14
1 abgetaucht Auf und Nieder – Riffe in der Tiefenzeit xy

082-095_Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

Embed Size (px)

DESCRIPTION

»abgetaucht«Begleitbuch zur Sonderausstellung zum internationalen Jahr des Riffes 2008Herausgeber:Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität zu Berlin,Reinhold Leinfelder, Georg Heiss, Uwe MoldrzykRedaktion:Georg Heiss, Uwe MoldrzykGestaltung und Satz: Nils HoffKonradin Verlag Rob. Kohlhammer GmbH, Ernst Mey-Strasse 870771 Leinfelden-EchterdingenDas Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Herausgebers unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem PapierUmschlaggestaltung: Nils HoffDruck: Druckerei Conrad GmbHPrinted in GermanyISBN 3-920560-23-XBestellen bei Amazon.dehttp://www.amazon.de/Abgetaucht-Sonderausstellung-internationalen-Jahr-Riffes/dp/392056023X/ref=sr_1_1?ie=UTF8&s=books&qid=1209558371&sr=8-1

Citation preview

Page 1: 082-095_Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

1

abgetaucht

Auf und Nieder – Rif fe in der Tiefenzeit

xy

Page 2: 082-095_Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

1

xy

abgetaucht

Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

Wie empfindlich reagieren Riffe wirklich auf globale Umweltveränderungen? Was för-dert und was hemmt ihre Verbreitung? Diese Fragen sind heute aktueller denn je. In den Medien werden wir fast täglich mit Katastrophenmeldungen über den schlechten Zu-stand der tropischen Korallenriffe konfrontiert: Abwässer, Überfischung und Massen-tourismus zerstören die Riffe regional; der Anstieg des Kohlendioxids in der Atmosphä-re bedroht die Riffe global. Einerseits macht die Erwärmung durch den Treibhauseffekt den tropischen Korallen das Leben schwer, andererseits übersäuern die Ozeane, wodurch es für Korallen schwieriger wird, ihr Kalkskelett auszuscheiden. Bedrohung an vielen Fronten also, und auf lange Sicht scheint es nur abwärts gehen zu können. Doch wie so oft lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Besonders auf langen Zeitskalen offenbart sich ein erstaunliches Durchhaltevermögen dieser hochkom-plexen Ökosysteme. Große Gesteinskörper, die durch ortsfeste kalkabscheidende Lebewesen aufgebaut wurden – nichts anderes sind Riffe – gab es bereits vor zwei Milliarden Jahren. Bei näherer Betrachtung sind diese ältesten Riffstrukturen kaum mit heutigen Korallenriffen vergleichbar: Ausschließlich Bakterien und eini-ge Algen waren die Konstrukteure, von bunten Korallenfischen und anderen Tie-ren fehlt jede Spur. Korallenriffe gibt es auch schon seit immerhin 450 Millionen Jahren. Die geologische Überlieferung bezeugt allerdings tatsächlich eine äußerst wechselvolle Geschichte. Korallen wurden mehrfach als Riffbildner von ande-ren Organismen verdrängt und die Anzahl der Riffe schwankte sehr stark: Blüte-zeiten, in denen Korallenriffe von den Tropen bis in mittlere Breiten vordrangen, wechselten mit Zeiten, in denen kein einziges Korallenriff auf der Erde nachweis-bar ist. Das historische Auf und Nieder belegt, dass Riffe durchaus angreifbar sind. Aber was löste die Krisen aus und, noch wichtiger, was führte zu den Blüten? Um das zu verstehen, müssen wir eine Reise in die Tiefenzeit der Erde unternehmen.

Wolfgang Kiessling

Abb.1:

Die Riffblüte im jüngeren

Devon ist durch zahlreiche

große Riffstrukturen doku-

mentiert, die aus Stroma-

toporen und Korallen auf-

gebaut wurden. Das Bild

zeigt ein kilometergroßes Riff

aus der kanadischen Arktis.

Page 3: 082-095_Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

1

Aufgetaucht:

Riffe an Land als wesentliche

Informationsquelle der Riffentwicklung

Ich werde oft gefragt, wie ich denn die längst vergangenen Korallenriffe untersuche. Da müsse man ja wahrscheinlich ziemlich tief tauchen oder bohren. Nein, die al-lermeisten fossilen Riffe sind recht bequem zu erreichen und mit einem normalen Geologenhammer zu beproben. Dies verdanken wir einerseits der Tatsache, dass der Meeresspiegel zu den meisten Zeiten der Erdgeschichte wesentlich höher lag als heute. Andererseits führten tektonische Bewegungen dazu, dass wir heute auch einmal hohe Berge erklimmen müssen, um ein Riff aus der Vergangenheit stu-dieren zu können. Auch wenn viele alte Riffe nur durch Erdölbohrungen bekannt sind – immerhin sorgt die oft hohe Porosität von Riffgesteinen für etwa 30% der weltweiten Ölvorkommen, die wichtigste Informationsquelle über versteinerte Riff-strukturen sind in Form von Steinbrüchen oder natürlichen Aufschlüssen jeder-

abgetaucht

Auf und Nieder – Rif fe in der Tiefenzeit abgetaucht Wolfgang Kiessl ing

xy xy

Abb.2: Heutige Korallenriffe des Flachwassers sind überwiegend in den Tropen zu finden und

brauchen Licht für effektives Wachstum. Ausgeprägtes Riffwachstum ist auf Breiten von weniger

als 30˚ Nord und Süd beschränkt. Nur wenn Meeresströmungen warmes Wasser anliefern, kann

Riffwachstum noch bis etwa 32º Breite stattfinden.

Wichtige Strömungen

Warme Strömung

Kalte Strömung

Wassertiefe

0 – 99 m

100 – 200 m

201 – 999 m

1000 – 3999 m

4000 – 5999 m

6000 – 7999 m

8000 – 10500 m

Land

Page 4: 082-095_Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

1

Hoch Niedrig

Chlorophyllkonzentration

abgetaucht

Auf und Nieder – Rif fe in der Tiefenzeit abgetaucht Wolfgang Kiessl ing

xy xy

mann zugänglich. Man braucht bloß Sachverstand und gehöriges Vorstellungsver-mögen, diese manchmal unscheinbaren und, besonders in unseren Breiten, von Vegetation oft überwachsenen Gesteinskörper wieder zum Leben zu erwecken. Um etwas über den globalen Zustand der Riffe zu einer gewissen Zeit aussagen zu können, müssen die Daten in einer standardisierten Form zusammengetragen und analysiert werden. Genau dies habe ich über mehr als ein Jahrzehnt getan, so dass heute eine Datenbank mit fast 4000 Riffkomplexen aus den letzten 540 Millionen Jahren zur Verfügung steht. Damit sind schon recht zuverlässige Aus-wertungen über die Riffevolution zu machen. Aber die Sache hat einen Haken.

Abgetaucht:

Informationsverlust durch Plattentektonik

Ein Blick auf die heutige Riffverbreitung offenbart, wie viele tropische Koral-lenriffe im offenen Ozean liegen. Fast 40 % aller Riffe sitzen auf oder um Vulka-ne, die mitten im Ozean aufragen. Damit teilen sie auch das Schicksal der Oze-

Abb.3: Innerhalb der Tropen sind Riffe besonders an nährstoffarme Regionen gebunden. In nähr-

stoffreichen Regionen (aus dem Weltall anhand von Chlorophyll-Konzentrationen erkennbar) ver-

ursachen Planktonblüten eine schlechte Durchlichtung und die Korallen bekommen Konkurrenz

von Weichalgen und anderen Nährstoffopportunisten.

Page 5: 082-095_Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

1

ane. Über kurz oder lang werden sie verschwinden. Kein Ozean kann länger als etwa 200 Millionen Jahre bestehen. Durch stetige Abkühlung wird die ohnehin schon dichte Ozeankruste zu schwer und taucht unter die wesentlich leichtere kontinentale Kruste, wo sie langsam aufschmilzt. Dieser Subduktionsprozess er-fasst alles, was sich auf dem Ozeanboden abgelagert oder gebildet hat, auch die ozeanischen Atolle. Auch wenn es selten einmal ein Stück Ozeankruste an Land schafft, besteht die geologische Überlieferung – und damit auch unser Wissen – fast nur aus Riffen, die in nicht allzu großer Landentfernung gewachsen sind.

Die Kernfrage ist daher, wie repräsentativ die an Land exponierten Riffe für die Riffsysteme der Vergangenheit sind. Ist der Gesundheitszustand von Riffen zu ei-ner bestimmten Zeit wirklich daraus abzulesen? Es könnte zum Beispiel sein, dass es den Riffen in Landnähe schlecht ging, zum Beispiel durch natürliche Umwelt-verschmutzung in Form von höherem Nährstoffeintrag vom Land, der wiederum durch tiefer reichendes Wurzelwerk von Bäumen oder einfach durch mehr Re-gen verursacht wurde. Das muss ozeanische Atolle überhaupt nicht beeinträchti-gt haben, da dort kaum Land vorhanden ist. Eine Krise der landnahen Riffe stün-de dann einem gesunden Riffsystem im offenen Ozean gegenüber, von dem wir schlicht nichts wissen können. Die wenigen ozeanischen Inseln, die es an Land geschafft haben, geben leider keine stichhaltigen Hinweise. Andererseits könnte die heutige Ausbreitung der Riffe immer noch zuverlässig ermittelt werden, wenn alle Südseeatolle verschwunden wären. Und die Zusammensetzung der Riffe un-terscheidet sich heute kaum zwischen ozeanischen und küstennahen Riffen. Viel mehr spielen geographische Breite und Region die entscheidende Rolle.

Trotzdem ist Vorsicht geboten. Die geologische Überlieferung kann nicht für bare Münze genommen werden. Ein sinkender Meeresspiegel wirkt biologisch, in-dem er die Fläche verkleinert, auf der Riffe wachsen können. Gleichzeitig wer-den bei fallendem Meeresspiegel aber auch ältere Riffe der Verwitterung ausge-setzt. Eine ehemalige Blütezeit kann im Extremfall so erscheinen, als hätten die Riffe eine Krise erfahren. Auch die heutige Verteilung des Wohlstands auf der Erde spielt eine Rolle: Reiche Länder können mehr Mittel in die Grundlagenfor-schung investieren als Entwicklungsländer. Dadurch werden in diesen Ländern wesentlich mehr paläontologische Daten zusammengetragen als in ärmeren.

Riffkonstrukteure in 500 Millionen Jahren Erdgeschichte

Korallen und Kalkalgen sind heute die Baumeister der Korallenriffe. Korallen sor-gen für Wachstum nach oben, Rotalgen zementieren unten und formen auch das besonders wellenexponierte Riffdach. Das gute Zusammenspiel der beiden stark verkalkenden Organismengruppen macht die Riffe wellenfest, womit sie ihre wahr-haft gigantischen Dimensionen erreichen können. Starke Verkalkung, oder Hyper-

abgetaucht

Auf und Nieder – Rif fe in der Tiefenzeit abgetaucht Wolfgang Kiessl ing

xy xy

Abb.4:

Thecosmilia trichotoma,

eine Riffkoralle aus

dem jüngeren Jura

von Süddeutschland.

Page 6: 082-095_Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

1

abgetaucht

Auf und Nieder – Rif fe in der Tiefenzeit abgetaucht Wolfgang Kiessl ing

xy xy

kalzifizierung, und rasches Wachstum sind das Geheimnis der Riffkonstrukteure. Auch andere Organismen, die diese Bedingungen erfüllen, können Riffe bauen, und im Laufe des Phanerozoikums – die letzten und interessantesten 540 Millionen Jahre Erdgeschichte – war ein Konsortium von Organismen am Werk: Das Spektrum reicht von einfachsten Bakterien bis zu relativ komplexen Tieren, wie Muscheln. Austern-riffe gibt es auch heute noch, aber in der Kreidezeit waren Muscheln am Werk, neben denen selbst die größten Austern wie Pfifferlinge aussehen. Diese Rudisten waren bis zu einem Meter groß und wuchsen so dicht neben- und übereinander, dass größere Riffstrukturen entstanden. Ihre Ausbreitung ging mit einem Abstieg der Ko-rallenriffe einher, die erst nach dem Aussterben der Rudisten am Ende der Kreidezeit – gleichzeitig mit dem Aussterben der Dinosaurier – wieder weltweite Verbreitung erreichten. Besonders erfolgreich als Riffbildner waren Schwämme. Heute eher als körperpflegende Badeschwämme bekannt, waren hyperkalzifizierende Schwäm-me ganz wesentlich am Riffaufbau in der Vergangenheit beteiligt: Archaeocyathen (Urbecher) waren die ersten Tiere, die im frühen Kambrium Riffstrukturen bildeten. Später kamen Stromatoporen, die besonders im Paläozoikum zusammen mit Koral-len riesige Riffe bildeten. Ihre heute lebenden Verwandten darben zurückgezogen in engen Riffhöhlen und sind nicht mehr am Riffaufbau beteiligt. In Perm und Trias war die Blütezeit der Sphinctozoen und Inozoen, die gleichfalls eindrucksvolle Riffbauten hinterließen. Bakterielle, oder allgemeiner mikrobielle, Riffstrukturen sind seit dem Kambrium stetig im Rückgang. Im Präkambrium und Kambrium der Normalzustand, sind spätere Ausbreitungen von Mikroben-dominierten Riffstrukturen ein Indikator für einen gestressten Zustand der Riffe. Heute findet man mikrobendominierte Kalk-strukturen fast nur in gestresstem Milieu. Besonders nach globalen Aussterbeereig-nissen ist ein Anstieg von Mikrobenriffen dokumentiert, vermutlich weil die üblichen Abweider der Mikroben seltener geworden sind. Erholt sich die Lebewelt wieder, verschwinden die Mikrobenriffe schnell.

Das Kommen und Gehen von Riffbildnern in der Tiefenzeit zeigt ein komplexes, aber hochinteressantes Muster. Nur die Mikroben durchlaufen einen Langzeittrend des Rückgangs. Alle anderen Riffkonstrukteure blühen episodisch auf und verschwinden wieder. Zeiten mit besonders vielen Riffen sind auch Zeiten mit einer großen relativen Häufigkeit von Korallen- und Schwammriffen. Das belegt zunächst nur, dass Schwäm-me und Korallen besonders effiziente Riffkonstrukteure sind. Aber auch den Ur-sachen von Ausbreitung und Kollaps ist mit den Mustern auf den Grund zu kommen. Bevor ich all die Riffdaten zusammengetragen hatte, war meine Erwartung, dass Riffe sich bei günstigen Bedingungen graduell ausbreiten würden, bis alle geeig-neten Meeresgebiete besetzt wären. Danach sollten die Riffe auf hohem Niveau stabil bleiben, bis katastrophale Umweltveränderungen zu einem Zusammenbruch führten. Ein solches Muster ist zum Beispiel bei der Artenvielfalt auf vulkanischen Inseln zu sehen. Ein ozeanischer Vulkan, der durch starke Lavaflüsse plötzlich über die Meeres-

Abb.5: In der Wüste des

Oman präsentieren sich

eindrucksvoll Rudistenriffe

der jüngeren Kreide

(ca. 80 Millionen Jahre).

Abb.6: Stromatoporen

wie diese waren erheblich

an der Riffkonstruktion

im Paläozoikum beteiligt

(Devon, Sauerland).

Page 7: 082-095_Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

1

oberfläche hinausragt, stellt neuen Lebensraum zur Verfügung, der aber erst erobert werden muss. Die Neusiedler kommen über die Luft oder als Strandgut über das Meer auf die Insel und die Diversität nimmt stetig zu. Je nach der Entfernung zum Festland oder zu anderen Inseln kann es unterschiedlich lange dauern, bis die Arten-vielfalt ein hohes Niveau erreicht. Wie hoch dieses Niveau aber letztlich wird, hängt weniger von der Landentfernung als vielmehr von der Größe der Insel und den lokalen klimatischen Bedingungen ab. Erfolgreiche Einwanderungen sind immer noch mög-lich, gehen dann aber auf Kosten mancher schon etablierter Arten, so dass sich ein mehr oder minder stabiles Gleichgewicht einpendelt, das erst durch katastrophale Ereignisse, zum Beispiel weitere Vulkanausbrüche, zunichte gemacht werden kann.

Warum ist das Riffmuster so unterschiedlich? Die Aufbrüche verliefen augenschein-lich ebenso rasch und intensiv wie die Einbrüche, und kaum eine Blütephase war auf

abgetaucht

Auf und Nieder – Rif fe in der Tiefenzeit abgetaucht Wolfgang Kiessl ing

xy xy

Abb.7: Dokumentierte Häufigkeit von Riffkomplexen in Zeiteinheiten von 10 Millionen Jahren und

ihre dominierenden Riffbildner. Das episodische Aufblühen und Untergehen der Riffe ist besonders

markant. Die Riffkrisen gehen überwiegend mit globalen Diversitätskrisen einher – sogenannten

Massenaussterben. Die vorherigen Riffblüten sind wesentlich schwerer zu erklären. Ihre Ursachen

aufzuspüren ist ein wesentliches Ziel der Arbeitsgruppe „Evolutionäre Paläoökologie“ am Museum

für Naturkunde. Geologische Perioden: Cm – Kambrium, O – Ordovizium, S – Silur, D – Devon, C

– Karbon, P – Perm, Tr – Trias, J – Jura, K – Kreide, Pg – Paläogen, N – Neogen.

Page 8: 082-095_Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

1

abgetaucht

Auf und Nieder – Rif fe in der Tiefenzeit abgetaucht Wolfgang Kiessl ing

xy xy

geologischen Zeitskalen von Dauer. Kann so etwas durch Klimaveränderungen ver-ursacht werden? Denkbar wäre schon, dass globale Erwärmungen das Riffwachs-tum fördern und Abkühlungen der Riffentwicklung abträglich sind. Die enge Bindung heutiger Korallenriffe an tropische Meere lässt dies plausibel erscheinen. Aber auch variable Nährstoffkonzentrationen oder sonstige Änderungen der Ozeanchemie kommen in Frage. Begeben wir uns also endlich auf die Zeitreise und sehen uns die Riffverbreitung in einigen wichtigen Intervallen an.

Riffe in Raum und Zeit: Wandern mit den Kontinenten, Beein-

flussung durch Klima und Meeresströmungen

Paläozoikum (542 – 251 Millionen Jahre)

Wir beginnen unsere Zeitreise im Silur, vor etwa 425 Millionen Jahren. Zwar gibt es schon vorher recht verlässliche Daten zur Riffverbreitung, aber die Lage der Konti-nente ist im Detail noch sehr umstritten. Fast alle tropischen Schelfregionen waren dicht mit Riffen besiedelt (Abb. 8). Gemischte Korallen- und Stromatoporenriffe do-minierten. Besonders dicht drängten sich die Riffe im Osten Nordamerikas und im heutigen Nordeuropa. Beide Regionen befanden sich damals südlich des Äquators. Die Äquatorialzone, etwa am Nordrand von Grönland und im heutigen Ural gele-gen, war ebenfalls dicht mit oft großen Riffen bewachsen. Nach Norden (heutiges Sibirien) wird die Datenlage etwas dünner, was aber vermutlich auf die geringere Forschungsintensität zurückzuführen ist. Überraschend sind die Riffvorkommen in der heutigen Mongolei, die nach der plattentektonischen Rekonstruktion um vierzig Grad Paläobreite lagen. Die genaue Lage der mongolischen Platte ist aber noch umstritten. Wahrscheinlich war die Riffzone im Silur nicht wesentlich breiter als heute. Abgesehen von der seltsam anmutenden Konzentration von Riffen inmitten von meeresbedeckten Kontinenten ist auch die sonstige Riffverbreitung ähnlich wie heute. Viele Riffe wuchsen dort, wo wir warme, nährstoffarme Meeresströmungen vermuten. An den Westseiten der Kontinente, wo heute kühle, nährstoffreiche Strö-mungen Riffwachstum verhindern, sind auch im Silur deutlich weniger Riffe zu finden. Die silurische Riffblüte kam durch tektonische Bewegungen zu einem abrupten Ende. Schelfmeere wurden emporgehoben, Gebirge entstanden dort, wo früher noch Ozean war. Das wirkte sich natürlich auf die Wachstumsmöglichkeiten der Riffe aus. Doch eine echte Krise ist nicht erkennbar. Die Riffe wurden weniger, ihre Ar-tenvielfalt und räumliche Verbreitung nahmen jedoch noch zu. Ein neues Maximum der Riffverbreitung wurde dann im jüngeren Devon vor etwa 380 Millionen Jahren erreicht. Riffe drangen auf der Südhalbkugel bis knapp 42˚ und auf der Nordhalb-kugel sogar bis über 50º Breite vor. Alle überlieferten Schelfmeere zwischen diesen Grenzen waren dicht von oft kilometergroßen Riffen bewachsen. Viele Erdölvorkom-men in Kanada und Russland liegen in unterirdischen Stromatoporen-Korallenriffen,

Page 9: 082-095_Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

1

abgetaucht

Auf und Nieder – Rif fe in der Tiefenzeit abgetaucht Wolfgang Kiessl ing

xy xy

Abb.8:

Beispiele der Riffverbreitung

im Paläozoikum. Die Lage der

Riffe ist ebenso wie die Lage

der Kontinente auf die jeweilige

Zeit zurückgerechnet worden.

Farben kennzeichnen die Haupt-

riffbildner (Kreise) und die Topo-

graphie (blau: Ozean, hellblau:

Schelfmeere, fleischfarben:

Land, braun: Gebirge). Die Ober-

flächenströmungen wurden mit

einfachen Modellen rekonstruiert.

Oben: Riffverbreitung im jüngeren

Silur (ca. 425 Millionen Jahre).

Mitte: Riffverbreitung im jüngeren

Devon (ca. 380 Millionen Jahre).

Unten: Riffverbreitung an der

Wende Karbon-Perm (ca. 290

Millionen Jahre). Der Südkonti-

nent Gondwana war teilweise

vereist (weiß).

Hauptriffbildner

Korallen

Algen

Mikroben

Schwämme

Muscheln

Moostierchen

Andere oder unbekannt

Page 10: 082-095_Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

1

abgetaucht

Auf und Nieder – Rif fe in der Tiefenzeit abgetaucht Wolfgang Kiessl ing

xy xy

Abb.9:

Beispiele der Riffverbreitung

im Mesozoikum. Oben: Riff-

verbreitung in der jüngeren

Trias (ca. 210 Millionen Jahre).

Mitte: Riff-verbreitung im jünge-

ren Jura (ca. 155 Millionen Jahre).

Unten: Riffverbreitung in der

älteren Kreide (ca. 110 Millionen

Jahre). Aus dieser Zeit sind erst-

mals größere Mengen an ozea-

nischen Riffstrukturen überliefert.

Hauptriffbildner

Korallen

Algen

Mikroben

Schwämme

Muscheln

Moostierchen

Andere oder unbekannt

Page 11: 082-095_Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

1

die zu dieser Zeit wuchsen. Nicht nur das Vordringen in hohe Breiten, auch das generelle Verbreitungsmuster der Riffe unterscheidet sich markant von der heutigen Situation. Nahe den Westseiten der Kontinente wuchsen viele Riffe, während zum Beispiel am Ostrand von Australien nur sporadisches Riffwachstum bekannt ist, ob-wohl der Kontinent eine ähnliche Lage hatte wie heute, wo wir die größte lebende Riffstruktur der Erde kennen, das Große Barriere-Riff. Mit klimatischen Faktoren al-lein ist die devonische Riffblüte sicher nicht zu erklären. Das Klima war zwar deutlich wärmer als heute, aber seit dem höheren Silur nicht wesentlich verändert. Auch sonst gibt es kaum Anzeichen für besonders markante geologische Veränderungen. Dies änderte sich allerdings gegen Ende des Devons vor 375 Millionen Jahren. Die Stromatoporen-Korallenriffe erlitten einen massiven Einbruch; zurück blieben arten-arme Mikrobenriffe. Lange hat man diese Riffkrise mit Klimaveränderungen in Zu-sammenhang gebracht. Es wurde zwar tatsächlich kälter auf der Erde. Spuren von Gletschern in Südamerika zeugen davon. Aber es ist noch mehr geschehen: Im De-von drangen erstmals Pflanzen aus küstennahen Sumpfgebieten ins trockenere Lan-desinnere vor. Die ersten Bäume und Wälder entstanden. Die tiefreichenden Wurzeln der Bäume mobilisierten Nährstoffe, die aufgrund der sonst noch spärlichen Vegeta-tion direkt ins Meer transportiert wurden. Dort profitierte das Plankton, die Riffe aber litten unter der Sauerstoffknappheit, die durch die Planktonblüten ausgelöst wurde. Dieses Beispiel zeigt sehr schön, wie Land und Meer in Wechselwirkung stehen können. Innovation an Land führte zu einer Krise im Meer. Der Riffeinbruch am Ende des Devons war dauerhaft. Im Karbon gab es zwar Riffe, doch die größeren Struktu-ren wuchsen oft im Tiefwasser. Korallen- und Schwammriffe waren klein und selten. An der Wende Karbon-Perm (vor 300 Millionen Jahren) waren dann verkalkende Algen die dominanten Riffbildner. Die Kalkalgen bildeten kaum Gerüst, sondern wirkten vielmehr als Schlammfänger. Kalkschlamm in Suspension lagerte sich im Strömungsschatten der Algen ab, wodurch eine Art Schlammhügel entstand. Sol-che Algenriffe waren weit verbreitet, aber selten dort zu finden, wo man heutige Korallenriffe erwarten würde. Sie scheinen sogar nährstoffreiche Milieus bevor-zugt zu haben. Das Klima bietet hier einen Schlüssel zum Verständnis dieser un-gewöhnlichen Riffwelt. Jüngeres Karbon und älteres Perm waren die Zeit der so-genannten Gondwana-Vereisung. Die Antarktis, Südaustralien und sogar Teile von Afrika und Südamerika waren von dicken Eispanzern bedeckt. Diese Eiszeit dau-erte wesentlich länger und war wahrscheinlich noch intensiver als die heute noch andauernde Eiszeitphase, die vor etwa dreißig Millionen Jahren mit der Vereisung der Antarktis begann. Die seltsame Zusammensetzung der Riffe war vermutlich keine direkte Folge der kühleren Temperatur. Selbst in den immerwarmen Tropen änderte sich ja die Zusammensetzung. Vielmehr scheint höherer Nährstoffeintrag eine Rolle zu spielen, der das Wachstum der Algen förderte, das Wachstum von Korallen und Schwämmen aber hemmte. Die Nährstoffe kamen über die Luft aus

abgetaucht

Auf und Nieder – Rif fe in der Tiefenzeit abgetaucht Wolfgang Kiessl ing

xy xy

Abb.10:

koloniale rugose Koralle

(Devon, Deutschland)

Page 12: 082-095_Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

1

abgetaucht

Auf und Nieder – Rif fe in der Tiefenzeit abgetaucht Wolfgang Kiessl ing

xy xy

den weit verbreiteten Kältewüsten und über ozeanische Strömungen, die aufgrund des hohen Temperaturgefälles wahrscheinlich noch intensiver waren als heute. Mit dem Abklingen der Gondwana-Vereisung begannen wieder Kalkschwäm-me größere Riffe aufzubauen. Mitten im Aufstieg ereignete sich aber eine glo-bale Katastrophe, die fast alles Leben auf der Erde in den Abgrund stürzte. Das Massenaussterben am Ende des Perms ist das größte Artensterben der Erd-geschichte. Etwa 90% aller Arten verschwanden für immer, vermutlich weil der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre, und damit auch im Ozean, erheblich zurück-ging, dafür aber der Kohlendioxidgehalt erheblich zunahm. Kein Wunder, dass auch die Riffe verschwanden. Schwämme und Korallen sind Tiere und brau-chen Sauerstoff, und aufgrund ihrer Kalkskelette haben sie es schwer im koh-lensauren Meerwasser. Die Todesphase dauerte etwa acht Millionen Jahre.

Mesozoikum (251 – 65.5 Millionen Jahre)

Die Riffe der Triaszeit waren zunächst sehr ähnlich aufgebaut wie im Perm. Teil-weise sind sogar die selben Schwammgattungen am Aufbau beteiligt. Warum die Kalkschwämme erst komplett verschwanden und dann plötzlich in großer Fülle wiederkehrten, ist eines der großen Mysterien in der historischen Riffforschung. Eine neue Riffblüte, die erste seit dem Devon, ist dann in der jüngeren Trias zu sehen, als Korallen wieder maßgeblich am Bau beteiligt waren. Das globale Verteilungsmus-ter ist zwar in der Breite des Riffgürtels ähnlich dem heutigen, seltsam mutet aber an, dass viele Riffe nahe dem Westrand von Nordamerika wuchsen, wo eigentlich kühle, nährstoffreiche Strömungen ein Riffwachstum verhindern sollten. Auch die Triasriffe erwischte eine heftige globale Krise, diesmal vermutlich durch eine mas-sive globale Erwärmung ausgelöst. Die Erwärmung wurde wiederum durch massiven Vulkanismus verursacht, der gigantische Mengen des Treibhausgases Kohlendioxid in die Atmosphäre pumpte. Diese Krise ist sehr lehrreich, denn sie betraf bevor-zugt Lebewesen und Ökosysteme der Tropen. Früher hatte man angenommen, dass tropische Krisen eher durch Abkühlung ausgelöst werden. Schließlich können die tropischen Tiere nicht in wärmere Regionen ausweichen, wenn es selbst am Äqua-tor abkühlt. Warum konnten Riffe und tropische Tiere am Ende der Triaszeit nicht einfach in höhere Breiten fliehen? Der Grund liegt vermutlich in der Geschwindig-keit der Erwärmung. Sie ging so rasch, dass eine Auswanderung, die ja für fest-gewachsene Tiere viele Generationen in Anspruch nimmt, nicht mehr möglich war.

Die Korallenriffe im Jura waren über lange Zeiträume selten und klein, bis im jünge-ren Jura plötzlich eine gigantische Riffblüte folgte. Interessanterweise lag die Riffblü-te in einer Abkühlungsphase. Die große Häufigkeit von Riffen und ihre Verbreitung, weit jenseits der Breiten heutiger Korallenriffe, ist damit schwer zu erklären (Beitrag

Page 13: 082-095_Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

1

Leinfelder). Die Blütezeit hielt nur kurz vor. Schon im obersten Jura gingen die Riffe stark zurück, vermutlich verursacht durch einen Rückgang des Meeresspiegels.

In der Kreide sind zunächst kaum ökologische Veränderungen in den Riffen wahr-nehmbar. Mit der Ausbreitung von Rudisten ändert sich das Bild. Vor etwa 110 Millionen Jahren sind Rudistenriffe bereits häufiger als Korallenriffe und der Trend setzt sich bis zum Ende der Kreide fort. Wirklich eindrucksvolle Riffstrukturen hin-terließen die Rudisten nicht, aber offensichtlich konnten sie Korallen als Riffbildner ablösen. Früher dachte man an Konkurrenz, wahrscheinlicher ist aber, dass Ru-disten besser mit der globalen Erwärmung zurechtkamen als Korallen. Die Kreide war ja eine der wärmsten Perioden der Erdgeschichte. Das Schicksal der Rudisten war besiegelt, als ein weiteres Massenaussterben nicht nur sie, sondern auch die Dinosaurier und viele andere Gruppen auslöschte. Der Schuldige, ein Meteoritenein-schlag im Golf von Mexiko, führte auch zu einer Krise bei den Korallen, von der sie sich aber rasch erholten und seitdem die tropischen Flachwasserriffe dominieren.

Die letzten 65 Millionen Jahre

Erst vor etwa 30 Millionen Jahren sehen wir einen deutlichen Anstieg der Häufig-keit von Riffen, überraschenderweise gleichzeitig mit der globalen Abkühlung, die letztlich in unsere derzeitige Eiszeitphase mündete. Was bereits in Jura und Krei-de zu beobachten war, setzt sich hier fort. Die tropischen Korallenriffe scheinen eher von Abkühlung als von Erwärmung zu profitieren! Dieses Paradoxon lässt sich schwer auflösen, denn die kurzeitige Erwärmungsphase im mittleren Miozän (ca. 15 Millionen Jahre) war doch mit einer deutlichen Expansion verbunden. Zu dieser Zeit sind bereits die heutigen Riffprovinzen erkennbar. Indo-Pazifik, Rotes

abgetaucht

Auf und Nieder – Rif fe in der Tiefenzeit abgetaucht Wolfgang Kiessl ing

xy xy

Abb.11: Riffverbreitung vor

15 Millionen Jahren (Miozän).

Die Antarktis war bereits ver-

eist, aber die Nordhalbkugel

noch weitgehend eisfrei.

Riffe waren wesentlich

weiter verbreitet als heute.

Page 14: 082-095_Auf und Nieder – Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte von Riffen in der Tiefenzeit

1

abgetaucht

Auf und Nieder – Rif fe in der Tiefenzeit abgetaucht Wolfgang Kiessl ing

xy xy

Meer und Karibik waren dicht bewachsen. Zusätzlich waren Riffe im Mittelmeer und dessen Randmeeren sowie in Südaustralien häufig, überall dort, wo warme, nährstoffarme Strömungen hingelangten. Erst in wirklich hohen Breiten sehen die Riffe des Miozäns deutlich anders aus: Bryozoen- und Algenriffe dominierten hier.Riffe als Spielball von Umweltfaktoren oder selbstorganisierte Ökosysteme?Wir haben gesehen, dass der Zusammenhang zwischen Klima- und Riffentwicklung auf langen Zeitskalen keineswegs offensichtlich ist. Abkühlungen und Erwärmungen können zu Veränderungen der Zusammensetzung führen, aber es scheint schlicht keinen Zusammenhang zwischen Riffblüten und Klima zu geben. Auch bei anderen Umweltfaktoren sieht es ähnlich aus. Weder chemische Veränderungen in den Oze-anen noch Nährstoffeintrag vom Land sind systematisch mit dem Auf und Nieder der Riffe gekoppelt. Extreme Erwärmungen und Episoden mit erhöhtem Nährstoffe-intrag konnten katastrophale und dauerhafte Schäden bewirken, aber selbst globa-le Katastrophen wie ein Meteoriteneinschlag hatten nur kurzzeitige Konsequenzen. Die Überlebenden fanden schnell wieder zusammen und bauten fleißig weiter. Nur der globale Meeresspiegel erklärt einigermaßen die wechselnde Riffhäufig-keit. Wenn die Kontinente weiträumig überflutet waren, sind tendenziell mehr Riffe überliefert als wenn sich das Meer von den Kontinenten auf die Schelfe zurückge-zogen hat. Mehr Raum, mehr Riffe! Das ist eigentlich trivial. Interessanter ist viel-mehr die Frage, was zusätzlich noch Auswirkungen hat. Hier kommt wieder das pulsierende Muster der Riffhäufigkeiten ins Spiel. Selbst wenn wir den Meeres-spiegel berücksichtigen, bleibt das fundamentale Muster erhalten: Rapiden Aus-breitungen folgen unweigerlich rapide Einbrüche. Sind vielleicht die Einbrüche eine Folge der Blüten? Auf jeden Fall zeigen die Daten, dass es wichtiger ist, den Ur-sachen der Expansionen auf den Grund zu gehen, als sich nur auf die Krisen zu konzentrieren. Doch das ist ungleich schwieriger. Für jede historische Riffkrise ste-hen brauchbare Erklärungsmöglichkeiten zur Verfügung; meistens sind es plötzliche Umweltveränderungen. Die ebenso plötzlichen Aufbrüche scheinen aber fast aus dem Nichts zu kommen. Kleine Umweltveränderungen mussten also durch biolo-gische Rückkopplungen verstärkt werden, um zu den markanten Blüten zu führen. Ich vermute, dass erst diese Selbstorganisation wirklich erklärt, warum Riffe in der Tiefenzeit so plötzlich kommen und gehen. In einem komplexen, selbstorganisier-ten System sind große Auswirkungen bei minimalen Störungen möglich. Man denke nur an den berühmten Schmetterling, der durch seinen Flügelschlag unter Umstän-den einen Sturm in weiter Entfernung auslösen kann. Sollte meine Hypothese der selbstorganisierten Kritikalität für Riffe zutreffen, bestünde Anlass zur Unruhe. Die neogene Blütezeit der Riffe ist bereits vorüber. Auch wenn Riffe heute noch weit verbreitet und häufig sind, sprechen die Anzeichen dafür, dass der Weg nach unten geht, und es wäre kaum möglich, die nächste große Riffkrise abzuwenden. Koral-lenriffe werden wahrscheinlich nicht völlig verschwinden, aber bis sie wieder eine Blüte wie zuletzt im Miozän erleben, können gut fünfzig Millionen Jahre vergehen.