder zu Hause auf der Couch, bei einemwohlverdienten Glas Wein. So viel Well-ness sollten Sie sich einfach gönnen ...Sanft schmeichelnde Instrumentalklängehüllen Sie in eine Wolke aus Harmonieund wohliger Wärme. Der perfekte Well-ness-Sound lässt Sie auch den Alltags-stress schnell vergessen – und das alles zueinem ganz entspannten Preis.“ Auf denursprünglichen Song wird keinerlei Bezuggenommen. Die Titel der Musikstücke(ohne Worte) sprechen für sich: Dream-wave, Journey To Fantasia, River Of Peace,Little Clouds, Garden Of Eden, Melody OfSilence, Freedom, Ocean Of Dreams, Ma-gic Rain, Far Away, Tenderness. DieAußenwelt ist abwesend bzw. soll aus-geschaltet werden; „Vergessen“ ist einSchlüsselwort im Werbetext.

Ein anderes CD-Angebot „Wellness withsound & silence“ fordert auf: „Create yourenvironment with positive vibrations“; einweiteres („sounds of silence“) versprichtein „sakrales Klangerlebnis, ein intensivinspiriertes Zusammenspiel der ältestenInstrumente der Erde als zeremonielleWeltmusik“. Ein Hotel in Australien bietetden Touristen ein „Sounds of Silence-Din-ner“ mit indigenen australischen Klängenan. Entsprechendes gilt für Wellness-Ho-tels auf allen Kontinenten. Doch auchaußerhalb der Wellness-Hotel-Branchewird „sound of silence“ zum Werbeträger:Ein bequemer Sessel im Möbelhaus heißtso und auch ein Spiegel fürs Badezimmer,der mit Ornamenten versehen ist und dieInschrift „You are so beautiful“ trägt.Wirklich pfiffig ist, dass die Edel-FirmaSennheiser einen „Kopfhörer mit Ge-räuschunterdrückung“ unter dem Namen„Sound of Silence“ anbietet.Aber vom Original, von Simon & Gar-funkels Lied, ist hier so gut wie nichtsübrig geblieben. Rezipiert wird nur der Ti-tel, nicht die ursprüngliche Musik, nichtder Text mit seinen irritierenden Visionender Vereinsamung, des selbstgemachtenGottes, der prophetischen Zeichen an denWänden. Während der Song die Span-nung zwischen zwei gegensätzlichenWirklichkeiten vermittelt, sollen die„sounds of silence“ nun der persönlichen„Ent-Spannung“ dienen. Früher: Zeitdiag-nose und warnende Zeitkritik, jetzt: Ver-mittlung eines wohligen Gefühls durchesoterische Klänge ohne jede gesellschaft-liche Relevanz. Die Musik ist wortlosgeworden; die Botschaft ist abhandengekommen; die Stille spricht nicht mehr.

Religionswissenschaftliche Perspektiven

Betrachten wir abschließend das Themader Stille bzw. des Schweigens in einemweiteren Zusammenhang. Aus heutiger

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religionswissenschaftlicher Perspektive6

ist von einer Grunddifferenz auszugehen.Der eingangs erwähnte buddhistischeKlang der Stille und der „sound of silen-ce“ gehören zu zwei religiösen Systemen,die sich zutiefst voneinander unterschei-den. Das Verhältnis von Wort und Stillebzw. Schweigen wird in asiatischen Reli-gionen, besonders im Buddhismus, andersbestimmt als in der jüdisch-christlichenTradition. In dieser ist das Schweigen(Gottes!) ein „beredtes Schweigen“. Zwarentzieht es sich dem menschlichen Wort,ist aber doch Wort. Auch wenn Gottschweigt, spricht er und lässt sich an-sprechen – mit seinem „Namen“. Dagegenhat das „Schweigen des Buddha“, habenauch die eingangs erwähnten Koans letzt-lich „nichts“ zu sagen. Das Absoluteschweigt und ist selbst das Schweigenschlechthin. Der Buddhismus lebt aus demnamenlosen Grund, der wortlos ist und da-her gar nicht angeredet werden kann. DasChristentum dagegen gründet sich auf dasFleisch gewordene Wort (logos), die Offen-barung des göttlichen Wortes. Und selbstwo diese in einer „negativen“, mystischenTheologie (Gott als der Unsagbare, Unfass-bare) reflektiert wurde, geschah dies im„Wort“. Lassen sich also „The Sound of Si-lence“ von Simon & Garfunkel derjüdisch-christlichen Position, die wortlosbleibenden Klänge der Stille in den Well-ness-Angeboten dem buddhistischen Typuszuordnen?Überprüfen wir diese Einschätzung, in-dem wir bis an die Anfänge des 20.Jahrhunderts zurückgehen. Hier begegnenInterpretationen des Zusammenhangs vonDunkelheit und Schweigen/Stille bei derBestimmung des Verhältnisses zwischenKunst und Religion. Allerdings verbleibensie im Rahmen des jüdisch-christlichen(und islamischen) Typs, denn sie orien-tieren sich an der Beziehung zwischendem „Heiligen“ und der Kunst.

So fragte Gerardus van der Leeuw inseinem Werk „Vom Heiligen in der Kunst“nach dem „Sprechen Gottes“ in der unddurch die Kunst.7 Das Thema „DasSchweigen und Beinah-Schweigen“ findetsich sowohl im 3. Teil „Das schöne Wort“wie im 6. Teil „Musik und Religion“. Wasdie Wortkunst betrifft, so bezieht sich vander Leeuw auf „die Kunst etwas zu sagen,indem man nichts – oder doch sehr wenig –sagt“. Es geht ihr um das, „was zwischenden Zeilen steht und unvermutete Tiefenenthüllt“. Als Beispiel zitiert der Autor dieerste und die dritte Strophe von GerhardTersteegens „Andacht bei nächtlichemWachen“. Der Text spreche nicht nur vonder Stille, sondern sei selbst Stille:8

Nun schläfet man, Und wer nicht schlafen kann,

Der bete mit mir an Den großen Namen,Dem Tag und Nacht Wird von der Himmels-

wachtPreis, Lob und Ehr gebracht! O Jesu, Amen.

Weg Phantasie, Mein Herr und Gott ist hie!Ich bin sein Sternlein, hie Und dort zu funkeln!Nun kehr’ ich ein; Herr, rede du alleinBeim tiefsten Stillesein Zu mir im Dunkeln!9

Hier entsprechen sich, wie bei Simon &Garfunkel, die Stille und das Dunkel. Mitvan der Leeuw: „Was für Baukunst undbildende Kunst das Dunkel bedeutet, dasist für Wortkunst und Musik dasSchweigen.“10 Van der Leeuw erinnert anHab 2,20: „Der Herr ist in seinem heili-gen Tempel; vor Ihm schweige die ganzeWelt.“ Anhand von vielen Beispielen ausder Musik verdeutlicht er das sprechendeSchweigen und zitiert den KomponistenBusoni: „Was in unserer heutigen Ton-kunst ihrem Urwesen am nächsten rückt,sind die Pause und die Fermate; – diespannende Stille zwischen zwei Sätzen,in dieser Umgebung selbst Musik, lässtweiter ahnen, als der bestimmte, wenigerdehnbare Laut vermag.“ Dieses Schwei-

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gen ist nicht „Nur-Schweigen“, denn esfängt an und hört auf und ist sokeineswegs etwas Negatives, sondern dernegative Ausdruck des Allerpositivsten(der oben erwähnten negativen Theologievergleichbar). Belege für dieses sprechende Schweigender Musik findet van der Leeuw beiBach11 und bei Beethoven12. Er erklärt denSinn der Anweisung „laute pianissimo“so: „die Pianissimi sprechen gerade durchihre fast gänzliche Unhörbarkeit; einlautes ‚Pianissimo’ ist ein Paradox13, aberkein Unsinn; der Ausdruck gibt genau denCharakter numinoser Musik wider, dieausdrücken soll, was sich nicht aus-drücken lässt.“14 Dieses sprechendeSchweigen der Musik sei, so van derLeeuw, vorgebildet im religiösen Schwei-gen und Verstummen vor dem Heiligen,dem „ganz anderen“. Gerade das Schwei-gen vor dem Heiligen ist beredt, denn „esist nicht das Schweigen eines Menschen,der nie gesprochen hat“; es ist Anbetung.Unter Bezug auf das Werk „Das heiligeSchweigen“ von Gustav Mensching15 wirdes als sakramentale Stille charakterisiert,„höchste Anbetung und innigste Gottesge-meinschaft zugleich“. Van der Leeuw in-terpretiert das Schweigen (in) der Musikals ein „Echo der ‚Stille in dem Himmel’“– unter Bezug auf Offb 1,816, und er nenntes mit Rudolf Otto „numinos“. Deutlichist in jedem Fall, dass diese Interpretatio-nen der Stille und des Schweigens aus derjüdisch-christlichen Religion erwachsensind. Die Stille und das Schweigen sindMedium und Reaktion auf die Offen-barung Gottes; sie „sprechen“, weil Gottgesprochen hat.Um zeitlich noch weiter zurückzugehen:Unübersehbar fußen van der Leeuws Aus-führungen auf dem Kapitel „Ausdrucks-mittel für das Numinose in der Kunst“ imKlassiker „Das Heilige“ von RudolfOtto.17 Der Kunst stünden, so hatte Otto

geschrieben, nur zwei direkte Mittel zurVerfügung, um das Numinose darzu-stellen: „Und sie sind bezeichnenderWeise selber negativ; sie sind das Dunkelund das Schweigen.“18 Dem (Halb-)Dunkel in Tempeln, Kirchen und Mo-scheen entspricht in der Tonsprache dasSchweigen. Auch die Veranschaulichun-gen dieser These Ottos hat, wie oben aus-geführt, van der Leeuw übernommen underweitert. Schon bei Otto begegnet derHinweis auf Hab 2,20, ebenso die Zitatevon Tersteegen, und zwar nicht nur, wiebei van der Leeuw, Tersteegens „Andachtbei nächtlichem Wachen“, sondern auchsein „Gott ist gegenwärtig, / Alles in unsschweige“ und ein weiteres Tersteegen-Zi-tat: „O hohe Majestät, die du erhabenwohnest / In stiller Ewigkeit, im dunkelnHeiligtum.“19 Ebenso hat schon Otto, wiespäter van der Leeuw, auf das mystischeIncarnatus in Bachs H-moll-Messehingewiesen. Aber während es van derLeeuw um das Sprechen Gottes selbst inder Kunst ging, verfolgte Otto ein anderesInteresse: Für ihn sind der Psalmensänger,Tersteegen, Bach „und wir selber ... inter-essante Objekte für religiöse psychologi-sche Analyse“20: Es sind spontane Reak-tionen auf das Heilige, das „numenpräsens“. Während van der Leeuw demSprechen „Gottes“ in der Kunst nach-spürte, ist Otto an der Analyse der Reak-tionen auf das Heilige mit seiner Kon-trastharmonie von mysterium fascinansund tremendum, also religionspsycholo-gisch, orientiert. „Gott“ ist für ihn einSpätling in der Religionsgeschichte; dieErfahrungen des Heiligen im Dunkel undals Stille, die sich in den angeführten Zi-taten spiegeln, gehen allen späterenKonzeptualisierungen, allem Reden von„Gott“ voraus. Leitmotiv dieser Betrachtung waren dieDunkelheit und das Schweigen und dieKlänge der Stille, wie sie von Simon &

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Garfunkel und in der Wellness-Szenepräsentiert werden, einschließlich einigerreligionswissensschaftlicher Positionenaus dem frühen 20. Jahrhundert. Lässt sichaus dem allen, trotz der offenkundigenDisparatheit21, ein Resümee ziehen? Vor-sichtiger wäre wohl von einigen Schluss-folgerungen zu sprechen, die sich nahelegen könnten.

Rückfragen und Korrekturen

So erscheint die zunächst vielleicht plau-sible Zuordnung des Songs von Simon &Garfunkel zum jüdisch-christlich-islami-schen Religionstyp und die der Klänge derStille in den Wellness-Angeboten zumBuddhismus als problematisch, zumindestaus drei Gründen: Einmal sind diese bei-den Zeugnisse der „sounds of silence“von deren ursprünglichen Ausprägungenin den Religionen zeitlich und inhaltlichso weit entfernt, dass sich die Herstellungeines direkten Zusammenhangs wohl ver-bietet. Gerade als Theologe, aber auch alsReligionswissenschaftler läuft man Ge-fahr, dort Beziehungen zu sehen, wokeine (mehr) bestehen. Zweitens wider-sprechen die betrachteten Zeugnisse inwesentlichen Punkten den Aussagen desihnen zugeordneten Religionstyps. Sofehlt bei Simon & Garfunkel der Bezugauf die Transzendenz, auf die Offen-barung des Gottes. Wohl geht es um eineVision aus dem Dunkel, um die Worte derPropheten, aber sie bleiben letztlich dochimmanent, wie „das Heilige“ im Heiligen-schein der Straßenlampe. Die Dunkelheitwird angesprochen, aber sie antwortetnicht. Und noch weniger entsprechen dieWellness-Klänge der Stille dem Ziel derklassischen buddhistischen Meditation.Während „Wellness unter Neuinszenie-rung des mutmaßlich omnipotenten Ich“vermarktet wird22, soll ja die buddhisti-sche Meditation, die Einübung der „Acht-

samkeit“, das Ich mit allen seinen Be-dürfnissen gerade auslöschen. Von hieraus muss auch, drittens, der Eindruck derAllgemeingültigkeit der religionsgeschicht-lichen Aussagen von Otto und van derLeeuw korrigiert werden: Was sie sagen,lässt sich wohl mit jüdischen, christlichenund islamischen Texten belegen, gilt fürden Buddhismus aber nicht. Auch ist Vorsicht geboten, von einer Ent-wicklung zu sprechen, deren Feststellunghäufig mit einer Wertung einhergeht. Daswäre der Fall, wenn, ausgehend vom bib-lischen Zeugnis (vgl. die Zitate aus Haba-kuk und der Offenbarung), eine ab-steigende Linie (des Verfalls, der Verdün-nung, der Vernebelung) konstatiert würde.Vielmehr sollte es darum gehen, sowohl„The Sound of Silence“ als auch die Well-ness-Szene als eigenständige Phänomenezu würdigen, ohne sie von woanders herabzuleiten.Nun ließe sich gegen die hier vorgelegte Be-trachtung einwenden, dass sie gegen solcheVorsichtsmaßregeln verstößt. Es wurde ver-glichen, bewertet; Beziehungen und Ab-hängigkeiten wurden festgestellt. Auchwenn Begriffe wie „religiöse Versatzstücke“,„Restbestände“ oder „Defizite“ nicht ver-wendet wurden, sind entsprechende Be-urteilungen eingeflossen. Dies zuzugeben,ist nichts anderes als das Eingeständnis, dassder Zugang zum Thema (des Schweigens /der Stille) von den eigenen Bedingtheitenund Interessen nicht freigehalten werdenkann. Oder im Sinne des Dekonstruktivis-mus23: Ein Text wird von dem abgelöst, wassein Autor mit ihm gemeint hat oder habenkönnte, und aufgelöst in das, was sein Leseraus ihm macht. Unter diesem Vorbehaltsind die vorgelegten Deutungen zwar zurelativieren, aber nicht zu revozieren. Sie re-flektieren „meine“ subjektiven Erfahrungenund Einsichten. Ob sie auch die Einsichtenanderer sind oder werden können, stehtdahin.

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Der Klang der Stille als Paradox

Eine dieser Einsichten ist die, dass dasenglische „silence“ die heterogenen Ele-mente der Stummheit und der Stille ent-hält und dass ich mit „Schweigen“ die Iso-lation, mit „Stille“ hingegen eine Haltungassoziiere, die ich vor einem Gegenübereinnehme und die dieses Gegenüber vo-raussetzt, sei es ein Mitmensch, die Natur,das Heilige oder Gott. Der Film „DasSchweigen“ des schwedischen Pastoren-sohnes Ernst Ingmar Bergman von 1963 – er gehört also auch in den Kontext von„The Sound of Silence“ – hat den Origi-naltitel „tystnaden“, was ebenfalls beideElemente umfasst. Der Film, der inschwarz-weiß die Einsamkeit, Kälte undEntfremdung menschlicher Existenz ohnejeden Transzendenzbezug ins Bild bringt,trägt eben nicht zufällig im Deutschenden Titel „Das Schweigen“, nicht „DieStille“. Bei Simon & Garfunkel ist einGegenüber im „Klang der Stille“ (noch)gewahrt, lassen sich Spuren der Transzen-denz noch vernehmen (das Gespräch mit

der Dunkelheit, die Vision, die Worte derPropheten). Die instrumentalen Klängeder Wellness-Angebote kommen ohne einsolches Gegenüber aus; die Menschen,denen sie „wohltun“ sollen, bleibenallein. Hier bleiben die Klänge stumm. So ist „Klang der Stille“ nur vordergründigein „Oxymoron“, wie anfangs erwähnt, einSpiel mit Worten, eine rhetorische Figur;sondern „Der Klang der Stille“ ist, wenn erwirklich zu uns spricht, ein Paradox. DasParadox ist ein Statthalter der Erinnerungund der Einsicht, dass dem denkenden Ver-stand die Gottesidee ebenso unaufgeblichwie unerreichbar und unvollziehbar ist:„Das ist denn des Denkens höchstes Para-dox: etwas entdecken wollen, das es selbstnicht denken kann. Diese Leidenschaft desDenkens ist im Grunde überall im Denkenvorhanden, auch in dem des Einzelnen, in-sofern er denkend ja nicht bloß er selberist.“24 Das Paradox öffnet unsere Wirk-lichkeit. Und wo wir die „Stille“ zu uns„sprechen“ hören, haben wir uns diesemParadox geöffnet – auch wenn der EinzelneGerhard Polt heißt.

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Anmerkungen

1 Orhan Pamuk, Schnee, München / Wien 2005, 9, 196.2 Konrad Meisig, Klang der Stille – der Buddhismus,

Freiburg i. Br. 21997.3 Ulrich Dehn, Das Klatschen der einen Hand. Was

fasziniert uns am Buddhismus? Hannover 2002.4 Siehe im Internet unter: Crawdaddy – Classic Van-

tage – Simon & Garfunkel’s Sounds of Silence,eingesehen am 26.6.2007 (der zitierte Artikelstammt vom 30.1.1966).

5 Vgl. hierzu z.B.: Ulrich Dehn / Erika Godel (Hg.),„Du salbest mein Haupt mit Öl...“ Wellness – Kör-perkultur oder Sinnfrage, EZW-Texte 183/2006. Aufdie musikalischen Wellness-Angebote wird hierallerdings nur sporadisch eingegangen.

6 Das Folgende nach Hans Waldenfels, Art.Schweigen, in: Lexikon der Religionen, Freiburgu.a. 31996, 596f.

7 Gerard van der Leeuw, Vom Heiligen in der Kunst,Gütersloh 1957, 6.

8 Ebd., 148.

9 Dieses Zitat van der Leeuws vermischt Tersteegens2. und 3. Strophe, vgl. das Original in: Gerhard Ter-steegen, Geistliches Blumengärtlein, Neue Aus-gabe, Stuttgart 151956, 569f.

10 Van der Leeuw, a.a.O., 239f.11 Z. B. das Rezitativ der Matthäuspassion „Mein Jesus

schweigt zu falschen Lügen stille“ oder das „Incar-natus“ und das „Crucifixus“ in der Hohen Messe inh-moll.

12 Beethoven hat in einer Skizze für das Finale der 9.Symphonie angegeben: „...erst pianissimo – einigelaute ppmo [pianissimo] – einige Pausen – dann dievollständige Stärke“.

13 Vgl. hierzu den Schluss dieser Abhandlung.14 Van der Leeuw, a.a.O., 240.15 Gießen 1926.16 Zur Deutung dieses Bibelverses siehe Jürgen Roloff,

Die Offenbarung des Johannes, Zürich 1984, 92f.17 Rudolf Otto, Das Heilige, Breslau 31919, 74-77.18 Ebd., 75.

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19 Otto hat die Fundorte nicht angegeben. „Gott istgegenwärtig“ findet sich im erwähnten GeistlichenBlumengärtlein, a.a.O., 340-342, und steht nochheute in unseren Gesangbüchern; das Zitat „Ohohe Majestät...“ ist der Beginn einer Betrachtungzum Propheten Jesaja, Kap. 57,15, Geistliches Blu-mengärtlein, 223.

20 Otto, a.a.O., 75f.21 Nicht immer, aber häufig wird im Deutschen das

„Schweigen“ von Menschen (und von Gott), hinge-gen die „Stille“ von der Natur ausgesagt („StilleNacht“). Andererseits verwendet Matthias Claudiusin „Der Mond ist aufgegangen“ „schweigen“ fürden Wald und „still“ für die Welt. Vgl. die Belegezu beiden Worten im Grimmschen Deutschen

Wörterbuch oder in einer Konkordanz zur Luther-bibel. Am 7.9.2007 gab die Königl. PhilharmonieAntwerpen in Herford ein Sinfoniekonzert unterdem Thema „Die Stille in der Musik“. ZumSchweigen und der Stille in christlicher und interre-ligiöser Spiritualität vgl.: Jan Olaf Rüttgardt (Hg.),Schweige und höre. Erfahrungen aus Meditationund geistlicher Betrachtung, Hannover 1994.

22 Siehe EZW-Texte 183 (wie Anm. 5), 3f.23 Zur Problematik der dekonstruktivistischen Theorie

(in der Rechtswissenschaft) vgl. den Roman vonBernhard Schlink, Die Heimkehr, Zürich 2006.

24 Sören Kierkegaard, Philosophische Brocken, Aus-gabe von E. Hirsch, Gesammelte Werke, 10. Abt.,Düsseldorf / Köln 1967, 34-51, 35.

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Der interreligiöse Dialog ist schon seitmehreren Jahren in aller Munde. Es heißt,die Ära des Säkularismus sei vorbei, dieneue Ära sei die der Rückkehr des Religiö-sen. Eine „De-Kanonisierung der Prinzi-pien der Aufklärung“ führe heutzutage zueiner „Re-Kanonisierung religiöser (aberauch quasi-religiöser) Traditionen“.1 Da-her, so wird häufig verkündet, sei der inter-religiöse Dialog unverzichtbar, auch wennman nach dem 11. September am bisheri-gen Dialog gezweifelt hat. Der interreli-giöse Dialog als Wundermittel gegen vielenationale und internationale Probleme?Jetzt auch als Methode der Konfliktbear-beitung?Der erste Teil dieses Beitrags2 beschäftigtsich mit den Schwierigkeiten des Dialogsim Allgemeinen, mit der Kritik an ihm undmit daraus abgeleiteten Vorschlägen zuseiner Optimierung. Der zweite Teil hatbewusst einen provokativen Titel. In die-sem Teil wird versucht, vom Allgemeinenzum Konkreten zu kommen. Manche Kon-fliktfelder auf der Basis-Ebene werden amBeispiel der christlich-islamischen Dialog-bemühungen dargestellt. Probleme, die imallgemeinen Teil erwähnt werden, kom-men zum Teil auch im zweiten, konkre-teren Teil vor.

1. Konstruktive Kritik des interreligiösenDialogs

Ein Zitat sei vorangestellt: „Ein frommerJude ging jeden Morgen zur Klagemauer in

Jerusalem, um für den Frieden zu beten.25 Jahre lang ging er jeden Morgen zurKlagemauer und bat für den Frieden. Nach25 Jahren wird er von einem Journalistengefragt: ‚Wie fühlt es sich an, 25 Jahre langhierher zu kommen und für den Frieden zubeten?’ Er antwortete: ‚Es fühlt sich an, alsob man mit der Mauer sprechen würde’“.3Bevor versucht wird, den interreligiösenDialog als Methode der Konfliktbearbei-tung zu bedenken, ist es wichtig, sich dieaktuelle konstruktive Kritik und die Benen-nung von Schwachpunkten anzusehen,die die Wirksamkeit des Dialogs beein-flussen können.

1.1 Vermeidung von Kontroversen um derHarmonie und des Konsenses willenNicht als einzige Stimme behauptetStanley Samartha, dass die Fokussierungauf das Ethische manchmal die Vermei-dung von Diskussionen über die theologi-schen Unterschiede bedeutet.4 Die Ver-schiebung theologischer Inhalte in denHintergrund und das Hervorheben ethi-scher Inhalte als Schwerpunkt des Dialogskönnen keine passende Reaktion in dergegenwärtigen pluralistischen Gesellschaftsein, auch wenn die Versuchung um derHarmonie und Verständigung willen großist. Denn ein ethischer Grundkonsens – tatsächlich nicht schwer zu erreichen –ohne die partikulären theologischen In-halte und deren Wahrheitsansprüche zubeachten, kann zu einer falschen Fokus-sierung führen.

BERICHTESilvana Lindner, Heidelberg

Ist interreligiöser Dialog eine geeignete Methodezur Konfliktbearbeitung?

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Unter den Verteidigern des zentralen Plat-zes der Wahrheitsfragen kann ChristophSchwöbel erwähnt werden: „Interreli-giöser Dialog wird unmöglich, wenn dieWahrheitsansprüche der Dialogpartner imDialog ausgeklammert werden. Dannbegegnen sich nur noch die kulturellenAusdrucksformen religiöser Überzeugun-gen. Erst im Dialog der Wahrheitsgewiss-heiten begegnen sich die Religionen“.5Das wechselseitige Verständnis ist das Zieldes Dialogs, so Schwöbel, auch wenn dasein stärkeres Hervortreten der Differenzenals der Gemeinsamkeiten bedeutet.6 Auchin der Handreichung der EKD vom No-vember 2006 über die Begegnung zwi-schen Christen und Muslimen wird erneutdazu aufgefordert, die Wahrheitsfragennicht auszuklammern.7Ein Zitat, das gut die hier kritisierte Hal-tung spiegelt, stammt von Martin Bauschke,Mitarbeiter in der Stiftung Weltethos: „EinDialog der Kulturen und Religionen, der 1. nicht bei den Differenzen, sondern beiden Gemeinsamkeiten ansetzt und der 2. nicht auf religiöse und weltanschau-liche Inhalte abzielt (die Ebene der Dog-men, der Glaubensinhalte), sondern pri-mär die Ebene des Ethischen, also die Fra-ge nach gemeinsamen Werten und Nor-men thematisiert – nur ein solcher Dialogscheint offensichtlich in der Lage zu sein,weltweit den Frieden der Nationen, Reli-gionen und Kulturen zu fördern.“8 Eineklare Fokussierung auf das Ethische ist hierdeutlich. In diesem Zitat ist auch ein an-derer, häufig am interreligiösen Dialog kri-tisierter Punkt zu finden: die Betonung derGemeinsamkeiten und die Verschiebungder Diskussion über Differenzen auf einesekundäre Ebene. Stimmen wie z. B. die vonCatholicos Aram plädieren im Gegenteil füreine klare Aussprache und Benennung derUnterschiede zwischen Religionen.9 DieGemeinsamkeiten sollen natürlich nichtgeleugnet werden, den Differenzen aber

muss genügend Raum gelassen werden.10

Die häufig bemerkte Tendenz, sich auf dieGemeinsamkeiten,11 nur auf gemeinsameethische Werte zu konzentrieren, um einenKonsens zu erreichen (und eine gemütlicheKonferenzatmosphäre), kann zu einer ein-seitigen Betreibung des Dialogs führen. Sievermeidet Konflikte, entwickelt aber nichtdie Fähigkeit, latente oder schon ausge-brochene Konflikte zu bearbeiten.

1.2 Der Dialog muss kontextuell seinEin Kritikpunkt am interreligiösen Dialog – besonders am Konferenz-Dialog – lautet,dass er nicht genügend kontextbezogensei. Häufig wurde die Forderung geäußert,dass er seine Agenda vor Ort entwickelnund an die Besonderheiten des Ortes an-passen muss12, dass eine Art „Internali-sierung“ des Dialogs in die lokalen Gege-benheiten geschehen soll. Damit in Ver-bindung steht der im Folgenden genannteKritikpunkt.

1.3 Vom Elfenbeinturm zu den „grassroots“Kritische Stimmen beziehen sich auf dieFrage nach der Wirksamkeit des Dialogs.Die Wirkung der Ergebnisse von Dialog-treffen und Konferenzen auf religiöse Ge-meinschaften, auf die Basis, sei in vielenFällen sehr gering bis nicht existent. Umeine Wirksamkeit des Dialogs zu errei-chen, muss dieser nicht nur von einer Elitebetrieben werden, sondern auch auf der„grassroots“-Ebene. Häufig war der Dialogzu sehr nur von der intellektuellen unddiskursiven Ebene geprägt. Eine erfolgrei-che Bewegung hin zu den „grassroots“könnte z. B. durch die interreligiöse Erzie-hung und Ausbildung geschehen.

1.4 Die Notwendigkeit einer kreativenVielheit der DialogmodelleDa der heutzutage praktizierte Dialogseinen Ursprung meist in christlichen

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Kreisen hat, reflektiert er Modelle deschristlichen Selbstverständnisses und derSelbstreflexion.13

Manche Schwierigkeiten beziehen sichauch auf diesen Punkt, wie im zweiten Teilzu sehen sein wird. Hilfreich könnte dieRelativierung mancher Vorstellungen vominterreligiösen Dialog um des Dialogeswillen sein.

1.5 Interreligiöser Dialog im Tandem mitintrareligiösem DialogEs wird viel vom interreligiösen und seltenvom intrareligiösen Dialog gesprochen.Innerhalb einer am Dialog teilnehmendenGemeinde existieren unterschiedliche Strö-mungen, die auch unterschiedliche Vor-stellungen von Dialog vertreten. Der in-trareligiöse Dialog könnte der Wirkungdes interreligiösen Dialogs helfen, dennSpannungen unter den Mitgliedern einerGemeinde können, wenn nicht auf sie ein-gegangen wird, den interreligiösen Dialogerschweren oder gar verhindern. Zusätz-lich besteht ein anderes Risiko: das Risikofür den Dialogteilnehmer, den Kontakt mitder eigenen Gemeinschaft zu verlieren.Der Dialog verändert den Teilnehmer.Nicht wenige fühlen sich nach einer Weileden Dialogspartnern näher als den Mit-gliedern der eigenen Gemeinschaft. DerTeilnehmer am Dialog wird ein Vermittlerzwischen zwei Domänen, verpflichtet zurLoyalität beiden gegenüber, aber manch-mal auch von beiden missverstanden.14

Man muss sich solcher Konfliktpotentialebewusst sein und versuchen, die beidenDomänen (des Dialogs und der eigenenreligiösen Gemeinschaft) in Verbindung zuhalten. Der interreligiöse braucht den intrareli-giösen Dialog. Die Herausforderung be-steht darin, beide miteinander in Ver-bindung zu bringen, beide zu fördern. Esnützt nicht viel, wenn die Dialogteilneh-mer keine Vertretungsrolle für die eigene

Gemeinschaft übernehmen, wenn dieFrüchte nur von einer Minderheit gekostetund zu Hause, in der eigenen Gemein-schaft, nicht „verdaut“ werden können.

1.6 Die Außeneinflüsse auf den DialogbeachtenWie auch in konkreten Fällen im Teil 2 zusehen sein wird, beeinflussen den Dialogeine ganze Reihe sozialökonomischer,sozialpolitischer und kultureller Faktoren,die nicht viel mit dem Religiösen zu tunhaben. Deshalb soll der Dialog sich nichtin autistischer Weise nur mit religiösenoder theologischen Fragen beschäftigen,sondern auch die Außenfaktoren identi-fizieren und mitbedenken.15

1.7 „Aktion statt Dialog“Um die alte Weisheit zu bestätigen, dassman nicht alle zufrieden stellen kann:Während manchen (s. 1.1) der Dialognicht theologisch genug ist, fordern anderedie Abkehr von den theologisch-doktri-nären Gesprächen, von den intellektuellenFormen des Dialogs und die Hinwendungzum Praktischen. „Vom Reden zur Aktion“ist die Devise solcher kritischen Stimmen:Christen und Muslime z. B. werden sich inerster Linie auf der Ebene der Ethik, derWerte und der konkreten Handlungsziele– dem „Dialog des Handelns“ – treffenkönnen; hier eröffnet sich ein breites Spek-trum gemeinsamer Aktivitäten.16

Die Ebene des „Praktischen“, des konkre-ten gemeinsamen Handelns ist eine derwichtigen Ebenen des Dialogs – genau wiedie Ebene der theologischen Gesprächeoder die der Vereinbarung über Wert-vorstellungen. Der Dialog ist ein sehr kom-plexer Prozess mit unterschiedlichen Ebe-nen, die alle Aufmerksamkeit verdienen.Wichtig ist die Vereinbarung klarer Zieleam Anfang, um Missverständnisse und Ent-täuschungen zu verhindern und Transpa-renz zu schaffen.

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2. Methode zur Konfliktbearbeitung oderzusätzliche Konfliktursache?

Das Thema soll nun am Beispiel derchristlich-muslimischen Dialogbemühun-gen in Deutschland erörtert werden.Eine Vermischung und ein Einfluss sehrverschiedener Faktoren sind im Dialog zubemerken, wie unter Punkt 1.6 schon er-wähnt. Sozialpolitische, sozialökonomi-sche und kulturelle Faktoren spielen fürdie Durchführung und die Wirkung einewichtige Rolle. Es wurde proklamiert, dassein zukunftsfähiger Dialog der Kulturendie Religionen einschließen muss.17 Auchumgekehrt muss es klar gesagt werden: Einzukunftsfähiger interreligiöser Dialog mussden interkulturellen einschließen.Wie es am Beispiel des christlich-islami-schen Dialogs an der Basis bemerkt wer-den kann, steht der religiös-theologischeInhalt nicht immer im Vordergrund. Manbewegt sich auf einem komplexen Minen-feld, auf dem es keinen Mangel an Konflik-ten gibt. Wagt man den Dialog, so riskiertman Konflikte unterschiedlicher Art: Wert-konflikte, Identitätskonflikte, kulturelleKonflikte. Häufig entstehen nicht Konsensund Harmonie, sondern Auseinanderset-zungen. Insofern kann der Dialog als eineKonfliktursache betrachtet werden, wobeiKonflikt hier nicht mit einem negativenWert beladen wird. Ein Konflikt kann – gutausgetragen und bearbeitet – die Quellepositiver Erfahrungen sein.18 Die Konflikte,die im Dialog entstehen oder entdecktwerden, können identifiziert und bear-beitet werden und dadurch zur Gewaltprä-vention beitragen. Eine wichtige Basis da-für ist das Vertrauen, das durch den Dialogaufgebaut wird. In diesem Sinne kann derDialog gleichzeitig als Konfliktursacheund als Zugang zur Konfliktbearbeitungbetrachtet werden. Anhand der nachste-henden Beispiele wird versucht dieseThese zu begründen.

2.1 Die MachtfrageIm christlich-islamischen Dialog existiereneine Reihe potentieller Machtgefälle hin-sichtlich Bildung, Sprachfähigkeit, Organi-sationsgrad und religiös-theologischemFachwissen – die christliche Seite ist imVorteil. Sie kann sich auch am ehesten denDialog leisten und ihn sich etwas kostenlassen.19 Der christlich-islamische Dialog inDeutschland findet zwischen einer gast-gebenden Gesellschaft mit einer Mehrheits-religion und einer Minorität statt. Man musssich der Machtsituation bewusst sein. Auchwenn keine offenkundige Bedrohung exis-tiert, werden Teilnehmer der Minderheithäufig die verunsichernde Erfahrung derAngst vor Identitätsverlust durch Assimila-tion oder Akkulturation machen. Das Gefühlder Zerbrechlichkeit ist häufig in solch einerSituation bei den Angehörigen der Minder-heit präsent. Die Repräsentanten derMehrheitsgesellschaft sind sich manchmalder Unsicherheit der Dialogpartner und dereigenen Machtposition gar nicht bewusst.20

Es ist schwer, sich unter solchen Umständenauf gleicher Augenhöhe zu begegnen. EinDialog ist aber nur dann möglich, wenn diePartner gleichberechtigt sind.Die Identifizierung solcher Konfliktpoten-ziale könnte z. B. zu einem gemeinsamenEintreten der Dialogpartner für die Ent-wicklung von Ausbildungsstätten von Ima-men und Lehrkräften für den islamischenReligionsunterricht in Deutschland führen.

2.2 Der Einfluss von außen Der Einfluss des Heimatlandes auf islami-sche Verbände, ihre Mitglieder21 und ihreBereitschaft zum Dialog ist ein Beispielvon Außenbeeinflussung. Solch eine Be-einflussung ist ein Konfliktfeld, nicht nurim interreligiösen Dialog, sondern auch inanderen Sektoren der Gesellschaft. DerZugang durch den Dialog zu diesem Prob-lemfeld könnte Gelegenheit zur Konflikt-bearbeitung sein.

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Andere potentielle, nicht weniger prob-lematische Einflüsse von außen könnenauch von Seiten des deutschen Staates – wie beim nächsten Punkt – bemerkt wer-den oder in konkreten Fällen von Seitendes Verfassungsschutzes.

2.3 Migration und IntegrationDie Migrations- und Integrationspolitik,die vom Staat betrieben wird, nimmt indi-rekt Einfluss auf den Dialog mit anderenReligionen, deren Angehörige in großerZahl einen Migrationshintergrund haben.Die Fehler der Integrationspolitik, die z. T.mangelhafte Integration vieler Migrantenerschweren die interreligiöse Arbeit. DieAusgrenzung und Selbstabkapselung, dieUnsicherheit, die nicht wenige Muslime mitMigrationshintergrund mit sich tragen,führen zu Konfliktsituationen oder bergenpotentielle Konflikte in sich. Nicht seltenwird die Religionszugehörigkeit zum Islamals zentrales identitätsbildendes Elementangesehen. Der Dialog könnte zu einer Auf-arbeitung damit zusammenhängender Kon-flikte und zur Gewaltprävention beitragen.Das gemeinsame Eintreten für sozialeGerechtigkeit kann in diesem Kontext vonleeren Worten zu konkreten Taten führen(z. B. für den Schutz der Flüchtlinge).In solchen Fällen, in denen Konfliktfeldersozialpolitischer Art erlebt werden, solltendie Dialogbeteiligten auch mit staatlichenund politischen Akteuren Kontakt haltenund zusammenarbeiten, um Vorschlägezur Beseitigung struktureller und institu-tioneller Konfliktfaktoren zu liefern.

2.4 Die kritische AuseinandersetzungBei muslimischen Dialogteilnehmern wirdmanchmal die fehlende Bereitschaft be-obachtet, sich auf kritische Anfragen ein-zulassen.22 In nicht wenigen Fällen rea-gieren muslimische Partner sehr irritiert,wenn Kritik in Bezug auf islamischeGlaubens- und Ethikfragen geäußert wird.

Das Gefühl der Unsicherheit, die nichtwenige Einwanderer in Deutschlandspüren, könnte einer der Gründe sein.Dialog bedeutet, eine Auseinandersetzungzu riskieren und manchmal sich selbst inFrage zu stellen. Kritische Hinterfragungbewirkt aber bei manchem Dialogspartnererst einmal Irritation. In der Öffentlichkeittauchen in letzter Zeit nicht selten Begriffewie Islamfeindlichkeit und Islamophobieauf. Die Unterscheidung zwischen kriti-schen Anfragen und islamfeindlichen Aus-sagen ist sehr wichtig. Im Dialog sind indiesem Kontext zwei Bedingungen zu er-reichen: das durch den Dialog aufgebauteVertrauen und die Bereitschaft zur Selbst-kritik.Im Teil 1 wurde erwähnt, ein Kritikpunktam Dialog sei die Prägung des Dialog-modells exklusiv von christlichen Vorstel-lungen und dem christlichen Selbstver-ständnis her. Eine mögliche Frage an dieserStelle könnte sein: Ist das Modell der kriti-schen Auseinandersetzung im Dialognicht solch ein Beispiel, an dem deutlichwird, dass man das christliche Dialogmo-dell als selbstverständlich annimmt? Wenndas der Fall wäre: Könnte dieser Verdachtauf kulturelle Hegemonie des Christen-tums in einer pluralistischen Gesellschaftzu Konflikten führen? Der nächste Punktsteht damit in Verbindung.

2.5 Identitäts- und WertkonflikteDie Angst vor Identitätsverlust und demHerausfallen aus der eigenen Ordnung istim christlich-islamischen Dialog nicht sel-ten zu spüren. Sie führt auch in manchenFällen zu Konflikten. Ein bekanntes Bei-spiel ist die Debatte über das Kopftuch.Dieses ist zu einem identitätsbestimmen-den Symbol geworden. Die Argumentegegen das Kopftuch werden häufig als At-tacke auf das ganze System von Wertvor-stellungen empfunden, als Angriff gegendie vom Islam geprägte Identität und die

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Ausübung der Religionsfreiheit. Das ge-samte Spannungsfeld zwischen der Aus-übung von Religionsfreiheit einerseits undder Menschenrechtsproblematik anderer-seits ist auf der Mikroebene im interre-ligiösen Dialog auch zu finden. Hier werdenProbleme, Konflikte in „Miniatur“ erlebt.Die Chance, bei der Konfliktbearbeitunghier einzugreifen, ist nicht zu unterschätzen.Eine Verständigung über Werte undMaßstäbe für das gesellschaftliche Zusam-menleben könnte auch hier anfangen.

2.6 Fremd- und FeindbilderVor der Wirkung von Fremd- und Feind-bildern ist auch der Dialog nicht ge-schützt. In der christlich geprägten Bevöl-kerung Deutschlands ist – wie manche be-tonen23 – die Fremdheit, die kulturelle Dis-tanz gegenüber den Muslimen besondersauffällig. Es entsteht häufig eine Überheb-lichkeit (nach dem Motto: der zurückge-bliebene Muslim, der seine Gesellschafts-und Werteordnung aus der Zeit vor derAufklärung bezieht), die in manchenFällen zu einem kulturellen Rassismusgegenüber Muslimen führt. Dies ist einegefährliche Einstellung, die bei vielenMuslimen zum Eindruck der Dämoni-sierung, Isolation und Ausgrenzung führt.Folge war nicht selten der Rückzug in dieGettos, in denen manche Muslime unterden Einfluss nationalistischer und radi-kaler Kreise geraten sind.Auf der anderen, der muslimischen Seitewirkt die anti-westliche Einstellung, die inden Heimatländern stark vertreten wird.Die „zunehmende Artikulierung des poli-tischen und sozialen Protests in religiösenKategorien“24 macht es nicht immer leicht,den religiösen und politischen Teil von-einander zu trennen. Solch ein importiertesBild zusammen mit dem deutschen Fremd-bild von Muslimen sind Konfliktfaktoren,die im Dialog angesprochen und vielleichtauch bearbeitet werden könnten.

3. Zusammenfassung

Zurück zu der Frage des Titels: Ist der inter-religiöse Dialog eine geeignete Methodezur Konfliktbearbeitung? Die Antwort isterst einmal negativ. Er ist nicht eine Me-thode der Konfliktbearbeitung, denn eineMethode von etwas zu sein bedeutet, sichexklusiv dem Zweck dieses „Etwas“ zu un-terwerfen. Es kann nicht behauptet wer-den, dass im interreligiösen Dialog derKonflikt und seine Bearbeitung an ersterStelle stehen.Behauptet werden aber kann, dass derDialog einen guten Zugang und ein Feldfür Konfliktbearbeitung, Konfliktaustra-gung, für Gewaltprävention und vielleichtfür die Umformung von Konflikten an-bieten kann. Konflikte, die im interre-ligiösen Dialog vorkommen, spiegeln häu-fig Konflikte oder Konfliktpotenziale derGesellschaft wider. Der Dialog kann aufgrund des aufge-bauten Vertrauens eine gute Basis oderMöglichkeit (nicht Methode) für die Kon-fliktbearbeitung bieten. Er kann so einenBeitrag zum sozialen und gesellschaft-lichen Frieden leisten. Auch wenn manmanchmal das Gefühl hat, man sprächeim interreligiösen Dialog zu einer Mauer,auch wenn beim Auftreten von Konfliktenund Problemen immer wieder die Gefahrdes Rückschritts existiert, darf man keineResignation zeigen,25 denn die Chancendes Dialogs sind bedeutend.

Anmerkungen

1 Christoph Schwöbel, Christlicher Glaube im Plural-ismus, Tübingen 2003, 180.

2 Der Beitrag ist eine überarbeitete Version einesReferats vom 28.03.2007 bei den „HeidelbergerGesprächen“ in der Forschungsstätte der Evangeli-schen Studiengemeinschaft Heidelberg.

3 Rabbi Ehud Bandel, Visions for the Future, in:Changing the Present, Dreaming the Future. A Criti-cal Moment in Interreligious Dialogue (ed. HansUcko), Geneva 2006 (54-57), 54.

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4 Stanley S. Samartha, Between Two Cultures. Ecumeni-cal Ministry in a Pluralist World, Geneva 1996, 184.

5 Christoph Schwöbel, a.a.O., 213. 6 Ebd.7 Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Mus-

lime in Deutschland. Eine Handreichung des Ratesder EKD, EKD Texte 86, 2006, 113.

8 Martin Bauschke, Keine Zukunft ohne Dialog! Vor-trag in Berlin, beim 20-jährigen Jubiläum derChristlich-Islamischen Gesellschaft am 4. Mai 2002in Mülheim/Ruhr, www.muslimliga.de/archiv/bauschke.html.

9 Catholicos Aram I, Our Common Calling, in: Chang-ing the Present, a.a.O. (10-15), 12.

10 Hansjörg Schmid / Jutta Sperber / Duran Terzi, Daschristlich-islamische Verhältnis – Abgrenzungen ohneEnde? In: Hansjörg Schmid u.a. (Hg.), Identität durchDifferenz? Wechselseitige Abgrenzungen in Christen-tum und Islam, Regensburg 2007 (11-18), 14. (Rezen-sion in dieser Ausgabe des MD, 472f)

11 Auch Uwe Gerbe plädiert vehement für einen „Dia-log durch Anerkennung des Anderen in seiner Dif-ferenz“. Laut Gerbe machen die Gemeinsamkeitenden Dialog überflüssig: „sie machen den anderenMenschen zum Vertreter und zur Vertreterin der ei-genen Meinung und blocken neue Erfahrungen ...“.Konflikte dürfen seiner Ansicht nach nicht „tolerantund harmonisierend verschwiegen werden, sondernsie können und sollen (...) produktiv ausgetragenwerden“. Uwe Gerbe, Interreligiöser Dialog zurFriedensförderung. Abgrenzung – Toleranz – Diffe-renz, in: Auf die Differenz kommt es an. Interre-ligiöser Dialog mit Muslimen, Leipzig 2006 (63-78),70, 74.

12 Catholicos Aram I, a.a.O., 12.13 Valson Thampu, Models of Interreligious Dialogue,

in: Changing the Present, a.a.O. (36-41), 36.14 Jonathan Magonet, Risiken im interreligiösen Dialog

eingehen, in: Religionen im Gespräch. Interre-ligiöser Dialog zwischen Tradition und Moderne,Balve 1994 (95-111), 106-108.

15 Siehe 1.2.16 Handreichung „Klarheit und gute Nachbarschaft“,

a.a.O., 113.17 Siehe z.B. Martin Bauschke, a.a.O.18 Aus diesem Grund wird hier nicht von Konflikt-

prävention, sondern von Gewaltprävention ge-sprochen.

19 Martin Bauschke, a.a.O.20 Jonathan Magonet, a.a.O., 96.21 Siehe das Beispiel DITIB.22 Gespräch mit Heidi Meier-Menzel, ehemalige Vor-

sitzende der Christlich-Islamischen Gesellschaft inKarlsruhe (März 2007).

23 Z. B. Heidi Meier-Menzel.24 Fuad Kandil, Was bringt die Welt zusammen? Die is-

lamische Welt und der Westen (Heidi Meier-Menzelzum 60. Geburtstag), 6.

25 Siehe die Handreichung „Klarheit und gute Nach-barschaft“, a.a.O., 120.

FREIGEISTIGE BEWEGUNG

Verstärkte Zusammenarbeit im Bereichder Jugendweihe. (Letzter Bericht:4/2007, 152) Zwei der wichtigsten frei-geistigen Organisationen haben sich aufeine bessere Zusammenarbeit verständigt.Es handelt sich um den „HumanistischenVerband Deutschlands“ (HVD) und die„Jugendweihe Deutschland“ (JWD). DerHVD steht für eine geschickte politischeArbeit, die JWD verfügt über ein nahezuflächendeckendes Netz an Mitstreitern inOstdeutschland. Die Anfänge der Zusam-menarbeit gehen auf das Jahr 2002zurück, wo man gemeinsam die Festver-anstaltung „150 Jahre Jugendweihe inDeutschland“ in Berlin organisiert hatte.Derzeit ist noch unklar, wie die Zusam-menarbeit konkret gestaltet werden soll.Diskutiert wird die Idee eines deutsch-landweit agierenden Jugendweihe-Ver-bandes, der Jugendarbeit und Jugendwei-hen anbieten könnte und mit humanisti-schen (d.h. freidenkerischen) Landes- undRegionalverbänden kooperiert. Es istdenkbar, sich am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns zu orientieren, wo einesolche Zusammenarbeit bereits erfolgreichfunktioniert. Die beiden Vereine stehen sich zwarweltanschaulich nahe, befinden sich aberauch in einer gewissen Konkurrenz. Dennauch der HVD bietet Jugendweihen an,die hier jedoch Jugendfeiern heißen. DerHVD ist weltanschaulich profiliert, dieStärke der JWD liegt in ihrer weiten Ver-breitung (im Osten Deutschlands) und derInfrastruktur – weltanschaulich ist sie je-doch blass. In einer Pressemeldung heißtes, man möchte durch die Kooperationden organisierten Humanismus als „dritteKraft“ neben den christlichen Kirchen

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stärken. Daher hat man vereinbart, „dietatsächlichen Konkurrenzen in den Regio-nen festzustellen und einvernehmlich unddurch Absprachen vor Ort mit Hilfe derZentralen, wenn nötig, zu regeln und ge-meinsame neue Arbeitsfelder zu finden“.Interessant ist, wie die beiden Verbändedie konzeptionellen Unterschiede be-schreiben: Die Konzepte der Jugendarbeitdifferieren zwischen „offener“ (JWD),„halboffener“ (HVD Berlin) und „ver-bindlicher“ (HVD West) Arbeit. Es gibt An-bieter von Jugendweihen, die diese als of-fene Veranstaltung im Sinne einer Jugend-weihe ohne weitere Verpflichtung verste-hen, andere – wie der HVD-Nürnberg –sehen sich jedoch als (lebenslanger) Be-gleiter säkularer Menschen „von derWiege bis zur Bahre“. Hier muss man Mit-glied sein, um an der Jugendweihe teil-nehmen zu können, während die Jugend-weihe der JWD jedermann und damitauch kirchlich gebundenen Jugendlichenoffensteht. Ernüchternde Erfahrungen machen beideAnbieter in ihrer Jugendarbeit, die sichder Jugendweihe anschließt: Nur äußerstwenige Jugendliche sind nach demgroßen Fest zu ehrenamtlicher Mitarbeitbereit. Spätestens nach zwei bis dreiJahren verabschieden sich davon aufgrundvon Ausbildungs- und Studienbeginnnochmals etwa zwei Drittel der Inter-essierten.Dennoch sehen HVD und JWD eineChance für sich. So heißt es, die Jugendhabe derzeit in der Politik keine Lobby.Hieraus erwachse eine Chance für beideVerbände, sich als Sprachrohr der Ju-gendlichen zu profilieren – oder wenigs-tens als Sprachrohr der konfessionslosenJugendlichen. Einen nicht unwichtigenAuslöser für die neue Zusammenarbeithaben die beteiligten Verbände jedochgeflissentlich verschwiegen: Die Zahl derTeilnehmer an der Jugendweihe der JWD

ist zuletzt rasant gesunken. Konnten von1996 bis 2002 jährlich noch rund 90 000Jugendliche gezählt werden, so waren es2006 nur knapp 34 000. Selbst wenn mandie zurückgehenden Geburtenzahlennach 1990 in Rechnung stellt, ist das eineerstaunliche Entwicklung.

Andreas Fincke, Berlin

PFINGSTBEWEGUNG

„Feuerkonferenz“ mit Reinhard Bonnkein Stuttgart. (Letzter Bericht: 6/2001,190ff) Vollmundige Ankündigungen undVersprechungen sind im Vorfeld pfingst-lich-charismatischer Großveranstaltungenüblich. Erwartung und Erfüllung werdenin der euphorischen Stimmung des insze-nierten Events oft eins im Sinne einer„self-fulfilling prophecy“. Die kritische Bi-lanz hinterher bleibt meist aus: Wo sindnun die vielen leeren Rollstühle, die aufhunderten Plakaten abgebildet waren, mitdenen der Heiler Charles Ndifon in Tübin-gen angekündigt war? Wo wurde bei derAktion „Der Schwarzwald brennt“ dieseRegion tatsächlich entzündet, wie beim„Kick-off“ angekündigt, so dass viele neueGemeinden aus dem Boden geschossenwären? Die Euphorie beim Event selbst reicht oft aus, um es als gelungen zu bi-lanzieren, auch wenn die versprochenenHeilungen oder die große Erweckung aus-bleiben.Dieser Effekt ist nicht eingetreten bei der„Feuerkonferenz“ („Full Flame“-Konferenz),die Reinhard Bonnke mit seiner Organisa-tion Christus für alle Nationen (CfaN) vom14. bis 16. September in der StuttgarterSchleyer-Halle abgehalten hat. Dafür warendie Erwartungen, vor allem beim Veranstal-ter selbst, doch etwas zu hoch gespannt.Dies begann schon mit der Anmietung derHalle mit ihren 15 000 Sitzplätzen. Sie bliebzu zwei Dritteln leer. 10 000 leere Sitze

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dämpfen einfach die Begeisterung über diedoch immerhin 5 000 Besucher, die sich indieser großen Halle aber fast verloren.Wenn sich dagegen sonntags im Gottes-dienst der Biblischen Glaubensgemeinde(BGG) im „Gospel Forum“ in Stuttgart-Feuerbach 2 000 bis 3 000 Menschen ver-sammeln, ist die Wirkung eine völlig an-dere: „Unser Haus ist voll, wir sind dieGrößten, wir sind eine Mega-Church!“Beim Besuch der Eröffnungsveranstaltungam Freitagabend hatte ich den Eindruck,dass die leeren Sitze vor allem den großenEvangelisten selbst enttäuschten. Dass erdie 5 000 bis 7 000 Besucher als kleinesHäuflein empfinden musste, wurde auchdurch die immer wieder eingeblendetenFilmclips verstärkt: Man sah die mehrereFußballfelder umfassenden Plätze, über-füllt mit hunderttausenden von vor Be-geisterung außer sich geratenen Schwarz-afrikanern vor gigantischen Landschaftenzu Füßen Bonnkes. Diese Bilder wirktenauf die im Verhältnis dazu kleine und sehrtemperiert jubelnde Schar der Besucherfast niederschmetternd – offenbar auchauf Bonnke. Denn nach einem der Clipssagte er in einem etwas gekränkt klingen-den Ton: „Ach, am liebsten würde ich dasnächste Flugzeug nehmen, um wiederdort zu sein.“ Der vielleicht erhoffte Pro-test blieb aus.Bonnke schrie laut und gestikulierte heftig,wie man es vom „Mähdrescher Gottes“ er-wartete. Aber die Rhetorik wirkte aufge-setzt, bemüht. Er kam nicht in Schwung.Die immer wieder eingeforderten Ant-worten auf kindliche Fragen und das „Hal-leluja“ und „Amen“ kamen nicht sobegeistert, wie er es gewohnt ist. Statt dessonst bekannten gegenseitigen Hochschau-kelns zwischen charismatischem Predigerund der Menge fand eher ein gegenseitigesHerunterdämpfen statt.Zu den Evangelisationsabenden waren die„Verlorenen“ eingeladen, die gerettet

werden sollten. Tagsüber, zu den Kon-ferenzen, waren Christen eingeladen, diedie Evangelisationsmethoden Bonnkes ler-nen sollten. Wie bei den meisten Evange-lisationsveranstaltungen waren auch hieroffensichtlich so gut wie ausschließlichbekehrte Christen da; zum großen Teilwohl Menschen aus pfingstlich-charisma-tischen Gemeinden der Umgebung. Auchderen Leiter entdeckte ich im Publikum.Aus manchem Gespräch, das ich amRande aufschnappte, folgerte ich: Mit-glieder und Leitende der charismatischenGemeinden waren gekommen, um ein-fach einmal zu sehen, was dieser Bonnke,der sich so groß ankündigen ließ, zu bie-ten hatte. Über das charismatische Spek-trum hinaus waren vermutlich auch einigeevangelikale Christen aus den Kirchenund Freikirchen der Umgebung da.Ob Bonnke und sein Organisatorenteamwohl bedacht haben, dass sich die Situa-tion in Deutschland, und vor allem im Sü-den, gegenüber der Zeit von vor 30Jahren, als er hier seine großen Erfolgefeierte, völlig verändert hat? Ob ihm klarwar, dass das, was er zu bieten hat, nichtsBesonderes und nichts Einmaliges mehrist? Im Raum Stuttgart gibt es einige großeund in vielen Ortschaften kleinere neu-pfingstliche Gemeinden mit Predigern,„Propheten“, „Heilern“, die einen persön-lichen Bezug zu ihren Gemeindegliedernhaben und regelmäßig all das anbieten,wofür Bonnke nach seinem Anspruchallein und direkt von Gott beauftragtwurde. Es gibt Heilungsgottesdienste,Glaubenskurse, Bibelschulen für alle Altersgruppen, Jüngerschaftsschulen, Pro-phetenschulen etc. Bonnke aber be-hauptet, Gott habe ihn beauftragt, seineEvangelisationsmethode „allen Gemein-den auf der ganzen Welt“ zu lehren. Da er„nur einer“ (so auf dem Einladungs-prospekt) sei, habe ihm Gott die Idee mitder Filmserie „Full Flame“ gegeben. Die

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Premiere der deutschen Fassung sollte inStuttgart groß gefeiert werden. Der An-spruch Bonnkes, „nur einer“ zu sein, wirktmerkwürdig angesichts dieses Publikums.Hätte er mit den hiesigen Gemeinden undLeitern zusammengearbeitet, als einbesonderer Erntearbeiter unter anderen,hätte er eine sehr viel größere Wirkungerzielen können. Aber das wäre nichtmehr das Konzept „Reinhard Bonnke“!Heldengeschichen aus Afrika und riesigeZahlen spielten in der Predigt eine großeRolle. Eine der Geschichten mit Zahlen-spielen wirkte fast zynisch: Bonnke be-richtete von einem Autounfall in Afrika: Inder Autoschlange, die sich gebildet hatte,ließ er sich auf das Autodach bitten undpredigte. Als er die traurige Nachrichtvom Unfallort erfuhr: „10 Tote!“, entgeg-nete er: „und 70 Neubekehrte!“Bonnke sagte, Gott habe einen (wiederdieser eine!) gefunden, der akzeptierthabe, in diesem Jahrzehnt 100 MillionenMenschen zu retten. 44 Millionen ausge-füllte Entscheidungskarten habe er seit2000 schon gesammelt, 56 Millionenfehlten noch. Er sei wohl verrückt, dass ersich darauf eingelassen habe. Aber, sosagte er in infantilisierendem Ton: „Nunsollen wir alle für eine Stunde verrücktsein und ganz große Opfer für Gott brin-gen.“ Briefumschläge für Geldscheineund grüne Antwortkarten wurden verteilt:50, 500 und 5 000 Euro konnte man alseinmalige Geldgabe ankreuzen odereinen monatlichen Beitrag angeben, zudem man sich verpflichtete. Wir hättendurch die Geldgaben einen großen Anteildaran, aber auch eine große Verantwor-tung dafür, dass die 100 Millionen Seelendurch ihn und sein Missionswerk zuschaffen seien. So verteilen sich also dieZuständigkeiten und Kompetenzen inseinem Plan, dachte ich mir – und sichernicht nur ich. Der Rückfluss der Ant-wortkarten und Briefumschläge war trotz

allen Drängens recht zögerlich. Wennman bedenkt, dass alle diejenigen, die ineiner charismatischen oder anderen freienGemeinde eingebunden sind, normaler-weise schon ihren Zehnten abgeben undmeist selbst versuchen, missionarisch tätigzu sein, ist das kein Wunder. Trotz allem:Über eine Million Euro seien an demWochenende (neben den Konferenzbei-trägen und Erlösen aus dem Filmverkauf)als Spenden eingegangen, so wurde nachder Konferenz bekannt gegeben.Bonnke verkündigte, nicht nur in Afrikasollten Hunderttausende gerettet werden.Er sei sicher, dass, noch bevor die Feuer-konferenz vorüber sei, auch Stuttgart, Ba-den-Württemberg, Deutschland, Europabrennen werden! Nach den Bildern vonwogenden Meeren „geretteter“ Afrikanerkonnte diese Ankündigung nicht dengewünschten Glauben und Jubel aus-lösen. Nach eineinhalb Stunden Veranstaltungtauchte erstmalig ein Bibelvers auf:„Adam, wo bist du?“ brüllte Bonnkewieder und wieder in den Zuschauer-raum. Die zentrale biblische Aussage, dieer nun mit großer Dramatik vortrug, dassder christliche Gott einer sei, der die Men-schen suche und retten wolle, war fürdieses Publikum, die Autorin diesesBerichts eingeschlossen, unstrittig, aberauch nicht neu. Dazu, wie die Rettung imEinzelnen vor sich geht und wie man, sogerettet, sein Leben bewältigt, gab eskeine Hinweise. Das Ausfüllen einerAntwortkarte wird wohl nicht alles lösen.Oder doch? Bonnke versprach: „Jesus iststark. Wenn er kommt, ändert sich alles.Deine Ehe wird wieder gut. Du bekommsteinen guten Job, alles wird neu. Ab heuteist Schluss mit allem, was nicht klappt!“Es folgte der Bekehrungsaufruf: Wer daswolle, solle sich jetzt melden und nachvorne kommen. Sehr zögerlich kam einekleine Schar nach vorne. Bonnke sprach

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eine Art Übergabegebet, das das ganzePublikum Satz für Satz gehorsam nach-zusprechen hatte. Er schickte die „Neu-bekehrten“ zu so genannten „Seelsorgern“in roten T-Shirts, die ihnen ein kleinesBonnke-Heft in die Hand drückten.Anschließend verkündete Bonnke, dassauch Kranke geheilt werden sollen. Heutewolle Gott insbesondere Tumore heilen.„Wer will geheilt werden?“ Zu meinergroßen Überraschung schnellten jetzt dieHände massenhaft nach oben. Zwei alteDamen, die bisher bewegungslos da ge-sessen und offenbar nur auf diesen Augen-blick gewartet hatten, streckten ihre Fin-ger kerzengerade nach oben. Aber auchviele junge, gesund aussehende Men-schen strömten nach vorne. Mindestensein Drittel des Publikums war jetzt aufeinmal unterwegs. Allerdings sah ich sel-ten hochgespannte Erwartung in den Ge-sichtern und konnte mich des Eindrucksnicht erwehren, dass dies nicht der ersteHeiler war, der von diesen Menschenaufgesucht wurde. Die Haltung, mit derviele nach vorne gingen, erschien eherpragmatisch, konsumorientiert: „Dasnimmst du jetzt auch noch mit. Vielleichthilft es ja doch. Schaden kann es jeden-falls nicht. Wenn schon die Predigt nichtso besonders war, vielleicht kann er alsHeiler doch mehr als andere.“ Bonnkeforderte auf, die Hände auf die krankeStelle zu legen. Dann betete er den Heili-gen Geist herbei und zählte viele Krank-heiten auf, die angeblich jeweils just indiesem Augenblick geheilt wurden. Sofortwurden Heilungszeugnisse eingefordertund „Geheilte“ auf die Bühne gescheucht.Die „Erfolge“ auch dieser Aktion bliebenhinter den Erwartungen zurück: Ein Knie,das sich nicht mehr biegen lassen wollte,bog sich jetzt zum Gebet. Ein jungerMann, der bei der Arbeit Rücken-schmerzen hatte, durfte die Beweglichkeitseines Rückens vorführen. Wieder wirkte

Bonnke etwas ungeduldig und genervt.Nur bei einem der „Geheilten“ fragte ernach dem Namen; nur eine, eine Süd-amerikanerin, „schaffte“ es, dem bereit-stehenden Helfer in die Arme zu sinken,nachdem Bonnke ihr, wie allen „Geheil-ten“, mit Nachdruck die Hände aufgelegthatte. Wer heute nicht gesund gewordensei, solle morgen noch einmal kommen,sagte Bonnke.Die Menschen, die ich hinterher auf derStraße und in der Straßenbahn traf, wirk-ten nicht begeistert und erfüllt. Zweijunge Frauen mit „Full-Flame“-Dauer-karten um den Hals fuhren schweigendund etwas mürrisch zu ihrem Nacht-quartier. Ob der Feuermacher, der ausAfrika angereist war, sie wohl noch inBrand gesetzt hat?

Annette Kick, Stuttgart

NEUAPOSTOLISCHE KIRCHE

Die NAK hält sich selber in Bewegung.(Letzter Bericht: 7/2007, 264ff) ZweiPresse-Mitteilungen haben in den letztenWochen für Irritationen gesorgt. Nachdemschon im vergangenen Jahr eine neu-apostolische Kirchengemeinde in eineörtliche Arbeitsgemeinschaft christlicherKirchen (ACK) der bayerischen Landes-kirche aufgenommen worden war, ge-schah dies im Oktober auch in einer wei-teren bayerischen Region, der ACKAschaffenburg. Die ökumenischen Bestre-bungen der NAK sind unübersehbar undkönnen den Eindruck erwecken, dass derSchritt von der Sondergemeinschaft zurFreikirche unmittelbar bevorstehe. Nach-dem im Januar 2006 der StammapostelLeber in seiner Ulster-Erklärung die Taufein einer anderen christlichen Kirche gänz-lich anerkannt hat, wurde der Weg in dieÖkumene erleichtert. Trinitarisch vollzo-gene Taufen anderer Kirchen werden

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heute ohne Bestätigung durch einenApostel anerkannt. Dennoch darf nichtübersehen werden, dass die meisten Lan-deskirchen und die EKD zunächst dieKlärung einiger zentraler theologischerDifferenzen erwarten (Apostelamt, Ver-siegelung, Naherwartung), bevor hier einweiterer gemeinsamer Weg möglich wird.Für Aufregung sorgte die Meldung, dassdie neuapostolische Gebietskirche Berlin-Brandenburg im Spätsommer zwei ihrerGotteshäuser an muslimische Kulturver-eine verkauft hat. Bereits im April war derPresse zu entnehmen, dass hier wegenMitgliederrückgangs neun Gemeinde-räume zum Verkauf stünden. Prompt ver-breiteten halbinformierte Journalisten,dass immer mehr Kirchen und Freikirchenin Moscheen umgewandelt würden.Während die katholische und die evange-lische Kirche sofort erklärten, warum diesprinzipiell unmöglich ist, erläuterte dieNeuapostolische Kirche Berlin-Branden-burg erst Mitte Oktober in einer Presseer-klärung ihre Gründe. Dabei hoben sie aufdie Unterschiede zwischen repräsentati-ven christlichen Sakralgebäuden und deneher funktionalen Gemeindesälen ab.Natürlich ist die zivilreligiöse Wahrneh-mung einer mittelalterlichen Kirche aufdem Marktplatz eine andere als die einesschlichten Zweckbaus einer christlichenSondergemeinschaft. Als doch etwas zugutgläubig erscheint die Rechtfertigungdes Verkaufs mit dem Verweis darauf, dasses sich um muslimische „Kulturvereine“handelt, sind doch im muslimischenGlauben Religion, Kultur und Politik aufsEngste miteinander verwoben. Kritikerwiesen zudem darauf hin, dass in derfrüheren Auflage des neuapostolischenKatechismusbüchleins „Fragen und Ant-worten“ aus dem Jahr 1981 der Islam als„eine scharfe Zuchtrute für die lau gewor-denen christlichen Völker Asiens und Eu-ropas“ charakterisiert wurde, der seine

Lehre mit Feuer und Schwert verbreitetund das Christentum aus Asien verdrängthabe. Diese Passage ist zwar in der ak-tuellen Fassung von 1992 verschwunden,dürfte aber in den Köpfen vieler Mit-glieder noch präsent sein. Auf die grund-sätzlich überarbeitete Fassung der Glau-bensgrundlagen, die für 2008 angekün-digt ist, darf man sehr gespannt sein – undauf den wohl noch mühevollen undschwierigen Weg in die Ökumene.

Michael Utsch

NEUE OFFENBARUNGEN

Die Holofeeling-Neuoffenbarung. SeitBeginn des Jahrtausends präsentiert sichim Internet die Seite www.holofeeling.de.Hinter dieser griechisch-englischen Wort-schöpfung, die sich aus holon (Ganzes,das Teil eines anderen ist) und feeling (dasFühlen) zusammensetzt, verbirgt sich eineumfangreiche „Theorie für ALLES“, in der„ALLE religiösen und naturwissenschaft-lichen Wissens- und Wahrnehmungsele-mente Deiner Menschheit widerspruchs-los eine mathematische Synthese einge-hen“ (Holofeeling, Bd. 3, 581).Als Übermittler dieser mit einem hohenEigenanspruch versehenen Neuoffenba-rung fungiert der inzwischen fünfzig-jährige Udo Petscher aus Weißenburg/Bayern. Im Internet stehen inzwischenknapp 2 000 Seiten Holofeeling-Materialzur Verfügung, dessen Lektüre eine Her-ausforderung in des Wortes umfassenderBedeutung darstellt. Petscher äußert sichzu Mathematik, Physik, Sprachwissen-schaft, Religion und Mythologie in einerWeise, die Erstaunen, Abwehr, Entrüstung,aber auch Bewunderung hervorrufenkann. Die Texte sind prall gefüllt mit na-turwissenschaftlichen, philosophischenund judaistischen Informationen. Sie die-nen Petscher als Vorlage zur Konzipierung

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eines eigenen Welterklärungsmodells, dasvon einem dezidiert idealistischen Stand-punkt ausgeht, der an Berkeley und denamerikanischen Transzendentalismus er-innert, aber auch Anklänge an den New-Age-Holismus bietet. Eigentümlich ist dieTranskribierung deutscher Worte in dasHebräische und die darauf folgende kab-balistische Aufschlüsselung der Begriffe.Dadurch ergeben sich völlig neue Sinn-kontexte, die durchaus plausibel sind,wiewohl sie von der gebräuchlichenWortbedeutung meist stark abweichen.Bis dahin könnte das Holofeeling-Projektals abwechslungsreiches Sprachspiel gel-ten, wenn Udo Petscher nicht mit dem ho-hen Anspruch aufträte, all dieses Wissenhabe ihm, dem Mann mit Volksschulbil-dung und Elektrikerlehre, Gott selbst inden Jahren 1996 bis 1999 offenbart. Einkurzer Abschnitt aus dem zweiten Holo-feeling-Band mag das Selbstbild Petschersverdeutlichen, wenn er Gott sagen lässt:„Er (Udo Petscher, R. B.) trägt ‚in sich’mein gesamtes ‚apodiktisches Wissen’. Erist mein Sohn! Er ist es, der von mir ‚dasgöttliche Siegel’ erhielt. Er ist der ‚einzigwirkliche Menschensohn’ in der von Dirwahrgenommenen Welt, in der es – wieschon gesagt – von Anti-Christen und‚falschen Messiassen’ nur so wimmelt.Würden sich in Deiner Welt alle Gelehr-ten ‚zusammen’ tun, besäßen sie nichtannähernd seine ‚Weisheit’.“ (Holofee-ling, Bd. 2, 431)Petscher ist sich dessen bewusst, dass sol-cherart maßlose Selbstqualifizierung Un-mut hervorruft. Er greift den nahe liegen-den Verdacht der paranoiden Größenideeauf, wenn er sich in häufiger Folge zumVerrücktsein im Sinne des Abgerücktseinsvon einer falschen Wirklichkeit äußertund somit dem Argument die Spitze abzu-biegen versucht. Den geistreichen Holofeeling-Textenwürde es nicht gerecht, sie durch eine Pa-

thologisierung ihres Schreibers zu wider-legen. Sie verdienen eine ernsthafte Be-trachtung, die allerdings noch aussteht.Dazu gehören Kontakte mit Udo Petscherselbst und seinem kleinen Anhängerkreis,der sich bei ihm zu Hause oder einmaljährlich in Almena bei Minden anlässlicheiner Tagung versammelt. Unklar bleibtdie Wirkung, die Udo Petscher auf seineAnhängerschaft ausübt. Er reklamiert im-mer wieder, weder Guru zu sein nocheine Religion stiften zu wollen und erstrecht nicht kommerzielle Interessen zuhaben.

Robert Berghausen, Köln

IN EIGENER SACHE

Joachim Müller verstorben. Am 1. Okto-ber 2007 verstarb unser katholischer Kol-lege Pfarrer Joachim Müller nach schwe-rer Krankheit im Alter von 55 Jahren. Von 1982 bis 2007 war er verantwortlichfür die Arbeitsgruppe „Neue religiöse Bewegungen“, die er im Auftrag derSchweizer Bischofskonferenz bis zu sei-nem Tode mit Kompetenz und großem En-gagement leitete. Neben seiner Tätigkeitals Präsident der Arbeitsgruppe nahm erzahlreiche weitere Aufgaben als Pfarrer,Religionslehrer (in Heerbrugg und St. Gal-len) und Ökumenebeauftragter wahr. Über viele Jahre gab es mit ihm vonSeiten der Evangelischen Zentralstelle fürWeltanschauungsfragen (EZW) wie auchvon Seiten landeskirchlicher Beauftragtereinen regen Austausch und eine ver-trauensvolle und überaus fruchtbare Zu-sammenarbeit, die ihren Ausdruck fand inPublikationen („Lexikon neuer religiöserGruppen, Szenen und Weltanschauun-gen“, Buchreihe „Weltanschauungen imGespräch“), in Tagungen, in der Mit-wirkung bei Kirchen- und Katholikenta-gen, in regelmäßigen Kontakten und

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einem kontinuierlichen Informationsaus-tausch.Joachim Müller war ein aufmerksamerBeobachter und ein exzellenter Kennerder religiösen und weltanschaulichenLandschaft der Schweiz und Westeuropas.Ihm ging es in seiner Arbeit gleicher-maßen um die Wahrnehmung des frem-den wie des eigenen Glaubens. Er standfür eine Apologetik, die nicht ausgrenzen,sondern verstehen wollte. Als „religiöserFremdenführer“ hat er sich selbst einmalbezeichnet. Zugleich war er darauf be-dacht, zu sagen, wo er selbst steht. Vertreterinnen und Vertretern anderer reli-giöser Überzeugungen begegnete er mitToleranz und Standfestigkeit, mit Respektund mit dem Mut zur Unterscheidung. Inseinen Texten verband sich religionswis-senschaftliche Kompetenz mit theologi-scher Urteilsfähigkeit. In Dankbarkeitgedenken wir unseres verstorbenen Kolle-gen. Seine Stimme wird uns fehlen. Un-sere Anteilnahme gilt seinen Angehörigen.

Reinhard Hempelmann

Hansjörg Schmid, Andreas Renz, JuttaSperber, Duran Terzi (Hg.), Identitätdurch Differenz? Wechselseitige Abgren-zungen in Christentum und Islam (Theolo-gisches Forum Christentum – Islam), Ver-lag Friedrich Pustet, Regensburg 2007,262 Seiten, 19,90 Euro.

Der Band dokumentiert die vierte Tagungin der Reihe des Theologischen ForumsChristentum – Islam, die im März 2006 inder Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart stattfand und von einem katho-lisch-evangelisch-muslimischen Team vor-bereitet und durchgeführt wurde. Die

Tagung lebte, programmatisch eingeleitetdurch ein Grundsatzreferat von JacquesWaardenburg, von der Einsicht, dass„Christentum“ und „Islam“ je in sich im-mer wieder Konstruktionen darstellen undnur in Menschen anzutreffen sind, nichtals abstrakte korporative Größen. Fernerwurde deutlich, dass auch Identitäten, Al-teritäten und entsprechende Abgrenzun-gen je neu inszenierte Vorgänge darstellen,die nicht an ontologischen Gegebenheitenkonstituiert werden.In einer Reihe von historisch orientiertenBeiträgen wird deutlich, dass sowohl Iden-titäten als auch Abgrenzungen nur in ihrenhistorischen Kontexten und Bedingtheitenverstanden werden können: Für denchristlichen Part zeichnet dies im Gesamt-überblick Olaf Schumann (Hamburg)nach, von Johannes von Nikiu (um 700)über Johannes von Damaskus und die Re-formation (mit einer kleinen EhrenrettungLuthers, der bei aller Polemik gegen denKoran und die Osmanen dem Islam undMuhammad immerhin mehr Ehre angedei-hen ließ als der Damaszener und PhilippMelanchthon, 85-87), Lessing, die Auf-klärung und das 2. Vatikanum (Nostra ae-tate) bis hin zu den ambivalenten Äuße-rungen Hendrik Kraemers. Das Pendantaus muslimischer Sicht bietet der Münste-raner Professor für Islamische Theologie,Muhammad Kalisch, der die theologi-schen und rechtlichen Koordinaten für dieUnterscheidung zwischen Muslimen undNichtmuslimen durch die Geschichte hin-durch absteckt. Eines der mutmaßlichwichtigsten Daten in diesem Umfeld, dieGrenzziehung zwischen dar al-islam unddar al-harb, ist laut Kalisch „eine reineKonstruktion der islamischen Juristen“, siesei weder aus dem Koran noch aus derSunna ableitbar und könne leicht in Fragegestellt und ersetzt werden (65).Peter Antes weist überzeugend nach, dassdie Kreuzzüge ein Unternehmen des Paps-

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tes ohne konkrete Absprachen mit demOströmischen Reich waren. Seine Spitzen-these lautet: „Die Kreuzzüge sind ein west-europäisches Unternehmen, das gegenseine eigene Intention durch islamischenEinfluss zur Kultivierung und Bildung derChristen positiv beitrug und daher vor Ortoft viel toleranter gewesen ist ..., als dies inder Theorie vorgesehen war“ (157). ÖmerÖzsoy kommt in seinen bemerkenswertenAusführungen über die „Leute der Schrift“und die „Ungläubigen“ auf der Basis vonphilologischen Beobachtungen an derWortwurzel kafara und am Wort islam zudem Schluss, dass kafara/kufr weniger„ungläubig“ als vielmehr „undankbar“heiße und insofern ein auch Muslime be-treffender Ausdruck sein könne, währendislam, wenn es denn „Ergebenheit Gottgegenüber“ heiße, auch Nichtmuslimeeinschließen könne, womit bisher als ein-deutig betrachtete Abgrenzungslinien auf-geweicht würden. In Ergänzung zu den Ausführungen Schu-manns bietet Stefan Schreiner weitere As-pekte der christlichen Reaktion auf undPolemik gegen den Islam, innerhalb dererinsbesondere Johannes von Damaskus tra-ditionsbildend gewesen ist. Anders ver-hielt es sich mit jüdischen Rezeptionen,die dem Auftreten Muhammads auch mes-sianische Hoffnungselemente abgewinnenkonnten. In Beiträgen über fundamentalis-tische Abgrenzungsdiskurse beider Seitenwertet für den christlichen Part Gritt Klink-hammer Material aus der Partei BibeltreuerChristen und der Christlichen Mitte aus;Bekir Agai leistet dies für fundamentalisti-sche Autoren auf islamischer Seite. AssaadElias Kattan greift in seinem Text noch ein-mal die Dynamik von Unterschied, Ab-grenzung und Identität auf und warnt vorder ideologisierenden Funktion von Ze-mentierungsprozessen der Unterschiedevon Religionen – während zugleich dieUnterschiede ihr Recht behalten sollen.

Die zusammenfassende Schlussreflexionvon Andreas Renz, Klaus Hock und Abdul-lah Takim zeichnet den inhaltlichen Ver-lauf der Tagung (und des Tagungsbandes)nach und bietet eine abschließende Aus-wertung. Das Buch bietet – wie bereits die Vor-gängerbände der genannten StuttgarterTagungsreihe – eine Fülle von Material aufhohem Niveau zum Thema Identität undAbgrenzung der beiden großen religiösenTraditionen und ist besonders in der Kom-bination von Vorträgen und Erwiderungen/Korreferaten eine gewinnbringende Lek-türe, die nur empfohlen werden kann.

Ulrich Dehn, Hamburg

Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Ull-stein, Berlin 2007, 575 Seiten, 22,90Euro.

Richard Dawkins ist ein militanter Atheist,kein dialogischer Atheist wie Milan Ma-chovec und andere. Sein Atheismus istkein seriöser, sondern ein polemischerAtheismus, weswegen eine sachliche Aus-einandersetzung mit ihm so schwerfällt.Mit missionarischem Eifer will er Men-schen von seinem Atheismus überzeugen,aber nicht eigentlich mit den Religioneneinen Dialog führen. Die Schnellschuss-kritik, die man auf fast 600 Seiten übersich ergehen lassen muss, nervt den Leser.Vieles in diesem wütend hingeknalltenBuch stammt aus der Mottenkiste derGottlosenbewegung von anno dazumal.Dabei ist der Autor ein brillanter Feuer-werker, dessen Sarkasmus freilich keinenRespekt hat vor dem, was anderen heiligist.Doch tun wir den Autor nicht als läppi-schen Papierdrachen ab, wie das viele Re-zensenten machten. Ernst zu nehmen sindauf jeden Fall drei Ansätze, die man indem unentwirrbaren Knäuel von Assozia-

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tionen erkennen kann: der „Naturalis-mus“, der die Wirklichkeit auf das Sicht-bare und Beobachtbare beschränkt, dieThese von der „Gestaltung“ der Welt, diezu ihrer Erklärung keines „Gestalters“ be-darf, sowie die These, dass die Religionnicht „Moral“ in die Welt brachte, son-dern „zur Unmoral führte“.Der „Naturalist“ Dawkins meint: „EinAtheist ... oder Naturalist ... vertritt ... dieAnsicht, dass es nichts außerhalb dernatürlichen, physikalischen Welt gibt,keine übernatürliche Intelligenz ..., keineSeele ...“ Wird aber die Wirklichkeit durchdiesen Naturalismus nicht in unzulässigerWeise verkürzt, wenn man nur dem Sicht-baren, Greifbaren, Messbaren und Wäg-baren eine Realität zumisst? Vieles in un-serem Leben ist nicht sichtbar, greifbar,messbar und wägbar und trotzdem realwie zum Beispiel die Liebe, die Treue, dasGewissen und auch Gott. Der Mensch hataußer dem rechnenden Verstand noch an-dere Wahrnehmungsweisen für die Wirk-lichkeit: das Fühlen, Ahnen, Hoffen,Glauben, Staunen, Danken, Betroffensein,Überwältigtwerden, Vertrauen, Wagen,das intuitive Erleben. Wirklichkeit würdeverarmen, hätte sie nicht diese über diephysische Welt hinausgehende Dimen-sion der Erfahrung, hätte sie nur die eineDimension des Beobachtens – wie es einflaches Wirklichkeitsverständnis will. DieWirklichkeit ist nicht nur eindimensional,sie hat zwei Dimensionen. Das forschen-de Auge des Augenarztes sieht ein Augeanders als das Auge des Liebenden. Dereine katalogisiert die Blume botanisch,der andere erlebt sie, freut sich an ihr, siespricht zu ihm. Der Glaube an Gott ist einWagnis (Mt 14,28ff). Wer nichts wagt undauf Nummer sicher gehen will, kann nichtglauben, weder im zwischenmenschli-chen noch im religiösen Bereich. Der Na-turwissenschaftler Dawkins hat mit sei-nem platten Naturalismus keinen Blick für

diese zweite Dimension, die andereNaturwissenschaftler sehr wohl kennen,und er qualifiziert sie als „übernatürlichenWahn“ ab.Dawkins ist der Ansicht, die Evolution derWelt gestalte sich selbst, sie bedürfekeines Evolutors, der sie gestaltet hat. Wirbrauchten keinen „Himmelshaken“ son-dern einen „Kran“, wenn wir die Evolu-tion erklären wollen. Gewiss, nach derEvolutionstheorie hat sich die Welt selbstgeschaffen, ihre Entwicklung reguliert sichselbst. Aber woher stammen die Gesetze,nach denen die Evolution und ihre Selbst-regulierung verlaufen? Vom Menschen,der das Endprodukt der Evolution ist, kön-nen sie nicht stammen. Von irgendwohermüssen sie aber kommen. Aus nichts wirdnichts. Es gibt moderne Physiker, die dieGesetze, nach denen die Evolution ver-läuft, auf einen planenden und organisie-renden Geist zurückführen wie M. Planck,A. Einstein, H. Eddington, E. Schrödinger,H. P. Dürr, P. Davies und andere. NachEinstein, den Dawkins als Eideshelfer be-müht, schließen sich Naturwissenschaftund Religion nicht aus, sondern sie er-gänzen sich. Einstein meint: „Naturwis-senschaft ohne Religion ist lahm, Religionohne Naturwissenschaft ist blind.“ Erbekennt sich zu einer „kosmischen Reli-giosität“ und meint: „Das Individuumfühlt die Nichtigkeit menschlicher Wün-sche und Ziele und die Erhabenheit undwunderbare Ordnung, welche sich in derNatur sowie in der Welt des Gedankensoffenbart“. Er nennt diese wunderbareOrdnung „Gott“.Dawkins Hauptthese besteht in der Aus-sage, dass Religion den Menschen nichtmoralischer macht, sondern zur „Un-moral“ führt, und dass auch ein Atheist„moralisch sein kann“. „Stellen wir uns ...eine Welt vor, in der es keine Religion gibt– keine Selbstmordattentäter, keinen 11.September ..., keine Kreuzzüge, keine

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Hexenverbrennung ..., keine Verfolgungvon Juden als Christusmörder“. Vieles vondem, was Dawkins zu dieser These sagt,macht betroffen, und die bemühten Ge-genbeweise mancher christlichen Rezen-senten, die jüdisch-christliche Religionhätte doch in die Welt die Zehn Geboteund die Nächstenliebe gebracht, verblas-sen demgegenüber. Eher sticht das Gegen-argument, dass nicht nur die Religionen,sondern auch der Atheismus zur Unmoralführte, wie Stalin, Mao, Pol Pot und an-dere zeigen. Im Grunde genommen kannkeine Religion und keine Weltanschauungbestehen, wenn man sie an ihren Folgenmisst. In seiner These, dass Religion zurUnmoral führe, übersieht Dawkins, dassReligion keine Moral ist, sondern das, wasmir einen letzten Halt im Leben und imSterben gibt.

Horst Georg Pöhlmann, Wallenhorst

Bruno Deckert, All along the Watch-tower. Eine psychoimmunologischeStudie zu den Zeugen Jehovas, Vanden-hoeck & Ruprecht (V&R unipress), Göttin-gen 2007, 368 Seiten, 49,90 Euro.

Unter streng wissenschaftlichem Aspektmag man Vorbehalte hegen, wenn einehemaliger Sektenanhänger über dieGruppe forscht, der er einst angehört hat.Denn es stellt sich natürlich die Frage, obdie Objektivität nicht von eventuellenemotionalen und psychischen Implikatio-nen beeinträchtigt wird. Dem ZürcherPsychologen Bruno Deckert, ehemaligerZeuge Jehovas, ist es in seiner „psychoim-munologischen Studie“ über die Wacht-turm-Gesellschaft jedoch sehr gut gelun-gen, diesen Spagat auszuhalten. Das istkeine geringe Leistung, denn Deckert warbei den Zeugen Jehovas nicht einfach „ir-gendwer“. Mit erst 24 Jahren war er zueinem „Ältesten“ ernannt worden und be-

saß damit ebenso Verantwortung wiePrestige. Trotzdem – oder vielleicht gera-de deshalb? – stieg Deckert nach fünfzehnJahren aus und hat nun seine Vergangen-heit zum Thema einer Dissertation an derPhilosophisch-Historischen Fakultät derUniversität Basel gemacht.Das fast vierhundert Seiten starke Werkgliedert sich in vier Teile: Nach der Dar-stellung des theoretischen Bezugsrahmenserläutert Deckert im ersten Teil die Pro-zesse und Strategien der strategisch-logi-schen, der psychischen und der sozialenImmunisierung, wobei er auch auf denproblematisch gewordenen Begriff „Sekte“eingeht. Dankenswerterweise gehört derAutor nicht zu jenen, die auf den Begriffaus Bequemlichkeits- oder anderen Grün-den verzichten wollen: „Auch wenn Sekte(...) ein unklarer, streitbarer und proble-matischer Begriff bleibt, bringt ein Ver-zicht auf dieses Wort nicht viel. Im Ge-genteil: Wenn es als Hinweis auf ein Kon-flikt- und Gruppenphänomen gelesenwird, kann es die theoretische und ge-sellschaftliche Diskussion weiterhin be-fruchten“ (88).Im zweiten Teil wendet sich Deckert derpraktischen Ebene zu und zeigt nacheinem kurzen historischen Abriss, was Im-munisierung im Falle der Zeugen Jehovaskonkret bedeutet. Hier schöpft der Autorwahrscheinlich aus einem immensenSchatz eigener Erfahrung. Dennoch sindvor allem schriftliche Äußerungen derWachtturm-Gesellschaft Basis seiner Aus-führungen. Es ist ebenso eindrücklich wiebedrückend, wenn man etwa liest, wiebei den Zeugen Jehovas mit der Wahrheitjongliert wird. „Dogmatische Inhalte er-scheinen einmal so, einmal anders, jenach Situation und Opportunität.“ So be-streite die Wachtturm-Gesellschaft nachaußen vehement, dass ihrer Ansicht nachnur Zeugen Jehovas gerettet würden. In-tern wird jedoch nach wie vor die Parole

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ausgegeben, dass nur Zeugen Jehovas aufRettung hoffen dürften (147). Deutlichwird, dass es sich bei den Zeugen Jehovasim Grunde um eine totalitäre Organisa-tion handelt, die danach strebt, praktischalle relevanten Lebensbereiche zu kon-trollieren und schon geringfügige Formender Devianz im Keim zu ersticken, wofürnicht zuletzt ein perfides Denunzianten-tum, die so genannte „Meldepflicht“, sor-gen soll.Der dritte Teil – Deckert nennt ihn „quali-tative Studie“ – besteht aus der Darstel-lung von insgesamt 41 Interviews, die derAutor mit ehemaligen und noch aktivenZeugen Jehovas geführt hat. Diese Schil-derungen illustrieren wiederum auf einesehr eindrückliche Weise, unter welch im-mensem Druck viele Zeugen Jehovas le-ben müssen, was bisweilen dazu führt,dass einige sich geradezu gezwungen se-hen, ein Doppelleben zu führen – eindemonstrativ frommes für die Gemein-schaft und ein deutlich selbstbestimmteresund freieres in den eigenen vier Wänden.Deckert betont, dass es sich dabei nicht„um ein singuläres Phänomen“ handle(279). Als problematisch erweist sich auchimmer wieder, dass die Endzeitdrohungenihren stabilisierenden Effekt verlieren undsich damit eine frustrierende Langeweilebreitmachen kann. „Wenn Du von Kin-desbeinen an hörst, das Ende kommt, eskommt dann, es kommt bald, verliert es ir-gendwann doch an Aktualität. Vielmehrrichtest Du Dich darauf ein, dass Du haltein Leben lang in die Versammlung und inden Predigtdienst gehst, ob das Ende kommtoder nicht. Vielleicht ist das auch ein Grundfür die Frustration. (...) Es war keine Begeis-terung, keine Freude mehr, nichts derglei-chen, es war reine Routine“ (295).Das Buch endet im vierten Teil mit einerBilanz. Deckert vertritt dabei u. a. dieThese, dass die Zeugen Jehovas „übervielfältige Instrumente und Maßnahmen

zur Abwehr und Bewältigung von Ein-flüssen“ verfügen, „die das Glaubenssys-tem in Frage stellen“ (339). Diese Immu-nisierung bestimme „das Verhalten aktiverZeugen Jehovas maßgeblich, aber nichtumfassend“ (347; Stichwort „Doppel-leben“, s.o.). Dass es so weit oder sogarzum Ausstieg kommen kann, hängt mitder Variablen der „persönlichkeitsspezifi-schen Disposition“ jedes einzelnen Mit-glieds zusammen – sie vertieft zu unter-suchen hätte aber sicherlich den Rahmenvon Deckerts Arbeit gesprengt.Festzuhalten bleibt, dass dem Autor einewissenschaftlich solide und gleichzeitigspannende Darstellung der Psychodyna-mik innerhalb der Zeugen Jehovas gelun-gen ist, die ebenso faszinierende wie be-rührende Innenansichten und Einsichtenbietet. Schon von daher sollte das Buchzur Pflichtlektüre für die Beratungspraxisgehören.

Christian Ruch, Chur/Schweiz

Rudolf Simek, Lexikon der germanischenMythologie, Kröner Verlag (Kröners Ta-schenausgabe, Bd. 368), 3., völlig überar-beitete Auflage, Stuttgart 2006, 573 Sei-ten, 22,00 Euro.

Vor rund zehn Jahren erschien die letzteAuflage dieses Standardwerkes. Seitherhaben sich neue Entwicklungen in derForschung zur germanischen Mythologieund Religionsgeschichte ergeben, denendas Lexikon mit der Neuauflage Rech-nung tragen möchte. Davon zeugen die150 Neueinträge im 65 Seiten umfassen-den Literaturverzeichnis und nicht zuletztdie grundlegende Überarbeitung und Er-weiterung der Artikel, die den neuestenForschungsstand wiedergeben.Der Verfasser Rudolf Simek, Professor fürÄltere deutsche und skandinavische Lite-ratur an der Universität Bonn, hat bereits

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eine Vielzahl von Veröffentlichungen zurReligionsgeschichte und zur Mythologieder Germanen vorgelegt. Unter germani-scher Mythologie begreift er die „Gesamt-heit der Glaubensvorstellungen des ger-manischen Heidentums“. Dabei geht esnicht nur um Göttergeschichten, sondernauch um Aspekte der „niederen Mytholo-gie“, wie z. B. Alfen, Zwerge, Riesen, mitden Entstehungsmythen des Menschen,Schicksal, Kult, Magie, Tod und Jenseits.In der Einleitung weist Simek bereits aufdie äußerst dürftige Quellenlage hin, sodass die Forschung im Blick auf die Reli-gion der germanischen Eisenzeit (500 v.bis 400 n. Chr.) weitgehend im Dunkelntappt. Die rund 1 800 Einträge stützensich daher auf die Überlieferung in Sach-funden, Bilddarstellungen und schrift-lichen Quellen, zumeist aus skandinavi-scher Tradition. Die vorliegende, dritte Auflage bietetzahlreiche Detailinformationen. Nicht zu-letzt die wissenschaftlich fundierte undallgemein verständliche Darstellung machtdas Lexikon zu einem unentbehrlichenHilfsmittel und Nachschlagewerk, dasauch für die kritische Auseinandersetzungmit dem neugermanischen Heidentumoder mit Gruppen, die sich auf ein „tradi-tionelles“ Heidentum berufen, vongroßem Wert sein dürfte.

Matthias Pöhlmann

Robert Berghausen, geb. 1952, Religions-wissenschaftler, wohnt in Köln.

Prof. Dr. theol. Hermann Brandt, geb.1940, em. Professor für Missions- und Reli-gionswissenschaft an der TheologischenFakultät der Universität Erlangen-Nürn-berg.

Prof. Dr. theol. Ulrich Dehn, geb. 1954,Professor für Missions-, Ökumene- und Re-ligionswissenschaften an der UniversitätHamburg.

Dr. theol. Andreas Fincke, geb. 1959, Pfar-rer, von 1992-2007 EZW-Referent fürchristliche Sondergemeinschaften; seit2007 theologischer Referent im Konsisto-rium der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz mitSitz in Berlin.

Dr. theol. Reinhard Hempelmann, geb.1953, Pfarrer, Leiter der EZW, zuständigfür Grundsatzfragen, Strömungen des sä-kularen und religiösen Zeitgeistes, pfingst-lerische und charismatische Gruppen.

Annette Kick, geb. 1955, Pfarrerin, Weltan-schauungsbeauftragte der Ev. Landeskirchein Württemberg, Stuttgart.

Dr. Silvana Lindner, geb. 1974. Wissen-schaftliche Mitarbeiterin/Referentin fürTheologie und Religionswissenschaft inder Forschungsstätte der EvangelischenStudiengemeinschaft Heidelberg. Arbeits-und Forschungsschwerpunkte u.a.: Reli-gion und Konflikt, interkultureller und in-terreligiöser Dialog, Migration/Integration.

Prof. Dr. Dr. h.c. Horst Georg Pöhlmann,geb. 1933, em. Professor für SystematischeTheologie an der Universität Osnabrück,bekannter Autor zahlreicher theologischerBücher. Lebt in Wallenhorst bei Osna-brück.

Dr. theol. Matthias Pöhlmann, geb. 1963,Pfarrer, EZW-Referent für Esoterik, Okkul-tismus, Spiritismus.

Dr. phil. Christian Ruch, geb. 1968, Histo-riker, Mitglied der Katholischen Arbeits-gruppe „Neue religiöse Bewegungen“,Chur/Schweiz.

Dr. phil. Michael Utsch, geb. 1960, Psy-chologe und Psychotherapeut, EZW-Refe-rent für christliche Sondergemeinschaften,Psychoszene und Scientology.

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AUTOREN

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Panorama d er neuen Religiosität Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts Herausgegeben von Reinhard Hempelmann, Ulrich Dehn, Andreas Fincke, Michael Nüchtern, Matthias Pöhlmann, Hans-Jürgen Ruppert, Michael Utsch im Auftrag der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) 2. überarbeitete Auflage / 688 Seiten / gebunden € 29,95 [D] / € 30,80 [A] / SFr 52,90 ISBN 3-579-02320-9 Religiöse Themen in Werbung, Kino und Kunst, Heilsversprechen heutiger Psycho-szenen, weltanschauliche Strömungen wie Anthroposophie und Jugendokkultismus, die Offerten moderner Esoterik, Religionsgemein-schaften wie die Zeugen Jehovas und die Mormonen, die sich als dezidiertes Gegenüber der christlichen Kirchen verstehen – welche Inhalte, Lehren und Konflikte verbergen sich hinter den verschiedenen Ausdrucksformen eines neu erwachten Interesses an Spiritualität und Religiosität? Dieses jetzt aktualisierte Grundlagenwerk versammelt fundierte Kenntnisse und wichtige Informationen über die unterschiedlichen Gruppierungen, Bewegungen und Erschei-nungsformen neuer Religiosität. Zusätzlich liefert es Beurteilungskriterien und Hilfen zur Auseinandersetzung. »Dies ist mit Abstand das beste und dichteste Werk über die esoterischen, charismatischen und therapeutischen Gruppen sowie neu-religiösen Phänomene unserer Zeit.« NÜRNBERGER ZEITUNG

Praxisnah. Wegweisend. Aktuell.

G ü t e r s l o h e r V e r l a g s h a u s. D e m L e b e n v e r t r a u e n

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Alle EZW-Texte sind per Abonnement oder im Einzelbezug zu beziehen. Wenden Sie sich bei Interesse bitte schriftlich (EZW, Auguststraße 80, 10117 Berlin), per Fax (0 30 / 2 83 95-2 12) oder per Mail ([email protected]) an uns. Weitere Informationen finden Sie unter: www.ezw-berlin.de.

Johannes Kandel / Reinhard Hempelmann (Hg.)Problemfelder im christlich-muslimischen DialogDie EKD-Handreichung „Klarheit und gute Nachbarschaft“in der DiskussionEZW-Texte 194, Berlin 2007, 44 Seiten

Aus dem Inhalt: Koordinierungsrat der Muslime (KRM)Profilierung auf Kosten der MuslimeStellungnahme des Koordinierungsrats der Muslime (KRM)zur Handreichung "Klarheit und gute Nachbarschaft" derEvangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Johannes KandelProfilierung auf Kosten der Muslime?Anmerkungen zur Stellungnahme des "Koordinierungsratsder Muslime" (KRM) zur Handreichung der EKD "Klarheitund gute Nachbarschaft"

Zum Autor: Dr. phil. Johannes Kandel, geb. 1950, Studiumder Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie, Leiterdes Referates Interkultureller Dialog der Politischen Akade-mie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin.

Hansjörg HemmingerMit der Bibel gegen die EvolutionKreationismus und „intelligentes Design“ – kritisch betrach-tetEZW-Texte 195, Berlin 2007, 90 Seiten

Aus dem Inhalt:I. Naturwissenschaft und Kreationismus: Charles Darwin unddie Kritik – Evolutionsbiologie heute – Die Geschichte desLebens – Logik und Genetik – Selektion funktioniert – wasbeweist das? – II. Wissenschaft und Gegenwissenschaft:Kreationismus in vielen Formen – Bemängeln statt beweisen– Fossilien ohne Erklärung – Die Art und der Grundtyp – Cal-vinball – III. Intelligentes Design: Sehnsucht nach einer Weltmit Zweck und Ziel: Intelligentes Design und intelligente Po-litik – Das Argument für intelligentes Design – Dembskiskontingente, komplexe und spezifizierte Information – Got-tesbeweis aus der Natur – Zufall oder Schöpfung? – IV. Einpädagogischer Nachtrag: Entsteht das Wetter zufällig, oderkommt es von Gott?

Zum Autor: Dr. rer. nat. habil. Hansjörg Hemminger, geb.1948, Weltanschauungsbeauftragter der Evangelischen Lan-deskirche in Württemberg, Stuttgart.

NEUE EZW-TEXTE

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Herausgegeben von der Evangelischen Zentralstellefür Weltanschauungsfragen (EZW), einer Einrichtungder Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),im EKD Verlag Hannover.

Anschrift: Auguststraße 80, 10117 Berlin Telefon (0 30) 2 83 95-2 11, Fax (0 30) 2 83 95-2 12Internet: www.ezw-berlin.deE-Mail: [email protected]

Redaktion: Matthias Pöhlmann, Carmen Schäfer, Ulrike LiebauE-Mail: [email protected]

Für den Inhalt der abgedruckten Artikel tragen die jeweiligen Autoren die Verantwortung. Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausge-ber wieder.

Verlag: EKD Verlag, Herrenhäuser Straße 12,30419 Hannover, Telefon (0511) 2796-0,EKK, Konto 660000, BLZ 25060701.

Anzeigen und Werbebeilagen: AnzeigengemeinschaftSüd, Augustenstraße 124, 70197 Stuttgart,Postfach 100253, 70002 Stuttgart, Telefon (0711) 60100-66, Telefax (07 11) 60100-76. Verantwortl. für den Anzeigenteil: Wolfgang Schmoll. Es gilt die Preisliste Nr.21 vom 1.1.2007.

Bezugspreis: jährlich € 30,– einschl. Zustellgebühr.Erscheint monatlich. Einzelnummer € 2,50 zuzügl.Bearbeitungsgebühr für Einzelversand. Abbestellungensind nur mit einer Frist von 6 Wochen zum Jahresendemöglich. – Alle Rechte vorbehalten.

Bei Abonnementwunsch, Adressenänderungen, Abbe-stellungen wenden Sie sich bitte an die EZW.

Druck: Maisch & Queck, Gerlingen/Stuttgart.

IMPRESSUM

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MAT

ERIA

LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

70. Jahrgang 12/07

ISSN

072

1-24

02 H

542

26

Regelmäßig zu Weihnachten:Abgesänge auf die Kirchen

Vor 70 Jahren:Schließung der „Apologetischen Centrale“

„The Sound of Silence“Zwischen Prophetie und Wellness

Ist interreligiöser Dialogzur Konfliktbearbeitung geeignet?

Reinhard Bonnke in Stuttgart

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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