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8/19/2019 1 Kapital Weg http://slidepdf.com/reader/full/1-kapital-weg 1/543 Ulrich Enderwitz Reichtum und Religion Die Macht des Kapitals Der Weg zur Macht 2009

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Ulrich Enderwitz

Reichtum und Religion

Die Macht des Kapitals

Der Weg zur Macht

2009

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Werkverzeichnis

REICHTUM UND RELIGIONVier Bücher in sieben Bänden

Buch 1: Der Mythos vom Heros (1990)Buch 2: Der religiöse Kult (1991)Buch 3: Die Herrschaft des Wesens

Band 1: Das Heil im Nichts (1996)Band 2: Die Polis (1998)Band 3: Der Konkurs der alten Welt (2001)Band 4: Die Krise des Reichtums (2005)

Buch 4: Die Macht des KapitalsBand 1: Der Weg zur Macht (2009)

KONSUM, TERROR UND GESELLSCHAFTSKRITIK (2004)Eine tour d’horizon

HERRSCHAFT, WERT, MARKT (2004)Zur Genese des kommerziellen Systems

DIE  SEXUALISIERUNG DER GESCHLECHTER (1999)Eine Übung in negativer Anthropologie

DER  KONSUMENT ALS IDEOLOGE (1994)200 Jahre deutsche Intelligenz

ANTISEMITISMUS UND VOLKSSTAAT (1998)Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung

DIE  MEDIEN UND IHRE INFORMATION

Ein Traktat (1996)

TOTALE REKLAME (1986)Von der Marktgesellschaft zur Kommunikationsgemeinschaft

DIE  REPUBLIK FRISST IHRE KINDER (1986)Hochschulreform und Studetenbewegungin der Bundesrepublik Deutschland

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Ulrich Enderwitz:Reichtum und Religion [vier Bücher in acht Bänden] / Ulrich Enderwitz.- 2009Die Macht des KapitalsDer Weg zur Macht

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Inhaltsverzeichnis

. Klerus und feudale Herrschaft   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

. Kommerz und kommunale Freiheit   . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107. Handelskapital und zentrale Macht   . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

. Kapitales Subjekt und Lohnarbeitskraft   . . . . . . . . . . . . . . . . 325

. Merkantilismus, koloniale Expansion und Etatismus   . . . . . . . . 407

. Bürgerliche Emanzipation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490

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. Klerus und feudale Herrschaft

Der Untergang des Römischen Reiches resultiert in einer Neuauflage jener

Gründung territorialherrschaftlich-stratifizierter Gesellschaften, die im altenOrient Folge der Eroberung der fruchtbaren Stromtäler durch nomadisierendeStammesgruppen sind, allerdings mit dem dreifachen Unterschied, dass jetzt dieEroberer keine intakten Gesellschaftsstrukturen vorfinden, dass sie ökonomisch-

 produktionstechnisch den unterworfenen Populationen weit näher stehen unddass sie eine völlig andere, nicht auf die kultisch-magische Reaffirmation derWelt, sondern im Gegenteil auf eine messianisch-soteriologische Flucht aus derWelt gerichtete Religion vorfinden.

Aller, die Wiederkehr Christi empirisch-historisch zu substantiieren be-

mühten apokalyptischen Erwartung zum Trotz, wie sie die Offenbarung Johannis paradigmatisch für die als Christenheit sich formierenden Heils-sucher des Imperiums in Worte und Bilder fasst, ist der Untergang desRömischen Reiches nicht das Ende der Welt. In das durch jahrhunderte-lange Macht- und Revierkämpfe verwüstete und entvölkerte Reichsgebietdringen – vornehmlich aus dem unzivilisierten Norden – nomadisierend-agrarische, während der Wanderung Ackerbau im Kollektiv und auf Brandrodungsbasis treibende, kriegerische Stammesgruppen ein undergreifen von den Trümmern des Reichsgebäudes Besitz, lassen sich inseinen Ruinen häuslich nieder.

Sie tauchen nicht unvermittelt auf. Während der letzten Jahrhundertedes Imperiums überschreiten immer neue Scharen von ihnen die Gren-zen, werden zurückgeschlagen, in den Grenzregionen angesiedelt, alsBundesgenossen und Hilfstruppen rekrutiert. Einzelne oder Gruppen bringen es im römischen Kriegsdienst zu Amt und Würden, schaffen

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es gar im Ringelpiez des Soldatenkaisertums bis hinauf zum Imperato-

renamt. Im Zuge ihrer Begegnung mit dem Römischen Reich finden siesich dessen Zivilisation integriert und assimiliert. Als integrierende Be-standteile und assimilierte Momente des in lang anhaltender Agonie be-griffenen Imperiums wirken diese sukzessive eintreffenden Zuwanderertatkräftig mit an dem durch die Logik der Ausbeutungs- und Schmarot-zerstrategie des Systems diktierten Teufelskreis aus einerseits Erhaltungder politisch-militärischen Machtstrukturen auf Kosten der Zerstörungder ökonomisch-technischen Grundlagen und andererseits der durch dieErosion der ökonomisch-technischen Grundlagen bedingten Zerrüttungeben jener politisch-militärischen Strukturen, um deren Erhaltung eseigentlich ja zu tun ist.

Als sozial und kulturell bestimmender Faktor, als eigenständiges his-torisches Subjekt, können sich jene Stammesgruppierungen freilich erstzur Geltung bringen, nachdem das Imperium als politische Einheit –zumindest in seinen nach der Reichsteilung als westliche Hälfte firmie-renden Stammgebieten und zentralen Regionen – untergegangen ist. Denempirischen Beweis für diese These liefert dabei sinnigerweise das denstrukturellen Verfallsprozess besiegelnde aktuelle Untergangsereignisselbst. Es ist deckungsgleich mit dem Versuch einer der Stammesgruppie-rungen, der sogenannten Ostgoten, unter ihrer Herrschaft die westlicheHälfte des Imperiums als politische Einheit fortzusetzen beziehungsweise

neu zu begründen. Dieser imperiale Konservierungs- beziehungsweiseRestaurationsversuch scheitert an der Unmöglichkeit, die neue Herrschaftmit dem überkommenen Staatswesen, dem übernommenen bürokrati-schen Apparat, zu verschmelzen und in Übereinstimmung zu bringen.Die ostgotischen Herren bleiben ein dem traditionellen Staatswesen auf-gepfropfter stammesförmiger Kriegerstand, der in seiner organisatori-schen, rechtlichen und religiösen Apartheit zu verschieden von ersteremist, um sich ihm integrieren und anverwandeln zu können, und dessenzahlenmäßige Stärke zugleich bei weitem nicht ausreicht, um ihm die Be-hauptung als eigenständige fremdherrschaftliche Ethnie zu ermöglichen

und ihn nicht vor den unausweichlichen Fall eines durch die Überle-genheit der unterworfenen Zivilisation noch beschleunigten Erosions-und Schrumpfungsprozesses kommen zu lassen, der nach einem gutenhalben Jahrhundert in der Vernichtung der ostgotischen Herrschaft durchStreitkräfte der nach der endgültigen Reichsteilung als Byzantinisches

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Reich das imperiale Erbe für sich reklamierenden östlichen Reichshälfte

resultiert.Das Byzantinische Reich, das den unter dem Namen Völkerwanderung bekannten demographischen Umwälzungen, die aus den nördlichenRegionen über das Römische Reich hereinbrechen, durch seine Lage indessen östlichem Winkel weniger ausgesetzt ist und von diesen Um-wälzungen nicht zuletzt deshalb relativ verschont bleibt, weil es ihmgelingt, die anbrandenden Stammesgruppen in die westliche Reichshälfteabzulenken und mit dem Nebeneffekt sogar ihrer Instrumentalisierungzu Schergen seines Konkurrenzkampfs mit der westlichen Reichshälftedort ihr Glück suchen beziehungsweise ihren Untergang finden zu lassen– dieses Byzantinische Reich ist zwar noch stark genug, die Aspirationender Ostgoten auf eine Fortsetzung des Westreichs unter ihrer Regie zuzerstören, aber zu einer Restauration des Römischen Reichs als ganzen,einer Wiederherstellung des Imperiums in seinen den Mittelmeerraumumspannenden früheren Grenzen, fehlt ihm definitiv die Kraft. Durchseine restaurativen Anstrengungen überfordert und erschöpft, zieht essich in seine östlichen Territorien zurück und ist bald schon vollauf da-mit beschäftigt, sich gegen seine slawischen, persischen und arabischenNachbarn und deren Expansionsgelüste zu verteidigen und mit Müh’und Not zu behaupten.

Die westliche Reichshälfte mit den ihr zugehörenden Provinzen und

daran angrenzenden Regionen bleibt ohne zentralstaatliche Machtin-stitution sich selbst überlassen und wird, soweit nicht der Bischof vonRom politische Ordnungsfunktionen in ihr übernimmt, deren Geltungs- bereich freilich auf die später als Kirchenstaat etablierten Gebiete Mittel-und Süditaliens beschränkt ist, zum Schauplatz für Staatsgründungen,die nunmehr die ins Reichsgebiet eingefallenen Stammesgruppen freivon allem unmittelbar imperialen Kontinuitätsanspruch, und das heißt,im Rahmen ihres ethnisch-kulturellen Zusammenhangs, im Einklangmit ihren traditionellen Vorstellungen von Sozialkontrakt und gesell-schaftlicher Organisation sowie in den ihnen angemessenen territorialen

Dimensionen ins Werk setzen – Staatsgründungen, die als das Lango- bardenreich, das Frankenreich und das Reich der Angelsachsen in dieGeschichte eingehen und sich anders als die früheren, noch zu sehr inden Todeskampf des Imperiums und die Sturzflut der Völkerwanderungverstrickten Gründungsversuche wie das Burgundenreich, das Reich der

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Westgoten und das Vandalenreich als von Dauer und zukunftsbestim-

mender Bedeutung erweisen.Im Grundsatz oder der abstrakten Struktur nach sind diese Staats-gründungen durchaus der Entstehung der ersten großen staatlich orga-nisierten Zivilisationen in den Stromtälern des Vorderen Orients, Indiensund Chinas vergleichbar. Wie dort erobern und unterwerfen auch hiernomadisierende, kriegerische Stammesgruppen sesshafte, ackerbautrei- bende, kulturell höher entwickelte Populationen und verbinden sich mitihnen zu agrarisch fundierten, das heißt, ihren Reichtum im Wesent-lichen aus der Landbebauung gewinnenden, stratifizierten, das heißt,in Herrenstand und Knechtsvolk, Freie und Unfreie, unterteilten und

zentralisierten, das heißt, um herrschaftliche Verwaltungs- und Kultzen-tren organisierten, neuartigen Gesellschaften. So offensichtlich aber imAllgemeinen die Ähnlichkeit sein mag, die spezifischen Unterschiedezwischen den beiden historischen Prozessen fallen nicht weniger insAuge.

Da ist zum einen der bereits bemerkte Umstand, dass anders als dieeinstigen Eroberer der orientalischen Stromtäler die Stammesgruppen,die jetzt von den westlichen und nördlichen Provinzen des aufgelassenenRömischen Reiches Besitz ergreifen, das Imperium eben deshalb, weil esaufgelassen, weil es um seine imperiale Identität und Realität gebracht

und zur Konkursmasse geworden, besser gesagt, zu einem irrepara- blen Scherbenhaufen zerfallen ist, weder in staatlich-organisatorischernoch gar in räumlich-geographischer Hinsicht einfach fortzusetzen bezie-hungsweise wiederherzustellen imstande sind. Die frühgeschichtlichenNomadengruppen, die aus den angrenzenden Bergregionen in die frucht- baren Stromtäler einfallen, finden dort intakte stadt- oder kleinstaatlicheGemeinwesen auf Stammesbasis vor, deren ökonomisches System, politi-sche Organisation, bürokratischen Apparat und kultische Einrichtungensie im Wesentlichen übernehmen und mangels eigener Alternativen auchgar nicht umhin kommen zu übernehmen, deren materieller, institutio-

neller und spiritueller Kultur sie sich also weitgehend anpassen undintegrieren müssen, um sich in ihnen als Herren etablieren und dauerhaft behaupten zu können. Der Beitrag dieser Herrschaften zu den vorgefun-denen gesellschaftlichen Organismen erschöpft sich weitgehend darin,dass sie mit kriegerischer Gewalt die kleinstaatlichen Gemeinwesen zu

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größeren Einheiten, Reichen, zusammenfügen und gemäß dieser Synthe-

sis die einzelnen, kraft Totenkult als Schutzpatron oder Garantiemachtder jeweiligen Stadt firmierenden Gründungsheroen, einschließlich dervon ihnen selber mitgebrachten Stammesahnen, zu jenen polytheistischenSystemen verschmelzen und ebenso sehr genealogisch abstrahieren wieeponymisch konkretisieren, die unfehlbares Kennzeichen jener theokra-tisch verfassten frühen Zivilisationen sind.

Die in das Territorium des aufgelassenen Römischen Reichs einfal-lenden und sich dort etablierenden Stammesgruppen hingegen treffenallen ökonomischen Zusammenhangs und aller politisch-bürokratischenOrdnung bare Populationen an, die nichts weiter zu bieten haben als diedem langen imperialen Verfallsprozess entsprechend entseelte und inder Tat schon halbverweste kulturelle Hinterlassenschaft des Imperiumsund seinen auf dieser kadaverösen Konkursmasse als die christlicheKirche aufbauenden und gedeihenden kultischen Organismus. Das heißt,die Stammesgruppen sind, um sich etablieren zu können, genötigt, ausEigenem zu schöpfen und ihre traditionellen politischen, auf persönlicherGefolgschaft und Sippenbewusstsein basierenden politischen Organi-sationsformen zur Geltung zu bringen beziehungsweise spezielle büro-kratische, aus lehnsherrschaftlicher Bevollmächtigung und vogteilicherAmtswaltung zusammengesetzte Strukturen auszubilden und beides zurGrundlage der neuen, wegen ihres lehnspyramidalen Aufbaus als feudal

 bezeichneten Gemeinwesen zu machen.Dass die Übertragung stammesförmiger Organisationsstrukturen auf 

die Konkursmasse der römischen Zivilisation und die Nutzung dieserStrukturen zur Schaffung eines neuen politischen Zusammenhangs undStaatswesens überhaupt gelingen kann und nicht an der Inkompatibi-lität zwischen den beiden Sozialisierungsformen, der auf persönlicherAbhängigkeit und verwandtschaftlichen Banden beruhenden Stammes-gemeinschaft und der auf sächlichem Eigentum und Produktionsbe-ziehungen aufbauenden Territorialgesellschaft, scheitert, verdankt sichdabei dem zweiten, unschwer bemerklichen Unterschied zwischen den

territorialherrschaftlichen Reichen der frühen Zivilisationen und den feu-dalherrschaftlichen Staatsgründungen, die das Römische Reich beerbenoder, besser gesagt, als Steinbruch für ihre eigenen Einrichtungen aus- beuten – einem Unterschied, der weniger politisch-organisatorischer alsökonomisch-produktionstechnischer Natur ist und der darin besteht, dass

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die Okkupanten der vormals römischen Provinzen in ihrer Subsistenz-

weise oder Wirtschaftsform den Populationen der von ihnen besetztenund unterworfenen Gebiete weit näher stehen und vergleichbarer sind alsdie Eroberer der in Klein- und Stadtstaaten aufgesplitterten orientalischenStromtäler deren einheimischen Bevölkerungen.

Die Eroberer der orientalischen Stromtäler sind von Haus aus weide-wirtschaftlich-viehzüchtende Nomaden, die sich bei ihrem Übertritt in dieFlusskulturen der wesentlich anderen Lebensform sesshafter Ackerbau-gesellschaften auf wasserwirtschaftlicher Grundlage konfrontiert sehen,der sie sich – auch wenn sie zu ihren nomadischen Stammgebieten undzu den dort Zurückgebliebenen noch Beziehungen und Austauschver-hältnisse unterhalten mögen – vor Ort ihrer Herrschaftsübung ebensorückhaltlos anpassen müssen wie den mit dieser anderen, ökonomisch-agrarischen Lebensform einhergehenden politisch-bürokratischen Orga-nisationsweisen. Die Besetzer der nördlichen und westlichen Provinzendes in Konkurs gegangenen Römischen Reiches hingegen sind ebensowie die einheimischen Populationen, die sie unterwerfen, Ackerbau-ern und unterscheiden sich von den Unterworfenen höchstens und nurdurch den geringeren Entwicklungsstand, den diese Subsistenzweise bei ihnen erreicht hat, durch die größere Primitivität, die gleichermaßenhinsichtlich der Arbeitsgeräte, der Anbaumethoden und des Pflanzgutsdiese Wirtschaftsform bei ihnen aufweist. Wenn sie also schon mangels

vorfindlicher intakter politischer Strukturen ihre mitgebrachten stam-messpezifischen Organisationsformen als die neue, staatsbildende Matrixetablieren und den Unterworfenen oktroyieren müssen, geschieht diesdoch aber auf Basis einer Herren und Knechten gemeinsamen ökonomi-schen Substanz und ist dank dieser, die neuen Organisationsformen be-stimmenden, gemeinsamen ökonomischen Substanz deren Kompatibilitätmit den sozialen Verhältnissen der Unterworfenen und Übertragbarkeitauf beziehungsweise Anbindung an die kommunalen Modalitäten derletzteren von vorneherein gewährleistet.

Die Kompatibilität der neuen Organisationsformen mit den vorgefun-

denen sozialen Verhältnissen ist umso größer, als in den letzten Jahr-hunderten des Römischen Reiches dessen fortschreitender Verfall dieHerrschenden dazu zwingt, auf ökonomischem Gebiet zunehmend vonallen – durch das handelsstädtische System eingeführten und wenigstensin Teilen des Reiches oder, wenn nicht auf der Ebene der Produktion, so

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immerhin doch auf der Stufe der Distribution praktizierten – marktwirt-

schaftlichen Prinzipien und kommerziellen Mechanismen Abstand zunehmen und in Gestalt des Schollenzwangs für die Bauern, des Berufs-zwangs für die Handwerker, der Zwangsverpflichtung der Untertanenzu öffentlichen Arbeiten und der Delegation staatlicher Aufgaben an dieals Vögte oder Schultheiße fungierenden Vorsteher der Gemeinden zuterritorialherrschaftlich-fronwirtschaftlichen Einrichtungen und Gepflo-genheiten zurückzukehren.

Diese, an die Stelle objektiver Austauschverhältnisse subjektive Ver-tragsbeziehungen treten lassende und sächlich vermittelte Zusammen-hänge und Verknüpfungen durch unmittelbar persönliche Abhängig-

keiten und Haftungen ersetzende regressive Entwicklung nähert dieVergesellschaftungsformen der Untertanenschaft des Reiches denen dereindringenden Stammesvölker an und erleichtert so, wie etwa an derVerschmelzung von stammesspezifischer Leibeigenschaft und reichsty-pischer Hörigkeit, an der herrschaftlich kontrollierten Ausübung vonHandwerken und am Lehnswesen als dezentralem politischem Ord-nungsprinzip zu sehen, die Aufgabe, die von den Stammesvölkern nachMaßgabe ihrer traditionellen Organisationsprinzipien neu eingeführtefeudale Staatsform mit den auf unterer, kommunaler Ebene vorgefunde-nen Überresten imperialer Staatlichkeit auf Basis der beiden Zusammen-

hängen gemeinsamen ökonomischen Substanz in systemischen Einklangzu bringen beziehungsweise zu einer konsistenten hierarchischen Struk-tur zu verbinden.

Bleibt aber noch ein weiterer, wichtiger Unterschied zwischen dort denStaatsgründungen im Kontext der frühen orientalischen Zivilisationenund hier der Staatenbildung nach dem Untergang des jene orientalischenZivilisationen in den finalen Konkurs treibenden Römischen Reiches– ein Unterschied, der die Religion und den Kultus betrifft. Nicht et-wa dass, wie auf politischem Gebiet, so auch im kultischen Bereich dieagrarischen Okkupanten der römischen Provinzen ein Trümmerfeld und

ruiniertes System anträfen und deshalb anders als die nomadischen Er-oberer der orientalischen Flusstäler, die umstandslos das vorgefundeneReligionssystem übernehmen und, was sie an Eigenem mitbringen, in esintegrieren können, das Eigene vielmehr zur Grundlage und zur Richt-schnur einer neu zu stiftenden Religion machen müssten! Wie gesehen,

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ist im markanten Gegensatz zur staatlich-politischen Ordnung des un-

tergegangenen Reiches seine religiös-kultische Verfassung intakt undlebendig: Im Chaos des Zusammenbruchs des Imperiums und auf denTrümmern des kollabierten Reichsgebäudes wächst und gedeiht der vomImperium in der Endphase seines Bestehens zur Staatsreligion erhobenechristliche Glaube und für normativ erklärte christliche Lebenswandel.Von daher scheint also, anders als im Falle der politischen Praxis, in Sa-chen Religionsübung die Situation hier der agrarischen Okkupanten unddort der nomadischen Eroberer eher vergleichbar als verschieden, undim Einklang damit verhalten sich denn auch die einstigen nomadischenEroberer und die jetzigen agrarischen Okkupanten eher identisch als

different: Wie die Eroberer der Stromtäler des Orients beugen sich auchdie Besetzer der römischen Reichsprovinzen der höheren Weisheit dervorgefundenen Religion und machen sich in Anerkennung der zivili-satorischen Leistungen und kulturellen Errungenschaften, denen dieseReligion entspringt, deren Dogmen und Rituale vorbehaltlos zu eigen.

Dass dennoch ihr formaliter gleichartiges Verhalten einen realiter we-sentlichen Unterschied impliziert und ganz differente Folgen zeitigt be-ziehungsweise divergente Probleme heraufbeschwört, hat seinen Grundnicht im Verhältnis zur Sache, in der religiösen Haltung der Subjekte,sondern im Sachverhalt selbst, im Gehalt des religiösen Objekts. Nicht

von ungefähr floriert die christliche Religion auf dem politischen Trüm-merfeld und zivilisatorischen Scherbenhaufen eines untergegangenenImperiums, während die polytheistischen Religionen des Alten Orientsauf dem Boden funktionierender zivilisatorischer Organismen und leben-diger politischer Strukturen gedeihen. Weit entfernt davon, dass zwischender Blüte der christlichen Religion und der Verwesung des römischenImperiums bloß eine koinzidentielle Beziehung, eine chronische Konti-guität bestünde, ist erstere mit letzterer durch einen reellen Nexus, einekausale Kontinuität verbunden: Es ist eben jener Untergang und Zerfalldes staatlich-politischen Gemeinwesens, der die kirchlich-kultische Glau-

 bensgemeinschaft ins Leben ruft und groß und stark werden lässt. Derchristlich-gnostische Glaube ist mit anderen Worten die direkte Reaktionund pointierte Antwort der Untertanen des Römischen Reiches auf dasalltägliche Verderben und die existenzielle Verzweiflung, worein dieanhaltende Agonie der kaiserlich-despotischen Herrschaft sie stürzt.

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Wie gezeigt, ist es die von der imperialen Herrschaft kraft eines perma-

nenten Kriegs- und Ausnahmezustandes mit erbarmungsloser Nach-drücklichkeit und vernichtender Konsequenz ins Werk gesetzte Zer-störung gleichermaßen der natürlichen Lebensräume, der gesellschaft-lichen Ordnungen und der kulturellen Systeme, was die Untertanendes Reichs jedes Vertrauen in die Haltbarkeit des irdischen Daseins unddie Lebbarkeit des menschlichen Lebens verlieren und ihr Heil in derpauschalen Absage ans Dasein und einer radikalen Lebensverneinung,kurz, in der Weltflucht suchen lässt. Das Heil, das sie auf diesem Wegeerreichen, oder vielmehr die Botschaft vom zu erreichenden Heil, de-ren sie in der Perspektive solcher Weltflucht, dort, wo die Perspektivesich in ihrem innerweltlichen Fluchtpunkt verliert und als Himmelfahrtselbst transzendiert, teilhaftig werden, ist die christliche Religion, je-ne Kombination aus platonisch-gnostisch entfaltetem Wesenskult undmessianisch-soteriologisch gewendetem Schöpferglauben, die das Heilals definitiv nicht von dieser im heillosen Schein sich erschöpfendenWelt und gleichbedeutend mit deren pauschaler Nichtigkeitserklärungvorstellig werden lässt und die die Erlangung des so als das Sein jen-seits des Scheins perennierenden Heils nicht etwa als eine durch dieGeschöpfe des Scheins, die Bewohner der Welt selbst, zu vollbringendeTat, als irdisch-menschliche Leistung, sondern streng nur als vom Herrndes Seins beziehungsweise von seinem Gesandten, dem Heilsbringer, zu

empfangende Wohltat, als himmlisch-göttliche Gnade zu denken erlaubt.Die christliche Religion ist also in doppeltem Sinne weltfeindlich, das

irdische Dasein verneinend und verwerfend. Nicht nur gilt all ihr Sinnenund Trachten einer anderen Sphäre als der Erscheinungswelt, einemvom Diesseits ontologisch verschiedenen Jenseits, einem in der absolutenNegation des Erdkreises bestehenden Himmelreich, sie spricht mehr nochdem Diesseits und irdischen Dasein jede Möglichkeit ab, aus eigenerKraft und mit eigenen Mitteln die Kluft, die sie vom Jenseits trennt, zuüberbrücken und des himmlischen Seins teilhaftig zu werden. Das einzigeInteresse, das sie an dieser Welt nimmt, ist das an ihrer Überwindung

und Abdankung. Und das einzige Geschäft, das sie in ihr hat, ist, so zuleben und sich so zu verhalten, dass diese nicht aus eigener Kraft, son-dern durch die Gnade des Herrn des Seins und seines Gesandten, seinesSeins- oder Heilsbringers, zu erwirkende Überwindung und Abdan-kung der Welt möglichst leicht und ungehindert vonstatten gehen kann.

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Die christliche Religion ist mit anderen Worten weder irdisch orientiert

noch magisch disponiert, ist ebenso spirituell gesinnt wie quietistischgestimmt, ist ebenso wenig auf die Hege und Pflege des innerweltlichenDaseins gerichtet, ebenso sehr vielmehr beherrscht vom Gedanken, diesinnerweltliche Leben an den Nagel zu hängen und sich ein- für allemalaus der Welt zu verabschieden, wie sie fern davon ist, dem innerweltli-chen Leben wenigstens im Blick auf diese seine Negation, diesen Auszugaus der Welt eine positive Rolle zu konzedieren, geschweige denn einekonstitutive Funktion zuzuschreiben.

In beiderlei Hinsicht, der auf Spiritualität gerichteten topischen ebensowie der in Quietismus endenden dynamischen, unterscheidet sich nunaber die christologisch-essenzialistische Lehre des im Konkursverfahrendes Römischen Reiches neu entstandenen Glaubens ganz offenkundigvon den theokratisch-polytheistischen Vorstellungen der Religionen, dieauf Basis der in den Flusskulturen vorgefundenen Kulte die frühen ori-entalischen Reiche etablieren, und steht in der Tat im eklatanten Wider-spruch zu ihnen. Im diametralen Gegensatz zu der vom essenzialistisch-christlichen Glauben intendierten und als göttliches Sein firmierendenTranszendenz, die als Selbstzweck für sich steht und die erscheinungs-weltliche Immanenz für Schein erklärt und als nichtig verwirft, hat dasvon den polytheistisch-heidnischen Kulten etablierte und als Sphäre derGötter fungierende Jenseits definitiv Mittelcharakter und ist nämlich dazu

da, das erscheinungsweltliche Diesseits vor eben jener ihm drohendenNichtigkeitserklärung und Entlarvung als Schein zu bewahren und alsvielmehr seinsmächtiges Faktum und substanzielles Gebilde zur Geltungzu bringen.

Und im nicht minder krassen Widerspruch zum christologischen Glau- ben, der eben deshalb, weil allein die Transzendenz wirklich und dieImmanenz nichts ist, alles und auch sogar die Errettung aus der nichtigenImmanenz und Überführung in die transzendente Wirklichkeit zur Gänzeder letzteren anheim stellen und jede aus eigener Kraft unternommeneAnstrengung für ebenso vergeblich wie nichtig erkennen muss, sehen

sich die theokratischen Religionen durchaus in der Lage, an der von ihnendem göttlichen Jenseits zugewiesenen Aufgabe einer Reaffirmation undSanktionierung des irdischen Diesseits aus eigenen Stücken mitzuwirkenund zu ihrer Erfüllung einen maßgeblichen Beitrag zu leisten – mit demErgebnis, dass hier der christologische Glaube als Mittel zum Zweck des

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von ihm angestrebten Übergangs aus der Immanenz in die Transzendenz

nur das Gnadengeschenk des Autodafé, des vom Herrn der Transzendenzin Gestalt seines Sohnes zu bringenden himmlischen Selbstopfers, kennt,wohingegen dort die theokratischen Religionen als Mittel zum Zweck dervon ihnen vorgesetzten Sanktionierung des Diesseits durch das Jenseitsden irdischen Opferkult etablieren, den wegen seiner epiphanischenEigendynamik zwar immer wieder misslingenden, aber auch stets wie-der unverdrossen unternommenen Versuch des Diesseits, das Jenseitsin die Pflicht einer ihm, dem diesseitigen Supplikanten, in objectu dersakramentalen Gabe geschuldeten Anerkennung zu nehmen.

Kultische und messianische, anders gesagt, polytheistisch-theokratische undessenzialistisch-christologische Religion bilden nicht einfach einen zeitlos struk-turalistischen Gegensatz, sondern sind Momente eines nachvollziehbaren histo-rischen Prozesses.

So strukturalistisch unvermittelt und äquilibristisch gegensätzlich diePositionen und Intentionen der polytheistisch-theokratischen Kulte einer-seits und der essenzialistisch-christologischen Lehre andererseits auf denersten Blick anmuten mögen, beide religiösen Systeme haben durchaus,wie in den vorangegangenen Büchern gezeigt, ihre Geschichte, in derenZusammenhang und Verlauf sich das, was als reiner Gegensatz und ab-strakte Alternative erscheint, vielmehr als logische Abfolge und konkreteKonsequenz erkennen lässt. So sind, wie gesehen, die polytheistisch-theokratischen Kulte mit ihrer Vorstellung von einer fundamentalen Dies-seitsorientierung des Jenseits, ihrem Anspruch auf eine durch die Herrendes Jenseits zu leistende definitive Reaffirmation und Sanktionierungdes Diesseits und seiner Bewohner, Reaktion auf die in Wahrheit in-definite Indifferenz und absolute Negativität des Jenseits und seinesoriginären, besser, abskonditären und nämlich in ontologischer Abgrün-

digkeit verhaltenen Subjekts und der Versuch, dies toto coelo andereSubjekt aus einem die Welt pauschal für nichts befindenden anachronisti-schen Beginnen und apriorischen Sein in eine der Welt im Gegenteil ihrendetaillierten Bestand garantierende anfängliche Instanz und ursächlicheMacht umzufunktionieren.

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Und gleichzeitig erklärt sich die opferkultlich eingefleischte Gewohnheit

der die polytheistisch-theokratischen Kulte zelebrierenden Gesellschaf-ten, jene dem anderen Subjekt in seiner Vielgöttergestalt vindizierte kos-mologische Bestandssicherung in eigener Regie und aus eigenen Stücken,sprich, durch den Göttern dargebrachte und von ihnen anzunehmendeOpfergaben, Ereignis werden zu lassen, aus dem Bemühen, der Hybris zuwehren, von der der irdische Stellvertreter des zu Göttern domestiziertenanderen Subjekts, der Theokrat, sich etwa anwandeln lässt, und zu ver-hindern, dass in biographisch letzter Konsequenz, nämlich in actu seinesTodes, der Theokrat kraft Überhebung die jenseitigen Garantiemächtedes Diesseits, die Götter, entmachtet und seinerseits die das Diesseits

fundamental in Frage stellende ursprüngliche Indifferenz und Negati-vität des anderen Subjekts repristiniert – wobei sich allerdings als die besondere Pointe oder eigentümliche Ironie der gegen diese Gefahr theo-kratischer Hybris getroffenen opferkultlichen Vorkehrungen herausstellt,dass die Vorkehrungen selbst eben jene Gefahr, die sie bannen sollen,ihrerseits heraufbeschwören und, indem sie in actu der zur Dispositiongestellten Opfergabe einer spontanen Epiphanie des toto coelo ande-ren Subjekts den Boden bereiten, die Opferhandlung jedes Mal wiedervereiteln und dazu zwingen, die auf die Sanktionierung des Diesseitsabgestellte sakramentale Darbringung an die Götter in eine auf nichts

als auf die sakrifizielle Beseitigung des ex improviso der Darbringungerscheinenden nefariösen Verneiners des Diesseits umschlagen zu lassen.Eingeklemmt zwischen der Notwendigkeit, das polytheistisch-theokra-

tische System gegen die Indifferenz und Negativität des anderen Subjekts,das es in eine anteilnehmend-göttliche Macht und positiv-sakrale Instanzumzufunktionieren dient, zu behaupten, und dem Erfordernis, der Indif-ferenz und Negativität zu wehren, die der das System repräsentierendeTheokrat in der letzten Konsequenz seiner Statthalterbiographie seiner-seits hervorzukehren droht, müssen sich die betroffenen Gesellschaftenzu einer opferkultlichen Gratwanderung verstehen, die sich in ihrem

zwischen Sakrament und Sakrifiz hin und her gerissenen Vollzug quasials ein auf dem Grat zelebrierter Drahtseilakt erweist und deren prekäreKontinuität mit der Bereitschaft der Betroffenen, die Opferhandlung dieZüge und Dimensionen eines schlecht unendlichen Ritualismus, schierenWiederholungszwangs, gewinnen zu lassen, im Wortsinne steht und fällt.

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So prekär und gefährdet seiner abstrakten Struktur nach dieser opferkult-

liche Wiederholungszwang die ihn übenden polytheistisch-theokratischenGesellschaften aber auch erscheinen lässt, so sehr garantiert er ihnendoch durch sein konkretes Funktionieren Bestand und Ausdauer undermöglicht so der unter ihrer Ägide praktizierten fronwirtschaftlich-kollektiven Form der Arbeit eine ebenso stetige wie langsame Entfaltungihrer Produktivkraft, ihrer überflusserzeugenden Effizienz – mit demunter den Bedingungen theokratischer Herrschaft und ihres pauschalenAnspruchs auf den gesellschaftlichen Reichtum unvermeidlichen Ergeb-nis, dass die Schere zwischen dem Luxus, in dem die als Gefolgschaftdes Theokraten, als Kultgemeinde, etablierte Oberschicht lebt, und der

kargen Subsistenz der fronenden Unterschicht sich immer weiter öffnetund der Gesellschaft immer stärker das Ansehen eines nicht sowohlstratifizierten politischen Organismus als vielmehr einer gespaltenensozialen Persönlichkeit verleiht. Folge dieses Zerfalls der theokratischenGesellschaft in zwei beileibe nicht zwar produktionssystematisch, wohlaber lebenspraktisch aparte Totalitäten ist der dionysisch-orgiastischeNaturkult – der Versuch der fronenden Unterschicht, sich durch denindirekten, mittels innerweltlich-natürlichen Fruchtbarkeitskults unter-nommenen Rückgriff auf die Indifferenz und Negativität des im Opferebenso epiphanisch auftauchenden wie blutig wieder zum Verschwinden

gebrachten anderen Subjekts von der theokratischen Herrschaft zu eman-zipieren und gegen deren Reichtumsproduktionssystem durch Berufungauf einen natürlichen Überfluss, der doch in Wahrheit nur ein jenemSystem entspringender schöner Schein ist, zu verwahren.

Und dieser Befreiungsversuch, der sich auf die indirekte Beschwörungeben der das irdische Dasein unbedingt verneinenden Potenz und viel-mehr absolut vernichtenden Wirklichkeit stützt, die das theokratischeSystem zu verdrängen beziehungsweise in die affirmative Kraft undsanktionierende Herrlichkeit göttlicher Mächte, überirdischer Instan-zen umzufunktionieren dient – er provoziert nun also bei Teilen der

theokratischen Kultgemeinde jene im Gegenteil direkte Berufung auf das verdrängte Sein und umfunktionierte Bestehen des anderen Sub- jekts, die dessen daseinsverwerfender Evidenz, seiner weltvernichtendenTranszendenz die Ehre gibt, sich der ganzen Wahrheit der in ihm offen- baren modallogischen Indifferenz und ontologischen Negativität stellt

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und damit die Halbwahrheit der naturkultlichen Verneinung der ge-

sellschaftlichen Wirklichkeit, die gespielte Negativität des dionysischenWidersachers, der doch in Wahrheit nur ein sozialkritischer affirmativerTröster der Armen und Unterdrückten ist, aus dem Felde schlägt.

Die Bedingung der Möglichkeit dieses reaktionären, die sozialrevolu-tionären Umtriebe der Unterschicht niederschlagenden Rückgriffs auf diemittels polytheistisch-theokratischer Ordnung zum Anathema erklärte beziehungsweise in ein affirmatives Jenseits umgewandelte abgründigeWirklichkeit oder ontologisch vernichtende Wahrheit des anderen Sub- jekts ist der Wesenskult, dies, dass diejenigen, die sich auf jene absoluteWirklichkeit berufen, darin ihr als der transzendente Kern ihres imma-nenten Daseins perennierendes wahres Selbstsein, ihr als zeitlos vergan-genes Sein wohlverstandenes eigenes Wesen erkennen und so als derErscheinungswelt im entscheidenden Punkte enthobene Wesen den Kopf aus der Schlinge des unendlichen Verdikts und der pauschalen Nichtig-keitserklärung ziehen können, mit der die Indifferenz und Negativität jener absoluten Wirklichkeit sie als irdisch Daseiende ja nicht minder alsdie übrige Erscheinungswelt heimsucht. Wie die wesenskultlich-reflexiveKonstruktion einer Teilhabe an dem sub specie solcher Teilhabe als dasWesen firmierenden Sein, das nicht von dieser Welt ist, den Gruppender theokratischen Kultgemeinde, die damit auf die Bedrohung ihrer ge-sellschaftlichen Existenz durch die naturkultlich-dionysische Sozialkritik

reagieren und fortan die historische Rolle einer Aristokratie überneh-men, ermöglicht, jenes in seiner Indifferenz die ganze Welt zum Scheinerklärende, in seiner Negativität alles vernichtende außerweltliche Seinins Auge zu fassen und als Berufungsinstanz heranzuziehen, so bie-tet diese Konstruktion ihnen nun also die Handhabe, eben jenes ver-nichtende Sein, unbeschadet oder vielmehr sogar unter Ausnutzung derüberschwänglich-weltflüchtigen Motion, zu der seine Wahrnehmung etli-che von ihnen hinzureißen tendiert, als Mittel der innerweltlich-sozialenAuseinandersetzung in Gebrauch zu nehmen und mit dem Ergebniseiner Überführung der opferkultlich-theokratischen Organisation in ei-

ne ständehierarchisch-brahmanische Formation sich als die führendegesellschaftliche Schicht zu behaupten.Seine volle, die Gesellschaft von Grund auf reorganisierende Wirkung

aber zeitigt der als Teilhabe am wahren Sein und a priori wirklichenPrinzip konzipierte Wesenskult erst im interessierten Verbund, sprich, im

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Verein mit einem zwischen den einzelnen theokratischen Herrschaften

in Erscheinung getretenen und ursprünglich nur zu deren ökonomischerVersorgung und Absicherung bestimmten Austauschmechanismus, derkommerziellen Güterdistribution. Indem unter bestimmten, an periphe-ren Stellen des territorialherrschaftlich-theokratischen beziehungsweiseständeherrschaftlich-hierarchischen Gesellschaftssystems gegebenen Be-dingungen die aristokratischen Träger des Wesenskults, ihre kultischeSelbständigkeit mit dem Streben nach politischer Souveränität verschmel-zend, in einer Mischung aus Machtkalkül und materiellem Eigennutz die-ser in der Äquivalenz sächlicher Leistungen gründenden kommerziellenDistributionsform Freiraum und Schutz bieten, ermöglichen sie letzterer,sich unabhängig von allem auf der Interdependenz persönlicher Bezie-hungen basierenden herrschaftlichen Allokationsmechanismus, dem sievorher als verschwindendes Moment integriert waren, zu entfalten undsich jenem Mechanismus als vollgültige Vergesellschaftungsalternativegegenüberzustellen, und entfesseln damit eine politisch-ökonomischeDynamik, die in der Schaffung eines qua Handelsstadt ganz neuen Ge-sellschaftstyps, einer unter der politischen Führung der Aristokratie imökonomischen Prinzip egalitären, will heißen, nach Maßgabe des Syn-thesisprinzips der kommerziellen Funktion durch nichts als durch ihresächlichen Austauschbeziehungen assoziierten und definierten Erzeuger-gemeinschaft, kurz, in einer sich als Markt etablierenden Bürgerschaft

resultiert.Während sich in seiner ersten, durch den Aufstieg und die Blüte der

griechisch-ägäischen Polis markierten Entwicklungsphase dieser neueGesellschaftstyp dank einerseits des ökonomischen Nutzens, den er fürdie umgebenden territorialherrschaftlichen Gesellschaften hat, und an-dererseits der Wehrhaftigkeit und Schlagkraft, die er gegenüber allenVersuchen der letzteren, ihn wieder zu vereinnahmen und als solchenaufzulösen, beweist, in einem wesentlich kommerziell geprägten Koexis-tenzverhältnis zur territorialherrschaftlichen Gesellschaftsformation zu behaupten vermag, sprich, seine Beziehung zu ihr, aller zwischenzeitli-

chen militärischen Konfrontationen und Interventionen ungeachtet, auf den für ihn aus Gründen, die andernorts expliziert worden sind, außer-ordentlich vorteilhaften Handelsaustausch mit ihr gründet, kommt es inder zweiten, durch die Karriere und den Triumph der römischen Urbsdefinierten Phase zu einem Paradigmenwechsel. Weil die allem formellen

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Äquivalenzprinzip zum Trotz unverhältnismäßige reelle Bereicherung,

die der Handel mit den umliegenden Gesellschaften ihr bringt, für dieneue handelsstädtische Gemeinschaft interne ökonomische Problemeschafft und politische Konflikte heraufbeschwört, die sie zu zerreißendrohen, verfällt die römische Urbs auf ein Rettungsmittel, mit dem esauch schon in ebenso systematisch kurzschlüssigerer wie geographisch beschränkterer Form und entsprechend erfolgloser die griechische Polisversucht hat: Sie vollzieht eine Abkehr von der wesentlich kommerziel-len Beschaffenheit oder austauschbestimmten Struktur ihrer Außenver-hältnisse und nutzt die bürgerlichen Tugenden, sprich, die technischen,organisatorischen und strategischen Fähigkeiten, die sie im Rahmen ihrervon ökonomischer Freiheit, sozialer Mobilität und politischer Teilhabegeprägten neuen Vergesellschaftungsform ausgebildet hat, um auf nicht-kommerziellem Wege den territorialherrschaftlichen und stammesförmigorganisierten anderen Gesellschaften wie auch ihren handelsstädtischenKonkurrenten zu Leibe zu rücken und ihnen mit Mitteln militärischerGewalt und bürokratischen Zwangs ihren Reichtum abzuknöpfen.

Dieser neuen, im Vergleich mit dem Verfahren der Polis Athen, dasdie nichtkommerzielle Ausbeutung auf die anderen ägäischen Poleis beschränkt und also eine Art Selbstausbeutung der kommerziellen Funk-tion betreibt, ebenso sehr geographisch entgrenzten wie systematischtotalisierten römischen Bereicherungsstrategie ist der durchschlagende

Erfolg des Imperium Romanum beschieden, eines mit militärischer Kraftund bürokratischer Kompetenz eingerichteten und aufrechterhaltenenProvinzialsystems, das die unter ihm befassten Gesellschaften unter-schiedlichster Provenienz und Beschaffenheit zu uniformen Momenteneiner gigantischen Ausbeutungsmaschine degradiert und nivelliert. Wo- bei die besondere Ironie dieser nichtkommerziellen Ausbeutungsma-schinerie darin zu sehen ist, dass sie die kommerzielle Funktion, derensozialen Implikationen und politischen Konsequenzen sie doch letztlichentspringt, in eben die abhängige, dienende Stellung zurückbringt, die je-ne innehatte, ehe es ihr gelang, sich von ihrer ursprünglichen Matrix, der

theokratischen Territorialherrschaft, zu lösen und dieser gegenüber in deremanzipierten Gestalt eigenständiger handelsstädtischer Gemeinschaftenzu etablieren!

Der Erfolg hat indes seine definitiven Schattenseiten. Wie im vorletztenBand nachgezeichnet, ist er von soziostrukturellen Verwerfungen und

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internen politischen Spaltungen begleitet, die zu guter oder vielmehr

 böser Letzt die Etablierung eines imperatorisch-cäsarischen Regimeszur Folge haben, mit anderen Worten in der Errichtung einer Militär-diktatur resultieren, die im vergeblichen Bemühen, gleichermaßen demvolksfürsorglich-sozialstaatlichen Zweck, dem sie ihr Entstehen verdankt,gerecht zu werden und sich als den eigengesetzlich-selbstbezüglichenMilitärapparat, der sie als Mittel zum Zweck ist, bei Kräften zu erhalten,das Imperium in eine langanhaltende Agonie verstrickt, in deren Verlauf die Provinzen sich in periodisch verwüstete Schlachtfelder und immerneu heimgesuchte Notstandsgebiete verwandeln und den Untertanen desReichs ihre conditio humana von Grund auf vergällt, alles Zutrauen zum

irdischen Dasein, alle Bindung ans Leben in der Welt ausgetrieben wird.Durch die nicht enden wollende imperiale Agonie um jede intentionalePerspektive und habituelle Kontinuität, jede soziale Geborgenheit undmaterielle Sicherheit gebracht, machen die Untertanen eine vollständigeKehrtwendung, in deren Konsequenz das, was ihnen bis dahin als derabsolute Schrecken und das um jeden Preis abzuwendende Fatum gilt,das Sein nämlich des anderen Subjekts, das in seiner modallogischenIndifferenz und ontologischen Negativität die ganze Welt für Scheinund alles Dasein für nichts erklärt, nun vielmehr als etwas relativ Verlo-ckendes, als ein durchaus erstrebenswertes Bonum vor Augen tritt. Ist

zuvor jenes in seiner chronologischen Apriorizität und ontologischenExklusivität vernichtende Sein dasjenige, gegen dessen Verdikt man dieWelt in genere und ihre Güter, ihren Reichtum, in specie verteidigen undals dennoch wirklich behaupten muss und um dessen Verdrängung undEntkräftung willen man bereit ist, der Etablierung einer gesellschaftlichenHerrschaft zuzustimmen, die sich nach Maßgabe ihrer Macht über dieWelt in genere und ihrer Verfügung über den Reichtum in specie alsein jenes Sein umfunktionierender und als in Kontinuität mit der Welt begreifliche, reichtumsaffirmative Modalität erweisender Substitut desnunmehr als göttliche Sanktionsmacht firmierenden anderen Subjekts in

Szene setzt, so spielt im Resultat ihrer desillusionierenden Entwicklungvon der Theokratie zum Cäsarismus eben diese gesellschaftliche Herr-schaft der Welt und ihrem Wohlstand so übel mit, beschwört soviel Notund Unheil über das innerweltliche menschliche Dasein herauf, lässt esdurch Krieg und Verheerung, Tod und Zerstörung den Reichtum, den es

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in die Welt bringt, so teuer bezahlen, dass die Betroffenen in einem regel-

rechten Konversionsakt der Welt in genere die Gefolgschaft und ihremreichtumfixierten Dasein in specie die Verbundenheit aufkündigen, jenesweltverneinende, das Dasein als Schein entlarvende transzendente Seindes anderen Subjekts positiv besetzen und zu ihm ihre Zuflucht nehmen, bei ihm Schutz und Rettung vor den unerträglichen Widrigkeiten unddem unermesslichen Elend des von der cäsarischen Herrschaft in denKonkurs getriebenen Erdkreises suchen.

Die in Hoffnungslosigkeit und Depression versinkenden Untertanendes Imperiums greifen auf und setzen fort, was einst unter dem Druckund Eindruck der sozialrevolutionären Bewegung dionysisch-naturkult-

licher Konfession die zur Aristokratie sich emanzipierende Kultgemeindeder theokratischen Herrschaft qua Wesenskult begann: den Rekurs auf und Appell an die zuvor zum Anathema erklärte und nun als zeitlosvergangenes Sein, als das Wesen, in Anspruch genommene Sphäre derdie Welt ebenso sehr für Schein erklärenden wie in ihr erscheinenden, dasirdische Dasein ebenso sehr verneinenden wie erhellenden ontologischenWahrheit und apriorischen Wirklichkeit des anderen Subjekts. Andersaber als ihre aristokratischen Vorgänger rekurrieren die an der Welt irregewordenen, am Dasein verzweifelnden Untertanen des Imperiums nichtauf das Wesen, um in der Welt ebenso sehr die eigene Stellung zu be-

haupten wie die modifiziert alte Ordnung wiederherzustellen, um ihremDasein einen Sinnbezug zu revindizieren, der in all seiner die Wahrheitund Wirklichkeit der Welt betreffenden kritischen Verdikthaftigkeit ihnendoch zugleich erlaubt, sich mit den irdischen Verhältnissen nach Gut-dünken zu arrangieren beziehungsweise einen frei gestaltenden Einflussauf sie zu nehmen. Vielmehr regredieren die Untertanen auf das Wesenin der definitiven Absicht, die Fronten zu wechseln, sich vom Daseinabzuwenden und dem wahren Sein in die Arme zu werfen, sich aus derImmanenz zu absentieren und Eingang in die Transzendenz zu finden –das heißt, ihnen dient das Wesen keineswegs als ein Mittel, um sich in der

gegebenen Welt weiter zu behaupten oder wieder einzurichten, sondernpartout nur als ein Medium, das sie dieser Welt ein- für allemal überhebenund ihnen eine neue, vom irdischen Dasein absolut verschiedene undnämlich durch eine ontologische Kluft getrennte Zuflucht und Heimat bieten soll.

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Allerdings ist, wie im vorigen Band unserer Studie gezeigt, diese radi-

kale Neuorientierung, diese in Weltentsagung resultierende Konversionnur möglich, weil in zweierlei Hinsicht das ursprüngliche Verhältniszum apriorischen Sein oder anachronistischen Beginnen des anderenSubjekts sich mittlerweile gewandelt hat. Zum einen büßt im letztenStadium der durch den Wesenskult ermöglichten Instrumentalisierungdes apriorischen Seins zu einem Konstitutiv empirischen Verhaltens, inder platonischen Reklamation nämlich der Sphäre jenes Seins als einesfür die Gestaltung der Polis maßgebenden Ideenreichs, diese die tödlicheIndifferenz und vernichtende Negativität, die ihr von Haus aus eignet,ein und nimmt, unbeschadet der ontologischen Kluft oder qua Tran-szendenz unüberbrückbaren Verschiedenheit, in der sie sich unverändert behauptet, die Züge einer in inhaltlicher Kontinuität oder jedenfalls qua-litativer Komparabilität mit der irdischen Welt erscheinenden spezifischdifferenten oder als bestimmte Negation gefassten Totalität an. Das heißt,die Sphäre des als das wirkliche Wesen in Anspruch genommenen wah-ren Seins präsentiert sich dank ihrer platonischen Vereinnahmung undVermittlung nun in der reizenden Gestalt und ansprechenden Vertraut-heit einer die irdische Welt verdoppelnden Gegenwelt, die nicht etwa inabbildlicher Spiegelung, sondern vielmehr in urbildlicher Originalität alldas spirituell darstellt, sprich, ist, was die irdische Welt als ein ungutesGemisch aus spirituellem Sein und stofflich-amorphem Nichts materiell

entstellt, sprich, bloß scheint. Kurz, dank platonischer Reflexionstätig-keit hat jenes apriorische Sein des anderen Subjekts aufgehört, nichts alsder hinter der unbedingten Indifferenz und absoluten Negativität, mitder er der Welt begegnet, anachronistisch-verschwindende Abgrund zusein, und bietet sich statt dessen als der die Welt ihrer ebenso unendlichfernen wie spezifisch differenten Wirklichkeit und ihrer nicht minderabsolut transzendenten wie bestimmt negativen Wahrheit überführendeewig-bleibende Himmel dar.

Und zum anderen eröffnet nun die Religion der in einem Winkel desImperiums wohnenden jüdischen Glaubensgemeinschaft mit ihrer halb

orthodoxen, halb häretischen Vorstellung von einem in unbestimmterAussicht stehenden Gesandten Gottes, einem gesalbten König, der seinemVolk göttliches Heil bringt, den dank platonischer Reflexionsarbeit dievernichtende Wesenssphäre als bergendes Himmelreich gewahrendenweltmüden Untertanen des Imperiums einen Weg, die von der jüdischen

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Religion entschiedener sogar noch als vom Wesenskult angenomme-

ne und radikaler noch zur Grundlage des irdischen Daseins gemachteontologische Kluft und unüberbrückbare Verschiedenheit dennoch zuüberbrücken.

Weil, während es zwar platonisch gelingt, das Wesen seiner reinen Ne-gativität zu entreißen und zu einem Prospekt zu positivieren, es zu einereinladenden Gegenwelt, einem Urbild all dessen, was an der Welt schönund gut ist, zu domestizieren, gleichzeitig aber der Bezug zum Wesen,das im aristokratischen Selbst bestehende Moment von Wesentlichkeit,das sich in der Welt behauptet, flöten geht und sich nämlich als stoi-sches, skeptisches oder hedonistisches Reflexiv selbstreferentiell auf sichreduziert, sprich, zum Lebensberater beziehungsweise Sterbebegleiterdes unrettbar immanenten, im Sumpf seines Luxuslebens versinkendenrömischen Patriziats verkommt – weil sich also in der späten Antikediese gegenläufige Bewegung von Konkretisierung des Wesens und Eli-minierung des Wesensbezuges vollzieht, hat sich jene ontologische Kluftzwischen Schein und Sein, zwischen Erdkreis und Himmelssphäre, sofernüberhaupt möglich, noch vertieft und versetzt die an der Welt verzwei-felnden Untertanen des Imperiums in eine Notlage, eine durch keinegnostische Anstrengung mehr zu überwindende Ausweglosigkeit, in derihnen in ihrer unendlichen Ohnmacht und Verlorenheit Rettung nur nochvon der toto coelo anderen Seite, nur noch vom Sein selbst, sprich, von

dem, der ist, gebracht, nur noch von himmlischen Gnaden zuteil werdenkann.

Und genau in diesem Punkte der verlorenen Überbrückungshilfe oderdes fehlenden Rettungsmittels bietet sich ihnen nun der Messianismusder jüdischen Religion, die Lehre von dem den Menschen zu ihrem Heilvom Himmel gesandten gesalbten König, an, vorausgesetzt, sie missver-stehen seine hauseigene Konstruktion und Intention hinlänglich odertreiben vielmehr beides weit genug in die Richtung voran, die unterdem Einfluss der qua Gnosis sich artikulierenden Weltfluchtstimmungim Reich das jüdische Messiaskonzept bereits eingeschlagen hat, um

dem Messias selbst eine die Beschränktheit seines irdisch-davidischenKönigtums vergessen machende himmlische Herkunft zuzusprechenund das neue Jerusalem, das er verheißt, seinen futuristisch-materiellenGehalt, den Sinn eines über die Völker obsiegenden, fest gegründeten jüdischen Staats, verlieren und die erforderte essenzialistisch-spirituelle

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Form, die Bedeutung des über die Welt triumphierenden ewig währenden

Gottesreichs, gewinnen zu lassen.Dies beides, die schöne Aussicht, die der Platonismus eröffnet unddie die Wesenssphäre zum Ideenreich entfaltet, und die gute Hoffnung,die der Messianismus erweckt und die das zum himmlischen Jerusa-lem erklärte Ideenreich nahe herbeigekommen zeigt, sprich, in greifbareNähe rückt – dies beides also sind die entscheidenden Modifikationen beziehungsweise Neuerungen, die den Wesenskult in der vom römischenKaiserreich beherrschten und in den Konkurs getriebenen Spätantike we-sentlich umgestalten und in der Tat aus dem elitär-aristokratischen Instru-ment zur gesellschaftlich-machtpolitischen Behauptung in der Welt einubiquitär-volkstümliches Vehikel zur persönlich-heilsperspektivischenRettung aus der Welt werden lassen.

Indem sich diese beiden neuen Elemente der schönen Aussicht und derguten Hoffnung zu einem systematischen Ganzen verbinden, verwandelnsie den heidnischen Wesenskult in die christliche Heilsbotschaft undlegen das Fundament für jene radikale Neuorientierung der Menschen,die das vernichtende Jenseits, das einst umfunktioniert und in den Dienstder Affirmation eines unbedingt zu erhaltenden Diesseits gestellt werdenmusste, jetzt vielmehr als das unbedingt zu erreichende rettende Uferwahrnimmt, das Schutz und Geborgenheit vor der Selbstzerstörungsorgieverspricht, in die sich das Diesseits in der letzten Konsequenz des eins-

tigen Modus seiner Affirmation verstrickt findet – eine Neuorientierung,die zugleich jede aktive Einwirkung auf das Jenseits, jede Beeinflussungoder Beförderung seiner Funktion durch das Diesseits kategorisch aus-schließt und das Jenseits in die Position der absoluten Macht bringt, derengnädiger Zuwendung und heilsamem Beistand das Diesseits auf Gedeihund Verderb ausgeliefert ist.

Sosehr also – um an den Ausgangspunkt unserer Rekapitulation zu-rückzukehren – die essenzialistisch-christologische Heilslehre, in derder Impuls zur Flucht aus dem Diesseits sich mit dem Appell ans Jen-seits, die Flucht ins Werk zu setzen, verbindet, im genauen Gegensatz zu

den polytheistisch-theokratischen Kulten steht, in denen die Verbunden-heit mit dem Diesseits das Zutrauen einschließt, das Jenseits zu dessenAffirmation bewegen zu können, sowenig bilden die beiden diametral ge-gensätzlichen Einstellungen doch aber ein strukturalistisch auf den Fleckgebanntes, zeitlos fixes System, sosehr erweisen sie sich vielmehr bei

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näherer Betrachtung als integrierende Bestandteile einer historischen Ent-

wicklung und prozesslogischen Kontinuität, die erstere ebenso sehr alsihren Auslöser, als initiative Konstellation, wie letztere als ihre Auflösung,ihre definitive Konsequenz, zu verstehen gibt. Anders gesagt, erscheintaus dieser die systematisch-äquilibristische Gegensetzung als historisch-konsequenzzieherische Abfolge realisierenden Perspektive die christlicheWeltverneinung als die herausprozessierte Wahrheit über die heidnischeLüge einer durch reichtumsfundierte Herrschaft zu gewährleistendenSicherstellung des immanenten Daseins vor der reichtumsgenerierten Ne-gativität des transzendenten Seins, die am Anfang des ganzen Prozessessteht.

Sowohl bei den Eroberern als auch bei den aus dem bösen Traum der imperialen Agonie erwachten heimischen Populationen ist das Bedürfnis vorhanden, der Heilsperspektive nicht gleich die ganze irdische Existenz zu opfern und vielmehrdie Aussicht aufs ewige Leben mit dem Anspruch auf ein säkular erfülltes Daseinin Einklang zu bringen.

Wenn demnach die agrarischen Okkupanten der als imperiale Kon-kursmasse vorgefundenen römischen Provinzen das Gleiche tun wie ihreVorgänger, die nomadischen Eroberer der von lebendigen Stadtstaaten

 besiedelten orientalischen Flusstäler, und nämlich von der avanciertenZivilisation, über die sie die Herrschaft erringen, auch und nicht zuletztderen Religion übernehmen, so tun sie nur scheinbar oder formell dasGleiche und in Wahrheit oder reell etwas völlig Anderes: Was sie mit derchristlichen Religion sich aneignen und ihren Köpfen einpflanzen, ihremGeist, ihrem individuellen und kollektiven Selbstverständnis einverlei- ben, ist nichts anderes als in letzter Konsequenz der Offenbarungseidall dessen, was ihre Vorgänger einst angefangen haben und was sie, dieNachfolger, jetzt im Begriff stehen zu wiederholen, ist mit anderen Wortendas vernichtende Verdikt über beziehungsweise der die Verwerfung vor-

wegnehmende Schlussstrich unter ihr eigenes, noch gar nicht eigentlichin Gang gekommenes Beginnen. Indem sie einen Glauben annehmen,der letztes Resultat eines historischen Prozesses ist, den sie als im Römi-schen Reich an sein Ende gekommenen neu initiieren oder von Anfangan wiederholen wollen und dem doch aber durch jenen Glauben sein

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vollständiges Scheitern, seine Perspektivlosigkeit bereits attestiert wird,

 belasten sie ihren Neuanfang mit einer kodifizierten Erfahrung, einer dog-matischen Sicht, die über ihn, recht besehen, a priori den Stab bricht, ihmsein als Nichtigkeitserklärung wohlverstandenes Augurium stellt, undunterscheiden sich in diesem Punkte grundlegend von ihren Vorgängern,den die orientalischen Flusstäler erobernden nomadischen Bergvölkern,die mit den theokratischen Kulten, die sie in den eroberten Territorienvorfinden und übernehmen, ein durchaus affirmatives, die Welt, so wiesie ist, zu sanktionieren bestimmtes und also auch den historischen Pro-zess, den die Eroberer in dieser Welt anstrengen, zu unterstützen, wonicht gar zu substantiieren geeignetes Instrument in Händen halten.

Günstig für die neuen Okkupanten und quasi ihr Glück scheint dabeiimmerhin zu sein, dass sie partout nicht wissen, was sie tun, dass sie keineAhnung davon haben, wie sehr dies religiöse Erbe der Vergangenheit,dies Christentum, das sie annehmen und hochhalten, die summarischeVerwerfung eben jenes Unternehmens einer gesellschaftlichen Reich-tumsproduktion unter territorialherrschaftlichen Bedingungen beinhaltet,das sie selbst gerade im Begriff stehen, neu aus der ganz und gar un-christlichen Taufe zu heben. Ihre, wie man will, barbarische Unwissenheitoder kindliche Einfalt scheint sie vor der Realisierung des diametralenWiderspruchs zwischen dem, was sie praktisch vorhaben, und dem,was sie dogmatisch annehmen, der völligen Unvereinbarkeit zwischen

säkularem Wollen und religiösem Sollen schützen zu können, scheintihnen mit anderen Worten die Möglichkeit zu eröffnen, sich zu jenerebenso resignativen wie resultativen Einsicht zu bekennen, ohne dass siedeshalb den Mut verlieren und die Initiative fahren lassen müssten.

Indes, bei genauerer Betrachtung stellt sich diese Unwissenheit undNaivität der Okkupanten im Blick auf den wahren Sinn und die finaleBotschaft der christlichen Religion als geringer Gewinn heraus. Schließ-lich handelt es sich bei dem in Form des christlichen Glaubens abgelegtenOffenbarungseid der Geschichte einer im Römischen Reich ebenso sehraus dem Lot gebrachten und zugrunde gerichteten wie eskalierten und

auf die Spitze getriebenen territorialherrschaftlichen Reichtumsprodukti-on ja nicht einfach nur um ein theoretisches Bekenntnis, einen reflexivenBefund, sondern mehr noch um ein praktisches Gelöbnis, eine reaktiveResolution. Untrennbar verknüpft mit der Annahme des christlichenGlaubens ist die Hingabe an ein als Nachfolge Christi wohlverstandenes

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Arbeitsteilung, sprich, durch die Arbeit anderer sich befriedigen zu lassen,

im kollabierten und in Anarchie gestürzten Imperium immer schwieriger beziehungsweise unmöglicher wird. Will der Gläubige also bis zum Tagdes Heils überleben, so muss er für sich selbst sorgen, muss in eigenerPerson Hand anlegen und allein oder im Verein mit Gleichgesinnten denfür seinen Fortbestand erforderlichen weltlichen Tätigkeiten obliegen. Ermuss Land bestellen, Vieh halten, Häuser bauen, Brunnen graben, Tuchwirken, Geschirr töpfern, Eisen schmieden.

Aber was auch immer er anfängt und tut – es ist ein Tun im Wartestand,im Stande des Wartens auf ein Ereignis, das eben jenes Anfangen undTun ein- für allemal überflüssig macht, weil es mit letzterem auch undzugleich dessen Bedingung der Möglichkeit, seinen irdischen Raum undseine historische Zeit, enden, weil es, anders gesagt, mit dem Dasein inder Welt, das anfängt und tut, auch und zugleich die Welt selbst als denSchauplatz allen Anfangens und Tuns verschwinden lässt. Mit all seinerirdischen Geschäftigkeit verfolgt der Gläubige nur den einzigen Zweck, jenen Augenblick der Wahrheit zu erreichen, in dem er die Erde verlassenund nicht nur ihre Geschäfte, sondern auch und mehr noch sie selbstals den Irrtum, der sie offenbar ist, als das erwiesenermaßen Falsche adacta oder vielmehr ad ficta legen kann. Weit entfernt davon, dass er mitder Arbeit und Mühe, die er auf sich nimmt, um am Leben zu bleiben,irgend eine positive Absicht verbände, einer diesem Leben eigenen, seiner

Kontinuität und Erhaltung oder gar seiner Förderung und Entfaltungdienlichen Strategie verpflichtet wäre, kurz, auf die Erzeugung eines dasirdische Leben als solches bezweckenden Unterhalts oder Überflussesaus wäre, ist seine Arbeit vielmehr durch und durch negativ bestimmt,von ihrer eigenen Nichtigkeit durchdrungen und dient einzig und alleindem Ziel, jenen biographischen Fluchtpunkt zu erreichen, an dem sichihr Behuf und Inhalt, das Am-zeitlichen-Leben-bleiben, als entbehrlich,weil ins ewige Leben überführt und gewandelt herausstellt oder vielmehrzurücknimmt.

Wie sollte wohl eine so in sich negative, so für sich genommen zwecklo-

se irdische Geschäftigkeit in den Dienst eines nach altorientalisch-territo-rialherrschaftlichem Muster erneut in Angriff genommenen sozialenAufbauvorhabens und Staatengründungsprojekts zu stellen sein? Wiesollte ein Leben, das in seiner ganzen Praxis dem Warten auf ein to-to coelo anderes und in seiner ontologischen Differenz ersteres ex post

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für nichts erklärendes, sprich, a priori revozierendes Leben dient, als

Basis für die neuerliche Einrichtung einer auf die Schaffung irdischenReichtums und Überflusses und die Begründung weltlicher Macht undHerrlichkeit vereidigten territorialherrschaftlich-fronwirtschaftlichen Ge-sellschaft herhalten können? Damit dies irgend möglich würde und we-nigstens prinzipielle Denkbarkeit gewänne, müsste tatsächlich auflösbarund trennbar sein, was wir gerade erst als untrennbaren, weil ein quasilo-gisches unmittelbares Konsequenzverhältnis bildenden Zusammenhangkonstatiert und gegen alle Vorstellung von einer naiven Gläubigkeit ohnelebensverändernde Implikationen geltend gemacht haben – die Einheitzwischen theoretischem Bekenntnis und praktischem Gelöbnis, zwischen

Erwartung des Heils und der Erwartung gemäßer Lebensführung.Es müsste möglich sein, theoretisch oder dogmatisch die irdische Im-manenz für Mummenschanz, für schieren Schein zu erkennen und sichder transzendenten Wirklichkeit des wahren Seins, dem Himmelreich zuverschreiben, ohne doch aber praktisch oder kultisch daraus die einzigverbindliche Konsequenz zu ziehen und das ganze irdische Tun undTreiben auf den dogmatischen Fluchtpunkt des himmlischen Heils aus-zurichten, sprich, sich in Armut, Ehelosigkeit und asketischer Entsagungzu üben, die Nachfolge Christi anzutreten. Es müsste – die Sache umge-kehrt betrachtet und von der irdischen Etablierungsabsicht her gefasst! –

möglich sein, ein anderes als das der Heilserwartung einzig gemäße welt-flüchtige Leben zu führen und sich den irdischen Geschäften als einempositiven Prospekt, einem okkupierenden Vorhaben zuzuwenden, ohnedie Aussicht aufs himmlische Heil zu verspielen, ohne preiszugeben, wasnach dem biographischen Zeugnis des als Gottessohn paradigmatischenMenschen, des heilbringenden Messias, mit solch positiver Geschäftig-keit, solch nicht als Weg zum Heil definiertem, sondern als eigenstän-diger Zweck sich entfaltendem Leben offenbar unvereinbar ist. Kannes diese Möglichkeit, den durch die Vita des Heilsbringers dekretiertenZusammenhang zwischen Vorhaben und Nachfolge, Heilserwartung und

erwartungsgemäßem Leben aufzulösen, aber wohl geben, wenn dochallein schon der Versuch, sie zu artikulieren, uns unwillkürlich nocheinmal zur Bekräftigung der Unvereinbarkeit der Heilsperspektive mit jedem nicht in ihr sich erschöpfenden und vielmehr irdisch zentriertenProspekt provoziert?

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Zwar ist die Bereitschaft und sogar die Neigung, jene quasilogische Ein-

heit von Heilserwartung und heiligem Leben, exspectatio salutis undimitiatio Christi, nicht für unverbrüchlich gegeben zu erachten, sondern,wenn möglich, die freudig angenommene Heilsperspektive mit demProspekt eines bis zum Eintritt ins himmlische Sein ernst und als eigeneAufgabe eifrig in Angriff genommenen Daseins auf Erden zu verbinden, bei den Okkupanten des aufgelassenen Imperiums durchaus vorhan-den. Schließlich entstammen sie ja nicht dem imperialen Verfallsprozess,sind nicht im Bannkreis der agonal-fatalen Schicksalsfuge des in Kon-kurs gehenden Imperiums aufgewachsen und heimisch, haben nicht jene anhaltenden beziehungsweise wiederkehrenden Verwüstungs- undZerstörungsorgien erlebt, die die Betroffenen in eine Situation völligerAusweg- und Aussichtslosigkeit versetzen und demzufolge in Hoff-nungslosigkeit und Verzweiflung, in abgrundtiefe Depression und un-heilbare Resignation stürzen mussten. Aus ebenso kargen wie primitivenStammesverhältnissen hervor- und durch ebenso entbehrungsreiche wiegefahrvolle Wanderungen hindurchgegangen, sind diese Neuankömm-linge bei der Ankunft in den Gebieten des zerfallenen Reichs von allerDesillusionierung und Verzweiflung, allem Lebensüberdruss und Welt-schmerz weit entfernt und vielmehr erfüllt von Neugier und Faszination, begierig darauf, die fremde Zivilisation, die ihnen, wie sehr auch ruiniertund in Bruchstücken, entgegentritt, kennen zu lernen und sich anzueig-

nen, beziehungsweise die kulturellen Errungenschaften und materiellenAnnehmlichkeiten, die, in wie sehr auch rudimentärer und regressiverForm, diese Zivilisation für sie bereit hält, zu erforschen und auszukosten.

Dass sie im Paket mit den kulturellen Errungenschaften und mate-riellen Annehmlichkeiten der zugrunde oder jedenfalls in die Brüchegegangenen Zivilisation auch deren höchst lebendige und im Unterschiedzu den übrigen zivilisatorischen Erscheinungen ganz und gar intakteReligion in Kauf nehmen und sich zu eigen machen müssen und dassdiese Religion sie nun gleich wieder von den irdischen Belangen und im-manenten Bezügen, denen sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken

wollen, abwendet und auf ein transzendentes Ziel, das himmlische Heil,hinlenkt, stellt dabei, für sich genommen, noch kein ernsthaftes Problemdar. Warum sollen sie nicht das irdische Leben als solches leben, es alsdas nichts als sich selbst bezweckende biographische Vorhaben, das es ist,realisieren, es in allen seinen kontemporären Aspekten und evolutionären

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Prospekten wahrnehmen, um dann anschließend und zu guter Letzt des

himmlischen Heils teilhaftig zu werden, ins ewige Leben überzuwech-seln. Beides, das als biographischer Entfaltungs- und Erfahrungsprozesssich realisierende irdische Leben und die als ewiges Leben firmierendeVergängnis der Vergänglichkeit und Überwindung des Todes, sind jaerstrebenswerte Güter, die die Ankömmlinge nur zu gern nebeneinander beziehungsweise eins nach dem anderen in Besitz nehmen und genießenwürden.

Das Problem entsteht für sie erst dadurch, dass eins das andere aus-schließt, dass die Heilsperspektive von ihnen verlangt, dem irdischenDasein als einem Selbstzweck und Gut eigener Art zu entsagen, dass diechristliche Religion sie anhält, das weltliche Leben für nichts zu erkennenund in die Schanze des alle Aufmerksamkeit der Welt auf sich ziehen-den Strebens nach dem Himmelreich zu schlagen. Wollen sie das ewigeLeben, so dürfen sie sich im irdischen Leben weder häuslich einrichtennoch überhaupt irgend engagieren, sondern müssen ein in der Nachfolgeihres Heilsbringers stehendes heiliges Leben führen, müssen mit anderenWorten all ihre Lebenskraft daran wenden, ihr irdisches Leben so zuabsolvieren und hinter sich zu bringen, dass es die Aussicht aufs Heilmöglichst wenig behindert und verstellt beziehungsweise möglichst weit befördert und freigibt. Wenn sie hingegen, wie sie gern möchten, imirdischen Leben heimisch werden und sich um seiner selbst willen in ihm

zu schaffen machen, verlieren sie das Heil aus dem Blick beziehungs-weise verengen sich die Aussicht auf es zum unpassierbaren Nadelöhrund finden sich am Ende dem Tode verfallen statt des ewigen Lebensteilhaftig.

Dies ist ihr zum schieren Dilemma zugespitztes Problem, aus dem sienur allzu bereit sind, sich zu befreien, falls es einen Ausweg aus ihmgibt, sprich, einen Weg, die dem Anschein nach untrennbare Verknüp-fung zwischen Heilserwartung und heiligem Leben zu lösen und dasdarin implizierte Ausschließungsverhältnis zwischen innerweltlichemEngagement und Streben nach dem Himmelreich zu überwinden. Falls es

diesen Weg, das in eigener Regie zu führende Leben auszukosten, ohnedafür des in Christus beschlossenen ewigen Lebens verlustig zu gehen,gibt, sind sie nur allzu begierig, die nach dem Untergang des RömischenImperiums entstandene historische Situation zu nutzen und situationsge-mäß in die Fußstapfen ihrer orientalischen Vorgänger zu treten, sprich,

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die aus landsässigen Unterworfenen und landnehmenden Eroberern,

aus bäuerlich-handwerklicher Unterschicht und kriegerisch-streitbarerOberschicht zusammengesetzten stratifizierten Gesellschaften der erstenZivilisationen, Territorialherrschaften alten Musters, wieder zum Lebenzu erwecken und neu einzurichten.

Kann ihnen diese Bereitschaft, die Welt in festen Besitz zu nehmen,dieser Eifer, sich auf Erden breit zu machen, aber eigentlich viel nüt-zen? Stehen sie nicht, selbst wenn das dogmatisch-kultische Problem derUntrennbarkeit von Heilserwartung und heiligem Leben sich für sie alslösbar erweist, vor dem weiteren, politisch-praktischen Problem, dass sie,so unverblümt irdisch, so lebenslustig sie, die prospektiven Herren derneuen Gesellschaften, auch immer sein mögen, es bei den unterworfenenheimischen Bevölkerungen, den prospektiven Untertanen, doch aber mitMenschen zu tun haben, denen das Imperium alle Lebenslust ausgetrie- ben hat und die im Gegenteil erfüllt sind vom Verlangen, dem irdischenDasein den Rücken zu kehren? Wie soll sich mit Populationen, denendie agonale Zerstörungsorgie des in die Brüche gehenden Imperiumsalles irdische Begehren, allen Lebensmut ausgetrieben hat und denendeshalb das ihnen von der neuen Religion, der christlichen Heilslehre,zur Auflage gemachte heilige Leben, das in heilssüchtiger Selbstzurück-nahme, in frommer Entsagung verbrachte Leben in der Nachfolge desHeilsbringers, ein Leben im Wartestand, ganz und gar zupass kommt

und als vollkommene Erfüllung ihrer zunichte gemachten Erwartungenans irdische Dasein gilt – wie soll sich mit solchen Populationen eineorganisierte Gesellschaft, egal ob territorialherrschaftlichen oder anderenZuschnitts, aufbauen, ein wie auch immer beschaffener funktionierenderStaat machen lassen?

Indes, dem hier beschworenen Bild von Menschen, die sich in hel-ler Verzweiflung an der Welt nichts Sehnlicheres wünschen, als ihr denRücken kehren zu können, und die das irdische Dasein deshalb nur-mehr als ein Mittel interessiert, es möglichst rasch und im Sinne ihrerHeilserwartung hinter sich zu bringen – diesem Bild vom Menschen als

einem ebenso passionierten Weltflüchtigen wie enragierten Heilssucherwerden die vom Imperium zurückgelassenen, in den Provinzen hei-mischen Bevölkerungen zu dem Zeitpunkt, da die Erobererstämme sieunterworfen haben und sich anschicken, sie für ihre Staatsgründungsab-sichten, ihre territorialherrschaftliche Etablierung in Dienst zu nehmen,

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 jener Zwecke hinderte, der sie uno actu in Gang setzte und auflaufen

ließ, der ihnen den Weg wies, nur um ihnen diesen Weg gleich wiederzu verlegen, und der sie so in ein Elend stürzte, das sie eigentlich nursich selbst, ihrem sozialen System zurechnen konnten, sie Entbehrungenaussetzte, die als Resultat nicht äußerer, objektiv-konditioneller Verhält-nisse, sondern eigenen, kollektiv-konstitutionellen Verhaltens erschienen,so dass sich am Ende ihre Fron und Arbeit aus einem für den Sinn desDaseins zu zahlenden Preis in eine für den Widersinn des Daseins zuerduldende Strafe, ihre Not und Armut aus dem Vorweis eines ihnen dasLeben schwer machenden Schicksals ins Merkmal eines sich selbst seinVerhängnis wirkenden Lebens verkehrt zeigte.

Diese im Staatsapparat und seinem Walten Gestalt gewordene innereWidersprüchlichkeit und konstitutionelle Absurdität ihres sozialen Da-seins und politischen Lebens, die sie in den Wahnsinn trieb und schließ-lich abgrundtiefer Verzweiflung und unheilbarer Depression auslieferte– sie zeigt sich nun, da das Imperium das Zeitliche gesegnet hat oder besser gesagt dem Fluch der Zeit erlegen und mit Schaden abgegangenist, von ihnen genommen, und befreit von der erdrückenden Last einesunlebbaren Lebens, atmen sie auf und erleben die Welt, eine feindlicheWelt voller Widrigkeiten und Gefahren, aber auch freundliche Welt vollerGlücksmomente und Verheißungen, neu, fühlen sich wie von schwererKrankheit Genesende, noch unsicher auf den Beinen und des Fortgangs

ungewiss, aber doch sicher, dass der Fortgang sich lohnt, dass es gut ist,auf der Welt zu sein, dass da zu sein allemal besser ist, als nicht mehrda zu sein, dass sich, wie es der von inneren Ambivalenzen und Wi-dersprüchen unbeleckte unzynisch-animalische Wahrspruch der BremerStadtmusikanten will, etwas Besseres als der Tod überall findet.

Was die imperiale Krankheit den Genesenden, die agonale Depressionden wieder Lebensmut Schöpfenden hinterlassen hat, ist die christlicheReligion mit ihrer Heilsverheißung, ihrer in Christus eröffneten Aussichtauf ein dem irdischen Dasein folgendes ewiges Leben, ein Himmelreich,das nach dem Abschied von der Erscheinungswelt ihrer harrt. Nicht, dass

sie die Aussicht nicht zu schätzen wissen! Nicht, dass ihnen ihr Heil nichtam Herzen liegt, nicht so viel bedeutet, dass sie sich ein Leben ohne esgar nicht mehr vorzustellen vermögen! Aber für den himmlischen Lohndas irdische Leben zum Opfer zu bringen, der Welt den Laufpass zugeben und die Nachfolge Christi anzutreten, das diesseitige Dasein als

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der Erwartung des Heils sich erschöpfenden heiligen Leben Abstand

nehmen, um dem menschlichen Leben zu geben, was des menschlichenLebens ist, und sich erst dann ins ewige Leben zu schicken, wenn – inaller Paradoxie gesagt – seine Zeit gekommen ist.

Und an dieser Haltung der dem Leben zurückgegebenen Bürger undUntertanen des zugrunde gegangenen Imperiums ändert auch nichtsder Umstand, dass in Gestalt eben jener eingedrungenen Stammesgrup-pen schon wieder jemand bereit steht, sie zu unterjochen und in dieKnechtschaft zu führen. Territorialherrschaftlich-fronwirtschaftliche Exis-tenzbedingungen als solche sind, wie die menschliche Geschichte lehrt,noch kein Grund zu verzweifeln. Sie mögen, wenn sie gar zu harte und bedrückende Formen annehmen, wenn sie jede Balance zwischen herr-schaftlicher Inanspruchnahme und konzediertem Eigenleben vermissenlassen, zu Kritik und Empörung, zu kultischem Widerstand oder prak-tischem Aufbegehren Anlass geben; den Mut zum Dasein und die Lustzum Leben aber rauben sie nicht. Das schafft erst ein Herrschaftssystemwie das des Römischen Imperiums, das als Ausgeburt einer unheiligenVermählung von territorialer Fron und kommerzieller Ausbeutung daseindeutig selbstsüchtige Beginnen der Herrschaft in ein widersprüchli-ches, die Herrschaft zum agonalen Streit mit sich selbst, zu einer selbst-zerstörerischen Selbstsuche entflammendes Verfahren und – in der Kon-sequenz dieser Verkehrung des Kalküls realer Machtausübung in den

Wahn finaler Machtergreifung – die zielstrebige Unterdrückung undAusbeutung der Untertanen in eine sinnlose Quälerei und Misshandlung,die schwere Last der Knechtschaft und Fron in die erdrückende Bürdeeiner verderblichen Heimsuchung und tödlichen Plage ausarten lässt.

Mit einer fronwirtschaftlichen Territorialherrschaft, wie die eingewan-derten Stammesgruppen sie neu etablieren, die nichts weiter will, als ihrAuskommen beziehungsweise ihr Wohlergehen auf die Arbeit anderer,als Untertanen rekrutierter Gruppen zu gründen und die den letzterenim übrigen erlaubt beziehungsweise nicht verwehrt, im Rahmen dieserherrschaftlichen Ansprüche und Forderungen einigermaßen ungestört

ihr lokales Dasein zu gestalten und ein in den traditionellen Bahnen ver-laufendes, halbwegs friedliches kommunales Leben zu projektieren undzu führen – mit einer solchen Herrschaft lässt sich leben, sie lässt sich er-tragen. Erst die unter der Einwirkung des kommerziellen Prinzips in denaristokratisch-patrizischen Stadtstaat transformierte und durch die Hefe

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demokratisch-kompensatorischer Anstrengungen ins cäsarische Impera-

torenregime getriebene Herrschaft verstrickt sich in den beschriebenen,an Schizophrenie gemahnenden Zweck-Mittel-Konflikt, der zur ständi-gen Überlagerung der in Unterdrückung und Ausbeutung bestehendenzweckvollen Vermittlung durch das in Tod und Vernichtung resultierendeStreben des Mittels führt, den es erfüllenden Zweck in eigener GestaltWirklichkeit werden zu lassen, sprich, sich gegen sich, das Mittel selbstzu behaupten und als der unmittelbare Zweck zu etablieren – in denKonflikt also, der die Bedingungen für die agonale Selbstzerfleischungder imperialen Herrschaft und für die den Bürgern des Imperiums ihreVerankerung im Dasein zerstörenden und ihren Lebensmut raubenden jahrhundertelangen Kriege und Verwüstungen schafft und der damit denGrund für jene allgemeine Verzweiflung an der Welt und weltflüchtigeMotion legt, die im Heil der christlichen Religion ihren zur letzten Hoff-nung konkretisierten Fluchtpunkt gewahrt, ihr ebenso unverhofftes wieheiß ersehntes Ende herbeigekommen sieht.

Nach dem Untergang dieses der Vermählung der kommerziellen Funk-tion, die sich von der Territorialherrschaft emanzipiert, mit einer Terri-torialherrschaft, die sich in der Konsequenz solcher Emanzipation ari-stokratisiert, entsprungenen imperialen Wechselbalgs aber legt sich nun,wie gesagt, die Verzweiflung der der Hölle des Imperiums entronnenenUntertanen und büßt ihre weltflüchtige Motion den Impetus ein, sodass

sie selbst angesichts der ihnen von den neuen Eroberern abgefordertenUnterwerfung und zugemuteten Knechtschaft alten, rein territorialherr-schaftlichen Zuschnitts geneigt sind, sich auf Erden wieder am Platze, imDasein erneut zu Hause zu fühlen, und nicht mehr einsehen, warum siedem mit der christlichen Heilserwartung verknüpften Nachfolgegebot,dem Gebot mit anderen Worten, dem transitorischen oder vielmehr ver-schwindenden Charakter ihrer Existenz durch opferfreudige Entsagungund selbstverleugnende Askese Folge leisten und ihr zeitliches Leben,statt es als solches zu leben, in der abstrakten Aussicht aufs ewige Lebenverbringen, ihr irdisches Dasein, statt es als eigenständiges Vorhaben

zu entfalten, in der fixen Idee des himmlischen Seins untergehen lassensollen. Nicht weniger als ihre neuen Herren möchten die dem Lebenzurückgegebenen Bürger des aufgelassenen Imperiums nach Möglichkeit beides und eins nach dem andern: irdisches Wohl und himmlisches Heil,menschliche Erfahrung und göttliche Erlösung, materielle Entfaltung und

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spirituelle Erfüllung. Nicht weniger als ihre neuen Herren sind auch sie

nur zu bereit, die enge Verknüpfung zwischen Hoffnung und Entsagung,Heilserwartung und heiligem Leben, dogmatischem Glauben an denMessias und praktischer Nachfolge Christi aufzubrechen, wenn dies ohneVerlust ihrer Heilsaussichten, ihrer Option aufs Himmelreich geschehenkann.

Es gibt eine Methode, das Streben nach dem Heil mit einem säkular erfülltenLeben erfolgreich zu verknüpfen, nämlich das Sakrament der Kommunion, das

 freilich ursprünglich nur als zusätzliche Absicherung des mittels imitatio Christi,mittels heiligem Leben, verfolgten Heilsweges gedacht ist und das nun aber in dem

 Maße, wie den vom Imperium befreiten Menschen der Lebensmut zurückkehrt,die Möglichkeit für eine zur Nachfolge Christi alternative Glaubenshaltung undFrömmigkeit eröffnet.

Die Bereitschaft zu einem laizistischen Dasein, die subjektive Dispo-sition zu einem säkular geführten Leben, das die Aussicht aufs ewigeLeben einschließt, beziehungsweise einer Aussicht aufs ewige Leben,die eine säkulare Lebensführung nicht ausschließt, ist also bei beiden, bei Eroberern und Unterworfenen, Herren und Knechten, gleichermaßenvorhanden. Was fehlt, ist die Gelegenheit dazu, die objektive Kondition,

die es erlaubte, Heilserwartung und heiliges Leben voneinander zu tren-nen und erstere einem nicht in ihr sich erschöpfenden, nicht jeder eigenenBestimmtheit baren, nicht im abstrakten Wartezustand verbrachten Lebenzu vindizieren. Tatsächlich aber fehlt jene objektive Kondition ja garnicht, sondern liegt paradoxerweise, wie an früherer Stelle gezeigt, imGrunde eben des heiligen Lebens, das sie durch seine Vordringlichkeitund Unabdingbarkeit auszuschließen scheint, parat. Und zwar liegt siedort, um die Paradoxie komplett zu machen, in der Konsequenz desheißen Bemühens parat, den Zusammenhang zwischen heiligem Lebenund Gewinn des Heils so eng zu knüpfen, dass garantiert nichts schief 

gehen kann und sich das eine aus dem anderen quasi im Kausalnexusergibt.Wie gezeigt, ist es die systematisch ebenso große wie biographisch klei-

ne Ungewissheit, ob die imitatio dei, ein in der Nachfolge des Erdenwan-dels des Messias inklusive seines Martyriums verbrachtes Leben genügt,

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um den Weg zum Heil vollständig zurückzulegen, sprich, sich zu guter

Letzt im Besitz des vom Messias ins menschliche Dasein eingebrachten,aber im Augenblick seiner Verklärung und Entrückung leider auch wie-der mitgenommenen Heilsmittels, des die Verwandlung, den Wechselaus der irdischen Sphäre ins Himmelreich, den Übergang aus Scheinin Sein gleichermaßen bewirkenden und bedeutenden Pneuma wieder-zufinden – wie gezeigt, ist es diese Ungewissheit, die den Gläubigendas dringende Bedürfnis nach einer anderen, zusätzlichen Methode zurErlangung des Heilsmittels einflößt. Als diese Methode aber erweist sichihnen die Wiederholung des Passahmahls, das vor seinem Kreuzestod derMessias mit ihnen gefeiert hat, ein wohlverstanden sakramentaler Akt,in dessen Vollzug der verklärte und entrückte Messias, der vom Kreuze-stod auferstandene und zum Himmel aufgefahrene Christus sein ihnen beim gemeinsamen Mahl gegebenes Versprechen einlöst und die durchseine Verklärung, seine Spiritualisierung gewonnene Freiheit, sich nachGutdünken zu materialisieren, in jeder beliebigen Gestalt zu erscheinen,nutzt, um in das Brot und den Wein des wiederholten Mahles zu fahrenund auf diesem Wege sich beziehungsweise das in ihm verkörperte, besser gesagt, das in seinem verklärten Leib bestehende Heilsmittel oderPneuma ihnen einzuverleiben und mitzuteilen, kurz, zu kommunizieren.

Mit dieser als Abendmahls-Sakrament oder Kommunion firmierendeneinfachen Wiederholung des Ostermahls haben die Gläubigen in der Tat

 jegliche Ungewissheit beseitigt und eine buchstäblich todsichere Methodeentdeckt, in den Besitz des Pneuma, des Schein zum Sein, Kreatürlich-keit zur Göttlichkeit aufhebenden Heilsmittels zu gelangen. Musstensie vorher darauf bauen, sprich, mit durch gläubiges Vertrauen gefestig-ter Zuversicht darauf spekulieren, dass der zum Himmel aufgefahreneMessias in der Stunde ihres Todes, im Augenblick ihrer Agonie, ihresMartyriums, zurückkehrt, um ihnen gnädig beizuspringen und sie vordem Tode zu erretten, will heißen, ihnen das für die Überwindung derontologischen Kluft nötige Vehikel zur Verfügung zu stellen, ihnen daszur Transfiguration, zur Verwandlung von Schein in Sein erforderliche

Heilsmittel, das Pneuma, mitzuteilen, so können sie nun dank des Aktsder Kommunion schon zu Lebzeiten sicher sein, im Augenblick ihresVerscheidens jene absolute Verschiedenheit, jene ontologische Kluft zuüberwinden, weil sie ja das dazu nötige Vehikel bereits in sich bergen, daserforderliche Heilsmittel sich bereits angeeignet haben, können sie sich

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also je schon als Träger des verklärten Leibes und spiritualisierten Blutes

ihres Erlösers, als Gefäße seines Pneuma, des Heils teilhaftig und vor demTode bewahrt wissen. Sie können wohlgemut in den Fußstapfen ihresHeilands durchs Leben wandeln, können getrost dem die Nachfolge krö-nenden Martyrium entgegensehen, der ihre Hagiographie vollendendenPassion entgegengehen, denn so gewiss sie im Besitze des Heilsmittelssind, so gewiss folgt auf die Nachfolge die Verklärung und Entrückung,wartet am Ende ihres in der Todesqual kulminierenden Erdenwandelsauf sie das Himmelreich, das ewige Leben.

So groß aber ist tatsächlich die Heilsgewissheit, die den Gläubigendieser vorauseilende und jederzeit im Leben zu vollziehende Akt desHeilsmittelerwerbs verschafft, so vollständig die Sicherheit, die ihnendiese sakramentale Handlung hinsichtlich ihres schließlichen Einzugsins Himmelreich gewährt, dass es, wenn man so will, jener anderen,als Voraussetzung für die Erlangung des Heils angenommenen Verhal-tensweisen und Leistungen, der Nachfolge des Herrn in genere undder Erduldung seines Martyriums in specie, gar nicht mehr unbedingt bedarf! Schließlich sind durch den Kommunionsakt die Gläubigen ja inden Besitz der für die Transfiguration, die – um es paradox auszudrücken– Seinswerdung entscheidenden Kondition, eben des göttlichen Pneuma,gelangt, und angesichts dieses fait accompli verliert, wie die Gläubigenihren Erdenwandel gestalten und welcher Todesart sie am Ende erliegen,

ebenso grundlegend wie offensichtlich an Bedeutung. Auch wenn sienicht in den Fußstapfen ihres göttlichen Herrn durchs Leben wandelnund auch wenn sie versäumen, das die Nachfolge krönende Martyriumzu erdulden – sie bringen ja dank des göttlichen Gnadenakts der Kom-munion, dank des erlösenden Sakraments je schon und allemal mit, wassie brauchen, um am Ende eines anders verbrachten Lebens und ohnePassion absolvierten Sterbens die ontologische Kluft zu überwinden unddie Transfiguration, den Sprung ins Himmelreich zu gewährleisten.

Eigentlich nur erfunden, um den Heilsweg sicher zu machen, nur er-sonnen, um dem heiligen Leben den Gewinn des Heils zu garantieren,

den Erfolg quasi in den Schoß fallen zu lassen, erweist sich jene zusätz-liche oder parallele Methode zur Erlangung des Heils, die Kommunion,als so ausgeklügelt, so perfekt, dass sie sich vielmehr als Alternativezum traditionellen Heilsweg der Nachfolge Christi suggeriert, dass sieim Prinzip das Zeug dazu hat, das heilige Leben, die imitatio dei, außer

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Kraft zu setzen und in der Rolle der via regia zum Heil kurzerhand

abzulösen. Statt einer in Entsagung und Askese, Armut und Demut,sexueller Enthaltung und Nächstenliebe absolvierten biographischenOchsentour, eines streng am Wandel des Messias als dem Paradigmafürs eigene Leben orientierten langen und in Schande und Todesqualendenden Marsches durch die Gründe und Abgründe, die Irrungen undWirrungen, die Herausforderungen und Verführungen des irdischenDaseins, braucht es im Prinzip nichts weiter, als das vom Messias imEffekt seiner Menschwerdung präparierte Heilsmittel gläubig entgegen-zunehmen, die alles heil machende Arzenei, die er durch sein Lebenund seinen Tod zubereitet hat, frommen Sinnes einzunehmen, um desHeils mit Sicherheit teilhaftig zu sein, um gewiss sein zu können, dassam Ende eines wie sehr auch mit irdischen Belangen und in profanerGeschäftigkeit zugebrachten Lebens das Himmelreich den aus dem LebenScheidenden erwartet und aufnimmt.

Das den rechten Geist für den Vollzug des Kommunionsakts charakte-risierende Attribut freilich, dessen Bedeutung die Tatsache unterstreicht,dass es zugleich als Gattungsname, als Substantiv für die Bezeichnungder Betroffenen selbst dient – dies also, dass die Gläubigen, so wahrsie Gläubige sind, die heil machende Arznei gläubig, frommen Sinneseinnehmen müssen – dies nun sorgt dafür, dass jene Außerkraftsetzungdes heiligen Lebens durch das, was eigentlich nur seiner Bekräftigung

und der endgültigen Sicherung seines Erfolgs dienen soll, jene durchden Kommunionsakt möglich werdende Abtrennung und Emanzipationder Heilserwartung von der Verpflichtung zur Nachfolge Christi, ersteinmal übers Prinzip, über die abstrakte Möglichkeit nicht hinausgelangt,dass sie erst einmal eine im Grunde des traditionellen Heilsprozesses,der sich die neue, sakramentale Heilstechnik mühelos eingliedert undzur Bestätigung dienen lässt, latente Potenz und schlummernde Option bleibt.

Schließlich bedeutet ja, wie die vom Sprachgebrauch getroffene Unter-scheidung zwischen profanem “etwas glauben” oder “jemandem glau-

 ben” und religiösem “an etwas glauben” oder “an jemanden glauben”festhält, in diesem Falle religiöser Zuwendung gläubig oder frommenSinnes sein nicht einfach nur theoretische Empfänglichkeit für eine Infor-mation, sondern die praktische Bereitschaft, sich mit dem Informantenzu identifizieren, nicht einfach nur, dass man eine Botschaft annimmt,

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sondern dass man den, der sie bringt, aufnimmt, bedeutet, konkreter

gesagt, dass man nicht einfach nur die Lehre des Messias für wahr hält,sondern mehr noch dessen Leben als Teil dieser Wahrheit, letztere als inersterem ihre Wirklichkeit habend erkennt, dass man die messianischeExistenz, den Träger der Heilsbotschaft als integrierendes Moment, alswie man will existenziellen oder essenziellen Bestandteil der salvatori-schen Essenz, der Heilsbotschaft selbst begreift und eben deshalb derExistenz essenzielle Bedeutung attestiert, dem Leben Lehrqualität zu-schreibt. Wie könnte das auch anders sein, da ja der Messias nicht nur alsGesandter Gottes Träger der Heilsbotschaft, sondern als Gottessohn mehrnoch Bringer des Heils ist, da er ja nicht nur missionarisch den Weg zumHeil weist, sondern diesen Weg persönlich verkörpert, nicht nur ein denMenschen die Lehre vom nahe herbeigekommenen Himmelreich verkün-dender und als theoretischen Prospekt vor Augen stellender Interpret,sondern der durch sein Leben, seine eigene Existenz diese Lehre für dieMenschen Aktualität gewinnen lassende und zum praktischen Programmerhebende Mittler ist.

Solange nun aber dieses die messianische Lehre realisierende Leben desMessias, diese seine heilbringende Existenz eine so genaue Antwort auf die Probleme scheint, mit denen sich die Gläubigen in ihrem Dasein kon-frontiert finden, auf die barbarischen Verheerungen und zivilisatorischenZerstörungen, unter denen sie alltäglich leiden, solange die Entsagung,

die er übt, die Askese, der er frönt, die Barmherzigkeit, die er beweist, dieArmut und sexuelle Enthaltung, die er praktiziert, exakt die passendenReaktionen auf die ständigen Frustrationen scheinen, denen sie sich aus-gesetzt sehen, die Völlerei, in der andere auf ihre Kosten schwelgen, denMord und Totschlag, der allenthalben herrscht, die Vereitelung jeglicherauf den Erwerb von Gütern und die Aufzucht von Nachkommen gerich-teten Lebensplanung, die sie immer wieder schicksalhaft ereilt – solangedieser als Reaktionsbildung schlagende Zusammenhang zwischen ihrereigenen Lebenserfahrung und der Lebensführung des Messias besteht,was liegt da wohl näher für die Gläubigen, als seinen Umgang mit dem

Dasein für das einzig Richtige zu halten, und was könnte sie da wohldavon abbringen, in seiner Nachfolge, der Imitation seiner Art, zu leben,die praktische Umsetzung seiner Heilslehre, die via regia heraus aus demvergänglichen Schein des irdischen Jammertals und hinein ins ewige Seindes Himmelreichs zu erkennen?

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Und an dieser richtungweisenden und die praktische Ausgestaltung der

Heilsperspektive unabweislich vorgebenden Entsprechung zwischen derLebenserfahrung der Gläubigen, ihrer Not und ihrem Elend, und derLebensführung des Messias, seiner Antwort auf die Not und das Elend,ändert nicht das Geringste die qua Kommunionsakt erwirkte vorzeitigeRequisition des Heilsmittels, deren Funktion und Bedeutung sich deshalbauch auf die Vorsorge für einen erfolgreichen Abschluss der imitatio dei beschränkt und nämlich darin erschöpft sicherzustellen, dass am Endedes Heilsweges, im Augenblick der ihn krönenden Todesqual, das fürdie Verklärung und Entrückung, für den Sprung ins ewige Leben nöti-ge Elixier, der zum Heilsmittel verklärte Leib des Herrn, auch wirklichzur Verfügung steht. Angesichts der trostlosen Lebensumstände, die inder Spätzeit des Imperiums herrschen, bleibt die Nachfolge Christi, dieImitation des vom Messias als Paradigma, als vorbildlichem Lehrer absol-vierten und als konsequente Reaktion auf jene trostlose conditio humanaklar verständlichen Lebenslaufes, der maßgebende Weg zum Heil undkann die sakramentale Übertragung des Heilsmittels, die vom Messias alsdem Erlöser zusätzlich erbrachte salvatorische Leistung unmöglich mehrsein als eine Bekräftigung der im heiligen Leben ihren authentischenAusdruck findenden Hoffnung aufs Heil, eine der Nachfolge Christi denletzten Schliff gebende Garantie.

In dem Maße freilich, wie das Imperium im Treibsand seiner eige-

nen Geschichte versinkt, wie die unabsehbaren Leiden und ungeheu-ren Schrecken, die es über die Welt gebracht hat, verblassen und seineeinstigen Bürger, die mittlerweile der christlichen Heilsbotschaft Anhän-genden, sprich, Gläubigen unter dem Eindruck ebenso sehr politisch-sozial normalisierter wie ökonomisch-real regredierter Verhältnisse denLebensmut zurückgewinnen und das irdische Dasein als ein ebenso ge-sellschaftlich planvoll anzugehendes wie mit natürlichen Widrigkeitenaufwartendes Projekt, ein ebenso mit Lustprämien winkendes wie zumÜberlebenskampf zwingendes Unternehmen betrachten können – indem Maße, wie dies geschieht, verliert die unmittelbare Entsprechung

zwischen Lebensnot und Weltflucht, die reaktive Korrespondenz zwi-schen imperialer Verfolgung und Nachfolge Christi, cäsarischer Zerstö-rung und messianischer Entsagung ihre unwiderstehliche Evidenz undklappmechanische Verbindlichkeit und eröffnet damit die Möglichkeitzu einer anderen Einstellung gegenüber dem Heilsbringer und seinem

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Tun und Vollbringen, einer neuen Glaubenshaltung, die au fonds des

sakramentalen Verhältnisses des Kommunionsakts verborgen liegt, inder praktischen Konsequenz dessen, was er kultisch leistet, potenziellangelegt ist und in der Tat nicht zwangsläufig das heilige Leben als einzigdenkbare Antwort auf die Heilsbotschaft postuliert, die vielmehr, wennman so will, jene biographische Nachfolge in der Bedeutung einer unab-dingbaren Heilsvoraussetzung suspendiert und so überhaupt erst für denGläubigen ein profanes Eigenleben ohne automatische Einbuße seinerHeilsaussichten vorstellbar werden lässt.

Nicht etwa, dass diese neue Glaubenshaltung, diese andere Frömmig-keit in der oben explizierten Bedeutung weniger praktisch-identifikato-risch und stärker auf bloß theoretische Rezeptivität beschränkt wäre alsdie qua imitatio dei bis dahin eingenommene und geübte, nicht, dass sieim Unterschied zu letzterer Lehre und Leben, verbale Essenz und realeExistenz voneinander trennte und sich damit beschiede, im Messias nurmehr den Verkünder des Heils, statt mehr noch den Heilsbringer, bloßden, der durch seine Worte den Weg zum Heil weist, statt vielmehr den,der durch sein Wirken der Weg zum Heil ist, wahrzunehmen. So gewissauch und gerade der durch das Kommunionsereignis inspirierte neueGlaube und veränderte fromme Sinn religiös ist, das heißt, den Gläubi-gen nicht einfach nur dazu verhält, die Botschaft anzunehmen, sie sichtransitiv zu eigen zu machen, sondern ihn gleichzeitig dazu bewegt, kraft

identifikatorischer Aufnahme dessen, der sie bringt, sich in der Botschaftzu verlieren, reflexiv ein anderer zu werden, so gewiss ist auch dieserneue Glaube kein bloßes Für-wahr-halten einer vom Interpreten Got-tes geoffenbarten Wirklichkeit, sondern Teilhabe an einer im göttlichenMittler Wirklichkeit gewordenen Offenbarung.

Nur dass der Mittler, der die Wahrheit in seiner Gestalt wirklich werdenlassende Heilsbringer, im Kriterium seiner sakramentalen Wiederkehr imKommunionsereignis eine funktionell andere Bedeutung gewinnt, als ersie aus Sicht seines als normaler Erdenwandel begriffenen Lebenslaufsund Kreuzestodes hat, und nämlich nicht mehr oder jedenfalls nicht

mehr primär als Vorbild figuriert, sprich, als der messianische Held,der in genere seines paradigmatischen Lebenslaufs zur biographischenNachfolge auffordert, sondern als der Erlöser firmiert, sprich, als dasstellvertretende Opfer, das in specie seines änigmatischen Kreuzestodeszur eucharistischen Teilhabe einlädt. Nach Maßgabe seiner sakramentalen

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Rolle im Kommunionsakt ist er mit anderen Worten nicht mehr primär

auf die Erde gekommen, um durch sein im Martyrium gipfelndes Le- ben den Weg zum Heil demonstrativ zu durchlaufen und durch solchenDemonstrations- oder Probelauf den Menschen zu weisen, sondern umdurch sein das Leben krönendes Martyrium das Mittel zum Heil zuzu- bereiten und es anschließend, nach seiner Auferstehung, den Menschenmonstrativ, will heißen, nicht etwa als Demonstrationsobjekt, als Probeaufs Exempel einer möglichen Erlösung, sondern als den fix und fertigenWirkstoff, die erlösende Sache selbst zukommen zu lassen.

Sein Menschsein hat, noch einmal anders gesagt, nicht mehr sowohlden Sinn, den Menschen etwas beispielhaft vorzuführen beziehungsweisevorzumachen, was sie dann um ihrer Seele Heil willen ihrerseits prak-tizieren, nachmachen können und müssen, sondern dient primär demZweck, stellvertretend etwas zu vollbringen, für sie, die Menschen, etwasins Werk zu setzen, was das Zeug dazu hat, ihnen im Gegenteil die Arbeitund Mühe des Nachmachens zu ersparen, weil es ihnen mit der absolutenSicherheit und Zuverlässigkeit, die einem von Gott persönlich gegebenenVersprechen innewohnt, je schon und im Voraus das verschafft, was siesonst nur ebenso blind wie zuversichtlich und ebenso ungewiss wie gläu- big hoffen können, in der letzten Konsequenz getreulichen Nachmachens,am bittersüßen Ende einer lebenslangen Nachfolge, einer leidensvollenHagiographie zu erlangen.

Diese andere Bedeutung und neue Funktion des Lebens und Sterbensdes Messias, er in der Rolle nicht mehr sowohl des vorbildlichen Akteurs,des als Heilsbringer agierenden Anführers, sondern des stellvertretendenOpfers, des als Heilsmittel firmierenden Erlösers, tritt nun also in dasBlickfeld der Gläubigen und sagt ihnen in dem Maß, wie ihnen der Le- bensmut, die Lust zum irdischen Dasein zurückkehrt und entsprechenddie imitatio dei, die Nachahmung des ebenso entsagungsvoll-asketischenwie selbstlos-bescheidenen und ambitionslos-friedfertigen Erdenwandelsihres Herrn an Attraktivität für sie verliert, immer entschiedener zu.Denn so gewiss sie ihnen die imitatio erspart, sie von der Notwendigkeit

entbindet, alle ihre Kräfte und Aktivitäten auf das eine, wesentliche Vor-haben, den ihnen von dem, der ihnen vorausgegangen ist, gewiesenenund vorgezeichneten Weg zum Heil zu konzentrieren, um des Gewinnsdes letzteren willen ihr ganzes Dasein in die Schanze jener von ihm, derihnen vorausgegangen ist, ebenso detailliert vorbildlich geplanten und

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durchgeführten entsagungsvoll-passionierten Weltflucht zu schlagen, so

gewiss lässt sie ihnen damit nun den Raum und die Zeit, bis zu ihrerdank des Heilsmittels, das sie bereits intus haben, für den Todesfall ga-rantierten Erlösung vom Tod und Erlangung des ewigen Lebens, bis zuihrem Einzug ins Himmelreich also, auf Erden Wohnung zu nehmen, sichad tempus oder in aller Vorläufigkeit zwar, aber pro tempore auch mitvollem Engagement im irdischen Dasein einzurichten und zu schaffen zumachen, sprich, dem entsagungsvoll heiligen Leben ihrerseits zu entsagenund dem weltlichen Leben das zu geben, was es, um als solches gelten zukönnen, verlangt.

Als jemand, der nicht mehr primär als ihr Vorbild prozediert, sondernstellvertretend für sie agiert, der ihnen nicht mehr primär vorführt, wassie selber gläubig zu vollbringen haben, sondern ihnen eine Leistung, diesie unmöglich aus eigenen Stücken vollbringen können, abnimmt, eineAufgabe, die ganz und gar ihre Kräfte übersteigt, an ihrer Statt erledigt,entbindet der Messias sie in seiner Rolle als Erlöser von der aktiven Be-teiligung an seinem entsagungsvollen Tun und passionierten Machenund verweist sie auf die passive Teilhabe an der Frucht seines Tuns, auf die gläubige Entgegennahme dessen, was er kraft seines mühevollenTuns und leidvollen Machens in die Welt gesetzt hat. Bedeutet das dannaber – recht interpretiert und im Sinne ihrer wiedererwachten irdischenLebenslust verstanden – nicht, dass der Erlöser ihnen die Möglichkeiteinräumt, zum einen zwar von seinem salvatorischen Tun zu profitierenund durch es das Himmelreich zu erlangen, zum anderen aber auchdies Tun für erledigt und vollbracht anzusehen und deshalb ihr eigenesirdisches Dasein mit anderen ihm gemäßeren Aktivitäten, mit anderendaseinsaffirmativeren Werken zu verbringen? Bedeutet es nicht, dasser, während er sie einerseits durch seinen Kreuzestod am ewigen Lebenteilhaben lässt, ihnen andererseits erlaubt, bis zu ihrem eigenen Tod ihrzeitliches Leben lebenswert zu gestalten, will heißen, es sich ohne per-manentes memento mori, ohne ständiges Starren auf das als abstrakterFluchtpunkt der Ewigkeit alles Zeitliche in die Pfanne hauende und im

Nu verschlingende Ende zu vertreiben?

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Um der als heiliges Leben erscheinenden Nachfolge Christi ihre Bedeutung für

den Heilserwerb zu erhalten und letztere nicht zu einem rein sakramentalenund das säkulare Leben kultisch skandierenden Ereignis verkommen zu lassen,erheben diejenigen, die am heiligen Leben festhalten, ihre Teilnahme am Kommu-nionsakt zur Bedingung seiner Wirksamkeit. Um aber nicht auf diese Weise dasheilige Leben zu einem rein rituellen Erfordernis des laizistischen Heilserwerbsund sich selber zu bloßen Kultdienern zu degradieren, verpflichten die Nach-

 folger Christi ihre säkularen Artgenossen zu einer Art abgeschwächter Versiondes heiligen Lebens und bedrohen sie für den Fall, das sie ihrer Pflicht nichtnachkommen, mit dem Ausschluss von der Kommunion. Außerdem unterwerfensie die säkularen Artgenossen, um sicherzustellen, dass deren Anerkennung der

 prinzipiellen Wirklichkeit des heiligen Lebens sich nicht in Scheinheiligkeit er-schöpft, der Kontrolle durch die Beichte und konfrontieren sie mit den Schreckendes Jüngsten Gerichts.

In der Tat schickt sich aus dieser, vom Prospekt der asketischen Nach-folge mittlerweile nicht mehr sonderlich begeisterten und deshalb vollund ganz auf den Aspekt der sakramentalen Teilhabe konzentriertenSicht der Glaube an den eucharistischen Erlöser an, die Treue gegenüberdem paradigmatischen Seelenführer zu verdrängen und zu substituierenund also, was ursprünglich nur als zusätzliche Sicherheit gewährendeErgänzung zur imitativ-gefolgschaftlichen Beziehung gedacht war, als

ein letztere zu erübrigen und aus dem Feld zu schlagen disponiertesvollgültig-alternatives Verhältnis in Betracht zu ziehen. Das heißt, diezum Heilserwerb sui generis totalisierte eucharistische Teilhabe droht,den als hagiographische Nachfolge etablierten Weg zum Heil, sprich, diechristliche Religion so, wie sie sich bis dahin entwickelt und zur Geltunggebracht hat, das Glaubenssystem in seiner tradierten Form, für obsoletund überflüssig zu erklären, seines Sinnes und Nutzens zu berauben undabzudanken.

Keine Aussicht, die all denen, die aus welchen Gründen auch im-mer, aus persönlicher Erfahrung, gesellschaftlicher Gewohnheit oder

moralischem Charakter, weiter in den biographischen Spuren ihres alsParadigma hochgehaltenen Herrn wandeln und dies für die via regiazum Heil ansehen, gefallen könnte! Und auch keine Perspektive, diedem Interesse und Selbstverständnis der mittlerweile etablierten religi-ösen Institution entspräche, dem Geltungsanspruch der vielen kleinen

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und größeren mönchischen Gemeinschaften, die sich überall auf dem

ehemaligen Reichsgebiet und sogar noch darüber hinaus zusammen-gefunden haben, um das heilige Leben, dem sie sich geweiht haben,gemeinsam zu gestalten, und die bei all ihrer Verstreutheit und Eigen- brötelei doch mittlerweile hinlänglich miteinander verbunden sind undgenug ökumenisch-synodische Struktur und bürokratisch-hierarchischeOrdnung ausgebildet haben, um als christliche Heilsorganisation zu fir-mieren und die aller menschlichen Organisation und gesellschaftlichenInstitution eigene, aus Trägheit und Beharrlichkeit, Selbstbehauptung undZielstrebigkeit gemischte Vorliebe für möglichst ungebrochene Kontinui-tät und Abneigung gegen einschneidende Veränderungen zu beweisen!

Sowohl aus subjektiven, ihrer persönlichen Konstitution entspringen-den Motiven als auch aus objektiven, in ihrer gesellschaftlichen Organisa-tion gelegenen Gründen haben also diejenigen, die an der Führung einesheiligen Lebens aktiv beteiligt und gegen die Versuchung eines weltlichenLebenswandels sei’s individuell gefeit, sei’s kollektiv abgeschirmt sind,keinerlei Interesse, die durch die sakramentale Teilhabe an Leib und Blutdes Verklärten eröffnete Chance zu einem die Heilsaussicht dennoch wah-renden unheilig-weltlichen Leben beim Schopf zu fassen, und vielmehrallen Anlass, der in solcher Chance implizierten Gefahr einer allgemeinenAbkehr von der via regia einer Nachfolge Christi und ihrer Ersetzungdurch das Kurzprogramm der allen säkularen Engagements zum Trotz

das Heil gewährenden Eucharistie entgegenzuwirken.Und dem eucharistischen Kurzprogramm in Sachen Heilserwerb am

Zeug zu flicken beziehungsweise seinem Anspruch, vollgültiger Ersatzfür die via regia der Nachfolge Christi zu sein, den Prozess zu machen,hält tatsächlich auch gar nicht sonderlich schwer! Jene Verdrängung undErsetzung nämlich der individuellen Nachfolge durch die sakramenta-le Teilhabe, die, formallogisch-funktional gesehen, durchaus stringentklingt beziehungsweise evident erscheint – sie stellt sich, reallogisch-motivational betrachtet, als höchst inkonsequent beziehungsweise jederinneren Konsistenz ermangelnd dar. Ist denn nicht das, zu dessen Erlan-

gung oder Erreichung die eucharistische Teilhabe dem Gläubigen dasMittel oder Vehikel verschafft, das Himmelreich, das ewige Leben, einabsolutes Gut und unvergleichliches Sein, das alle anderen Güter, alles,was sonst noch zu sein behauptet, unendlich in den Schatten stellt undvielmehr für Schein und nichts erklärt? Ist es nicht von der Art, dass dem

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seiner ansichtigen und gar teilhaftigen Gläubigen jedes sonstige Interesse

automatisch abhanden kommen, jedes Bedürfnis nach weltlichen Objek-ten und zeitlichen Projekten wie von selbst schwinden muss und dassgemäß der Unermesslichkeit jenes himmlischen Guts, in Reaktion auf dieAbsolutheit jenes ewigen Seins, dem Gläubigen also gar nichts anderesmehr vor Augen stehen oder im Sinn liegen kann, als die zentrale Aufga- be, auf raschestem und direktestem Wege in jenes ewige Sein zu gelangenund mithin das ganze irdische Leben dem Gewinn jenes himmlischenGuts zu weihen? Ist, mit anderen Worten, das Wandeln in den Fußstapfendes Herrn und der damit besiegelte Verzicht auf alles irdische Beginnenund weltliche Geschäft nicht die einzig konsequente Reaktion, das alleinkonsistente Verhalten auch und ebenso wohl dessen, der gläubig das ihm

stante pede sakramentaler Teilhabe verabreichte Gnadengeschenk desHeilsmittels in Empfang nimmt?

Und bringt sich demnach der Gläubige, der diese unabweisliche Kon-sequenz zu ziehen versäumt, der es an dieser unabdingbaren Konsistenzdes Verhaltens fehlen lässt und der vielmehr meint, mit dem Heilsmittelim Leib genüge es, die Nachfolge Christi im Augenblick des Todes an-zutreten, und bis dahin habe er noch ein Leben lang Zeit, seine eigenenirdischen Wege zu gehen und seine persönlichen weltlichen Geschäfte zu besorgen – bringt sich der Gläubige, der also handelt, nicht notwendigin Misskredit und macht sich verdächtig, eben des rechten und nämlich

im obigen Sinne existenzieller Identifikation wohlverstandenen Glaubenszu ermangeln, der einzig und allein dem eingenommenen HeilsmittelWirksamkeit verleihen, den im Gnadengeschenk implizierten Gnaden-akt effektiv werden lassen kann? Mag demnach auch die biographischeNachfolge, das heilige Leben, durch die eucharistische Teilhabe, densakramentalen Heilsmitteltransfer, als Glaubensbedingung, als die un-mittelbar wirkliche Gestalt des Glaubens, ohne die er gar nicht erst exis-tiert, verdrängt und außer Kraft gesetzt werden, als Glaubensbeweis, alsnotwendige Erscheinungsform des Glaubens, deren Fehlen entschiedenwider seine Wirklichkeit zeugt, bleibt jene Nachfolge Christi allemal inGeltung und behält die Bedeutung einer sub specie der Heilsperspektive

verbindlichen, weil allein authentischen, allein dem Glauben, der dasHeil bringt, entsprechenden Lebensführung.

Dies also ist das einfache Druckmittel, das der theoretischen Einsichtumstandslos eingängige, die intellektuelle Ehrlichkeit unmittelbar an-sprechende Argument, das diejenigen, die an der Nachfolge Christi als

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normativ-verbindlichem Erdenwandel festhalten wollen, haben, um ihren

an den Freuden und Leiden irdischer Bindungen und Beschäftigungen er-neut Gefallen findenden Artgenossen klar zu machen, dass die eucharisti-sche Teilhabe keinen Freibrief für ein ohne Gefährdung der Heilsaussichtnach Gusto zu führendes profanes Leben und säkulares Dasein darstelltund dass auch auf der Basis des sakramentalen Heilsmitteltransfers dasder Heilsperspektive geweihte heilige Leben, das hagiographische Au-todafé, ein wenn schon nicht als objektiv-funktionales Konstitutiv desStrebens nach dem Heil, als den Weg zum Heil erschließende Realisationdes Glaubens, so jedenfalls doch als subjektiv-motivationale Konsequenzder Hinwendung zum Heil, als aus der Heilsperspektive resultierendeImplikation des Glaubens, unabweislicher Imperativ bleibt.

Mit solch theoretischem Druckmittel und reallogisch schlagendemArgument die abtrünnigen Lebenslustigen zur Räson christlicher Gefolg-schaftstreue zu bringen und auf dem Tugendpfad des heiligen Lebensfestzuhalten beziehungsweise auf ihn zurückzuführen, können die imheiligen Leben Verharrenden, die gegen die Versuchung eines weltli-chen Lebenswandels entweder charakterologisch-individuell gefeitenoder soziologisch-kollektiv abgeschirmten und deshalb unbeirrt in denFußstapfen des Herrn fortschreitenden Gläubigen allerdings schwerlichhoffen. Zu groß ist der neu erwachte Lebenswille, zu unbezähmbar derneu geschöpfte Lebensmut beim Gros der Population, egal ob Eroberer,

ob Unterworfene, als dass jene orthodoxen Nachfolger ihres Herrn mitder Forderung nach Rückkehr in die als einziger Weg zum Heil, als hei-liges Leben hochgehaltene biographische Spur des Heilsbringers mehrerreichen könnten, als die Betreffenden auf die im vollen parabolischenSinne verstandene Zinne des Tempels, sprich, vor die Wahl zwischenden als exklusive Alternative firmierenden Optionen der Herrschaft überdie Erde und des Himmelreichs zu stellen und sie damit aber – weilder hier und jetzt virulente Lebenswille im Zweifelsfall stärker ist alsdas Interesse am Überleben in einer künftigen Welt! – wenn nicht kurz-,so doch langfristig zum wie sehr auch widerstrebenden Verzicht auf 

die Heilsaussicht und zur Entscheidung für ein wie immer auch vomTodesprospekt überschattetes, heillos irdisches Leben zu drängen.Wollen sie also dem christlichen Glauben seine allgemeine Anerken-

nung und durchgängige Geltung bewahren und die durch ihr Bedürf-nis nach einem vollgültigen irdischen Leben zum Abfall disponierten

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Gläubigen bei der Stange der vom christlichen Glauben beschworenen

Heilsperspektive halten, müssen sie den letzteren nolens volens jeneneucharistischen Ausweg, jene durch die Interpretation des Kreuzestodesals stellvertretenden Opfers eröffnete Möglichkeit, Unvereinbares zuvereinbaren, die Heilsaussicht mit einem unheiligen Leben, die himmli-sche Destination mit irdischen Okkupationen wenn nicht in Einklang zu bringen, so jedenfalls zu kombinieren, irgendwie lassen.

Immerhin aber erlaubt ihnen das obige argumentative Druckmittel,den potenziell Abtrünnigen den irdischen Lebenswandel, dem sie zustre- ben, als den praktischen Implikationen ihres christlichen Glaubens undHoffens explizit zuwiderlaufenden defizienten Daseinsmodus vorzuhal-ten und deshalb die Wirksamkeit des diesen Daseinsmodus dennochzugänglich machenden Heilsmitteltransfers, mithin die Gangbarkeit deseucharistischen Auswegs, an bestimmte, jene Defizienz zu kompensieren beziehungsweise zu neutralisieren gedachte Konditionen zu binden, diegleichermaßen die systematisch verbindliche doktrinelle Anerkennungder für allen Erdenwandel normativen Geltung des in der NachfolgeChristi bestehenden heiligen Lebens und die faktisch zwingende institu-tionelle Integration jenes als normativ anerkannten heiligen Lebens in denZusammenhang und Duktus des durch die Eucharistie im Prinzip mit derHeilsaussicht kompatibel gemachten unheiligen Daseins oder profanenLebens beinhalten.

Die Rede ist mit anderen Worten von jener ebenso abenteuerlichenwie ingeniösen Konstruktion, die zwar die Möglichkeit konzediert, auf Basis des eucharistischen Heilsmittelstransfers ein irdisch-profanes Lebenohne Verlust der himmlischen Heilsaussicht zu führen, aber gleichzeitigverlangt, dass auch dem Erfordernis eines mit der Heilsaussicht eigent-lich gebotenen und als Ausdruck ihrer gläubigen Annahme untrennbarmit ihr verknüpften entsagungsvoll-sakralen Lebens Genüge getan unddiese heilige Lebensführung, wenn schon nicht durch den dem irdisch-profanen Leben Zugewandten selbst, so jedenfalls doch durch andere, ihrsich Weihende hochgehalten und in die Tat der getreulichen Nachfolge

Christi umgesetzt wird, damit, wenn es zum Schwur als zum gläubigenEmpfang des Heilsmittels kommt und der qua heiliges Leben unab-dingbare Glaubensbeweis dem ersteren als Bedingung der Wirksamkeitdes Empfangenen abverlangt wird, die letzteren ihm beispringen undkraft ihres exemplarischen Lebens für seinen, durch einen defizienten

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Lebenswandel ins Zwielicht gerückten wahren Glauben einstehen, mittels

ihres makellosen Daseins für seine wegen des Mangels an biographi-scher Imitationsbereitschaft in Zweifel stehende Rechtgläubigkeit bürgenkönnen. Als nach dem Vorbild ihres Herrn exemplarisch Lebende, inseinen den Weg zum Heil weisenden Fußstapfen imitativ Wandelndekönnen sie, wenn es darauf ankommt und er, der im irdischen Lebenimmobil Eingewohnte, häuslich Eingerichtete, kraft des Empfangs desverklärten und spiritualisierten Blutes Christi den Weg zum Heil quasiin einem Sprung zurücklegen, im Nu durcheilen soll, stellvertretend fürihn wirksam werden und das, was ihm an Mobilität oder Schwungkraft,an Weltfremdheit oder Fliehkraft fehlt und dadurch, dass es fehlt, sei-

nen selbstlosen Willen zum Heil, seinen rückhaltlosen Glauben an dieErlösung diskreditiert und für unerwiesen erklärt, durch ihre Präsenz alsdennoch vorhanden unter Beweis stellen, durch ihre Existenz als letztlichgegeben bezeugen.

Und dabei verleihen sie dieser ihrer als regelrechte Statthalterschaft,als vollgültige Repräsentation funktionierenden tätigen Mithilfe oderengagierten Mitwirkung dadurch plastischen Ausdruck, dass sie dieheilige Handlung nicht nur generell zu ihrer Sache machen, sich ihrer alsInitiatoren und Organisatoren, kurz, als Sachwalter annehmen, sondernmehr noch in ihr einen aktiven Part übernehmen und nämlich an des

Betreffenden Statt, als Ersatzmann für ihn, eben als Stellvertreter, einenTeil des sakramentalen Akts in eigener Person vollziehen. Nachdem erunter ihrer Anleitung sich den einen Teil des Heilsmittels, den verklärtenLeib Christi einverleibt hat, nehmen sie ihm die Einnahme des anderenTeils, das Trinken des spirituellen Blutes, persönlich ab und machen so inder Tat deutlich, dass sie persönlich für ihn ein- und geradestehen, dasssie ihr heiliges Leben buchstäblich in die Waagschale seines irdischenDaseins werfen, damit diese, hinlänglich befrachtet, sich im Sinne seinesdurch ihre Einlassung erwiesenen Glaubens, mithin zu Gunsten seinesHeilsanspruchs senke.

Freilich birgt dies die Defizienz des profanen Daseins ebenso eindeutigzu kompensieren wie die Geltung des sakralen Lebens als via regia zumHeil nachdrücklich zu reaffirmieren bestimmte Moment der Konstrukti-on, dass die Nachfolger Christi ihr eigenes Leben, sich persönlich, in dieWaagschale des im Zweifelsfall für zu leicht befundenen Daseins der am

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irdischen Dasein Hängenden werfen, dass sie also, wie aus der Zweitei-

lung des Kommunionsakts ersichtlich, statt ihm bloß beizustehen, ihn alsAnwalt zu vertreten, ihn mehr noch ersetzen, als Substitut an seine Stelletreten – freilich birgt dies die große Gefahr in sich, dass sie des Guten zuviel tun und durch die besondere Bedeutung und prononcierte Funktionfür das profane Dasein, die sie in actu des Vollzugs der Kommunion demheiligen Leben verleihen, dessen eigenen Sinn und eigentlichen Nutzenentscheidend verändern.

Als ein seinem glaubensschwachen Artgenossen an die Seite tretenderAnwalt nämlich repräsentiert der Nachfolger Christi etwas irgendwieGegebenes, etwas, das bei ersterem, wie auch immer defizient, im Grunde

vorhanden ist und das er durch seine Intervention nur herausstellt, osten-tiert. Als sich an die Stelle des Artgenossen setzender Substitut hingegenintroduziert er etwas rein Fehlendes, sorgt er dafür, dass etwas, das beimArtgenossen gar nicht vorhanden ist, dank seiner Intervention doch nochverfügbar und als für das salvatorische Werk unabdingbarer Faktor wirk-sam wird. Solche, durch die Arbeitsteilung in der Kommunion etablierteund über alle bloß anwaltschaftliche Repräsentation hinausgehende per-sönliche Substitution des profanen Artgenossen durch den NachfolgerChristi mag nun zwar nach allgemeinem Dafürhalten dazu angetan sein,ersterem die fehlende Glaubwürdigkeit zu verschaffen und also seinen

Heilsanspruch zu sichern, aber sie ist in dem Maße teuer erkauft, wiedie eine mit ihrer Hilfe erbrachte Leistung, die Kompensation der demprofanen Dasein im Blick aufs Heil eigenen Defizienz, tatsächlich eineUnterminierung des anderen mit ihr verfolgten Zwecks, der Reaffirmati-on des sakralen Lebens als der via regia zum Heil, als im Prinzip auch fürdas profane Dasein verbindlichen Heilswegs, impliziert.

Wenn nämlich, wie die um ihrer Wirksamkeit willen nicht bloß reprä-sentative, sondern mehr noch substitutive Mitwirkung der NachfolgerChristi am Kommunionsakt der am Dasein hängenden Artgenossen sug-geriert, bei letzteren jener im heiligen Leben sich beweisende vollgül-

tige, sprich, ebenso entsagungsvoll-weltflüchtige wie hingebungsvoll-heilssüchtige Glaube an den Messias und seine frohe Botschaft überhauptnicht vorhanden sein muss, sondern es zur eucharistischen Errettung desArtgenossen genügt, dass ein in der Nachfolge des Herrn Wandelnderund also diesen Glauben Beweisender mit ihm in die Waagschale des

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Kommunionsakts springt und ihn im entscheidenden Augenblick leib-

haftig vertritt, so stellt sich im Grunde die alte, von der Frage der Lebens-führung, dem Erfordernis einer imitatio dei unabhängige, unmittelbarsakramentale Beziehung zum Heil, der Heilsgewinn als eucharistischesKurzprogramm wieder her – nur eben jetzt unter Einschluss eines alsunabdingbar kompensatorischer Wirkfaktor, quasi als wunderwirkendkatalytisches Ferment wohlverstandenen Vertreters jenes im heiligenLeben sich bekundenden Glaubens.

Die Absicht, dem profanen Dasein die Suppe seiner in der Kommunionvermeintlich erreichten Befreiung vom Erfordernis einer entsagungsvol-len Nachfolge Christi zu versalzen und es als höchstens eine Spielart,

eine Variation des in der Nachfolge bestehenden und als Typus, als Normanerkannten heiligen Lebens festzuhalten, wird vereitelt und umgekehrtdas heilige Leben auf eine dem profanen Dasein zur Realisierung seinersakramentalen Heilsaussicht dienliche Spezialisierung, mithin auf einenrituellen Spielball des sich als der Normalfall, als habituell gerierendenprofanen Daseins reduziert. Indem der am irdischen Dasein Hängendesich zu dem aus heilsperspektivischer Sicht defizienten Modus, in dem erlebt, getrost verstehen, um nicht zu sagen, offen bekennen kann, weil es ja die in der Nachfolge Christi Lebenden gibt, die den in der imitatio dei bestehenden vollen Glaubensbeweis erbringen und diesen Beweis, wenn

er ihm im Kommunionsakt abgefordert wird, an seiner Statt, in Gestalt ei-nes substitutiven Eintretens für ihn, beisteuern, wird seine Anerkennungder Nachfolge Christi als einer im Grunde auch für ihn verbindlichenForm zu leben zum Lippenbekenntnis, zur sich selber Lügen strafendenFormalie.

Sie wird es deshalb, weil sie in Wahrheit, der Wahrheit der rituellenRolle, die dem Nachfolger Christi in actu der Kommunion zufällt, Handin Hand geht mit der Verwandlung des in den Fußstapfen des HerrnWandelnden aus einer auch für den profanen Artgenossen verbindlichenLeitfigur und Orientierungshilfe in einen letzterem verfügbaren Nothel-

fer, eine Kultfigur, jemanden, der im – über die direkte Erreichbarkeitdes Heils durch sakramentale Teilhabe – entscheidenden Augenblick ausganz und gar eigenen Stücken und ohne jeglichen Wegweiseranspruch,sprich, durch einfach nur den substitutiven Einsatz der eigenen Person, je-ne im Glaubensbeweis der imitatio dei bestehende Klippe zu überwinden

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hilft, an der der um den Beweis verlegene profane Artgenosse zu schei-

tern droht – jemanden, der eben dadurch aber dem profanen Artgenossenermöglicht, im Vertrauen auf diese im entscheidenden Augenblick dessakramentalen Heilserwerbs ihm geleistete Nothilfe sein eigenes Lebenganz den profanen Erfordernissen des Hier und Jetzt gemäß und ohneRücksicht aufs künftige Heil zu verbringen beziehungsweise zu gestalten.

In der Tat ist dies die Dialektik oder, besser gesagt, der Pferdefuß desLeistungsvertrags, den zwecks Erhaltung der durch die Sprengkraft desKurzprogramms sakramentaler Erlösung bedrohten Einheit der Christen-heit im Allgemeinen und Kontinuität der christlichen Heilsperspektiveim Besonderen die Nachfolger Christi und ihre weltlich disponiertenArtgenossen miteinander schließen, dass die in der Gewährleistung dersakramentalen Erlösung der letzteren bestehende Leistung der ersterendie in der Anerkennung der imitatio dei als geltender Norm bestehendeGegenleistung der letzteren zu untergraben droht, weil sie den letzterngestattet, diese theoretisch oder formell anerkannte Norm des heiligenLebens durch strikte Beschränkung ihrer für das profane Dasein bean-spruchten Funktion und Bedeutung auf eben nur den Kommunionsaktselbst praktisch oder reell in eine ausschließlich kultische Spezialität, einrein rituelles Erfordernis zu verwandeln und damit aber aus Wegweisernund Vorbildern, deren Anspruch es ist, dem profanen Dasein seinenheilsperspektivisch defizienten Modus vorzuhalten und zur Auflage ei-

gener Reparationsanstrengungen zu machen, Nothelfer und Kultfigurenwerden zu lassen, die dazu da sind, durch ihre in persona erbrachteErsatzleistung den defizienten Modus des profanen Daseins zu heilenoder jedenfalls zu überspielen und so all denen, die im profanen Daseinstehen, die Möglichkeit zu verschaffen, ohne Einbuße ihrer Erwartungkünftigen, himmlischen Heils auf Erden zu leben, wie sie es tun, undgegenwärtig zu bleiben, was sie sind.

Um dieser Gefahr ihrer Reduktion auf schiere Kultdiener, rein rituelleDienstleister zu entgehen, um dem heiligen Leben, das sie führen, seinenormative Verbindlichkeit für alle Christenheit auf Erden, jeden Chris-

tenmenschen zu erhalten, um zu verhindern, dass die Anerkennung dernormativen Verbindlichkeit ihres heiligen Lebens durch die profanen Art-genossen zum Lippenbekenntnis verkommt, hinter dessen Fassade sichdie pro forma anerkannte imperativische Norm vielmehr ins dialektischePassepartout für die ungestörte, von keinem drohenden Heilsverlust

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heimgesuchte Wiederaufnahme beziehungsweise Beibehaltung eines

ebenso rücksichtslos wie dezidiert profanen Daseins verwandelt – umdies sicherzustellen, bestehen die Nachfolger Christi in einer Art Zu-satzbestimmung, quasi einer salvatorischen Klausel zum sakramentalenLeistungsvertrag darauf, dass jene Anerkennung der normativen Ver- bindlichkeit des heiligen Lebens durch die profanen Artgenossen nicht bloß Sache einer theoretisch ausgesprochenen Haltung bleibt, sondernmehr noch zum Gegenstand eines ausgemacht praktischen Verhaltensavanciert, nicht bloß dogmatisch bekundet, sondern mehr noch faktischunter Beweis gestellt wird, und knüpfen die Erfüllung ihrer eigenenvertraglichen Verpflichtung, sprich, ihre substitutive Mitwirkung amKommunionsakt, an diesen von den profanen Artgenossen in Gestaltihres praktischen Verhaltens zu erbringenden faktischen Nachweis.

Sie fordern mit anderen Worten, dass die profanen Artgenossen, wennsie schon das deviative, profane Dasein dem rechtgeleiteten, heiligen Le- ben vorziehen, doch immerhin den guten Willen beweisen, dies profaneDasein so zu gestalten, dass es in wie immer abgeschwächter Form dasheilige Leben nachbildet und also in seinem praktisch-faktischen Verlauf Zeugnis von dessen normativer Verbindlichkeit, seiner Vorbildlichkeit,ablegt und als eine Art heiliges Leben zweiter Klasse erkennbar wird.Die Nachfolger Christi fordern, wie bereits an früherer Stelle formuliert,dass die profanen Artgenossen, wenn schon nicht im Zölibat leben, so

immerhin zuzeiten geschlechtliche Enthaltung üben, wenn schon nichtasketischer Entsagung huldigen, so doch aber in Abständen fasten undsich kasteien, wenn schon nicht dem Dienst am Nächsten, der Barm-herzigkeit, sich verschreiben, so jedenfalls doch Almosen geben undNächstenliebe beweisen, wenn schon nicht leidensbereit sind, so wenigs-tens doch diejenigen ehren und als jedermanns Vorbilder hochhalten, diedurch ihr Leben und Sterben solche Leidensbereitschaft bezeugen.

Und um ihrer Forderung den nötigen Nachdruck zu verleihen, bedro-hen sie die profanen Artgenossen für den Fall, dass sie ihr nicht nach-kommen, mit der Exkommunikation, dem Ausschluss vom gemeinsam

zelebrierten und eben durch die Gemeinsamkeit überhaupt nur Wirksam-keit erlangenden sakramentalen Erlösungsakt. Und damit nicht genug,richten sie, um auch ja sicherzustellen, dass es den profanen Artgenossenmit ihrer abgeschwächten Version von der Nachfolge, ihrem heiligenLeben zweiter Klasse ernst ist, dass sie die Norm als Norm wirklich und

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wahrhaftig anerkennen und zur Geltung bringen, das Institut der Beichte,

einer wiederkehrenden ebenso hochnotpeinlichen Verhaltenskontrolleund Tatbestandsprüfung wie unerbittlichen Buß- und Sühneveranstal-tung ein und ersinnen, um der Gefahr zu begegnen, dass selbst diesedurch die Beichte abgesicherte Form einer praktisch-faktischen Anerken-nung der normativen Verbindlichkeit des heiligen Lebens noch quasi zumLippenbekenntnis, nämlich zu einem So-tun-als-ob, zur Vortäuschungfalscher Tatsachen, zum heuchlerischen Gehabe, zur Scheinheiligkeitverkommt, zu guter Letzt und zu allem Überfluss den Schreckensort des Jüngsten Gerichts, einer finalen Instanz und Kongregation, die ein ebensoendgültiges wie rückwirkendes Urteil über die biographische Erfüllung

des zwischen den Nachfolgern Christi und ihren profanen Artgenos-sen geschlossenen Vertrages fällt, sprich, darüber entscheidet, ob es denBetroffenen mit dem ihr ganzes profanes Leben hindurch zu beweisen-den guten Willen zur praktischen Anerkennung der Vorbildlichkeit derNachfolge Christi ernst war und ob sie also die ihnen vertragsgemäßabgeforderte Leistung hinlänglich erbracht haben, um auch die von denNachfolgern Christi erbrachte Gegenleistung, ihre substitutive Mitwir-kung beim sakramentalen Erlösungsakt, für gerechtfertigt und deshalbwirksam befinden zu können.

Die sich als Klerus gegenüber dem Laienstand etablierenden Nachfolger Christierringen über letzteren eine aus sakralisch-konstitutiver Funktion oder kultisch-heilstechnischer Unabdingbarkeit und aus verhaltensspezifisch-korrektiver Kom-

 petenz oder moralisch-lebenspraktischem Einfluss kombinierte maßgebende Macht.Dass auch die feudale Herrschaft sich dieser Macht fügen muss, erklärt sich ausder besonderen Situation des neben Herrschaft und Klerus dritten Beteiligten,der fronenden Gemeinen.

Dies also ist die ebenso umständliche wie ausgeklügelte Konstruktion,mit deren Hilfe es den Nachfolgern Christi gelingt, den durch den eu-

charistischen Heilsmittelerwerb eröffneten Ausweg in eine Weltlichkeit,die nicht mit dem Verlust der Heilsaussicht bezahlt werden muss, nichtzwar den profanen Artgenossen prohibitiv zu verbauen (dies steht nichtin ihrer Macht und könnte in letzter Instanz nur deren offenen Abfallvon der Heilsperspektive provozieren), ihn wohl aber kontraktiv derart

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zu konditionieren beziehungsweise zu kanalisieren, dass das von ihnen,

den Nachfolgern Christi selbst, geführte heilige Leben und das von denprofanen Artgenossen vorgezogene weltliche Dasein durch das doppelteBand einer Komplementärbeziehung und eines Komparationsverhältnis-ses miteinander verknüpft bleiben und weit entfernt davon sind, in einenausschließenden Gegensatz zueinander zu geraten, und dass auf dieseWeise also der weltflüchtig-gnostische Jenseits- und Erlösungsglaube, diechristliche Religion, die Wiederentdeckung des innerweltlichen Lebensoder Neubesetzung des Daseins auf Erden übersteht und gleicherma-ßen die Einheit der Christenheit und die Kontinuität der christlichenHeilsperspektive gewahrt bleibt.

Indem die Nachfolger Christi zum einen durch ihre persönliche Mitwir-kung und die darin beschlossene substitutive Kompensation des Mangelsan Glaubensbeweis, an dem das profane Dasein krankt, den profanenArtgenossen im entscheidenden Augenblick des sakramentalen Heils-mittelerwerbs beispringen und zum anderen aber, um sich nicht mitsamtihrer ganzen sakralen Lebensform auf die Rolle ritueller Dienstleister,spezialisierter Kultdiener reduziert zu finden, bei Strafe der Verweige-rung ihrer sakramentalen Hilfeleistung den profanen Artgenossen zurAuflage machen, ihr profanes Dasein als eine abgeschwächte Versiondes sakralen Lebens, eine Nachfolge Christi zweiten Grades wahrzu-nehmen und zu gestalten, schaffen sie es, die nunmehr Seite an Seite

fortbestehenden beiden Existenzweisen des sakralen Lebens und desprofanen Daseins sowohl lebenstechnisch-rituell, das heißt, in der Kom-plementarität einer unauflöslich funktionellen Abhängigkeit, als auchlebenspraktisch-habituell, das heißt, im Komparativ einer unabweis-lich strukturellen Ähnlichkeit miteinander zu verschränken und in derTat so ineinander zu verwirken, dass die fortlaufende Parallele sich alsdurchgängig einigendes Band erweist, die formell-modale Alternativesich als reell-soziale Symbiose herausstellt. Sie schaffen es mit anderenWorten, aus einer dichotomischen Konstellation, die die Gesellschaft inzwei unverbundene Teile, einen der Nachfolge Christi geweihten sakra-

len und einen dem irdischen Dasein ergebenen profanen, auseinandersprengt und bei der absehbar ist, dass der eine, sakrale Teil hinter derraumgreifenden Realität, der empirischen Präsenz des anderen, profa-nen Teils früher oder später verschwindet und dem Vergessen anheimfällt – sie schaffen es also, aus dieser dichotomischen Konstellation eine

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symbiotische Kombination zu zimmern, bei der die sakrale Lebensform

kraft ihrer ebenso sehr praktisch-moralischen wie kultisch-sakramentalenBedeutung für das unter der Heilsprämisse stehende profane Dasein alszugleich unabdingbares Konstitutiv und unabweisliches Korrektiv desletzteren firmiert und, weit entfernt davon, hinter dem profanen Daseinzu verschwinden und von ihm vergessen zu werden, im Gegenteil zuseinem kultischen Herzstück und moralischen Eckstein avanciert unddeshalb in zunehmendem und die Symbiose erst komplett machendemMaße von ihm in doppelter Hinsicht hofiert und nämlich nicht wenigersozial hoch- als materiell ausgehalten wird.

Kurz, sie schaffen es, jene aus Klerus und Laien zusammengesetzte Ge-sellschaft zu stiften, die sich, all ihrer Künstlichkeit und Kompliziertheitzum Trotz, über Jahrhunderte hinweg als stabil und haltbar erweist undin der die einen, die zum Klerus institutionalisierten Nachfolger Christi,dafür Sorge tragen, dass die anderen, die ihr weltliches Dasein führendenLaien, teils eine mit ihrem weltlichen Dasein eigentlich unvereinbareHeilsaussicht wahren können, teils ihr weltliches Dasein in größtmög-licher Affinität zu dem der Heilsaussicht eigentlich gemäßen sakralenLeben führen müssen, während dafür, für diese aus Geben und Fordern,Haben und Soll gemischte Lizenzierung eines mit der Heilsprämissedennoch vereinbaren profanen Daseins durch den Klerus, die Laien dieAufgabe übernehmen, nicht nur sich selbst, sondern eben auch den als

kultisches Herzstück und moralischen Eckstein in ihr Gesellschaftsgefügeintegrierten Klerus materiell zu erhalten und sozial zu etablieren.

Und das Mittel, durch das ihnen dies glückt, ist ein kluges Mana-gement des sakramentalen Heilsmittelerwerbs, des Kommunionsakts,der ihnen, den Nachfolgern Christi, bloß als ein den finalen Erfolg ihresheiligen Lebens bekräftigender beziehungsweise garantierender Zusatzgilt, während er für die profanen, erneut dem weltlichen Dasein zuge-wandten Artgenossen die Bedeutung eines das heilige Leben als solchesersparenden und Raum für ein weltliches Leben, das des finalen Heil-serfolgs dennoch versichert bleibt, schaffenden regelrechten Ersatzes

gewinnt. Indem die Nachfolger Christi den Finger in die Wunde desreallogisch-motivationalen, den Beweis des rechten Glaubens betreffen-den Widerspruchs legen, in den sich der profane Artgenosse mit dieserseiner Vorstellung vom Kommunionsakt als vollgültigem Ersatz fürs hei-lige Leben verstrickt, und sich zugleich erbieten, durch ihre substitutive

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Mitwirkung den Widerspruch, wenn nicht zu heilen, so jedenfalls doch

zu kompensieren und so das Unmögliche möglich zu machen, sprich,weltliches Leben und Heilsaussicht miteinander vereinbar werden zulassen, erringen sie ebenso viel praktischen Einfluss auf die Gestaltungdes profanen Lebens wie kultische Unentbehrlichkeit für die Wahrungder Heilsperspektive des letzteren und sichern sich auf diese Weise einenfesten, nicht weniger durch seine moralisch-korrektiven Kompetenzenals durch seine sakralisch-konstitutive Funktion ausgezeichneten Platzim Gefüge der als Feudalzusammenhang neugebildeten territorialherr-schaftlichen Gesellschaft.

In der Rolle des im Geiste Gottes durchs Leben wandelnden Klerus, derden auf weltlichen Wegen durchs Dasein irrenden Laien gleichermaßenals spiritus sanctus, als ihnen den Erwerb des Heilsmittels ermöglichen-der Nothelfer, und als spiritus rector, als ihr Dasein in die Bahn einer mitdem Heilsmittelerwerb halbwegs kompatiblen Lebensführung lenkendenWegweisers, zu Diensten ist, erringen sie eine soziale Machtfülle und einpolitisches Gewicht, wie sie in der menschlichen Geschichte bis dahinnoch keine, auf die Wahrnehmung rein religiöser Ritualfunktionen undmoralischer Kontrollaufgaben spezialisierte Gruppe, nicht einmal dielevitische Priesterschaft des jüdischen Gemeinwesens in den Zeiten derRichter- und Königsherrschaft, besessen hat.

Tatsächlich drängt sich angesichts dieser aus kultisch-heilstechnischer

Unabdingbarkeit und moralisch-lebenspraktischem Einfluss zusammen-gesetzten Machtfülle, die der Klerus erringt und die im Zuge der feu-dalgesellschaftlichen Entwicklung sogar noch zunimmt und unwider-stehlicher wird, die Frage auf, wie es unter den Bedingungen der realen,eigentlich ja durch den ökonomischen Zugriff auf die zivile Arbeitskraftund die politische Verfügung über das soziale Gewaltpotenzial definier-ten Machtverhältnisse zu einer solch atypischen, weil weder ökonomischnoch politisch begründeten Ermächtigung des Klerus überhaupt kommenund wie sie sich mehr noch über so lange Zeit hinweg in Geltung erhaltenkann. Es drängt sich mit anderen Worten die Frage auf, warum die eigent-

lichen Herren der als feudale Organisationen neu entstandenen Territori-alherrschaften, die Führungsschichten der Erobererstämme, die im Zugeihrer Landnahme die eingeborene Bevölkerung der vormals römischenProvinzen unterwerfen und in den Dienst einer Herrschaftsübung stellen,die sich mangels der alten imperialen, bürokratisch-beamtenschaftlichen

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Strukturen auf hauseigene lehnsherrlich-gefolgschaftliche Bindungen,

eben auf feudale Abhängigkeiten, gründet – warum also diese politisch-ökonomisch wirklichen Herren der neuen Staatswesen zulassen, dass ih-nen der einzig und allein dogmatisch-kultisch, in heilsreligiöser Hinsicht,Kompetenz und Relevanz beweisende Klerus, salopp gesagt, auf derNase herumtanzt beziehungsweise, analytischer formuliert, kraft seinersakramentalen Nothelferrolle und seiner moralischen Wegweiserfunktionals sozialbiographische Alternativversion zur territorialherrschaftlichverfassten Existenz und ex cathedra solchen Alternativcharakters letzterepolitisch zu kontrollieren beanspruchende Zensurinstanz, kurz, als dasmönchische Gewissen des feudalen Bewusstseins, an die Seite tritt unddas Leben schwer macht.

Zwar ist leicht einsehbar, dass die christliche Heilsperspektive als einzusammen mit der höheren antiken Kultur, der überlegenen römischenZivilisation, von den primitiven Erobererstämmen adaptiertes religi-öses Bekenntnis und dogmatisch-kultisches System faszinierend und fürMenschen, die nicht nur generell sterblich, sondern mehr noch speziellkurzlebig und von vielerlei natürlichen und gesellschaftlichen Fährnissenmit einem frühen Tode bedroht sind, vielversprechend genug ist, umein starkes Interesse an ihrer Bewahrung zu wecken. Aber eröffnet nichtdas sakramentale Kurzprogramm des eucharistischen Heilsmittelerwerbsden auf irdische Etablierung und säkulare Machtentfaltung erpichten

neuen Herren einen kommoden Weg, das eine haben zu können, ohnedas andere missen zu müssen, sprich, ohngeachtet ihrer gegenwärtigenirdischen Lebensführung des künftigen himmlischen Heils versichert zusein und zu bleiben? Und sollte wirklich der theoretisch-systematischeWiderspruch zwischen der Heilsperspektive, um die sie sich in actu dersakramentalen Teilhabe, im Kommunionsakt, bemühen, und den welt-lichen Absichten, die sie anschließend mittels ihrer gesellschaftlichenHandlungen, ihrer Beteiligung am profanen Dasein verfolgen – solltewirklich dieser Widerspruch genügen, um ihnen das eucharistische Kurz-programm als ein Passepartout zum Heil madig und sie den mit Haken

und Ösen versehenen Ansinnen und Kompromissvorschlägen derer,die ihn aufspießen, sprich, des sich im Glanze seines heiligen Lebenssonnenden und auf es als auf den sonnenklaren Beweis seiner beispiel-haften Rechtgläubigkeit pochenden Klerus, gefügig machen? Seit wanntriumphieren in der Geschichte der Menschheit theoretisch-systematische

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Widersprüche über praktisch-empirische Interessen? Wann hätten die

Menschen jemals die Kunst verlernt, über logische Brüche in ihrem fak-tischen Verhalten den Mantel sei’s des Vergessens, sei’s der Rationali-sierung zu breiten und sich so die Möglichkeit zu verschaffen, ihrenim Widerspruch zur dogmatischen Zielsetzung stehenden praktischenAktionen oder Ambitionen zu frönen, ohne sich den Widerspruch zurWiderlegung ihrer dogmatischen Zielsetzung und zu deren Preisgabegereichen lassen zu müssen?

Und selbst gesetzt, die Herren der neuen, feudalen Gesellschaftennehmen den Widerspruch zwischen theoretischem Wollen und prakti-schem Tun, in den sie sich durch ihre territorialherrschaftliche Etablierungverstricken und den der Klerus nicht müde wird, ihnen per dogmati-sche Lehrtätigkeit vorzubeten und per paradigmatische Lebensweisevor Augen zu führen – gesetzt selbst, sie nehmen diesen Widerspruchzur Kenntnis und sich mehr noch zu Herzen und finden sich deshalb bereit, das in der Nachfolge Christi stehende Leben des Klerus als dasder Heilsperspektive einzig gemäße Dasein auf Erden, sprich, als den fürden eucharistischen Gnadenakt erforderten Glaubensbeweis, gelten zulassen und folglich auch den ihnen vom Klerus offerierten nothelferischenBeistand, seine substitutive Mitwirkung bei der Kommunion, als conditiosine qua non des Gelingens des sakramentalen Heilsmittelerwerbs zuakzeptieren – gesetzt selbst, dies alles ist der Fall, warum sollten dann die

Herren dem exorbitanten Anspruch des als unabdingbar für die Wirk-samkeit des Heilsmitteltransfers anerkannten Klerus stattgeben und ihmüber seine kultisch-funktionelle Einmischung in das eine Ereignis dersakramentalen Handlung hinaus einen moralisch-kriteriellen Einflussauf ihr ganzes übriges, profanes Leben einräumen? Nur weil der Klerusdroht, andernfalls seine Mitwirkung an der sakramentalen Handlung zuverweigern?

Muss sich solche Weigerung, selbst wenn sie als Druckmittel eingesetztwird, nicht angesichts der realen Machtverhältnisse als leere Drohungerweisen? Was sollte die mit einem Monopol auf gleichermaßen politi-

sche Autorität und militärische Macht ausgestatteten säkularen Herrendaran hindern, dem Klerus eben die Rolle eines spezialisierten Kultdie-ners, eines rein rituellen Dienstleisters aufzuzwingen, der dieser durchsein Pochen auf eine moralisch-kriterielle Funktion, sprich, durch seinenAnspruch zu entrinnen sucht, mit der Nachfolge Christi, dem heiligen

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Leben, eine Norm zu setzen, der auch das profane Dasein nacheifern

und in wie immer abgeschwächter Form genügen müsse, um der Heils-perspektive und der durch sie in Aussicht gestellten Erlösung teilhaftigzu bleiben? Selbst wenn einzelne Kleriker sich gegen solch eine mittelspolitischer Macht und militärischer Gewalt durchgesetzte Ausschließung jeder komparativen Beziehung zwischen sakralem Leben und profanemDasein und Beschränkung beziehungsweise Reduktion des Klerus auf diekomplementäre Rolle von Spezialisten in Ritualfragen oder kultischenFachidioten, deren Aufgabe sich darin erschöpft, den profanen Artgenos-sen bei der Sicherung ihrer Heilsaussicht zu Diensten zu sein – selbst also,wenn Einzelne sich gegen diese funktionalistische Reduktion verwahrtenund mit der Verweigerung ihrer Mitwirkung Ernst machten, das Gros desKlerus würde sich – nach allem, was wir von der menschlichen Naturwissen! – der Gewalt beugen und in die dem Geistlichenstand von derweltlichen Herrschaft zugewiesene rein sakralische und aller moralischenKonnotationen bare Kultdienerrolle fügen, statt um der Verteidigungder Vorbildlichkeit des heiligen Lebens für das profane Dasein willenRepression und Verfolgung von Seiten der weltlichen Macht in Kauf zunehmen und am Ende gar noch den Märtyrertod zu sterben – zumal jaeben jene durch sakramentale Teilhabe eröffnete Möglichkeit eines keinheiliges Leben voraussetzenden, sondern unmittelbar aus dem profanenDasein heraus sich ereignenden Heilsmittelerwerbs, auf dessen Sank-

tionierung beziehungsweise Beglaubigung die weltlichen Herren denGeistlichenstand offiziell festzulegen oder funktionell zu beschränkensuchten, den Märtyrertod als letzte Konsequenz des heiligen Lebens bereits längst aus der Mode hat kommen lassen.

Was also, noch einmal gefragt, sollte die im Bewusstsein ihrer politi-schen Macht und kriegerischen Gewalt etablierten weltlichen Herren,selbst wenn sie sich von dem motivationalen Widerspruch zwischen ih-rem heilsperspektivischen Verlangen nach dem Himmelreich und ewigenLeben und ihrem sozialbiographischen Begehren nach irdischer Herr-schaft und weltlicher Entfaltung hinlänglich beeindrucken lassen, um die

zwecks Überbrückung des Widerspruchs und Kompensation des Man-gels substitutive Mitwirkung der Nachfolger Christi beim sakramentalenTeilhabeakt als unabdingbar zu akzeptieren und mithin die letzteren alsfür die Heilsaussicht ihrer profanen Artgenossen konstitutive Kultfigurensich gefallen zu lassen, sprich, sie als Klerus, als Geistlichenstand, in die

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Gesellschaft ihrer demgegenüber als Laien definierten profanen Artge-

nossen unauflöslich zu integrieren – was also sollte selbst unter dieserVoraussetzung einer den Nachfolgern Christi und ihrem heiligen Lebenkonzedierten kultisch tragenden Funktion die weltlichen Herren daranhindern, in diesem kultisch-funktionellen Beitrag eine nichts als eben nurdie Kultverrichtung betreffende Dienstleistung, ein auf den Vollzug dessakramentalen Ritus beschränktes Offizium zu gewahren, statt zuzulas-sen, dass der Klerus aus seinem sakramentalen Offizium, seinem rituellenAmt soziale Konsequenzen zieht, existenzielle Forderungen ableitet undmit der Drohung, seines Amtes andernfalls nicht mehr zu walten, amsakramentalen Ritus sonst nicht mehr mitzuwirken, den Anspruch erhebtund mehr noch durchsetzt, kraft seines als – wenigstens im Prinzip –paradigmatisch und normativ anzuerkennenden heiligen Lebens einemoralische Wegweiserrolle für das profane Dasein zu übernehmen undüber letzteres eine alle seine Bereiche erfassende und durchdringendepraktische Kontrolle auszuüben, kurz, die politische Fasson einer derweltlichen Herrschaft als Zensurinstanz an die Seite tretenden geistlichenMacht auszubilden?

So verwunderlich angesichts der realen Machtverhältnisse die Fügsam-keit der weltlichen Herren, ihre Bereitschaft, sich den mittels moralischerZensur geübten politischen Einfluss des geistlichen Stands gefallen zulassen, auf den ersten Blick aber auch anmuten mag, bei genauerem

Zusehen ist sie nicht schwer zu verstehen, weil sie sich aus den spe-zifischen Konditionen der weltlichen Machtergreifung selbst, aus denhistorischen Umständen, unter denen die neuen Herren ihre Herrschaftetablieren müssen, ergibt. Genauer gesagt, ergibt sie sich aus der Existenzund Verfassung des dritten an der Einrichtung der neuen territorialherr-schaftlichen, sprich, feudalen Gesellschaften Beteiligten, der von denEroberern der Provinzen unterworfenen und in Dienst genommenen bäuerlich-handwerklichen Unterschicht, des wie die Basis der weltlichenHerrschaft so das Gros der laizistischen Bevölkerung bildenden gemeinenVolkes. Nicht, dass dieser dritte Mitspieler, das gemeine Volk, nicht eben-

so wie seine neuen, feudalen Herren, vom wiedererwachten Lebensmutgetrieben, das profane, auf Erden seine Heimstatt findende, um nicht zusagen, das Himmelreich suchende Dasein bejahte und dem in Entsagung,Armut, Askese und Opferbereitschaft verbrachten heiligen Leben, das dieNachfolge Christi verlangt, definitiv vorzöge!

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Nicht, dass nicht das Volk wie seine neuen Herren deshalb auch das

Kurzprogramm der eucharistischen Teilhabe, den kurz angebundenensakramentalen Heilsmittelerwerb, von Herzen begrüßte und als einewillkommene Methode, sich auf Erden häuslich einzurichten, ohne sichdie Aussicht auf die künftige himmlische Wohnung zu verscherzen, hoch-hielte! Anders freilich als für die neuen Herren stellt für das gemeineVolk diese dem neuen Lebensmut entspringende Wendung hin zu ei-nem in den alten territorialherrschaftlichen Organisationsformen sichentfaltenden profanen Dasein ebenso wenig eine eindeutig positive, rück-haltlos engagierende Motion dar, wie das profane Dasein selbst als einsich unzweideutig eröffnender, ein bedingungslos einladender Prospekterscheint.

Zu klärlich ist unter den Bedingungen einerseits einer territorial be-schränkten agrarischen und in deren Schatten und Grenzen dann auchhandwerklichen Überschussproduktion und andererseits einer Okkupa-tionssituation, die nolens volens in der Dichotomisierung und Stratifizie-rung der Gesellschaft in eine den Überschuss produzierende Unterschichtund eine den Überschuss konsumierende Oberschicht resultiert – zuklärlich ist unter diesen historischen Bedingungen einer mangels sächli-cherer Assoziationsmechanismen als persönliches Vertragswerk, feudalesLehnssystem sich reproduzierenden territorialherrschaftlichen Formationden unterworfenen Volksgruppen und den ihnen sich beigesellenden

niederen Rängen der Erobererstämme selbst der Weg in fronwirtschaft-liche Dienstbarkeit und knechtische Abhängigkeit gewiesen, als dass siedem so beschaffenen und beschwerten weltlichen Dasein mit vorbehalt-loser Begeisterung entgegensehen oder sich gar voll Lebenslust und mitungehemmtem Tatendrang in die Arme stürzen könnten.

In dem Maße, wie die Eroberer sich der provinzialen Territorien desverblichenen Imperiums bemächtigen, sie unter sich aufteilen und sichals lehnsvertraglich organisierte Oberschicht, als feudale Herren in ihnenetablieren, zeigt sich, dass ihr Anspruch an die unterworfenen einhei-mischen Bevölkerungsgruppen und an die Leibeigenen und Knechte

aus den Reihen der Erobererstämme selbst der unverändert gleiche wieder der Eroberer der Stromtalzivilisationen der alten Welt ist, dass sienämlich ebenso wie jene als Gegenleistung für die mit militärischer Machtdurchgesetzten Rechtsverhältnisse im Innern und nach außen getroffenenSchutzvorkehrungen, die sie den Unterworfenen bieten und durch die sie

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diese im Wesentlichen vor nichts anderem sicherzustellen versprechen

als vor der eignen herrschaftlichen Willkür und Habgier und vor derAggressivität und Raubgier ihrer Standesgenossen draußen – dass sie alsoals Gegenleistung dafür den Unterworfenen eine vollständige Revisionund Umkehrung ihrer naturgemäßen, auf subsistenzielle Versorgung,Selbsterhaltung, gerichteten Lebensperspektive abfordern und von ihnenverlangen, ihre Selbsterhaltung vielmehr in den Dienst der Erhaltung derHerrschaft zu stellen, ihr tätiges Selbstverhältnis nurmehr als integrieren-den Bestandteil oder verschwindendes Moment ihrer auf das exzentrischeSelbst der Herrschaft bezogenen Aktivitäten wahrzunehmen, mit ande-ren Worten, all ihre gesellschaftlichen Reproduktionsbemühungen und

arbeitsteilig-kooperativen Arbeitsanstrengungen primär auf die öko-nomische Dotierung und konsumtive Ausstattung der herrschaftlichenSphäre zu richten und bloß sekundär oder in der ebenso stillschwei-genden wie zwangsläufigen Implikation auch die eigene Existenz zu bedenken und mitzuversorgen – mit der Konsequenz, dass, empirisch-oberflächlich betrachtet, alles, was im quasi qualitativen Sprung überdas Quantum der für die eigene Subsistenz erforderlichen Mittel hinausproduziert wird, ad usum delphini geschaffen wird, als Herrschaftsgutdefiniert ist, oder systematisch-gründlicher gefasst, überhaupt alles, dasgesellschaftliche Produkt ebenso wie die gesellschaftliche Arbeitskraft,

seinen quasi unmittelbaren Zweck in der Fundierung und Erhaltungeines des Arbeitslebens überhobenen herrschaftlichen Lebens findet unddie Subsistenz der Arbeitenden, die Versorgung derer, die ihre Arbeits-kraft zur Verfügung stellen müssen und das gesellschaftliche Produkthervorbringen, deshalb als eine Vermittlungsleistung der Herrschaft, einevon letzterer den ersteren erteilte Zuwendung und erwiesene Gnadeerscheint.

Diese seit alters, seit jenen ersten Stromtalreichen vorherrschende, inden folgenden orientalischen Großreichen voll zur Geltung gebrach-te, dann in den Diadochenreichen mit dem technischen Knowhow und

dem politischen Kalkül des handelsstädtischen Systems versetzte undaufgepäppelte und schließlich im römischen Kaiserreich auf die Spit-ze zynischer Rationalität und praktischer Effektivität getriebene fron-wirtschaftliche Perspektive oder Herr-und-Knecht-Tradition wird nunalso von den neuen feudalen Territorialherrschaften übernommen und

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abermals ins Werk gesetzt und lässt für die weitere Entwicklung bezie-

hungsweise für die diese weitere Entwicklung zu tragen und zu ertragenausersehene bäuerlich-handwerkliche Unterschicht wenig Gutes hoffen.Unterschieden ist der Zustand der neu gegründeten Feudalherrschaf-

ten von der Situation der alten Stromtalreiche allerdings erstens dadurch,dass die damaligen Eroberer in den Stromebenen, die sie okkupieren, be-reits eine für die Zeit hoch entwickelte Zivilisation, sprich, eine sozusagengut geölte Maschinerie zur Produktion gesellschaftlichen Reichtums undÜberflusses, mithin die materielle Basis für einen ebenso praktisch auf-wendigen wie theoretisch anspruchsvollen Herrschaftsapparat vorfinden,während die neuen Eroberer in den aufgelassenen Reichsprovinzen, indenen sie sich festsetzen, nur Zivilisationstrümmer, kümmerliche Resteder imperialen Reichtumsbeschaffungsmaschine antreffen und deshalbauch nur einen kümmerlichen, in seinen repräsentativen Ansprüchenebenso bescheidenen wie in seinen konsumtiven Aufwendungen einge-schränkten Herrschaftsapparat auf die Beine stellen können, dass mitanderen Worten fronwirtschaftlich organisierte Reichtumserzeugungauf entwickelter technischer Grundlage und unter systematisiert bü-rokratischen Bedingungen höchstens erst Zukunftsmusik und für dieGegenwart eine vom Niveau subsistenziellen Wirtschaftens noch kaumunterschiedene, vom Ideal einer verlässlichen Eigenversorgung nochkaum entfernte Not- und Überlebensgemeinschaft zwischen Herren und

Knechten beziehungsweise Freien und Hörigen das Gegebene ist.Und hinzu kommt zweitens, dass anders als die frühen orientalischen

Territorialreiche, deren geographische Gründungsstätte ebenso ausla-dende wie in sich geschlossene, ebenso klar umrissene wie viel umfas-sende Stromebenen sind, die, nach außen durch unwirtliche Landstri-che, Berge und Wüsten, abgeschirmt, den Schutz einer relativ isoliertenExistenz und prospektiv ungestörten Kontinuität bieten – dass andersals jene frühen Territorialherrschaften die neuen Feudalstaaten in ihrerstammessystematisch-pluralischen Existenz benachbarte, eng aneinan-der grenzende und zwar zumeist durch geographische Landmarken

geschiedene, aber doch relativ leicht für einander erreichbare Territori-en okkupieren, mit dem Resultat, dass sie in einem ununterbrochenenRivalitäts- und Bedrohungsszenarium und in ständig wechselnden Kon-frontations- und Bündniskonstellationen einander zu Leibe rücken undsich zu Übergriffen hinreißen lassen, Fehden miteinander austragen und

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Annexions- und Expansionsgelüste hegen und dass deshalb die einzel-

nen Herrschaften stärker als ihre orientalischen Vorgänger nicht nur auf die Loyalität und Anhänglichkeit ihrer feudalen Gefolgschaft, sondernauch und mehr noch auf die Treue und Beständigkeit ihrer fronendenUntertanen angewiesen sind, die nicht über die Maßen zu knechten unddenen die Sicherung ihrer Subsistenz nicht über Gebühr sauer und durchdie Forderung frondienstlicher Reichtumserzeugung beschwerlich wer-den zu lassen, ein rebus sic stantibus klares Gebot ihres herrschaftlichenKontinuitäts- und Selbsterhaltungsinteresses ist.

Dies beides, die mangelnde Effektivität und defiziente Realität der fron-dienstlichen Reichtumserzeugungsmaschinerie und die Konkurrenz undMilitanz der feudalen Nachbarn, sorgt also in den Anfängen der neuenTerritorialherrschaften, in der Frühzeit der feudalen Staaten dafür, dassdie Beziehung zwischen Herr und Knecht noch Züge eines Bündnissesund von gemeinsamen Interessen bestimmten Verhältnisses aufweist undsich infolge dessen die ökonomische Bedrängnis und soziale Bedrückungder fronenden Unterschicht noch in Grenzen hält, dass der Preis, den dasgemeine Volk für seine Lebenslust, seine Rückkehr ins profane Daseinzahlen muss, vertretbar, die herrschaftliche Hypothek, mit der es seineSubsistenz belastet findet, erträglich bleibt.

Dass dies auch in der Zukunft der feudalgesellschaftlichen Entwick-lung so bleiben wird, scheint freilich fraglich. Schließlich lässt sich bei

normalem, nur der Logik menschlicher Produktivkraftentfaltung und ge-sellschaftlicher Synthetisierungsneigung verpflichtetem und durch keineäußere, politisch-ideologische Rücksicht abgelenktem Fortgang damitrechnen, dass, ökonomisch genommen, die Reichtumserzeugung wiederan Aktualität und Kapazität gewinnt, sprich, alte Niveaus der technischenPerfektion und bürokratischen Organisation zurückerobert und dass,politisch betrachtet, die Rivalitäten zwischen den einzelnen Herrschaftendurch den Triumph der einen oder anderen Partei ihr Ende finden undeine fortschreitende Zentralisierung der Territorien unter einer Herrschaftdie äußeren Bedrohungen beseitigt und die siegreiche Herrschaft der

durch diese Bedrohungen diktierten Notwendigkeit überhebt, sich nichtnur um den Beistand und die Loyalität der feudalen Gefolgschaft zu bemühen, sondern auch und mehr noch um die relative Anhänglichkeitund eventuelle Unterstützung des gemeinen Volkes, der als Bauern undHandwerker fronenden Knechte, besorgt zu sein.

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Und in dem Maße, wie dies geschieht und die Reichtumserzeugung

unter einer territorialen Zentralherrschaft wieder voll in Gang und auf Touren kommt, lässt sich erwarten, dass sich bei der Herrschaft jeder Restvon gemeinschaftlicher Verbundenheit mit den fronenden Knechten undparteilicher Rücksicht auf sie verliert und die Fronarbeit der letzteren zueinem Spielball und Experimentierfeld einer durch technische Hilfsmittelund bürokratische Zwangsmaßnahmen zu erzielenden Mehrung herr-schaftlichen Reichtums wird und dass die Subsistenz der Knechte, wie siesich systematisch auf ein hinter den umfänglichen konsumtiven Ansprü-chen der Herrschaft verschwindendes Moment, eine der herrschaftlichenVerfügung beileibe nicht mehr als handlungsmotivationale Verpflich-

tung primär innewohnende, sondern höchstens noch als kostenfaktorelleVerbindlichkeit sekundär anhängende Bestimmung reduziert, so dennauch empirisch als ein gegen die Prädominanz der Reichtumsproduk-tion immer schwerer durchzusetzender Gesichtspunkt, ein durch dasGebot technischer Effektivität und bürokratischer Rationialität, das beider Reichtumserzeugung erneut Platz greift, immer stärker unter Druckgeratendes und mit Füßen getretenes Bedürfnis erscheint.

Und diese Entwicklung der Arbeit im Dienste der Herrschaft zum rück-sichtslos durchgesetzten Knechtsschicksal, zur über alle subsistenzielleRücksicht triumphierenden Fron sans phrase, macht umso mehr den Ein-druck einer für die neuen, feudalen Territorialherrschaften verbindlichenZukunftsperspektive, als ja das vorangegangene imperatorisch-cäsarischeRegime des Römischen Reiches mit allen der Reichtumserzeugung vonHaus ihrer alten territorialherrschaftlichen Verfassung aus eigenen sakral bedingten Verpflichtungen und rituell verbürgten Restriktionen ebensogründlich wie ein für alle Mal aufgeräumt hat.

Der historische Prozess, der von den alten Theokratien über die imperialenStadtstaaten auf kommerzieller Grundlage zur Agonie der cäsarischen Herr-schaft führt, resultiert in einer Entheiligung der Welt, die letztere durch die vom

Christentum eröffnete Möglichkeit, ihr ins Himmelreich zu entfliehen, einer imPrinzip vollständigen menschlichen Rücksichtslosigkeit und Willkür ausliefert.

Ihrer alten territorialherrschaftlichen Verfassung nach ist die Reichtum-produktion aufs engste verknüpft mit der Erfahrung und Verdrängung

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 jenes – an früheren Stellen unserer Abhandlung bereits mehrfach aus

dem historischen Geschehen extrapolierten – Zustands unendlicher In-differenz und absoluter Negativität, den ein ex improviso des produzier-ten Reichtums selbst okkurierender Subjektwechsel in der Gestalt einestoto coelo anderen Subjekts heraufbeschwört und der, wie den gesell-schaftlichen Reichtum in specie, so die ihn hervorbringende menschlicheGesellschaft in genere mit ihrer Deklassierung zum angesichts des exklu-siven Seins und zeitlosen Bestehens des anderen Subjekts offensichtlichenSchein und chronischen Nichts, kurz, mit Entwirklichung und Entwer-tung bedroht. Diese Indifferenz und Negativität aus der Welt zu schaffen beziehungsweise durch ihre Umfunktionierung in eine Haltung sub- jektiv engagierter Affirmation und objektiv sanktionierender Teilhabevereinbar mit der menschlichen Welt und gesellschaftlichen Wirklichkeitwerden zu lassen, ist die zentrale Funktion und grundlegende Aufga- be von Herrschaft schon in ihrer in die Stammesgeschichte zurückrei-chenden heroischen und vollends dann in ihrer der Bildung territorialerKlassengesellschaften entspringenden theokratischen Form. Dafür, dasszuerst als Personifizierung des in den Heros umfunktionierten anderenSubjekts und später als Stellvertreter der zu Göttern synthetisierten undneutralisierten Stammesheroen der Herr durch entsprechende, nach Be-darf oder brauchgemäß zu wiederholende rituelle Verrichtungen undkultische Veranstaltungen den Nachweis eines initiativ-begründenden

 beziehungsweise possessiv-bejahenden Verhältnisses der heroischen odergöttlichen Macht zum Reichtum in specie und zur Welt in genere führt,fällt ihm der gesellschaftliche Reichtum zu und steht ihm, wie primärfür seine kultischen Zwecke und rituellen Aufgaben, so denn auch se-kundär für die Ausgestaltung seines eigenen, in der Evokation des Heros beziehungsweise in der Invokation der Götter verbrachten Lebens zuGebote.

Die solchermaßen mit kultischen Verpflichtungen und rituellen Ver-richtungen belasteten Herren und ihre ihnen zuarbeitenden Gefolgschaf-ten mögen also den von der fronenden Bauern- und Handwerkerschaft

geschaffenen Reichtum in Besitz nehmen und über ihn verfügen – ihruneingeschränktes Eigentum, ihre persönliche Habe sans phrase wird erdoch niemals, weil er immer diese in der Form von Heroen- und Götter-kulten ausgearbeitete Funktion behält, gegen die im Heros und in denGöttern lauernde Negativität und Indifferenz des anderen Subjekts, seine,

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des Reichtums, eigene Realität zu beschwören und die Menschen der Po-

sitivität ihres zu ihm führenden Tuns und Treibens zu versichern. Nicht,dass sie nicht ihre Knechte fronen ließen und alles aus ihnen herauszu-pressen suchten, was nach Maßgabe des Stands der gesellschaftlichenProduktivkraft in ihnen steckt! Aber die Reichtumerzeugung als solcheund in abstracto zur Haupt- und Chefsache, zum in der Tautologie einesrein persönlichen Interesses kulminierenden Selbstzweck zu erheben, istihnen nicht gegeben; und so gewiss das in den Heros beziehungsweisedie Götter umfunktionierte andere Subjekt, das sie personifizieren be-ziehungsweise repräsentieren, als der kultisch beschworene und rituellreaffirmierte eigentliche Herr und Eigner des Reichtums firmiert, den siein seinem Namen und Auftrag hervorbringen lassen, so gewiss sind sie je-nem wahren Herrn und wirklichen Eigner nicht nur für den Bestand unddie Kontinuität des Reichtums selbst, sondern auch für die Bewahrungund Pflege des zur Erzeugung des Reichtums erforderlichen menschli-chen Instrumentariums, sprich, für die Erhaltung der Gesundheit und dieRegeneration der Arbeitskraft der fronenden Knechte verantwortlich.

Das aber ändert sich mit der Heraufkunft der Kaiserherrschaft desRömischen Imperiums. Einer neuen Erscheinungsform des Reichtumsentsprungen, die den Reichtum aus einer Anhäufung territorialer Habein eine Ansammlung kommerzieller Werte, sprich, aus Herrengut inHandelsware überführt zeigt und deren Funktionsrahmen nicht mehr die

persönlich vorgenommene Allokation, sondern die sächlich vermittelteDistribution, deren Sinnbild deshalb auch nicht mehr der herrschaftlicheSpeicher, sondern der gemeinschaftliche Markt ist – dieser neuen, aktu-elle Fülle durch potenzielle Erfüllung eskamotierenden, Überfluss durchZirkulation aus der Welt schaffenden Form von Reichtum entsprungen,kann die cäsarische Herrschaft die von Fülle und Überfluss ursprünglichauf den Plan gerufenen Kultfiguren und religiösen Gespenster vertreiben.

Indem der auf der Basis dieser neuen Reichtumsform aller religiösenBindungen und kultischen Verpflichtungen überhobene Cäsar den Göt-terglauben und die Opferkulte als reines Herrschaftskalkül und höchstens

noch durch den eigenen Größenwahn mit einer pseudoreligiös höherenWeihe versehenes politisch-ideologisches Machtmittel einsetzt und zudiesem zynisch berechnenden Zweck als ein Kultobjekt unter anderen,als Gott unter Göttern Einzug in die Tempel des Reiches hält, stellt erdie Götter insgesamt als zur Legitimierung theokratischer Herrschaft

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ersonnene Popanze bloß, entlarvt er die ihnen geweihten Opferkulte

als nur einen Hokuspokus, unter dessen Camouflage die Theokratenselbst nicht nur ungestört, sondern mehr noch mit allgemeiner Billigungihren Raub am gesellschaftlichen Reichtum begehen können, und erweister das, was die Götterkulte fundiert, nämlich den Glauben an die dasirdische Dasein als ein Sein reaffirmierende, die Erscheinungswelt alsWirklichkeit sanktionierende göttliche Macht, den Glauben mit anderenWorten daran, dass die Götter die Welt vor jener alles für eitel erklärendenIndifferenz, jener alles für nichts befindenden Negativität retten undschützen, die ein durch sie ebenso sehr verdrängtes wie ersetztes, ein insie ebenso sehr eskamotiertes wie umfunktioniertes anderes Subjekt derWelt vielmehr bezeigt – erweist er also diesen Glauben an die positiveAnteilnahme und den affirmativen Schutz der Götter als ein seit altersvon der theokratischen Herrschaft lanciertes Täuschungs- beziehungs-weise Selbsttäuschungsmanöver, das höchstens und bestenfalls den vonIndifferenz ununterscheidbaren Zynismus und den mit Negativität iden-tischen Egoismus zu kaschieren und vom Bewusstsein fernzuhalten dient,den er, der als der Herrscher sans phrase auftretende Cäsar, das in denBau der füchsischen Theokraten wölfisch eingefallene leibhaftige andereSubjekt, nun in ungeschminkter Wahrheit an den Tag legt und in allenEinzelheiten des imperialen Ausbeutungsapparats Wirklichkeit werdenlässt.

So gewiss der imperatorische Cäsarismus des Römischen Reiches, derKult des Gottkaisertums, die absolute Indifferenz und transzendenteNegativität des anderen Subjekts, der die Theokratien mit Hilfe der Göt-terkulte zu wehren und einen Riegel vorzuschieben beanspruchen, alsvielmehr nur den rücksichtslos eigenen Zynismus, den gottlos immanen-ten Egoismus der Cäsarenherrschaft selbst entlarvt und offenbar werdenlässt, und so gewiss er also den Theokratien ihre sakrale Begründungund göttliche Sanktionierung als bloßen, ihr wahres Wollen zu kaschieren bestimmten Vorwand, als bloße, ihr tatsächliches Tun zu verbrämen die-nende Rationalisierung nachweist beziehungsweise vorstellt, so gewiss

sucht er die traditionellen Religionssysteme mit einer allgemeinen Göt-terdämmerung heim, beschwört eine umfassende Aufklärung über sieherauf, an deren Ende alle den menschlichen Reichtum in specie und dasinnerweltliche Dasein der Menschen in genere mit unendlicher Indiffe-renz und absoluter Negativität bedrohende ontologische Verschiedenheit

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und chronologische Transzendenz eines anderen Subjekts verschwunden

und nichts mehr übrig ist als eben nur die grundlose Machtausübung undnackte Herrschaft von Menschen über Menschen, in deren Konsequenzdie einen den von anderen geschaffenen Reichtum in aller Positivitätund Pauschalität als ihr Privateigentum in Anspruch nehmen und dievon letzteren wohnlich gemachte Welt ohne jedes Wenn und Aber, ohneviel Vorwände und Umstände als ihre persönliche Domäne mit Beschlag belegen.

Freilich bedeutet dies mitnichten das endgültige Aus für das toto coeloandere Subjekt und sein zur unendlichen Indifferenz distanziertes on-tologisch verschiedenes Sein, seine in absoluter Negativität verhaltene

modallogisch transzendente Wirklichkeit! Wie das Schicksal des Römi-schen Reiches in aller Ausführlichkeit demonstriert, ist die als imperialerCäsarismus in ihrem gottlos nackten Zynismus bloßgestellte, in ihremunverhohlen reinen Egoismus offenbar gewordene weltliche Herrschaftaus Gründen ihrer ebenso heillos widersprüchlichen wie dynamisch un- bewussten Konstitution schlechterdings unfähig, ihren erklärten Zweck,eine im Interesse der Befestigung ihrer selbst und der Bestreitung desLebens im Überfluss, auf das sie Anspruch erhebt, betriebene Ausbeutungvon Mensch und Natur und Akkumulation von Reichtum konsequentzu verfolgen und mit der im abstrakten Prinzip ihr eigenen Hemmungs-

losigkeit ins Werk zu setzen. Sie ist vielmehr hoffnungslos disponiert, besser gesagt, rettungslos dazu verurteilt, mit sich selbst in mörderischenStreit zu geraten und im Zuge eines mit allen militärischen Kräften, diedas Imperium zu mobilisieren vermag, ausgetragenen permanenten Kon-flikts ihre eigene Existenzbasis, das den Reichtum, auf dem sie aufbaut,produzierende Reich, zugrunde zu richten, seine Äcker zu verwüsten,seine Gewerke zu ruinieren, seine Infrastruktur zu zerstören, seinen Han-del zum Erliegen zu bringen, seine Technik und Wissenschaft in Verfallgeraten zu lassen, seine Bevölkerungen zu vertreiben, zu dezimieren undin einen Zustand allgemeiner gesellschaftlicher Auflösung zu versetzen.

Die cäsarische Herrschaft findet sich, wie an früherer Stelle gezeigt,durch die irrationalen Grundlagen ihrer Rationalität, durch die religi-ösen Widersprüche, aus denen ihre säkulare Identität sich speist, dazugetrieben, so viel Not und Elend über ihre Untertanen zu bringen undihnen das Leben derart zu vergällen und zum Gräuel werden zu lassen,

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dass sie schließlich freiwillig eben jenem in ontologischer Differenz per-

sistierenden, in chronologischer Transzendenz perennierenden anderenSubjekt sich zuwenden und in die Arme werfen, das die alten Stammes-herrschaften und Theokratien die Aufgabe hatten, mittels ihrer Heroen-und Opferkulte in eine affirmative Macht und sanktionierende Instanzumzufunktionieren, und das die von einer anderen Art von Reichtum,von kommerziellen Waren statt von territorialem Gut, ihren Ausgangnehmende römische Kaiserherrschaft dem Blickfeld überhaupt entrücktund nämlich durch ihren blind materiellen Egoismus, ihren rein säkularenZynismus substituiert, sprich, als einen für das Verhältnis zur Welt maß-gebenden Faktor, eine für das menschliche Dasein relevante Rücksichtersatzlos gestrichen, eskamotiert hat.

Unter dem ebenso theoretisch vernichtenden Eindruck wie praktischtödlichen Druck des in die Nacht seines hintergrundslos klaren Verstan-des gehüllten, dem Wahnsinn seiner richtungslos funktionierenden Ratio-nalität verfallenen Kaiserreichs entscheiden sich die Untertanen für dasdifferente Sein, die transzendente Wirklichkeit jenes eskamotierten, durchdie irrationale Rationalität des Kaiserkults in die Abskondität diesesseines absoluten Seins, die unendliche Absenz dieser seiner transzen-denten Wirklichkeit vertriebenen anderen Subjekts – ohne sich durchdie Indifferenz, die es aus der Fülle dieses seines differenten Seins demmenschlichen Dasein beweist, irre machen, durch die Negativität, in der

es aus der Absolutheit dieser seiner transzendenten Wirklichkeit der Weltder Erscheinungen begegnet, abschrecken zu lassen.

So beherzt und unerschrocken der Indifferenz des anderen Subjekts insAuge schauen und seiner Negativität sich stellen können die an der Weltverzweifelnden und in die Flucht vor ihr getriebenen Untertanen freilichnur, weil dank der platonischen Entfaltung seines differenten Seins zumIdeenreich und dank der messianischen Übersetzung seiner transzen-denten Wirklichkeit ins imminente Gottesreich, dank dieser doppeltenInterpretations- und Vermittlungsleistung also, das andere Subjekt seinenunnennbaren Schrecken und seine abgründige Tödlichkeit abgelegt und

sich in eine mit dem Himmelreich, mit einem alternativen Leben in einerheilen Welt winkende, ebenso liebevoll-versöhnliche wie väterlich-gütigeMacht verwandelt hat. Von dieser platonisch-messianischen Macht be-rückt, wenden sich die in der Finsternis des irdischen Jammertals schmach-tenden, an ihrem heillos menschlichen Leben verzweifelnden Opfer des

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imperialen Konkurses von der Welt ab und erhoffen sich die Rettung von

eben dem, was ihnen als das menschliche Dasein zum Schein erklärendestranszendentes Sein einst nur Verderben und Vernichtung bedeutete,harren der Erlösung durch ausgerechnet das, wogegen sie sich vormalsals gegen eine die Erscheinungswelt ad absurdum führende Wirklichkeitmit allen Mitteln religiöser Fassadenbauerei und kultischer Abwehrver-anstaltungen zu verwahren suchten.

Dass sie in einer vollständigen Kehrtwendung, einer regelrechten Kon-version, der Welt den Rücken kehren und sich jenem platonisch interpre-tierten und messianisch vermittelten anderen Subjekt und seinem ewigenSein, seiner himmlischen Wirklichkeit zuwenden oder vielmehr überant-worten, bedeutet nun aber, dass es ihnen als innerweltliches Phänomenfortan nicht mehr begegnen, ihnen in der alten, heroen- und opferkultlich bezeugten Form einer ex improviso menschlichen Reichtums in specieund natürlicher Fülle in genere auftauchenden absoluten Verwerfungsin-stanz und absolut vernichtenden Macht nicht mehr unterkommen kann.So gewiss das platonisch-messianische Heilsangebot des christlichenGlaubens den verzweifelten Opfern des imperialen Konkurses die Mög-lichkeit eröffnet, das als Kreator der Welt ex nihilo seiner Einbildungskraftund Wortmacht erkannte andere Subjekt in all seiner vernichtenden Ver-schiedenheit, in seiner ganzen unendlichen Transzendenz zur Kenntniszu nehmen und doch zugleich mit ihm nicht etwa nur ihren sie als irdi-

sche Geschöpfe gelten lassenden Frieden zu machen, sondern mehr nocheinen sie zu himmlischen Wesen, zu Teilhabern an seinem transzendentenSein und seiner ewigen Wirklichkeit bestimmenden Bund zu schließen, sogewiss ist das so von der menschlichen Kreatur uno actu ihres Glaubensebenso sehr als unendlich indifferente, verschiedene Realität zur Kenntniswie am Ende als die allen Unterschied machende wirkliche Identität ihrerselbst in Anspruch genommene, das von ihr ebenso sehr als absolut nega-tives, transzendentes Sein akzeptierte wie zu guter Letzt als die alles neumachende, affirmativ-eigene Existenz reklamierte andere Subjekt ein fürallemal der irdischen Welt überhoben und entzogen und als die intra mu-

ros des menschlichen Daseins und nämlich ex improviso menschlichenTuns und Vollbringens auftauchende epiphanische Macht, die es so langesein und bleiben konnte, wie die Menschen es mit allen heroologischenund götterkultlichen Mitteln zu verdrängen und zu substituieren bemühtwaren, für alle Zukunft aus dem Spiel.

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Als in der Erscheinungswelt und durch sie hindurch sich manifestieren-

der und sie als im Vergleich mit seiner absoluten Wirklichkeit schierenSchein, im Verhältnis zu seinem apriorischen Sein als rein nichts de-nunzierender Verwerfer und Vernichter, der eben deshalb, weil er dieErscheinungswelt in toto in Frage stellt und pauschal negiert, partoutin ihren heroisch-göttlichen Garanten oder Erhalter umgedeutet werdenmuss – als dieser epiphanische Widersacher hat das andere Subjekt indem Augenblick, salopp gesagt, ausgespielt, in dem die menschlicheKreatur es als den ontologisch unerkennbar verschiedenen, aber in seinerVerschiedenheit doch zugleich platonisch erschließbaren Herrn des Him-mels gnostisch wahrnimmt, es als ihren modallogisch unüberbrückbartranszendenten, aber in seiner Transzendenz doch zugleich messianischerreichbaren barmherzigen Erzeuger dogmatisch annimmt.

Die Art und Weise, wie die von der Agonie des Imperiums zur Ver-zweiflung getriebenen Untertanen die kaiserherrschaftlich zynische Sä-kularisierung und egoistische Profanisierung der Erscheinungswelt, diekaiserkultlich definitive Widerlegung und Ausschließung des anderenSubjekts als einer sei’s in epiphanisch unmittelbarer Gestalt, sei’s in ihrenheroisch-göttlichen Derivaten innerweltlich gegenwärtigen und wirksa-men Macht, durchkreuzen, indem sie das andere Subjekt auf der Basisseiner platonischen Interpretation und messianischen Vermittlung in sei-ner Außerweltlichkeit realisieren, es als das gegenüber dem menschlichen

Dasein unendlich verschiedene Sein, als die zur Welt der Erscheinungenabsolut transzendente Wirklichkeit ein für allemal affirmieren und akzep-tieren – diese wie immer auch durch die rosarote Brille des Platonismusund die imaginäre Perspektive des Messianismus weichgezeichnete klar-sichtige Wahrnehmung des anderen Subjekts als des in der Indifferenzseiner ontologischen Differenz subsistierenden, in der Negativität sei-ner modallogischen Transzendenz perennierenden Herrn des Seins undlebendigen Gottes also bestätigt doch zugleich die per medium des Kai-serkults durch die cäsarisch-imperiale Herrschaft zur Geltung gebrachteSicht von der Erscheinungswelt, was deren Entgöttlichung und Enthei-

ligung, das sie als allgemeine Götterdämmerung ereilende Bewusstseinihrer radikalen Substanzlosigkeit, die als umfassende Aufklärung über siehereinbrechende Erkenntnis ihrer fundamentalen Grundlosigkeit betrifft.

So gewiss das Christentum die von der cäsarisch-imperialen Herr-schaft mittels Kaiserkult erreichte Reduktion des anderen Subjekts auf 

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die Person des cäsarischen Imperators selbst und die darauf basierende

Dekuvrierung und Eskamotierung aller zur Bewältigung der Indifferenzund Negativität des anderen Subjekts in die Welt gebrachten epiphanisch-sakralen, göttlichen Mächte zugunsten einer Selbstinszenierung dernichts mehr als die zynische Positivität und egoistische Herrlichkeit descäsarisch einen Subjekts beweisenden empirisch-profanen Herrschaft, desdie göttlich-kultische Ordnung verdrängenden und ersetzenden weltlich-politischen Regimes sans phrase beziehungsweise mit nurmehr der einenPhrase des zur Begründung seiner Alleinherrschaft inszenierten Pseu-dokults – so gewiss das Christentum diese Eskamotierung der mit ihrertheokratischen Ordnung dem anderen Subjekt zu wehren bestimmtenüberweltlich göttlichen Mächte durch das sich als das allen Andersseinsledige innerweltlich eine Subjekt behauptende sichselbstgleich-autokra-tische Regime damit beantwortet, dass es auf der Basis des platonischenIdeenkults und des jüdischen Messianismus das singulär wahre ande-re Subjekt, die allein wirkliche göttliche Macht aus aller ontologischenVerhältnismäßigkeit und jeder modallogischen Kontinuität zur Erschei-nungswelt heraussprengt und sich in die unendliche Verschiedenheiteiner die Erscheinungswelt für schlechterdings Schein erklärenden We-senssphäre hinaussetzen, in die absolute Transzendenz eines das irdi-sche Dasein radikal zunichte machenden himmlischen Seins absentie-ren lässt, so gewiss besiegelt und vollendet es die von der cäsarisch-

imperatorischen Herrschaft initiierte rücksichtslose Entsakralisierungund heillose Profanisierung dieser irdischen Welt.

Es besiegelt die Entheiligung der Welt: Das heißt, es unterschreibt und bestätigt pauschal das im Kaiserkult als zynisch-ideologischem Machter-greifungsinstrument beschlossene vernichtende Urteil über alle göttli-chen Mächte und kultischen Instanzen, durch die der Anspruch erhobenwird, weltliche Lebensordnungen im Allgemeinen und gesellschaftlicheHerrschaftsverhältnisse im Besonderen zu sanktionieren, sprich, mit derhöheren Weihe einer vor topischem Verschwinden und chronischer Ver-gängnis bewahrenden Substantialität und ewigen Geltung zu versehen.

Und es vollendet die Entheiligung der Welt, indem es solch vernich-tendem Urteil auch und zugleich jenen als Offenbarungseid sämtlichergöttlicher Sanktionsmächte und kultischer Reaffirmationsinstanzen dieserWelt fungierenden cäsarischen Jokergott und imperatorischen Pseudo-kult unterwirft und nichts mehr erkennt und gläubig anerkennt als den

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als Schöpfer Himmels und der Erden perennierenden einen Gott, für

den in seiner Indifferenz und Negativität, sprich, in seiner ontologischunendlichen Differenz und modallogisch absoluten Transzendenz, inseinem alleinigen Sein und seiner ausschließlichen Wirklichkeit, die auseiner wortmächtigen Projektion, aus dem Nichts einer Vorstellungslaunevon ihm geschaffene Welt so ganz und gar keine substanzielle Relevanz,geschweige denn, existenzielle Bedeutung hat, dass sie ebenso gut wie-der verschwunden und nichts sein könnte, ohne dass ihr Verschwindenihrem Schöpfer in seinem sichselbstgleichen Sein, seiner vollkommenenWirklichkeit ein Jota raubte.

Was sich für den Christenmenschen demnach als seine Welt ergibt,

ist ein jeglicher sakraler Forderungen und Hypotheken enthobener, einvon allen göttlichen Ansprüchen und Prärogativen befreiter Lebensraumund Aufenthaltsort, der nur für ihn, die in ihm weilende, in ihm sicherhaltende menschliche Kreatur, von Relevanz und Bedeutung ist, eineWelt, die ihm zwar alles andere als Halt gibt oder Bestand verleiht (Haltund Bestand findet er, wenn überhaupt, nur außerhalb und jenseits ihrer,im unendlich differenten Sein des Schöpfers, in der absolut transzen-denten Wirklichkeit des einen Gottes), die aber, weil Gott selbst mit ihrnichts Wirkliches anfangen kann und nichts Wesentliches zu schaffenhat, in ihrer Hinfälligkeit und Vergänglichkeit, das heißt, solange sie

 beziehungsweise er, der Mensch, währt, ihm als sein Eigen überlassen bleibt, ihm vorbehaltlos zu Gebote, uneingeschränkt zur Verfügung steht.Was sich, mit anderen Worten, dem Christenmenschen offeriert, ist die

Welt, so wie sie sich auch dem jüdischen Gläubigen darbot, als eine vonGott, dem Herrn, in all ihrer Kreatürlichkeit, ihrer Aus-Nichts-Geschaf-fenheit, der menschlichen Kreatur, dem aus Nichts geschaffenen episte-mologischen Ebenbild Gottes, anheim gegebene Kreation, auf dass er,der Mensch, sie sich untertan mache und über sie herrsche. Wie Stamm-vater Adam kann auch der in seinen Fußstapfen wandelnde Christen-mensch, weil er bei aller kultischen Hingabe, die er selber Gott, dem

Herrn, schuldet, doch aber im Blick auf seine Gott, dem Herrn, unendlichgleichgültige, absolut nichts bedeutende irdische Domäne keiner anteil-nehmenden höheren Macht rechenschafts- und keinem interessiertengöttlichen Teilhaber tributpflichtig ist, als ein von Gott, dem Herrn, einge-setzter autochthoner Herr und unbestrittener Herrscher uneingeschränkt

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über die Erde verfügen, mit ihr nach Gutdünken umspringen, mit ihr

machen, was er will.Und er kann das in einem sogar noch rückhaltloseren und zu entspre-chend größerer Rücksichtslosigkeit ermächtigenden Sinn als StammvaterAdam beziehungsweise der aus ihm sich genealogisch herleitende jüdi-sche Gläubige. Letzterer nämlich weiß sich ja als Kreatur unter Kreaturen,als ein, jedenfalls ontologisch betrachtet, von der übrigen Geschöpflich-keit ununterschiedenes und an deren Substanzlosigkeit und Nichtigkeitunverbrüchlich teilhabendes Geschöpf. Insofern gilt ihm die Erde alsseine unentrinnbare Heimstatt, sein Lebensraum im emphatischen Sinneeiner unüberschreitbaren conditio humana, und wenn auch keine göttli-

che Macht und kultische Rücksicht da ist, die seine Herrschaft über dieErde beschränkt und ihm vorschreibt, wie er mit der nichtmenschlichenKreatur zu verfahren hat und was ihm hierbei zu tun erlaubt und zulassen geboten ist, heißt ihn doch das persönliche Interesse, der seineeigene Existenz betreffende Umstand, dass er auf Gedeih und VerderbErdenbürger, Kreatur, ist, mit der Erde pfleglich umzugehen, die übrigeKreatur zu achten und sich nicht frevelhaft über sie zu erheben oder garhinwegzusetzen.

Dem Christenmenschen hingegen ist ja dank platonisch-messianischerAusdeutung der von der jüdischen Religion offenbar gemachten abso-

luten Transzendenz des lebendigen Gottes gelungen, sich eine Heilsper-spektive zu erschließen, einen Weg heraus aus dem kreatürlich-irdischenSchein und hinüber ins göttlich-himmlische Sein. So sehr er von Haus ausnur Teil des vom göttlichen Autor geschaffenen Wort- und Kunstwerksist, so sehr kann er doch dank platonischer Gnosis und messianischerGnade die Fronten wechseln und des lebendigen Seins des Schöpfers teil-haftig, in einem nicht mehr nur epistemologisch beschränkten, sondernmehr noch ontologisch durchschlagenden Sinne wie Gott werden. Fürihn ist deshalb das kreatürliche Dasein kein existenzielles Nonplusultra,sondern ein transitorischer Aufenthalt, ist die Erscheinungswelt keine

erste und letzte Gegebenheit, sondern ein Interludium, ein Durchgangs-moment. Was sollte ihn dazu vermögen, diese Zwischenstation, die er jafrüher oder später wieder räumt und ein für alle Mal hinter sich lässt, alsseine unverbrüchliche Heimat anzusehen und entsprechend pfleglich mitihr umzugehen? Was könnte ihn daran hindern, diese vorübergehende

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Bleibe, wenn ihm danach ist oder es seinen Interessen frommt, brandzu-

roden oder brandzuschatzen, sie ohne Rücksicht auf Verluste im Diensteder Befriedigung persönlicher Bedürfnisse und eigennütziger Vorhabenauszubeuten und zugrunde zu richten?

So sehr der moralisch-lebenspraktische Einfluss, den der Klerus beansprucht,subjektiv dem Bedürfnis entspringt, sich nicht auf die Rolle von Kultdienernreduzieren zu lassen und ihrem mönchisch-heiligen Leben die paradigmatischeBedeutung für alles irdische Dasein zu erhalten, so sehr hat er doch seinen objek-tiven Grund im Interesse der Gemeinen, die säkulare Herrschaft unter Kuratel zustellen und von einer im Gewahrsam ihrer himmlischen Heilsaussicht aller Rück-

sicht auf die irdische Schöpfung sich entschlagenden zügellos-selbstsüchtigen Herrschaftsübung abzuhalten.

Freilich ist die heilsperspektivische Orientierung, zu der sich der Chris-tenmensch versteigt, wie formaliter der Freibrief zu einer durch keineobjektiven Verpflichtungen oder subjektiven Rücksichten mehr in Zaumgehaltenen Willkürherrschaft über die irdische Welt, so aber erst einmalauch realiter die beste Garantie dafür, dass der Freibrief ungenutzt bleibt.Schließlich entspringt das Hoffen aufs himmlische Heil, das Streben nacheinem platonisch-messianisch vermittelten ewigen Sein ja der Verzweif-

lung an den unheilvoll irdischen Verhältnissen, dem Verlust allen answeltliche Dasein geknüpften Mutes zum Leben, und ist also ebenso sehrgespeist wie begleitet von einer weltflüchtigen Motion, die in des Schöp-fers Wort- und Kunstwerk, der Erscheinungswelt, nichts mehr als ein Jammertal, einen Schreckensort und Leidensweg, kurz, die Hölle auf Erden zu gewahren vermag und also, wie die heilsperspektivische Wen-dung, die sie nimmt, beweist, gleichbedeutend ist mit der Absage an alleweltlichen Bindungen, der Preisgabe jeglichen Interesses am irdischenDasein.

Insofern ist die in der heilsperspektivischen Orientierung des Chris-

tenmenschen formaliter implizierte Emanzipation der Erscheinungsweltvon göttlichen Ansprüchen und kultischen Verpflichtungen, wie sie dieAufforderung des Messias, Gott zu geben, was Gottes, und dem Kaiser,was des Kaisers ist, konstatiert, realiter ein Muster ohne Wert und eherein theologischer Hohn als ein politisches Programm: Ein und dieselbe

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qua Heilsperspektive zwischen himmlischem Sein und irdischem Schein

vollzogene gnostisch-essenzielle Scheidung und getroffene messianisch-existenzielle Entscheidung, die dem Menschen die Freiheit einräumt, bar aller sakralen Rücksichten auf Erden zu tun und zu lassen, was ihm beliebt, und in säkularer Selbstherrlichkeit sein Dasein zu gestalten, setztzugleich voraus, dass dem Menschen die Erde zum Abscheu und seinDasein zur Last geworden ist, und erweist somit den dem Menscheneröffneten irdischen Spiel- und Entfaltungsraum als ebenso unnütz wiegegenstandslos, führt die ihm vindizierte menschliche Handlungs- undBewegungsfreiheit ad absurdum einer gänzlich irrelevanten Option.

Wenn nun allerdings diese Voraussetzung vollständigen Überdrusses

 beziehungsweise schrankenloser Verzweiflung an der Welt nicht mehr giltund nach dem Untergang des agonalen, sich selbst zerfleischenden Im-periums dem Christenmenschen der Lebensmut allmählich zurückkehrtund die Lust am Dasein wieder in ihm erwacht und wenn gleichzeitig dieneuerliche Hinwendung zum irdischen Dasein sich dank des eigentlich ja im Zuge des stracks-weltflüchtigen Strebens nach dem Himmelreichersonnenen Kurzprogramms eines sakramentalen Heilsmittelerwerbsals mit der Wahrung der Heilsperspektive vereinbar und im Sinne einerzur heiligen Lebensführung der Nachfolge Christi alternativen Daseins-gestaltung, eines eigene Wege gehenden, weltlichen Lebenswandels,

realisierbar erweist, stellt sich die Sache gleich anders und durchausprekärer dar.In dem Maße, wie sich unter der dogmatischen Prämisse des vom

Heiland qua Passahmahl geleisteten Erlösungsversprechens und auf der kultischen Grundlage der das Versprechen einlösenden eucharisti-schen Teilhabe, kurz, sub conditione der garantierten Heilsaussicht einneues säkular-gesellschaftliches Leben entwickelt, das unter den gege- benen historischen Umständen eines gewaltsamen Zusammenschlussesfremder Eroberer mit heimischen Bevölkerungen einerseits und einerfeudalorganisatorisch alterierten Tradition imperialer Provinzialverwal-

tung andererseits in wie auch immer modifizierter Form die in speciefronwirtschaftlichen Verhältnisse und in genere territorialherrschaftli-chen Strukturen der alten, den kommerziellen Stadtstaaten und ihrerimperialen Dynamik vorausgehenden agrargesellschaftlichen Zivilisatio-nen wiedererstehen lässt – in dem Maße also, wie dies geschieht, wird

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 jener als systematisches Gegenstück zur außerweltlichen Heilsperspek-

tive nolens volens implizierte innerweltliche Prospekt einer uneinge-schränkten Verfügung des Menschen über die Erde, einer durch keinegöttlichen Interessen und Interventionen mehr behinderten oder kon-trollierten menschlichen Herrschaft über die Schöpfung aus einer bloßformalen Option zu einer durchaus realen Chance. Zu einer Chance, dieunter den gegebenen historischen Bedingungen der wiedererstandenenfronwirtschaftlichen Territorialherrschaft von den einen, den Herren derGesellschaft, wahrgenommen und ergriffen wird, während den anderen,die in der Gesellschaft als die Knechte fungieren, die Aufgabe zufällt, siezu nützen und zu realisieren – einer Chance mit anderen Worten, die den

einen, den Herren, ebenso leicht in den Sinn kommen und zum persön-lichen Anliegen beziehungsweise zur privaten Obsession werden kann,wie sie den anderen, den Knechten, schwer von der Hand gehen undzur kaum verkraftbaren Auflage, zum erdrückend privativen Sachzwangwerden muss.

In der Tat stellt sich unter den gegebenen historischen Bedingungeneiner Gesellschaft, in der die einen befehlen und die anderen gehorchen,die einen planen und die anderen ausführen, die einen wollen und Wün-sche haben und die anderen zu Willen sind und Wünsche erfüllen, einelosgelassen irdische, innerweltlich entfesselte Herrschaft, eine Herrschaft,

die dadurch ermöglicht wird, dass teils negativ das innerweltliche Daseinim Blick auf das heilsperspektivisch ins Auge gefasste außerweltliche Seinfür die Menschen jeden Belang und alle Bedeutung verliert, teils positivdie Menschen das innerweltliche Dasein als hier und jetzt für sie vonBelang und Bedeutung wahrzunehmen vermögen, ohne deshalb ihrerHeilsaussicht verlustig zu gehen – in der Tat stellt sich in einer solchenherrschaftlich organisierten Gesellschaft eine derart entfesselte Herrschaftüber die Schöpfung, wenn sie denn wirklich wird, den gehorchenden Un-tertanen und ausführenden Knechten als ein ebenso bedrohliches Datumwie beschwerliches Faktum dar, weil sie, die Knechte, als Werkzeuge des

Willens ihrer Herren, als ausführende Organe des herrschaftlichen Cor-pus von der maßlosen Willkür und rücksichtslosen Verfügung, mit derdie Herrschaft sich in der gottverlassen-heillosen Schöpfung zu schaffenmacht und zur Geltung bringt, im Zweifelsfall noch mehr sogar als dieletztere selbst betroffen sind und darunter zu leiden haben.

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Durch ihre knechtischen Werkzeuge und untertänigen Organe von der

kreatürlichen Objektivität, die sie nach Belieben beherrschen wollen undüber die sie frei zu verfügen wünschen, getrennt, stehen die Herren inakuter Gefahr, jeden Realismus und alles Augenmaß einzubüßen und denersteren Leistungen und Werke abzuverlangen, die den ganzen Unwillenund gesammelten Widerstand der misshandelten organischen und anor-ganischen Natur herausfordern – einen Unwillen und Widerstand, dennatürlich in der Hauptsache diejenigen ausbaden müssen, die gezwungensind, jene hybriden Leistungen zu erbringen und Willkürwerke zu ver-richten und zu diesem Zweck dem natürlichen Unwillen zu trotzen unddie Tücke des Objekts zu brechen. Die Knechte und Untertanen sind es,

die dann zwischen die Mühlräder des Mahlwerks eines von allen gutenGeistern göttlicher Bevormundung verlassenen, territorialherrschaftlichorganisierten menschlichen Daseins geraten – zwischen die Mühlrädereiner Herrschaft, die im Vertrauen aufs garantierte himmlische Heil mitdem irdischen Leben Schindluder treibt, sich rücksichtslos an ihm ver-greift, heillos in ihm zu Werke geht, und einer Schöpfung, die mit allen,ihr verfügbaren Mitteln natürlicher Trägheit, anorganischer Hartleibigkeitund organischer Unverwüstlichkeit jener Misshandlung trotzt und denen,die sich an ihr vergreifen, das Leben schwer macht. Sie, die Knechte undUntertanen, sind die Faktota, auf deren Rücken der Konflikt zwischen

einer territorialherrschaftlich entfesselten menschlichen Kreatur, die imVertrauen auf ihr inskünftig ewiges Sein keine Bedenken trägt, sich in undan der Schöpfung nach Belieben auszutoben, und der Schöpfung selbst,die kraft schieren natürlichen Beharrungsvermögens solcher AggressionParoli bietet, im Zweifelsfall ausgetragen wird.

Und sie, die Knechte und Untertanen, sind es deshalb aber auch, die bei aller Lust zum irdischen Leben, die ihnen selber wiederkehrt, und bei aller eigenen Bereitschaft, als kultische Basis dieses wiederaufge-nommenen irdischen Lebens das die Vereinbarkeit des letzteren mit derHeilsperspektive gewährleistende Kurzprogramm der sakramentalen

Heilsmittelübertragung gelten zu lassen, einer ausschließlich kultischenFundierung der neuen, territorialherrschaftlich verfassten Profanität insolch kurzangebundenem Heilsmittelerwerb reserviert und vielmehrablehnend gegenüberstehen und die sich folglich als die natürlichenBundesgenossen derjenigen erweisen, die am tradierten Heilsweg der

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imitatio dei als an einer unabdingbaren Voraussetzung allen Heilserwerbs

festhalten.Indem diese Verfechter eines in der Nachfolge Christi geführten heili-gen Lebens als der nach wie vor verbindlichen via regia zum Heil darauf  bestehen, dass auch die dem irdischen Dasein, dem profanen Leben er-neut sich Zuwendenden der im Prinzip unveränderten Verbindlichkeit jener vita sancta Anerkennung zollen und diese Anerkennung dadurchkundtun, dass sie das Kurzprogramm des sakramentalen Heilsmitteler-werbs nur dann für wirksam und erfolgreich erachten, wenn ein Vertreterder vita sancta dabei zugegen und feder- oder vielmehr kelchführenddaran beteiligt ist, erlegen sie denen, die in den neu entstehenden ter-

ritorialherrschaftlichen Gesellschaften das Sagen haben und die Machtausüben, Rücksichten und Beschränkungen auf, die den Beifall und dieZustimmung all derer finden müssen, die in den neuen Gesellschaftenden Part der Knechte und Untertanen spielen und die nichts mehr zufürchten Grund haben als jene an die Wand gemalte, durch die heils-perspektivische Entsakralisierung der irdischen Welt ermöglichte herr-schaftliche Rücksichts- und Schrankenlosigkeit, die Rücksicht nurmehrals den knechtisch-frondienstlichen Gehorsam gegenüber dem Anspruchder Herren auf absolute Verfügungsgewalt kennt und der Beschränkunggleichbedeutend ist mit einer bedingungslosen Unterwerfung der Unter-

tanen unter den entfesselten Naturbeherrschungswahn von Menschen,die der Schöpfung mit einem aus Indifferenz und Willkür gemischten,vexierbildlich ähnlichen Allmachtsbewusstsein begegnen wie einst ihrSchöpfer.

Freilich gewinnt die den weltlichen Herren von den Nachfolgern Chris-ti qua Anerkennung der vita sancta als der im Prinzip normativ-verbind-lichen Lebensform auferlegte Rücksicht und Beschränkung nur danngesellschaftliche Relevanz und ist nur dann von politischer Konsequenz,wenn die Anerkennung eben nicht im Prinzipiellen stecken, nicht nurformell, kein bloßes Lippenbekenntnis bleibt, wenn sie mit anderen Wor-

ten sich nicht darin erschöpft, dass die weltlichen Herren den geistlichLebenden ihre Unentbehrlichkeit und in der Tat konstitutive Bedeu-tung für jede unter der Heilsprämisse stehende, ihr weltlich gesinntesDasein mit der Heilsperspektive in Einklang zu bringen entschlosseneirdische Gesellschaft attestieren, indem sie diesen heilig Lebenden eine

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maßgebende Rolle und entscheidende Funktion bei dem die Heilsper-

spektive wahrenden und vielmehr realisierenden und damit das heillos-säkulare Dasein als mit der Heilsaussicht dennoch vereinbar erweisen-den sakramentalen Heilsmitteltransfer einräumen. Beschränkt sich dieAnerkennungsleistung auf diese den Vertretern der vita sancta einge-räumte kultisch-sakramentale Funktion, so ändert sich de facto nichtsan der Ermächtigung der säkularen Herren zur freien Verfügung undzum rücksichtslosen Diktat über die zu Lebzeiten, bis zur sakramentalgarantierten Entrückung ins Himmelreich, ihnen überlassene und ihrerWillkür ausgelieferte Schöpfung. Das Kurzprogramm des eucharistischenHeilsmittelerwerbs, das den säkularen Herren ermöglicht, ohne Ver-lust ihrer Heilsaussicht ein von Heilsrücksichten unbelastetes profanes

Dasein zu führen, wird dann einfach nur um das Moment der Mitwir-kung der Verfechter eines sakralen Lebens erweitert und komplettiert, diesich damit auf die Rolle ritueller Dienstleister, spezialisierter Kultdienerreduziert finden und durch ihre kultische Mitwirkung eben die fakti-sche Trennung von heiligem Leben und profanem Dasein reaffirmierenoder jedenfalls als praktikabel erweisen, die durch die Anerkennung desheiligen Lebens als einer für den Erfolg des eucharistischen Heilsmittel-erwerbs unabdingbaren Gegebenheit doch eigentlich verhindert werdensoll.

Damit diese Trennung nicht mit allen für die Knechte und Unterta-

nen der neuen Territorialherrschaften zu gewärtigenden fatalen Folgenfactum brutum werden kann, muss die Anerkennung der normativenBedeutung des heiligen Lebens durch die weltlichen Herren über die denNachfolgern Christi im kultisch-sakramentalen Bereich zugestandeneBedeutung hinaus auch in der alltäglichen Praxis der Gesellschaft undin ihren Moralvorstellungen Geltung gewinnen und Wirksamkeit be-weisen. Nur dann, wenn die vita sancta der Nachfolge Christi sich nichtdarin erschöpft, die bloß äußere, objektive Voraussetzung, die abstrakt bleibende Bedingung der Möglichkeit, kurz, das kultische Passepartoutfür eine unter der Heilsprämisse stehende säkulare Gesellschaft abzu-geben, sondern eine innere, subjektive Vorbildfunktion für die säkulare

Gesellschaft erlangt, in diese als konkrete Bedingung ihrer WirklichkeitEinzug zu halten vermag, kurz, praktisches Paradigma für sie wird –nur dann können die Knechte und Untertanen hoffen, dem ihnen an-dernfalls blühenden Schicksal schrankenloser Instrumentalisierung undhemmungsloser Ausbeutung durch ihre Herren zu entrinnen.

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Nur dann nämlich können die oben erwähnten, dem Erdenwandel des

Messias abgeschauten Prinzipien einer heiligen Lebensführung, der dieSucht nach materieller Befriedigung unterdrückende Geist der Entsagungund Askese, das dem Streben nach sozialer Macht entgegenwirkendeGebot der Armut und Demut, die den Trieb nach personaler Erhöhungsublimierende Aufforderung zur sexuellen Enthaltung und Nächstenlie- be, im weltlichen Dasein wirksam werden und, die Willkür der Herrennicht weniger als die der Knechte zügelnd und beider Lebensgier glei-chermaßen dämpfend, einen dem rituellen Korsett, in das die Herren deralten theokratisch-opferkultlichen Gesellschaften eingeschnürt sind, dendisziplinarischen Vorschriften und Reinheitsgeboten, die ihre Handlungs-macht und Verfügungsgewalt wesentlich einschränken, vergleichbarenEffekt erzielen.

Und sie, die Knechte und Untertanen, die Leibeigenen und Hörigen,die Hintersassen und einfachen Leute, sind es deshalb auch, die zuvör-derst und vor allem daran interessiert und darauf aus sind, dass die Funk-tion der als geistlicher Stand, als Klerus etablierten Nachfolger Christisich nicht darin erschöpft, durch ihre kultisch-sakrale Mitwirkung beimsakramentalen Heilsmittelerwerb der säkularen Gesellschaft deren Aus-sicht aufs himmlische Heil zu garantieren, sondern dass die Bedeutungdes Klerus für die laizistische Gesellschaft, sein Einfluss auf die weltli-chen Stände im Allgemeinen und den Herrenstand im Besonderen sich

mehr noch auf praktisch-moralische Belange erstreckt, dass mit anderenWorten der geistliche Stand durch sein heiliges Leben, durch die Art undWeise, wie er sich in der Welt verhält, den weltlichen Ständen praktischePrinzipien für deren eigenes irdisches Leben, moralische Normen fürihren persönlichen Umgang mit der Welt vorgibt, die in wie immer abge-schwächter und an die Bedingungen eines säkularen Daseins angepassterForm zu befolgen, integrierender Bestandteil der dem geistlichen Standfür seine vorbildliche Lebensführung geschuldeten Anerkennung ist.

Der Klerus selbst könnte sich mit der ihm konzedierten beziehungswei-se oktroyierten kultisch-sakralen Funktion und der darin beschlossenen

formellen Anerkennung des paradigmatischen Charakters seiner vitasancta, der prinzipiellen Verbindlichkeit seiner Lebensweise, zufriedengeben. Was er unbedingt braucht, um dieser seiner Lebensweise zu frö-nen, hat er sich damit ja gesichert: einen Ort in der neu entstandenensäkularen Gesellschaft, an dem er, von letzterer ebenso sehr toleriert und

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in der Tat respektiert wie von ihr getrennt und abgeschieden, die Nachfol-

ge Christi praktizieren und den vom Heiland vorgezeichneten direkten,entsagungsvoll-weltflüchtigen Weg ins Himmelreich gehen kann. Als einfür die Wirksamkeit des sakramentalen Heilsmittelerwerbs unentbehrli-cher kultisch-sakraler Nothelfer ist der Klerus dem Laienstand, der sichum nichts in der Welt das himmlische Heil verscherzen möchte, lieb undteuer und darf er gewiss sein, quasi in dessen exterritorialer Mitte, derstillen Klausur seines dem Heil zugewandten Herzens, gut aufgehobenzu sein und ein ungestörtes Leben führen zu können.

Zwar könnte, wenn der geistliche Stand seinen Kontakt zur weltlichenGesellschaft auf die ihm seinen Platz auf Erden sichernde kultisch-sakraleLeistung beschränkte, dies als ein der Selbstsucht und kalten Berechnung,kurz, der Sünde wider den Geist der christlichen Nachfolge verdächtigesVerhalten anmuten und gleichermaßen dem Missionsauftrag und demGebot der Nächstenliebe zuwiderzulaufen scheinen. Aber was den Missi-onsauftrag betrifft, so handelt es sich bei denen, die sich zu den neuen,territorialherrschaftlich verfassten, säkularen Gesellschaften zusammen-finden, ja nicht um der christlichen Botschaft unkundige Heiden, sondernum wieder Mut zum Dasein schöpfende, am irdischen Leben wiederGefallen findende Christenmenschen – und diese missionieren, auf denTugendpfad eines weltflüchtig heiligen Lebens zurückführen zu wollenkäme einer contradictio in adjectum jener Vereinbarkeit von weltlichem

Dasein und Heilsaussicht gleich, der sie doch gerade mit aller Machtihres neu erwachten Muts zum Dasein nachstreben und die sie in actuder sakramentalen Teilhabe ja auch erreicht zu haben glauben, und wäredeshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Und was das Gebot der Nächstenliebe angeht, so ist dem geistlichenStand, wenn er sich um sein auf der via regia der Nachfolge Christi amleichtesten zu erreichendes Seelenheil kümmert und es der laizistischenWelt überlässt, wie sie sich organisieren und ihr weltliches Dasein führenwill, ja insofern gar kein Egoismus stricto sensu, keine Sünde wider denGeist der Selbstlosigkeit zum Vorwurf zu machen, als er sich ja immer-

hin zur Wahrnehmung jener kultisch-sakralen Funktion bereit findet,sprich, sich dazu hergibt, als Kultdiener, ritueller Dienstleister tatkräftigdaran mitzuwirken, dass den anderen, den das irdische Dasein auskos-tenden Laien, ihre Lebenslust nicht zum ewigen Verhängnis wird und dieAussicht aufs himmlische Heil erhalten bleibt.

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Nicht also die kraft ihrer kultisch-sakramentalen Funktion als Klerus in

die neue, territorialherrschaftliche Gesellschaft integrierten oder, bes-ser gesagt, Seite an Seite mit ihr etablierten und in einer Art von rituellebenso fester wie institutionell loser Symbiose mit ihr verknüpften Nach-folger Christi sind konstitutionell darauf angewiesen oder gar existenzielldaran interessiert, die ihnen durch ihr heiliges Leben zufallende kultisch-sakramentale Funktion zu einer praktisch-moralischen Dauerokkupationzu entfalten, sprich, in die ständige Aufgabe einer die sakramentale Not-hilfe inhaltlich zu rechtfertigen geeigneten Unterwerfung des weltlichenDaseins unter die Prinzipien und Normen der vita sancta zu überführen.Existenziell interessiert an solch einer Modifizierung und Disziplinierung

des weltlichen Handelns durch das geistliche Leiden, des herrischeninstinctus durch den devoten spiritus, und an der hierfür erforderli-chen Erweiterung der kultisch-sakramentalen Funktion des Klerus zurpraktisch-moralischen Intervention sind allein die Knechte und Unter-tanen, die sich davon eine Milderung und Besserung ihres harten und– im Zuge der weiteren Entwicklung einer Gott, was Gottes, und demKaiser, was des Kaisers ist, gebenden entsakralisiert territorialherrschaft-lichen Gesellschaft – mit progressiver Unerträglichkeit drohenden Loseserhoffen. Und sie, die Knechte und Untertanen, sind es deshalb auch, dieden Klerus auf jenem Weg zu einer Wahrnehmung praktischer Kontrol-

laufgaben und moralischer Zensurbefugnisse gegenüber der irdischenGesellschaft im Allgemeinen und ihrer weltlichen Herrschaft im Beson-deren vorantreiben, die ihn ermuntern und anstacheln, sich einzumischenund an der Einrichtung des täglichen Lebens, an der Gestaltung der zwi-schenmenschlichen Beziehungen und sozialen Verbindlichkeiten durchsakramental besiegelte und geschützte Vorschriften und Kontrakte mit-zuwirken.

Dafür, dass er ihnen diesen Gefallen tut, zu ihrem relativen Vorteilund gemeinen Wohl bei der weltlichen Herrschaft praktisch-moralischzu intervenieren und sich den Herren, mögen sie wollen oder nicht,

zwecks Dämpfung ihres Hochmuts und Hebung ihres Gemeinsinns alsspiritueller Zuchtmeister, als verhaltensprägender spiritus rector anzu-dienen, unterstützen die Knechte und Untertanen den Klerus bei seinerSelbstbehauptung gegenüber den weltlichen Herren, erweisen sie sichals seine feste Bank, sein entscheidender Rückhalt, wenn es darum geht,

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die Herren erst einmal überhaupt zur Anerkennung der aus heilsper-

spektivischer Sicht fortdauernden Vorbildlichkeit und normativen Ver- bindlichkeit des heiligen Lebens der Nachfolger Christi und der darausfolgenden Notwendigkeit einer Mitwirkung der letzteren an jeglichem,auch dem eucharistisch verkürzten, Heilsprozess zu bringen, die Herrenmit anderen Worten dazu zu bewegen, die Nachfolger Christi als unent- behrliche kultisch-sakramentale Dienstleister gelten und sie infolgedessenals gesellschaftlich akzeptierten und mehr noch hochgehaltenen eigen-ständigen Stand, als Klerus, als ebenso konstitutiven wie distinktiven,ebenso systematisch integrierten wie erratisch assoziierten Bestandteil derneuen territorialherrschaftlichen Gesellschaft sich etablieren zu lassen.

In der Tat ist es ja alles andere als selbstverständlich, dass die weltlicheHerrschaft, nachdem sie nun über jenes von den Nachfolgern Chris-ti höchstpersönlich ersonnene und sanktionierte Kurzprogramm zumHeilsmittelerwerb, jene mit einem ausführlichen und lebenslustigen Auf-enthalt im Dasein vereinbare Abkürzung zum Heil verfügt, noch mit sichreden lässt und bereit ist, die durch jene Abkürzung eigentlich überflüssiggewordene vita sancta als nach wie vor paradigmatische Lebensweiseanzuerkennen, aus diesem Grunde die Notwendigkeit einer Mitwirkungder Nachfolger Christi beim sakramentalen Heilsmittelerwerb zu akzep-tieren und so denn den letzteren durch die ihnen übertragene und alsconditio sine qua non des kurzen Weges zum Heil behauptete kultisch-

sakramentale Funktion eine unentbehrliche Rolle und eine entsprechendsichere Stellung oder vielmehr sakrosankte Existenz im Rahmen der neuentstandenen territorialherrschaftlichen Gesellschaft zu konzedieren.Mitnichten selbstverständlich ist, dass die weltliche Herrschaft sich frei-willig diesen Klotz eines als eucharistischer Kultdiener etablierten Klerusans Bein binden, diesen Fremdkörper einer in der säkularen Gesellschaftebenso dysfunktional erscheinenden wie für deren Funktionieren unent- behrlich sich behauptenden eigenständigen sozialen Gruppe ins ständi-sche Corpus einpflanzen, diese, kurz und salopp gesagt, sakrale Laus inden profanen Pelz setzen lässt.

Wenn die Herrschaft das tut und also die herrliche praktische Freiheit,die der Coup eines von aller Nachfolge Christi dispensierenden sakra-mentalen Heilsmittelerwerbs ihr verschafft, preisgibt, um sie sich durchdie kultische Abhängigkeit von denen, die an der Nachfolge Christi fest-halten, einschränken zu lassen, dann nur unter dem schwergewichtigen

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Druck des von ihnen beherrschten Kollektivs, nur deshalb also, weil ihre

eigenen Knechte und Untertanen den Nachfolgern Christi die Stangehalten und ihre eigene, im territorialherrschaftlichen Kontext geforder-te fronwirtschaftliche Kooperationsbereitschaft und gefolgschaftlicheFügsamkeit an die zur Wahrung ihrer Heilsaussichten für unabdingbarerklärte Bedingung der Anwesenheit und Mitwirkung jener Repräsentan-ten des heiligen Lebens beim sakramentalen Glaubensakt knüpfen.

Die Knechte und Untertanen sind es, die durch ihr glaubensstarkesBündnis mit den Nachfolgern Christi, dadurch also, dass sie im Interesseihrer Heilsaussichten die Verrichtung ihrer profanen Werke von der Er-füllung des den letzteren übertragenen sakralen Opus abhängig machen,den natürlichen Widerstand der weltlichen Herrschaft gegen den ihremZugriff entzogenen eigenständigen modus vivendi einer im territorial-herrschaftlichen Rahmen fortdauernden imitatio dei, gegen einen vonallen fronwirtschaftlichen Pflichten und gefolgschaftlichen Aufgabeneximierten und einzig mit einer kultischen Dienstleistung befrachtetengeistlichen Sonderstatus, überwinden und die Nachfolger Christi alseigenständigen Stand, als Klerus, im laizistischen Milieu der neu gegrün-deten, territorialherrschaftlichen Gesellschaft sicher untergebracht undgut aufgehoben sein lassen.

Und als Gegenleistung für diese ihre qua religiöse Parteinahme geübtesoziale Solidarität, die den Nachfolgern Christi die ungestörte Fortset-

zung ihres geistlichen Lebens unter den disruptiven Bedingungen desneuen weltlichen Daseins ermöglicht, indem sie ihnen erlaubt, sich alsKlerus zu etablieren – als Gegenleistung dafür erwarten nun aber dieKnechte und Untertanen vom Klerus, dass er durch Ausdehnung seineskultisch-sakramentalen Officiums auf praktisch-moralische Zuständig-keiten und Obliegenheiten zu ihrem Wohle tätig wird und sich für sieverwendet, dass er mit anderen Worten die formell von allen anerkannteparadigmatische Qualität seiner Lebensführung reell geltend macht unddazu nutzt, lenkenden und bestimmenden Einfluss auf die Laien imAllgemeinen und die Herren unter ihnen im Besonderen zu nehmen,

die Selbstsucht der letzteren zu dämpfen, ihre Habgier zu unterdrücken,ihren Stolz zu brechen, ihrer Wollust zu wehren, ihrer Völlerei entgegen-zuwirken. So sehr diese Einflussnahme des Klerus den weltlichen Herrenzuwider sein, so sehr sie ihrer Selbstherrlichkeit, ihrem Bewusstsein, alsalleinige gesellschaftliche Machthaber niemandem rechenschaftspflichtig

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zu sein und auf der Basis ihrer sakramental erworbenen Heilsaussicht

und der dieser Heilsaussicht über das irdische Dasein korrespondie-renden ebenso gnostisch-dualistischen wie messianisch-endzeitlichenVorstellung von der Heillosigkeit der Welt über das irdische Dasein,solange es währt, nach Gutdünken verfügen zu können, widerstreitenmag – sich der klerikalen Einflussnahme verweigern oder entziehen kön-nen die Herren nicht, weil sie mit der Anerkennung des Klerus als ei-nes für den Gewinn des Heilsmittels, die Wirksamkeit des sakramenta-len Heilserwerbs unabdingbaren Funktionärs diesem den Schlüssel zurDurchsetzung seines weitergehenden Anspruchs auf Mitwirkung bei derFestlegung und Gestaltung der für das Leben der säkularen Gesellschaftmaßgebenden moralischen Normen und praktischen Verhaltensweisenin die Hand gedrückt haben. So gewiss der Klerus mit seinem kultisch-sakramentalen Amt eine Position besetzt hält und eine Funktion ausübt,durch deren Räumung beziehungsweise Verweigerung er die ganze heils-perspektivische Konstruktion dieser säkularen Gesellschaft zum Einsturz bringen kann, so gewiss besitzt er ein unfehlbares Druck- oder, wennman so will, Erpressungsmittel zur Durchsetzung seiner den übrigenMitgliedern der Gesellschaft gegenüber geltend gemachten Aspirationenauf die Wahrnehmung moralischer Zensurbefugnisse und die Ausübungpraktischer Kontrollaufgaben.

Dass der Klerus diesen Aspirationen huldigt und nachkommt, da-

für sorgt, wie gesagt, sein sozialer Anhang und Beistand, sorgen dieKnechte und Untertanen der feudalen Gesellschaft, die ihm durch dieglaubensstarke Anerkennung seines Anspruchs auf eine seiner imitatioChristi zukommende ideal-paradigmatische Qualität im Allgemeinenund sakramental-kompensatorische Wirkung im Besonderen die nötigeUnterstützung bei der Behauptung und Sicherung seiner der weltlichenHerrschaft an sich gegen den Strich gehenden, weil ebenso politischautonomen wie ökonomisch autarken und sozial aparten Existenz imRahmen der territorialherrschaftlichen Gesellschaft bieten und die ihm alsGegenleistung jene gesellschaftsstrategische Intervention, jene praktisch-

moralische Einflussnahme abfordern, die darauf zielt, im weltlichen Da-sein in wie immer angepasster und abgeschwächter Form das heiligeLeben als die menschliche Selbstsucht im Allgemeinen dämpfendes unddie herrschaftliche Willkür im Besonderen zügelndes Korrektiv zur Gel-tung zu bringen.

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Die Knechte und Untertanen sind die gleichermaßen treibende Kraft und

motivierende Instanz hinter der zwischen weltlicher Herrschaft und geist-lichem Stand durch die Befrachtung des letzteren mit der Doppelrollekultisch-sakramentaler Effizienz und praktisch-moralischer Kompetenzetablierten und ebenso prekären wie durch die Verquickung heilsper-spektivischer und herrschaftspolitischer Rücksichten dem Zugriff derBeteiligten entzogenen Machtbalance. Sie sind es, die dem Klerus inseinem Verhältnis zur säkularen Gesellschaft mehr abverlangen, als ervon Haus aus wohl zu leisten geneigt wäre, indem sie ihm über diekultisch-sakramentale Funktion hinaus, die sie ihm verschaffen und dieihm sein Leben unter territorialherrschaftlichen Bedingungen sichert, je-nes praktisch-moralische Engagement aufbürden, das in dem Maß, wie esim Weltbemächtigungsverhalten Weltentsagungsprinzipien zur Geltung bringt, die Gefahr einer auf ihrem Rücken ausgetragenen rücksichtslosenherrschaftlichen Aneignung und Ausbeutung der in der heilsperspekti-vischen Konsequenz entgöttlichten Schöpfung bannt und damit ihnen,den Knechten und Untertanen, ein erträgliches, im Rahmen der terri-torialherrschaftlichen Tradition sich haltendes frondienstliches Daseineröffnet.

Aus diesem sie, die dritte gesellschaftliche Kraft, die Knechte undUntertanen, ins Kalkül ziehenden Blickwinkel erklärt sich hiernach nichtnur die Ehrfurcht und Demut, kurz, Frömmigkeit, mit der die weltliche

Herrschaft dem geistlichen Stand begegnet, die relative Nachgiebigkeitund Willfährigkeit, die sie gegenüber dessen Eingriffen in ihre säkulareMachtausübung, seiner ihre Selbstherrlichkeit beschneidenden prakti-schen Kontroll- und moralischen Zensurtätigkeit an den Tag legt, sondernerscheint auch mehr noch das Vorgehen des geistlichen Standes selbst,sein Anspruch auf praktischen Einfluss und moralische Macht in einemLichte, das zu einer Modifizierung der oben für eben jenen Anspruchgegebenen Begründung nötigt.

Oben wurde als Motiv für den Anspruch der Nachfolger Christi auf moralische Mitsprache und praktische Mitwirkung bei der Gestaltung

des säkularen Lebens angegeben, dass diese sich nicht durch die ihnenübertragene kultisch-sakramentale Funktion, die ihnen ihr heiliges Le- ben, ihre aparte Existenz inmitten des weltlichen Daseins sichert, auf die Rolle von rituellen Dienstleistern, von durch die säkulare Gesell-schaft vollständig funktionalisierten Kultdienern reduzieren, sich mit

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anderen Worten nicht in die Ecke einer als Klerus definierten gesellschaft-

lichen Spezialistentruppe drängen lassen wollen, deren als vita sanctatradierte besondere Art zu leben ihre Bedeutung darin erschöpft, denaus heilsperspektivischer Sicht offenbaren Mangel des säkularen Daseinszu kompensieren, sondern dass die als Klerus etablierten NachfolgerChristi vielmehr danach streben, ihrer Lebensführung die Vollgültigkeitund normative Verbindlichkeit des paradigmatischen und die säkulareDaseinsgestaltung allemal in die Schranken einer bloßen Abweichungvon der Norm, eines – wenn auch dank geistlichen Beistands lässlichen –Vergehens gegen die orthodoxe Gangart verweisenden Weges zum Heilzu erhalten.

 Jetzt aber, da wir die entscheidende Rolle der Knechte und Untertanender als quasi territorialherrschaftliche, als feudale, neu ins Werk gesetztensäkularen Gesellschaft bei der Durchsetzung der Doppelfunktion des Kle-rus würdigen, erkennen wir, dass bei aller subjektiven Berechtigung, die jene Version vom praktisch-moralischen Aufbegehren des Klerus gegendie kultisch-sakramentale Reduktion seines mönchischen Lebens auf eineausschließlich im Dienste des säkularen Kunden zelebrierte biographi-sche Spezialität haben mag, doch aber seiner objektiven Wahrheit nachdieses Aufbegehren wiederum eine gesellschaftliche Funktion erfüllt undnämlich die Aufgabe hat, einer territorialen Herrschaft, die angesichtsdes sicheren künftigen Heils in der Gefahr steht, alle Verantwortung

für die gegenwärtige Schöpfung und alle Achtung vor ihr in den Windund in heilloser Lebenslust und Selbstsucht über die Stränge zu schla-gen, ein gewisses Quantum Bescheidung, Demut, Friedfertigkeit undNächstenliebe einzutrichtern, um so der säkularen Gesellschaft das fürihren Bestand erforderliche Maß an intentionaler Übereinstimmung undsozialem Zusammenhalt, an Rücksicht und Humanität gleichermaßenim Verhalten gegenüber der nichtmenschlichen und im Verhältnis zurmenschlichen Kreatur zu vindizieren.

So sehr mit anderen Worten auf der subjektiven Sinnebene der An-spruch des Klerus auf moralisch-korrektive Kompetenz und praktisch-

direktiven Einfluss durch das Verlangen der Nachfolger Christi bestimmtsein mag, sich von der neu entstehenden säkularen Gesellschaft nichtvöllig funktionalisieren und sich ihre bis dahin paradigmatische Lebens-form nicht ins Abseits einer nurmehr kultischen Relevanz verschlagenzu lassen, so sehr zeigt sich zugleich doch der geistliche Anspruch auf 

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einem durch die soziale Lage der fronenden Schichten jener Gesellschaft

vermittelten objektiven Bedeutungsniveau wiederum funktionalisiertund nämlich vom Interesse diktiert, die säkulare Gesellschaft per mo-dum jener als paradigmatisch anerkannten Lebensform vor der in derheilsperspektivischen Orientierung potentiell vorgezeichneten katastro-phischen Entwicklung einer die Welt in die Pfanne hauenden, mit derSchöpfung Schindluder treibenden, zerstörerisch-verantwortungslosenHerrschaftsübung abzubringen und vielmehr in die geordneten Bah-nen eines paradoxerweise durch die Absage an die Welt, durch die Ver-werfung der Schöpfung als Verirrung und Sündenpfuhl ermöglichtenpfleglichen Umgangs und dauerhaften Arrangements mit ihr zu lenken.

 Mit ihrer Zweiteilung der Herrschaft in eine die Gesellschaft praktisch organisie-rende und eine sie moralisch kontrollierende Gewalt unterscheidet sich das feu-dale System der postimperialen Zeit von den territorialen Theokratien des Alter-tums. Geschuldet ist diese Zweiteilung dem Versuch, den Genuss des diesseitigenLebens mit der Erlangung jenseitigen Heils zu vereinbaren. Die klerikale Gewaltzeigt sich dabei der säkularen so erfolgreich integriert, dass das Moment von dy-namischer Exzentrik und topischer Exterritorialität, das erstere in die von letz-terer organisierte Gesellschaft einbringt, deren Konsistenz und Stabilität keinen

 Abbruch tut.

Sobald also in den Bürgern und Bewohnern des zugrunde gegangenenRömischen Reiches der Lebensmut wieder erwacht und sie im wie immerauch erzwungenen Verein mit den in die römischen Provinzen eingefalle-nen Stammesherrschaften eine neue, territorialherrschaftlich organisiertesäkulare Gesellschaft ins Leben zu rufen und zu entfalten beginnen, istes vorbei mit jenem allein durch die Heilsperspektive kreierten und vonaller Heteronomisierung durch weltliche Interessen und Geschäfte befrei-ten modus vivendi, dem ebenso eigenständigen wie selbstgenügsamenheiligen Leben einer auf nichts als auf den Auszug aus dieser Welt und

den Eingang ins Himmelreich gerichteten Nachfolge Christi. Wie die demheiligen Leben sich weihenden Nachfolger Christi mit dem sakramenta-len Heilsmitteltransfer, den sie zwecks Sicherung ihres Wechsels aus demirdisch-chronischen Schein ins himmlisch-ewige Sein ersinnen, den sichdem weltlichen Dasein neu verschreibenden Lebensmutigen ganz wider

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Willen das Mittel an die Hand geben, die Rückwendung zum irdischen

Dasein mit der Heilsperspektive kompatibel zu erhalten, so finden siesich nun auch im Übrigen und Folgenden als Handlanger und Faktorender als territorialherrschaftliche Formation neuen Typs, als feudale, sichetablierenden säkularen Gesellschaft vereinnahmt.

Mögen sie noch so sehr auf ihrem gegenüber dem Weltlauf autono-men heiligen Leben bestehen – um diesem Leben einen festen Platz, eineanerkannte Position im Kontext der säkularen Gesellschaft zu sichern,müssen sie bei dem das weltliche Dasein mit der Heilsperspektive verein- barenden sakramentalen Heilsmittelerwerb eine maßgebende, weil überdessen Wirksamkeit beziehungsweise Wirklichkeit entscheidende Rollein Anspruch nehmen und geraten damit nolens volens in den Bannkreisder säkularen Gesellschaft, werden zu wesentlichen Funktionsträgernder letzteren. Und wenn sie meinen, dieser qua Funktionialisierung sichvollziehenden Heteronomisierung ihres heiligen, dem künftigen Himmel-reich geweihten Lebens dadurch entrinnen zu können, dass sie ihr Funk-tionärstum, ihren kultischen Dienst an der säkularen Gesellschaft, alsDruck- beziehungsweise Erpressungsmittel nutzen, um die letztere einempraktisch-moralischen Transformationsprozess zu unterziehen, ihr quasieine imitatio imitationis Christi abzuverlangen, sie mit anderen Wortenzu zwingen, ihr profanes Dasein dem heiligen Leben nachzubilden undin dessen abgeschwächte Version oder modifizierte Reproduktion zu ver-

wandeln, dann sind sie höchstens subjektiv oder dem äußeren Anscheinnach erfolgreich, weil objektiv oder der inneren Konditionierung nachdiese Erhebung des heiligen Lebens zum Paradigma und normativenSchema jeglichen unter die Heilsprämisse gestellten irdischen Daseinsihrerseits wiederum einer säkularen Absicht dient, einen profanen Zweckerfüllt und nämlich die säkulare Gesellschaft vor den Exzessen und Schre-cken einer durch die Aussicht aufs himmlische Heil gegenüber einerebenso phantasmagorischen wie transitorischen irdischen Welt zu gesetz-loser Willkür und zügelloser Selbstsucht disponierten Herrschaftsübungzu bewahren bestimmt ist.

So oder so, in ihrer kultisch-sakralischen Nothelferrolle ebenso wie inihrem praktisch-moralischen Zensorenamt sind also die als Klerus eta- blierten Nachfolger Christi von der ihnen als laizistische Gemeinde sichoktroyierenden säkularen Gesellschaft vereinnahmt und funktionalisiert,finden sie sich mitsamt ihrem heiligen Leben, dessen Zweck es von Haus

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aus ja ist, ihre Flucht aus der Welt zu bewerkstelligen, ihnen den direk-

testen Weg aus dem irdischen Scheingebilde zu weisen, von letzteremvielmehr arretiert und in Dienst genommen und nämlich ins Mittel derErhaltung und Gestaltung einer zwar unter die Heilsprämisse gestelltenund insofern pro forma zur Weltflucht gerüsteten, pro materia aber imirdischen Scheingebilde Fuß zu fassen und für die Dauer des Daseins sicheinzurichten entschlossenen säkularen Gesellschaft umgedreht.

Mag der Klerus noch so sehr subjektiv oder dem individualbiogra-phischen Verständnis seiner Mitglieder nach meinen, ein qua NachfolgeChristi mönchisch-autonomes und der laizistischen Gesellschaft mitsamtihren weltlichen Interessen und irdischen Geschäften ein für alle Mal ent-rücktes Leben zu führen und die äußere Dienstbarkeit gegenüber der lai-

zistischen Gesellschaft, in die er sich durch die zwecks gesellschaftlicherAnerkennung seines Sonderstatus übernommene kultisch-sakramentaleFunktion begibt, mittels der praktisch-moralischen Freiheit, die er alsNormgeber und Zensor der laizistischen Gesellschaft beansprucht, per-fekt balanciert beziehungsweise konterkariert zu haben, objektiv oder dersozialdynamischen Wahrheit nach ist er auch und gerade in dieser seinerNormgebungs- und Zensorenrolle Dienstleister und ist er also mit Hautund Haar oder, besser gesagt, mit Leib und Seele an der Erhaltung undGestaltung jenes innerweltlichen Daseins, von dem er doch eigentlichoder ex cathedra seiner als heiliges Leben konzipierten weltflüchtig-

transitorischen Existenz nichts wissen will, beteiligt.Und zwar so sehr beteiligt, so sehr engagiert, dass sein Engagementalle Bedingungen einer im Blick auf die säkulargesellschaftliche Ordnungund deren Prinzipien maßgeblichen Mitbestimmung erfüllt und mithineiner, wie man will, Teilung oder Verdoppelung der über diese Ordnungentscheidenden und wachenden gesellschaftlichen Herrschaft gleich-kommt. Weil, vermeintlich bloß einer individualbiographisch natürlichenMotivation folgend, tatsächlich aber einer sozialdynamisch zwingendenKonstellation gehorchend, der Klerus sich nicht damit begnügt, zur Siche-rung seiner exzentrisch-aparten Position in der Welt, seines ebenso sehrin wie von der neuen säkularen Gesellschaft abgeschiedenen klösterlich-

mönchischen Lebens, dieser Gesellschaft den kultischen Dienst einersakramentalen Beglaubigung ihrer Heilserwartung zu leisten, sondernmehr noch darauf aus ist, kraft der Direktiven seiner exzentrischen Positi-on, mittels der Prinzipien seines mönchischen Lebens in die gesellschaft-liche Wirklichkeit einzugreifen und mit dem Ziel einer als moralische

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Besserung wohlverstandenen praktischen Formierung der Gesellschaft

zu einer der klösterlich-mönchischen Gemeinschaft nach Möglichkeitangenäherten und in der Liebe zu ihrem Herrn und Heiland und imGlauben an sein Heil vereinten brüderlich-solidarischen Gemeinde auf  jene Wirklichkeit einzuwirken – weil also der Klerus sich so verhält, wirder nolens volens zu einem, wenn schon nicht politisch-empirischen, so jedenfalls doch moralisch-systematischen Konkurrenten der weltlichenHerrschaft, zu einer als, wie man will, Appellationsinstanz oder Zen-surbehörde funktionierenden Macht im Hintergrund, die in dem Maß,wie sie in der unter der Heilsprämisse stehenden säkularen Gesellschaftex cathedra ihrer exzentrisch-jenseitsorientierten Position in potenziellsämtlichen um das diesseitige Dasein kreisenden Fragen ein Wörtleinmitzureden hat und quasirichterlich tätig zu werden befugt ist, die welt-liche Macht, negativ ausgedrückt, einschränkt und in ihrer Ausübunghemmt, positiv gefasst, zügelt und in ihren Entscheidungen lenkt.

Es ergibt sich also das durchaus komplizierte Bild einer Gesellschaftmit zweigeteilter Herrschaft, einer Ordnungsmacht mit zwei Armen, vondenen der eine, weltliche, der Gesellschaft als reales Organ, als gewisser-maßen daseinskonstitutiver Faktor eingegliederte Arm für den irdischenBestand und die chronische Kontinuität der Gesellschaft, sprich, für ih-ren ökonomischen Erfolg, ihr politisches Funktionieren und ihre sozialeOrganisation zu sorgen hat, während der andere, geistliche, der Gesell-

schaft als transzendentaler Mechanismus, quasi als eine heilsperspektivi-sche Prothese angegliederte Arm für die transitorische Bewandtnis undhimmlische Bestimmung der in der Gesellschaft organisierten Menschenzuständig ist und im Kriterium dieser von ihm geltend gemachten transi-torischen Bewandtnis und himmlischen Bestimmung des Menschen allevom weltlichen Arm gesetzten Ziele, verfolgten Projekte und verfügtenRegime einer Prüfung unterzieht, um ihre Vereinbarkeit beziehungsweiseNichtvereinbarkeit mit eben jener himmlischen Bestimmung festzustellenund sie nötigenfalls zu kritisieren, zu korrigieren, zu verwerfen.

Nur was im säkularen Dasein und profanen Verhalten der Menschen im

Allgemeinen und der Mächtigen im Besonderen die richterliche Gewaltdes geistlichen Arms nach Maßgabe des dem Klerus eigenen paradigmati-schen Lebens für dem Endzweck des irdischen Daseins, seiner Ersetzungdurchs himmlische Sein, förderlich oder jedenfalls nicht abträglich be-findet, kann und darf die herrscherliche Gewalt des weltlichen Arms

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tolerieren beziehungsweise praktizieren. Setzt sich der weltliche Arm

über diese Einschränkung seiner exekutiven Macht und autoritativenBefugnis hinweg, so rüttelt er an den Grundfesten oder, besser gesagt, amarchimedischen Punkt der unter der Heilsprämisse existierenden Gesell-schaft und riskiert, dass die Menschen, die mit dem Heilsbezug und demihn gewährleistenden geistlichen Arm gleichermaßen die Hoffnung auf ein in Zukunft erlebbares himmlisches Sein und den Anspruch auf einin der Gegenwart lebbares irdisches Dasein verbinden, ihm Gefolgschaftund Dienst verweigern.

In der Tat liegt hierin, in dieser Zweiteilung der Herrschaft in einedie gesellschaftliche Ordnung organisierende weltliche und eine sie kon-trollierende geistliche Gewalt, der wesentliche, aus der Paradoxie einersäkularen Gesellschaft, die sich aus ihrer expliziten Negation, einem offentranszendenten Prinzip, das von ihr absolut nichts wissen will, begrün-det, unschwer erklärliche Unterschied der als feudale sich etablierendenneuen zu den als theokratische konstituierten alten Territorialherrschaf-ten.

Zwar gehen auch die alten Territorialherrschaften, grundsätzlich ge-nommen, aus ihrer Negation hervor, aus einem als anderes Subjekt er-scheinenden ontologisch differenten Prinzip, das sie pauschal zu revo-zieren, für schlechterdings nichts zu erklären Miene macht. Aber andersals bei ihrer Wiederauflage am Ausgang der Antike, wird hier das ihrer

Konstitution zugrunde liegende negative Prinzip so ganz und gar nichtexplizit, gewinnt es so definitiv keine Evidenz, dass im genauen Gegenteilseine Verdrängung und Umfunktionierung, seine Verbannung in eineLatenz, aus der es als affirmative, das menschliche Dasein und seinegesellschaftliche Ordnung sanktionierende Macht wiederkehrt, als überSein oder Nichtsein des territorialherrschaftlichen Corpus entscheidenderKonstitutionsakt gelten muss. Eben diese Verdrängung der Negativi-tät des anderen Subjekts und ihre Umfunktionierung in die Positivitätgöttlicher Mächte ist die zentrale, in sakralen Handlungen, kultischenVerrichtungen ihren Ausdruck findende und als wiederholungsträchtig

universale Krisenbewältigungsstrategie immer neu zu erbringende Leis-tung der territorialen Herrschaft, ist das sie selbst fundierende, sie alssolche legitimierende Ereignis.

Deshalb ist in den alten Territorialherrschaften der Machthaber stetsTheokrat, Herrscher und Priester in Personalunion, jemand, der einerseits

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im Namen der Götter die praktische Aufgabe erfüllt, die unter göttlichem

Schutz, sakraler Sanktion stehende Gesellschaft zu regieren und funkti-onsfähig zu erhalten, und der andererseits im Auftrag der Gesellschaftkultisch dafür sorgen muss, dass die sanktionierende Göttermacht gegendie heillose Negativität, die sie zu verdrängen dient und die sich dochstets noch hinter ihr verbirgt, aufrechterhalten und in Kraft bleibt; kurz, erist ein Priesterkönig, der seine in der Göttermacht gründende Herrschaftnur unter der Bedingung praktisch ausüben kann, dass er jenen Grundseiner Herrschaft mit schöner Regelmäßigkeit kultisch reaffirmiert oder,weniger verklausuliert gesagt, neu legt. Wobei wegen der Machtfülleund zur Hybris treibenden Selbstherrlichkeit, in der sich der Machtha- ber in seiner Doppelrolle als durch die göttliche Ordnung eingesetzterprofaner Herrscher und die göttliche Ordnung einsetzender sakralerPriester erfährt, seine rituellen Handlungen und kultischen Verrichtun-gen zwangsläufig janusköpfig angelegt, sprich, darauf berechnet seinmüssen, die göttliche Ordnung gleichermaßen für ihn und seine Unter-tanen zu reaffirmieren und aufrecht zu erhalten wie gegen ihn und seinehybride Neigung, sie zu stören und die von ihr verdrängte Negativität inseiner eigenen Person wiederkehren zu lassen, in Anschlag zu bringenund geltend zu machen.

Mittlerweile aber hat sich dank der kommerziellen Funktion und ih-rer einen neuen, ebenso politisch expansiven wie ökonomisch expro-

priativen Gemeinschaftstyp, die handelsstädtische Republik, ins Lebenrufenden Wirksamkeit die theokratische Form der alten Territorialherr-schaften überlebt und dem Zynismus und Egoismus einer cäsarischenHerrschaft Platz gemacht, die dem Götterglauben und dem religiösenKult höchstens noch aus machtstrategischen beziehungsweise reprä-sentationsideologischen Gründen huldigt, sprich, beides nurmehr zuZwecken einer absolutistischen Selbstinszenierung beziehungsweise tau-tologischen Selbstbespiegelung nutzt. Und mittlerweile hat diese zynischcäsarische Herrschaft sich durch ihren Zerfall in ein agonales Selbstzer-fleischungsszenarium so völlig ad absurdum geführt und das wirtschaft-

liche Gemeinwohl, die politische Verantwortung und die gesellschaftlicheOrdnung so restlos zuschanden werden lassen, hat sie solche immensenVerheerungen und irreparablen Schäden angerichtet, dass die Unterta-nen, an der Welt verzweifelnd und das Leben für nicht mehr lebenswert befindend, den Entschluss gefasst haben, sich jener von den Theokratien

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verdrängten und von der cäsarischen Herrschaft verhöhnten Negativität

des anderen Subjekts, seiner ontologisch vernichtenden Transzendenzund toto coelo anderen Wirklichkeit, zuzuwenden, um in ihr Zufluchtzu suchen, bei ihr Rettung vor den Schrecken und Qualen des irdischenDaseins, Erlösung von der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit der mensch-lichen Existenz zu finden. Platonisch zum diesseitsenthoben-jenseitigenIdeenreich entfaltet und messianisch zum überzeitlich-ewigen Himmel-reich erschlossen, wird das Sein des anderen Subjekts, das die alten,theokratischen Religionen noch um jeden Preis aus der Welt zu schaffendisponiert waren, zu einem erstrebenswerten Prospekt, der dazu einlädt,eben diese Welt an den Nagel zu hängen und in einem großen, anhalten-den Fluchtimpuls alle Bindungen an sie zu lösen und alles Interesse anihr fahren zu lassen.

Mit diesem Faktum einer zum heilsperspektivischen Prospekt entfal-teten und zum Gegenstand einer heilsreligiösen Bewegung erhobenen,kurz, aus schierer Negativität in ein nicht minder schieres höchstes Gutverwandelten Transzendenz finden sich nun also die Gründer der in denehemals imperialen Provinzen, in denen nach dem Untergang des agona-len Imperiums die Lust zum Leben, der Sinn für die Immanenz wiedererwacht ist, neu entstehenden, aus einer Kreuzung zwischen kriegerisch-vasallischer Stammeshäuptlings- und militärisch-bürokratischer Impe-ratorenherrschaft, zwischen Herzog- und Cäsarentum hervorgehenden

Territorialherrschaften konfrontiert.Dass die so zur heilsperspektivisch schönen Aussicht entfaltete und als

solche in ihr Gegenteil, in absolute Affirmation, gewendete Negativitätdes anderen Subjekts sich nicht mehr nach dem Vorbild der Territori-alherrschaften alten Stils einfach verdrängen und als das dynamischeUnbewusste eines als gewaltiger Abwehrmechanismus inszenierten theo-kratischen Opferkults zum Verschwinden bringen lässt, liegt auf derHand. Schließlich hat das andere Subjekt mitsamt seinem ins irdischeDasein als die reine Negativität hereinbrechenden toto coelo verschiede-nen Sein jetzt ja ein völlig neues Gesicht und Ansehen gewonnen oder

ist, genauer gesagt, eben dies das Neue an ihm, dass es ein ihm von denMenschen, die in ihrer irdischen Not und Hoffnungslosigkeit zu ihmkonvertiert sind und an es glauben, attestiertes Gesicht und attribuiertesAnsehen überhaupt erst gewonnen hat, während es in den alten Zeiten,kaum dass es Miene machte, sich zu manifestieren und in Erscheinung zu

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treten, von den um die Positivität ihres irdischen Daseins besorgten Men-

schen sogleich aus der bewussten Wahrnehmung ausgestoßen und in dieLatenz einer seinen heroischen und göttlichen Substituten zugewandtenkultischen Observanz verbannt wurde.

 Jetzt also ist es im Bewusstsein der Menschen ein als der dreieinigeHerr in seinem Himmelreich dogmatisch ausgebreiteter Gegenstand,der sich dem desillusionierten, vom Erdenleben hoffnungslos enttäusch-ten Bewusstsein als sein wesentlicher Inhalt, um nicht zu sagen, seinausschließliches Anliegen darbietet. Und nicht nur ein dogmatischesGesicht und Ansehen, eine ständige Präsenz im Bewusstsein hat dasursprünglich in seiner Negativität verschwindende oder vielmehr zumVerschwinden gebrachte andere Subjekt jetzt gewonnen, sondern auchein kultisches Corpus und Wirken, eine umfassende Geltung im Da-sein kann es für sich in Anspruch nehmen. Schließlich geht es denen,die in ihrer irdischen Not und ihrem weltlichen Elend zu ihm als demplatonisch-messianisch entfalteten Herrn des Seins und lebendigen We-sen konvertiert sind, ja beileibe nicht nur darum, es vor Augen zu haben,ein theoretisches Verhältnis zu ihm zu unterhalten, sondern sie sind mehrnoch darauf aus, ihm nahe zu kommen, sich praktisch zu ihm zu verfügenund sich mit ihm zu vereinigen. Wie sollte angesichts dieser doppelten,kultisch-praktischen nicht weniger als dogmatisch-theoretischen Ma-nifestation und Gegenwart des anderen Subjekts dessen auf die alte,

theokratische Weise geübte Verdrängung noch möglich sein, wie sollte,wenn er denn unternommen würde, ein solcher Verdrängungsakt auf et-was anderes hinauslaufen können als auf eine gewalttätige Zerreißprobeund Selbstzerstörungsaktion derer, die ihn unternähmen.

Tatsächlich besteht ja aber auch nicht das mindeste Interesse an solcherVerdrängung alten Stils. Alle, und zwar diejenigen, denen die Lust zumLeben zurückkehrt und die sich wieder im irdischen Dasein als in ihremangestammten Zuhause einrichten wollen, nicht weniger als jene, diein der Nachfolge Christi verharren und ihren stracken Weg heraus ausder Welt unbeirrt fortsetzen, und bei den ersteren, den Lebensmutigen,

die Herren und Nutznießer des säkularen Daseins nicht weniger als dieKnechte und Leidtragenden – sie allesamt sind sich darin einig, dass dasplatonisch-messianisch vermittelte himmlische Sein und ewige Leben desanderen Subjekts ein höchstes Gut, eine unter allen Umständen erhal-tenswerte Perspektive darstellt und dass an ein aufs irdische Dasein sich

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wieder einlassendes, in der Welt sich wieder häuslich einrichtendes Leben

nur unter der Bedingung zu denken ist, dass dies säkulare Leben mit derHeilsprämisse vereinbar bleibt, dass es die Aussicht aufs himmlische Seinnicht etwa einbüßt, sondern vollständig zu bewahren vermag.

Und eben deshalb geht es bei der Gründung der Territorialherrschaftenneuen, feudalen Zuschnitts von vornherein auch nicht um Verdrängung,sondern um Vereinbarung, nicht darum, eine in ihrer ontologischen Dif-ferenz, ihrer absoluten Transzendenz alles vernichtende Wahrheit undWirklichkeit aus der Welt zu schaffen und umzufunktionieren, sondernvielmehr die Welt zu dieser zwar nach wie vor weltverneinenden, aberdoch mittlerweile zu einem als künftiges Heil annehmlichen Prospekt ent-wickelten Wahrheit und Wirklichkeit ins Verhältnis zu setzen und so zuorganisieren, dass das transitorisch gegenwärtige Dasein in ersterer deminskünftig ewigen Leben in letzterer nicht heillos in die Quere kommtund hoffnungslos den Weg verlegt.

Genau diesem Ziel der Vereinbarung dient die eigentümliche, den altenTerritorialherrschaften unbekannte Konstruktion einer Gesellschaft mitzweigeteilter Herrschaft, zweierlei Gewalt – eine Konstruktion, bei derdie eine, weltliche Gewalt dafür, dass die andere, geistliche Gewalt siesanktioniert, sprich, ihr immanentes Schalten und Walten für mit dertranszendenten Heilsperspektive vereinbar erklärt, dieser anderen Ge-walt nicht nur eine kultisch-sakramentale Schlüsselrolle zuweist, sondern

mehr noch ein weitestgehendes praktisch-moralisches Mitbestimmungs-recht einräumt. Eine Gesellschaftskonstruktion, deren Eigentümlichkeites ist, dass sie auf einem zum tragenden Spannungsbogen, quasi zu einerHängebrücke, einer förmlichen coincidentia oppositorum kontrahiertenfundamentalen Widerspruch aufbaut und nämlich gleich zweifach, indynamischer und in topischer Hinsicht, gegen Grundprinzipien gesell-schaftlicher Synthesis verstößt.

Dynamisch gesehen, verstößt sie gegen das Prinzip intentionaler Ein-deutigkeit, das heißt, der Widerspruch stellt sich so dar, dass die laizis-tisch-säkulare Gesellschaft sich zwar im irdischen Dasein fest einrichtet,

gleichzeitig aber sakramental und moralisch anerkennt, dass sie dort ansich nichts zu suchen hat und mit ihrem irdischen Engagement fortlau-fend ihrer wahren Bestimmung, dem daseinsverneinend-weltüberwin-dend eigentlichen Zweck ihres Lebens zuwiderhandelt, und dass siedieses Ansich ihrer wahren Bestimmung, diesen Vorbehalt der von ihr

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verfehlten zweckdienlich-heilsorientierten Lebensführung in Gestalt der

mönchisch-klerikalen Gemeinschaft permanent vor Augen hat und als einvom irdischen Dasein sich gleichgültig abwendendes und dessen Ansichfür rein nichts erklärendes, absolutes Fürsich, als der weltlichen Welt zumunendlichen Urteil, zur Verwerfung geratenden kategorischen Vorwurf ebenso permanent fürchten muss.

Und topisch betrachtet, verstößt sie gegen das Prinzip territorialerIntegrität, das heißt, der Widerspruch besteht darin, dass das Territoriumder betreffenden Gesellschaften, weit entfernt davon, seiner Definitionzu genügen und ein geschlossenes Herrschaftsgebiet zu bilden, vielmehrdurchlöchert und zersetzt ist von den klösterlichen Niederlassungen jener

mönchisch-klerikalen Gemeinschaften, die als Pforten zum Himmelreich,als den chronischen Schein durchdringende Durchlässe ins ewige Sein,sprich, als Transitstellen oder Sammelpunkte für den Exodus, jedemAnspruch der säkularen Herrschaft auf durchgängige Fundiertheit undvollständige Geltung ihrer irdischen Einrichtung Hohn sprechen.

Dass dieser in den klösterlich-klerikalen Gemeinschaften Gestalt ge-wordene doppelte Widerspruch nicht in der Tat alle säkular-territorialenGesellschaftsgründungen von vornherein unterminiert und vereitelt,ist der geschilderten konstruktiven Vereinbarung geschuldet, die demWidersprechenden als Gegenleistung dafür, dass es in seiner Exzentrik

und Exterritorialität toleriert oder vielmehr hofiert wird, die gesellschafts-extern-transzendentale Rolle eines kultischen Garanten der Heilsperspek-tive und die gesellschaftsintern-empirische Aufgabe eines moralischenZensors der Daseinsgestaltung überträgt und so die Fliehkraft jener dy-namischen Exzentrik und die Sprengkraft jener topischen Exterritorialität jeweils in ihr genaues Gegenteil, in eine Form von intentionalem Halte-punkt und eine Art von sozialem Bindemittel ummünzt.

Und so aberwitzig und geradezu monströs die Konstruktion einermittels Anerkennung und Inanspruchnahme der Negativität des anderenSubjekts und seines Seins statt durch Verdrängung und Umfunktionie-

rung jener Negativität etablierten territorialherrschaftlichen Ordnungauch anmuten mag – sie erweist sich als im Prinzip ebenso stabil undhaltbar wie die der alten Zivilisationen, weil die Vereinbarung de factozur Vereinnahmung, die suggestive Inanspruchnahme in Wirklichkeit zurdefinitiven Indienstnahme gerät.

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Weit entfernt davon, dass die von den klösterlich-klerikalen Gemeinschaf-

ten im Rahmen der herrschaftlich-säkularen Gesellschaft übernommenenkultischen und moralischen Aufgaben den Gemeinschaften selbst äu-ßerlich blieben und ihr Zweck für letztere sich in der Sicherung einerungestörten Nachfolge Christi und des dafür nötigen Freiraumes er-schöpfte – sozialstrategisch gesehen, sind die vermeintlich unverändertauf dem direkten Weg zum Heil wandelnden klerikalen Gemeinschaf-ten von Anfang ihrer Rücksicht auf und Anpassung an die Belange derlaizistischen Artgenossen an, ab initio also der ihnen von der säkula-ren Gesellschaft übertragenen kultischen und moralischen Aufgaben,fester Bestandteil und integrierendes Moment der neuen, säkularen Ord-nung und ist die Aufrechterhaltung jener mönchisch-dynamischen Exzen-trik und klösterlich-topischen Exterritorialität, weit entfernt davon, derZweck jener vom Klerus wahrgenommenen kultischen und moralischenAufgaben zu sein, im Gegenteil nurmehr das Mittel zum Zweck derErfüllung jener kultischen und moralischen Aufgaben, ist mit anderenWorten das mönchische Leben, weit entfernt davon, durch seine Kon-sequenz das laizistische Dasein Lügen zu strafen, im Grunde nurmehrdazu da, diesem laizistischen Dasein die eigene Wahrheit zu vindizieren,sind die klösterlichen Orte, weit entfernt davon, Löcher ins territorialeKontinuum zu reißen und der irdischen Herrschaft jeden Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit und durchgängige Geltung zu verschlagen,

de facto bloß noch Bindeglieder oder Gelenkstellen, die das Herrschafts-gebiet vor den von ihm selbst erzeugten und es zu zerreißen drohendenReibungswiderständen und Spannungsbelastungen bewahren, indemsie teils kurzfristig-taktisch als Zufluchten und Auffanglager dienen,sprich, der säkularen Gesellschaft als Druckventile und Konfliktschlich-ter zur Verfügung stehen, teils langfristig-strategisch als vorbildlicheEinrichtungen, Musterkommunen fungieren und die säkulare Gesell-schaft die Mores einer kraft effektiver Entspannungsmechanismen undVersöhnungsformen erfolgreichen sozialen Synthesis lehren.

Selbst wenn Einzelne in der klerikalen Gemeinschaft unbeirrt an dem

als Nachfolge Christi definierten und kompromisslos, sprich, ohne Rück-sicht auf die Welt und ihre Ansprüche zu absolvierenden Heilsweg fest-halten und dem Leben eines selbstvergessenen Gotteskindes und Him-melsstürmers den Vorzug vor der Rolle des verantwortungsbewusstenGottesdieners und Moralapostels geben – das Gros der Gemeinschaft

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fügt sich der säkularen Funktionalisierung, lässt die Reduktion der vita

sancta auf eine Einstellungsvoraussetzung für das klerikale Amt, eineQualifikation für die Wahrnehmung der dem Klerus von der Gesell-schaft zugewiesenen kultischen und moralischen Aufgaben geschehenund holt jene Einzelnen, die sich der Funktionalisierung verweigern,wieder auf den Boden der neuen Weltordnung zurück, indem es siepostum zu Heiligen, zu Mittlern zweiten Grades, zu paradigmatischenHeilssuchern erklärt, die durch ihre ungebrochene imitatio dei die tat-sächliche institutionelle Umfunktionierung der Nachfolger Christi ineine säkulare Dienstleistungsorganisation zu verschleiern und der kle-rikalen Gemeinschaft das ebenso schöne wie falsche Zeugnis eines nurnebenbei ein paar weltliche Geschäfte erledigenden und ansonsten inunwandelbarer Treue dem Herrn und Heiland auf dem Fuße folgendenHimmelfahrtskommandos auszustellen taugen.

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. Kommerz und kommunale Freiheit

Die zur dynamischen Exzentrik und topischen Exterritorialität hinzukommende

ökonomische Eigenständigkeit der als kultische Mittler und moralische Zensorenin die säkulare Gesellschaft integrierten klösterlich-klerikalen Gemeinschaftenverschafft diesen eine relative politische Autonomie.

Auch wenn also die neue Territorialherrschaft, die nach dem Untergangdes zum imperialen Ausbeuter hypertrophierten kommerziellen Stadt-staats entsteht, keine Theokratie, keine mittels der Verdrängung der Ne-gativität des anderen Subjekts und seiner Umfunktionierung in die Göt-termacht, die der Herrscher in eigener Person repräsentiert, zustandekommende Formation mehr ist, sondern sich als Gottesgnadentum eta- bliert, als eine Konstruktion, die auf der Anerkennung jener Negativität

des anderen Subjekts und seiner Erklärung zum schlechthinnigen Po-sitiven aufbaut, zu einem Reich Gottes, das in der Geistlichkeit seineeigene irdische Repräsentanz besitzt, die die Aufgabe hat, es als ineinsden letzten Zweck und das höchste Kriterium allen weltlichen Regimentszur Geltung zu bringen – auch wenn also die neue Territorialherrschaft,anders als die alte, kein durch Verdrängung des absoluten Widerspruchs,sondern durch seine Relativierung, durch Vertrag mit ihm, ins Werkgesetztes System, kein Gebilde aus einem Guss mit anderen Worten,sondern ein zwieschlächtiger Organismus, ein korporativer Verbund ist– ihrer Konsistenz und Stabilität tut das keinerlei Abbruch. So gewiss

es dieser Territorialherrschaft neuen Stils gelingt, das in seiner Exzen-trik und Exterritorialität absolut kontradiktorische Konstitutionsprinzip,dem sie offen huldigt, in die heilsperspektivisch-dynamische Garantie-macht und den gesellschaftsstiftend-topischen Aktivposten ihres eigenenBestehens und Wohlergehens umzumünzen, so gewiss beweist sie die

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gleiche, von späteren, unruhigeren Gesellschaften als statisch verschriene

Ausgeglichenheit und Beharrungskraft wie ihre antike Vorgängerin.Oder vielmehr bewiese sie das gleiche Beharrungsvermögen, wäre danicht ein mit der dynamischen Exzentrik und der topischen Exterritoria-lität einhergehendes drittes Charakteristikum der ihr als Fremdkörperinkorporierten und in ein wesentliches Organ ihrer kultischen Selbstver-gewisserung und ihrer moralischen Erbauung umgemünzten klösterlich-klerikalen Gemeinschaft – deren ökonomische Eigenständigkeit nämlich.Nicht, dass diese ökonomische Eigenständigkeit der klösterlich-klerikalenGemeinschaft der Bildung einer territorialherrschaftlich-säkularen Ge-sellschaft von Haus aus oder aktuell zuwiderliefe und deshalb so wie

die beiden anderen Charakteristika nach einer Umfunktionierung in einparadoxes Konstitutiv beziehungsweise Aktivum der letzteren verlangte!Insofern sie die neu entstehenden säkularen Gesellschaften davon ent- bindet, die kultisch und moralisch in ihren Zusammenhang integriertenklerikalen Gemeinschaften durch fronwirtschaftliche Anstrengungenzu unterhalten und mitzuversorgen, entlastet sie die ersteren sogar, in-dem sie ihnen erlaubt, ihre noch schwachen und unentwickelten öko-nomischen Kräfte voll und ganz für den Aufbau der eigenen weltlichenEinrichtungen einzusetzen.

Ihrer Natur nach oder potenziell allerdings birgt diese ökonomische

Eigenständigkeit gewaltigen Sprengstoff, sprich, die Drohung in sich, diesäkulare Gesellschaft mitsamt ihrer territorialherrschaftlichen Ordnungaus den Angeln zu heben, weil sie auf Vergesellschaftungsprinzipienund Verkehrsformen beruht, die der territorialherrschaftlichen Organi-sationsstruktur stracks zuwiderlaufen und aufgrund ihrer Produktivitätund Effektivität die Territorialherrschaft zugleich doch zwingen, sie, diewiderstreitenden Vergesellschaftungsprinzipien und Verkehrsformen,nicht nur zu tolerieren, sondern mehr noch im eigenen, dadurch mehrund mehr auf die Zerreißprobe gestellten Kontext zur Geltung zu bringenund wirksam werden zu lassen.

Dabei ist die ökonomische Eigenständigkeit der klösterlich-klerikalenGemeinschaften ursprünglich nur eine situativ bedingte, durch die an-fängliche Not in einem Kaiserreich, das sich zielstrebig zugrunde richtetund in voller Auflösung begriffen ist, diktierte, kurz, eine historisch ak-zidentielle Errungenschaft. Weil das in schiere Agonie verfallene und

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seinem Untergang entgegenstrebende Römische Reich sich in zuneh-

mendem Maße außerstande zeigt, den Gemeinwesen eine wenigstensminimale politische Ordnung und eine zumindest residuale ökonomischeKontinuität zu garantieren, und weil es im Gegenteil durch seine in Formmilitärischer Selbstzerfleischung sich vollziehende Agonie die Gemein-wesen auseinandersprengt und ihr in der politischen Ordnung und derökonomischen Kontinuität verankertes Sozialgefüge zertrümmert, bleibtden Bürgern des Reiches gar nichts anderes übrig, als sich auf eigeneFaust durchzuschlagen und sei’s in privater Isolation, sei’s im familiärenVerbund, sei’s in der Notgemeinschaft einer kommunalen oder sonstigen,dem biographischen Zufall geschuldeten Gruppe für ihr materielles undpersönliches Überleben zu sorgen.

Das gilt auch und ebenso wohl für all diejenigen, die sich dem heiligenLeben verschreiben und ihren Erdenwandel in der Nachfolge Christiabsolvieren. Auch sie müssen sich, solange sie auf Erden weilen, mangelsstaatlicher Gewalt und gesellschaftlicher Organisation und jeglicher andie staatliche Gewalt geknüpften politischen Ordnung und auf der ge-sellschaftlichen Organisation fußenden ökonomischen Kontinuität selbsterhalten, müssen den für ihr materielles Dasein und ihre persönliche Exis-tenz erforderlichen Stoffwechsel mit der Natur in eigener Regie und ohneHoffnung beziehungsweise Aussicht auf äußere Hilfe und Unterstützungdurch einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang ins Werk setzen.

So sehr sie ihr irdisches Leben bereits auf das erhoffte himmlische Lebenausrichten, ihr zeitliches Dasein in den Dienst des erstrebten ewigenSeins stellen und also ihre innerweltliche Existenz als transitorische, nachMöglichkeit rasch zu überwindende Durststrecke begreifen und behan-deln mögen, daran, dass sie, solange ihre innerweltliche Existenz währt,sich nicht ausschließlich darauf konzentrieren können, ihren Durst nachdem Heil, ihr Verlangen nach dem Himmelreich zu löschen, sondern, wieimmer beiläufig und anspruchslos, auch ihren Durst und Hunger nachÜberlebensnotwendigem zu stillen, dass sie essen und trinken und ande-re, sich im Leben gebieterisch geltend machende Bedürfnisse befriedigen

müssen – daran führt kein Weg für sie vorbei.Konfrontiert aber mit dieser Überlebensnotwendigkeit einer wenn auchebenso marginalen wie minimalen Bedürfnisbefriedigung, was könnendie zu Nachfolgern Christi passionierten Heilssucher da Vernünftigerestun, als sich zusammenzuschließen und die praktischen Vorkehrungen

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fürs Überleben in ihrem dem himmlischen Sein geweihten irdischen Da-

sein gemeinsam zu treffen, die für ihre Selbsterhaltung im heiligen Lebenerforderliche körperlich-geistige Arbeit in arbeitsteiliger Kooperationzu verrichten. Schließlich eint sie das in der Aufhebung des weltlichenDaseins, in der Verneinung des irdischen Lebens paradox kulminierendeLebensziel, sind sie allesamt Brüder im Geiste Christi, ihres sie aus derchronischen Scheinwelt des Erdkreises in das ewige Sein des Himmel-reichs zu transfigurieren bestimmten wahren Selbstes; und auch wenndies Lebensziel vom eremetischen Einzelnen genauso gut oder sogar besser zu erreichen, dies wahre Selbst genauso gut oder sogar besser immönchischen Alleingang ins göttliche Werk zu setzen ist, weil es ja mitdem irdischen Menschen auch dessen Gesellschaftlichkeit, seine sozialen

Bindungen und persönlichen Verpflichtungen abzulegen und zurückzu-lassen verlangt -unter den im agonalen Imperium und in dem Chaos,das es hinterlässt, gegebenen historischen Umständen sind jedenfalls dieirdischen Voraussetzungen für die Verfolgung jenes himmlischen Ziels,die materiellen Bedingungen für die Beförderung jenes immateriellenSelbstes im Verein und in koordinierter Anstrengung leichter zu schaf-fen und sicherzustellen als in eremitischer Isolation, im mönchischenAlleingang. Davon, dass die Menschen im Kollektiv, in arbeitsteiligerKooperation ihr generelles Überleben weit besser gewährleisten und ihrespezifischen Absichten im Leben weit effektiver in die Tat umsetzen als

in der als Selbstherrlichkeit getarnten Isolation und als Eigenständigkeitverbrämten Ohnmacht der einzelnen Existenz, legt schließlich die ganzeGeschichte der Menschheit beredtes Zeugnis ab.

Und tatsächlich nicht nur als allgemeine Bedingung der Möglichkeiteines unter den gegebenen historischen Umständen des imperialen Kon-kurses zu erhaltenden heiligen Lebens bietet sich der Zusammenschlussder Mönche zum klösterlichen Kollektiv an, sondern mehr noch als be-sondere Bedingung der Wirklichkeit dieses heiligen Lebens bewährt sichdas klösterliche Kollektiv. Weil es nicht nur generell dabei hilft, die ma-teriellen Voraussetzungen fürs irdische Dasein und die praktischen Le- bensbedingungen zu schaffen und zu gewährleisten, sondern mehr noch

dank des in Kooperation und Arbeitsteilung bestehenden Geheimnissesmenschlicher Produktivität speziell dazu taugt, jene Daseinsvorausset-zungen und Lebensbedingungen weit effektiver zu schaffen und ent-schieden kontinuierlicher zu gestalten, birgt es nolens volens die Kon-sequenz, dem, was es generell zu fundieren und zu erhalten dient, dem

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in der Nachfolge des Herrn verbrachten heiligen Leben, speziell da-

durch Hilfestellung und Vorschub zu leisten, dass es letzterem mehrLebenszeit zuzuwenden, ihm sich umfänglicher und uneingeschränkterzu widmen erlaubt. Durch die Gemeinschaftlichkeit ihrer Arbeitsleistungund Selbsterhaltungsanstrengung können die Mönche dem unabdingbarsubsistenziellen Mittel zum paradox essenziellen Zweck ihrer Existenzweit besser und schneller Rechnung tragen und also auch für eben die-sen essenziellen Zweck und seine Verfolgung, sprich, für Gebete undMeditationen, Fasten und Kasteiungen, Gottes- und Missionsdienst, sa-kramentale Handlungen und Akte der Nächstenliebe, weit mehr Zeitund Kraft erübrigen, als ihnen dies auf ganz und gar eigene Faust und in

splendider Isolation möglich wäre.So gesehen, ist es nur zu verständlich, um nicht zu sagen logisch, dassin dem ökonomischen Chaos, den politischen Wirren und der sozialenUnordnung der Zeit nach dem endgültigen Untergang des Imperiumsdas als Mönchsorden organisierte klösterliche Kollektiv zum Grund-modell und verbindlichen Rahmen der von den Nachfolgern Christi bevorzugten Lebensführung wird. Unter der Devise eines “ora et labo-ra” schließen sich die Nachfolger Christi zu Orden, zu geordneten, dasVerhalten des einzelnen und seine Stellung im Corpus strikt regelndenLebensgemeinschaften zusammen, deren praktisches Ziel es ist, die die

irdische Existenz begründende ökonomische Subsistenz zu sichern, umauf diese Weise dem paradox eigentlichen Zweck dieser Existenz, ihrerdurch die Sanierungsmethode, die der Weg Christi ist, ebenso zielstrebigverfolgten wie durch das Heilsmittel, das der Leib Christi ist, am Endevollbrachten Aufhebung und Verklärung ins ewige Sein, nicht nur in ge-nere den Boden zu bereiten und die Voraussetzungen zu liefern, sondernmehr noch in specie Raum zu schaffen und Vorschub zu leisten.

Im Bemühen um gleichermaßen die empirische Grundlegung undpraktische Beförderung ihrer eigentlichen Zielsetzung, ihres himmli-schen Zwecks, entwickeln sich die als Orden organisierten klösterlichen

Kollektive zu Arbeitsgemeinschaften, arbeitsteiligen Kooperativen, dieinmitten der allgemeinen sozialen Auflösung und der allgegenwärtigenpolitischen Umwälzungen ihren Mitgliedern ein relativ autarkes Daseingestatten und die, weil sich ja die ganze Umgebung christianisiert und,sofern sie sich nicht überhaupt ihnen anschließt, sie zumindest doch

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als vorbildlich und ebenso erhaltenswert wie ehrfurchtgebietend an-

sieht, diesem ihrem autarken Dasein auch relative politische Autonomie,sprich, eine in der Paradigmatik und Sakrosanktheit ihrer Lebensführung begründete Unantastbarkeit und Ungestörtheit zugesteht.

Diese arbeitsgemeinschaftliche Struktur, das dem ora beigesellte labo-ra, unterscheidet die klösterlichen Kollektive christlicher Machart vonden Mönchsgemeinschaften buddhistischen Zuschnitts, so sehr im übri-gen beide in ihrer, negativ gefasst, auf Weltflucht, positiv ausgedrückt,auf Überwindung der Welt abgestellten und das irdische Dasein einemNachfolgegebot und Imitationsdekret, das es von Grund auf verwan-delt, unterwerfenden Heilssuche übereinstimmen mögen. Anders als

die klösterlichen Kollektive der frühen Christenheit, die selber für ihremateriellen Existenzbedingungen, für die weltliche Basis ihres in derNachfolge Christi stehenden geistlichen Lebens sorgen und die deshalbim Turnus eines disziplinierten, von Müßiggang weit entfernten Da-seins arbeiten und beten, sich um ihren irdischen Unterhalt kümmernund sich ihrer himmlischen Bestimmung widmen, weihen die Aschram-Gemeinschaften des Buddhismus das ganze Leben dem meditativenStreben nach Erlösung, der geistlichen Vorbereitung auf die große Frei-heit, und verlassen sich, was ihren Unterhalt betrifft, auf die Mildtätigkeit,die Freigebigkeit ihrer laizistischen Umgebung, in die sie ausschweifen

und in der sie vorsprechen, wenn sie materielle Bedürfnisse befriedigenmüssen – weshalb denn auch diese Gemeinschaften gar nicht eigentlichals Kollektive gelten können, sondern so, wie der Aschram selbst denabstrakten Charakter einer asketischen Einsiedelei behält, wenig mehrsind als eine periodische und immer wieder in allgemeine Zerstreuungumschlagende Zusammenrottung einzelgängerischer Heilssucher, einimmer wieder dem Zerfall preisgegebenes Aggregat von Mönchen sansphrase.

Und der Grund für diesen wesentlichen, funktionsbedingt-organisato-rischen Unterschied zwischen den beiden Gemeinschaftstypen liegt auf 

der Hand. Während die christlichen Klosterkollektive in einer histori-schen Situation entstehen und sich formieren, in der alles öffentlicheLeben und alle staatliche Ordnung zum Teufel gegangen ist und nichtsmehr herrschen als soziale Auflösung und politisches Chaos und in derdeshalb auch die Losung der Zeit, das “Rette sich, wer kann”, eine über

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die heilsperspektivisch-spirituelle Bedeutung nolens volens hinausge-

hende daseinspraktisch-materielle Konnotation hervorkehrt, treten die buddhistischen Mönchsgemeinschaften in einem historischen Milieuin Erscheinung, das bei all der ökonomischen Not und dem sozialenElend, die es bereithält, doch aber eine relative politische Stabilität undKontinuität staatlicher Ordnung beweist und in dem deshalb das “Rettesich, wer kann” auf seinen rein spirituellen Sinn beschränkt und konzen-triert bleiben kann, weil – zumal in dem Maße, wie es im Blick auf dieökonomische Not und das soziale Elend um es herum eine quietistisch-palliative, herrschaftsdienlich-ordnungsförderliche Funktion gewinnt– seine Propagatoren und Anhänger darauf bauen können, dass eben jenes vergleichsweise intakte Milieu, die ständehierarchisch fortdauerndeGesellschaft, ihnen bei ihrem sie voll und ganz okkupierenden Weltflucht-geschäft unter die Arme greift und mit Almosen und Stiftungen für ihrenLebensunterhalt Sorge trägt.

Im Klosterwesen der christlichen Gesellschaften treten Erscheinungen,die dem Typus der ausschließlich mit dem Heilserwerb befassten bud-dhistischen Mönchsgemeinschaft vergleichbar sind, nicht von ungefährerst im hohen Mittelalter auf, als diese Gesellschaften auf Basis ihrereinzigartigen Kombination aus universal-feudaler Ordnung und lokal-kommerzieller Initiative genug ständehierarchische Stabilität, fronwirt-schaftlichen Wohlstand und stadtkulturelle Zivilisation erreicht haben,

um jenem anderen Gemeinschaftstyp das entsprechende Milieu, sprich,den nötigen materiellen Unterhalt und sozialen Rückhalt bieten zu kön-nen. Da erst kommt es auf dem Boden beziehungsweise im Rahmender praktischen Notgemeinschaft aus den Anfängen, des ebenso sehrarbeitenden wie betenden, ebenso sehr mit seiner Daseinssicherung wieseiner Heilsaussicht befassten klösterlichen Kollektivs, zur Bildung vonBettelorden, von ausschließlich der Heilsperspektive sich weihendenund ihre materielle Versorgung der gläubigen Laiengesellschaft über-lassenden besitz- und heimatlosen “jüngeren Brüdern” Christi, derenAuftreten unter den gegebenen historischen Umständen allerdings we-

niger als heilsreligiös-originäre Entwicklung, denn als reaktive Bewe-gung, als Einspruch gegen die mittlerweile vollzogene Verwandlungder klösterlich-notgemeinschaftlichen Einrichtung aus den Anfängen inein quasifeudal-abteiliches Institut zu verstehen ist und deren Wirkungsich demgemäß auch in inneren Strukturreformen, in einer religiösen

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Erneuerung des traditionellen Ordenswesens erschöpft und weit entfernt

von einem Paradigmenwechsel, einer Ersetzung des christlichen Kloster-kollektivs durch einen neuen, der buddhistischen Mönchsgemeinschaftentsprechenden Typus bleibt.

 Jedenfalls sorgt – um zum eigentlichen Thema und zu dem histori-schen Punkt, an dem die Darstellung angelangt ist, zurückzukehren! –das den gesetzlosen Zuständen und der Überlebensnot der ersten Jahr-hunderte nach dem Untergang des Römischen Imperiums geschuldeteklösterliche Kollektiv dafür, dass die zu ihm sich zusammenfindendenNachfolger Christi, indem sie sich als Klerus mit den neu entstehen-den territorialherrschaftlich-säkularen Gesellschaften vereinbaren und

nach Maßgabe dieser Vereinbarung, wie einerseits den neuen Gesell-schaften als kultische Mittler und moralische Zensoren zur Verfügungstehen, so andererseits die Anerkennung und mehr noch Gewährleis-tung ihrer strukturellen Apartheit, ihrer organisatorischen Sonderstellungdurch die neuen Gesellschaften beanspruchen – dass die als klerikaleGemeinschaften mit den säkularen Gesellschaften einen zwieschlächtigenOrganismus, einen korporativen Verbund bildenden Nachfolger Christialso ihre Sonderstellung nicht nur dynamisch, durch ihre exzentrischeOrientierung, und nicht nur topisch, durch ihren exterritorialen Status,sondern auch und ebenso sehr ökonomisch, sprich, in der Weise geltend

machen, dass diese ihre klerikalen Gemeinschaften in die sich neu formie-renden säkularen Gesellschaften als weitgehend selbstgenügsame, weilselbstversorgende Gebilde, als autarke, auf der Basis ihrer kooperativ-arbeitsteiligen Reproduktionstätigkeit ohne nennenswerte Unterstützungdurch den Gesamtorganismus lebensfähige Organe eingebettet sind.

So sehr sie sich von der feudalen Gesellschaft als Funktionäre, als inmoralischer ebenso sehr wie in kultischer Hinsicht in Anspruch genom-mene Dienstleister vereinnahmt finden, so sehr bleiben sie dank ihrerökonomischen Eigenständigkeit, ihrer weitgehenden Selbstversorgung,ihrer relativen Autarkie doch zugleich politisch unabhängige, dasein-

spraktisch nicht weniger als heilsperspektivisch selbstbestimmte, au-tonome Gemeinschaften, Gemeinschaften, die die Unantastbarkeit, dieSakrosanktheit, die mit ihrer kompensatorisch-kultischen Mittlerrolleund ihrer paradigmatisch-moralischen Lebensführung verknüpft ist, vorGewalttaten und Übergriffen ihrer säkularen Nachbarn, ihrer feudalen

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Vertragspartner schützt und die unter diesem Schutz, den die Religions-

übung ihnen gewährt, und auf der Grundlage eben jener Autarkie sichzwar nicht von der säkularen Gesellschaft und deren Sozialdynamiken beziehungsweise Organisationsweisen überhaupt abkoppeln, aus ihnenkurzerhand ausklinken, aber doch gegen sie verwahren und als eigen-ständiger Gemeinschaftstyp behaupten, sprich, eigene organisatorischeWege gehen und institutionelle Mechanismen ausbilden können.

Die einzige, ebenso unaufhebbare wie unmittelbare Abhängigkeit derklösterlichen Kollektive von der säkularen Gesellschaft besteht am Endedarin, dass erstere wegen ihrer geschlechtlichen Enthaltsamkeit, ihres Ver-zichts auf die biologische Reproduktion, auf Zuzug aus letzterer angewie-

sen, sprich, gezwungen sind, letztere als permanente Rekrutierungsbasisin Anspruch zu nehmen, die mönchischen Reihen immer wieder aus derLaienschar aufzufüllen. Aber weil die unter der Heilsperspektive stehen-de Gesellschaft das klösterliche Kollektiv als im Prinzip die paradigmati-sche Form menschlichen Zusammenlebens und ihre eigene Existenz alseigentlich eine Abweichung von der Norm, als ebenso sehr der moralisch-disziplinarischen Leitung wie der kultisch-kompensatorischen Heilung bedürftigen defizienten Modus ansieht, ist sie weit entfernt davon, ausdieser demographischen Abhängigkeit des klösterlichen Kollektivs vonihr Ansprüche beziehungsweise ein Recht auf Einflussnahme herzuleiten

und betrachtet es vielmehr – aus der Perspektive der betroffenen Indi-viduen selbst – als zu nichts als zu Dank verpflichtendes größtes Glückund – aus der Sicht der die Individuen entsendenden Familien oderKommunen – als ihren Lohn in sich tragende höchste Ehre, die Klöstermit Personal versorgen zu dürfen.

So real die Abhängigkeit der klerikalen Gemeinschaft von der säkula-ren Gesellschaft also auch ist, sozial bleibt sie vollständig irrelevant undändert nicht das Geringste an der weitgehenden ökonomischen Eigen-ständigkeit und darauf fußenden relativen politischen Unabhängigkeit,die jene mönchischen Gemeinschaften aus ihrer Entstehungsgeschichte,

den katastrophalen historischen Umständen, unter denen sie sich bil-den, mitbringen und die sie aufgrund ihrer sakrosankten Stellung in dersäkularen Gesellschaft, aufgrund der kultischen Unentbehrlichkeit undmoralischen Unanfechtbarkeit, die ihnen letztere konzediert, auch zu bewahren vermögen.

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Im Glacis der relativ autonomen klösterlichen Gemeinschaften siedeln sich vor-

nehmlich handwerklich tätige Laiengruppen an, mit denen die Gemeinschaftenauf der Basis ihrer landwirtschaftlichen Produktion eine durch Tauschhandelvermittelte Symbiose eingehen, wobei sie dank des schriftkulturellen antikenErbes, das sie verwalten, ihre eigene landwirtschaftliche Arbeit wie auch die derhandwerklichen Laienbrüder produktionstechnisch zu fördern und zu verbessernvermögen.

Die eine relative politische Autonomie begründende weitgehende öko-nomische Autarkie der klösterlichen Gemeinschaften, die zu ihrer dyna-mischen Exzentrik und topischen Exterritorialität hinzukommt und ihren

durch jene beiden Eigentümlichkeiten konstituierten Sonderstatus inder weltlichen Gesellschaft im buchstäblichen Sinne unterfüttert – dieseökonomische Autarkie hat nun aber eine Konsequenz, die, so marginalund zufällig sie sich anfangs darbietet, sich doch zugleich dank der ihrinnewohnenden triebkräftig-weiteren Implikationen als überaus folgen-reich und – ganz ohne Übertreibung – revolutionär herausstellt. Dass dieKlöster eigene kleine funktionsfähige Reproduktionssysteme bilden, dasssie sich als im Großen und Ganzen zur Selbstversorgung kapazitierteWirtschaftsräume en miniature etablieren, eröffnet nämlich denen, diewieder Lebensmut fassen und sich – zwar mit der Heilsaussicht vor

Augen, aber doch mit weltlichen Glücksverheißungen im Blick – alsLaien neu im irdischen Dasein einrichten, im Prinzip die Möglichkeit,sich zwischen der Mitgliedschaft in der territorialherrschaftlich-säkularenGesellschaft und der Verbindung mit der klösterlich-klerikalen Gemein-schaft zu entscheiden. Weil als funktionierende ökonomische Einheitendie klösterlichen Gemeinschaften den Laien die Chance bieten, auf ih-rem Boden und in ihrem Rahmen zu arbeiten und sich ihren Unterhaltzu erwirtschaften, verfügen die letzteren im Prinzip über die Option,sich ihnen als Laienbrüder anzuschließen und zu unterstellen, statt sichder jeweiligen Territorialherrschaft zu unterwerfen und in die von ihr

fronwirtschaftlich ausgebeutete und gewaltmonopolistisch verwalteteweltliche Gesellschaft als Untertanen eingliedern zu lassen.Wohlgemerkt “im Prinzip” – denn tatsächlich ist diese Möglichkeit

und Option so sehr mit geographischen Einschränkungen verknüpftund an berufliche Qualifikationen gebunden, dass sie sich eher als die

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Ausnahme denn als die Regel, eher als ein Glücksfall denn als der Nor-

malfall darbietet. Erstens und vor allem nämlich besteht die Option nurin der unmittelbaren Nachbarschaft und Umgebung der klösterlichenEinsprengsel in das herrschaftliche Territorium, nur in dem engen Saumund marginalen Bereich, den der schirmende Arm oder, besser gesagt, die bannende Aura der klerikalen Gemeinschaft noch erfasst und als ein derHochburg des Heilands zugehöriges Glacis aller säkularen Willkür undAnmaßung überhebt. Nur in diesen schmalen Randzonen der exterrito-rialen Freiräume, die als Pforten zum Himmel das mönchisch-unbeirrteStreben nach dem Heil in das irdische Territorium stanzt, nur in diesenRandzonen, vor denen die herrschaftliche Gewalt Halt macht, der Elan

der territorialen Hoheit erlahmt, finden die Laien Schutz vor der Gewaltdes Feudalherren, können sie sich seinem Frondienst entziehen, währendsie überall sonst der weltlichen Herrschaft ausgeliefert sind, die sie indie neue, halb der notständischen Organisation des späten Imperiumsentlehnte, halb aus den kriegsrechtlichen Strukturen der Stammeswan-derungszeit übernommene Gesellschaftsordnung eingliedert und ihnendarin ihren durch die beiden Koordinaten der sozialen Zugehörigkeit undder professionellen Tätigkeit determinierten Platz zuweist.

Und zweitens sind es auch nicht Angehörige der breiten bäuerlichenSchichten, denen die Möglichkeit offen steht, sich dem feudalherrschaft-

lichen System und seiner territorialen Hoheit zu entziehen und stattdessen dem Schutz und Schirm des klerikalen Kollektivs zu unterstellen:Um diesen bäuerlichen Gruppen Flächen für ihre Arbeit, die Landbe- bauung, zur Verfügung zu stellen, sind die in die feudalen Territorieneingesprengten Besitzungen der klösterlichen Kollektive viel zu begrenzt,zumal diese Flächen ja von den Mitgliedern des Kollektivs selbst, denMönchen, gemäß ihrer in der Ordensregel kodifizierten Lebenspraxis bereits ebenso qualifiziert wie diszipliniert bestellt werden. Vielmehrsind es vorzugsweise Spezialarbeiter, Angehörige aus handwerklichenGruppen, die, weil die mönchischen Gemeinschaften nicht groß und

 beruflich diversifiziert genug sind, um durch ihre Arbeitsleistung allemit dem Gemeinschaftsleben einhergehenden Bedürfnisse befriedigenzu können, Interesse beim klösterlichen Kollektiv und Aufnahme in dasals laienbrüderlicher Appendix dem sakrosankten Bezirk des Klostersvorgelagerte Glacis finden.

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Es ist also klar, dass die Option einer laienbrüderlichen Assoziation mit

dem klösterlichen Kollektiv nur funktional ebenso wie lokal beschränktenund im Verhältnis zur Gesamtpopulation tatsächlich verschwindend klei-nen Gruppen zu Gebote steht. So klein diese Gruppen aber auch sind, sie bilden sich, und die Symbiose, die sie mit der mönchischen Gemeinschafteingehen, erweist sich als nach Maßgabe ihres Erfolges folgenreich. Umeine Symbiose stricto sensu, das heißt, um eine zum wechselseitigen Nutzund Frommen geknüpfte Verbindung, handelt es sich dabei in der Tat.Der Hauptnutzen für die mönchische Gemeinschaft besteht, wie gesagt,in der Komplettierung ihrer Selbstversorgung, der Befestigung ihrer dierelative politische Autonomie begründenden weitgehenden Autarkie.Dadurch, dass sie Laien in ihren Vorwerken wohnen und den Schutzder heiligen Stätte genießen lassen, um sich mit ihnen zu einer, wie manwill, koexistenziellen Arbeits- oder kooperativen Lebensgemeinschaftzusammenzufinden, verschaffen sie sich ein subsistenzielles Potenzial,das sie aus Eigenem niemals auf die Beine zu stellen vermöchten, einPotenzial, das sich in seiner vorwiegend handwerklichen Ausrichtung alsgleichermaßen nützlich für die Ausstattung des klösterlichen Kollektivsmit Arbeitsmitteln, Werkzeugen, und für seine Versorgung mit Befrie-digungsmitteln, mit Einrichtungs-, Haushalts- und Ritualgegenständen,erweist. Und sein Nutzen muss für umso größer gelten, als ja dem in derNachfolge Christi wandelnden und dessen ebenso gewaltloser wie von

Herrschaftsansprüchen freier Lebensweise verpflichteten klösterlichenKollektiv die der feudalen Herrschaft gegebene Möglichkeit zur Zwangs-rekrutierung und fronwirtschaftlichen Ausbeutung von Arbeitskräften –in diesen frühen Zeiten zumindest -verschlossen bleibt und das Kollektivalso gar keine Chance hätte, sich auf anderem Wege als dem der gütlichenEinigung und Verbindung zu einer Interessengemeinschaft eine perso-nale Verstärkung diesseits der vollen Ordination aus der umgebendensäkularen Gesellschaft zu verschaffen.

Und auf der anderen Seite ist es genau diese ihre gütliche Verpflich-tung und interessenbestimmte Rekrutierung, worin für die Laien der

wesentliche Nutzen und die Hauptattraktion ihrer ökonomischen Ar- beitsgemeinschaft und darauf fußenden politischen Assoziation mit demklerikalen Kollektiv besteht: Sie entrinnen damit jener Zwangsrekrutie-rung und fronwirtschaftlichen Ausbeutung, die unter der territorialenHerrschaft ihr Los ist, und gehen statt dessen eine Beziehung ein, bei der

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die Zwangsrekrutierung einer vertraglichen Vergütung weicht, an die

Stelle der Ausbeutung Austausch tritt, die kompensationslose Leistungdurch eine relative Gegenleistung aufgehoben, die einseitige Beanspru-chung in eine wechselseitige Begünstigung überführt erscheint.

Nicht, dass nicht auch die feudale Herr-Knecht-Beziehung für sichreklamierte, eine Beziehung auf Gegenseitigkeit und zum wechselseitigenVorteil, kurz, ein Verhältnis des Do ut des zu sein. Tatsächlich gibt eskeine Verbindung zwischen Menschen, und schon gar nicht zwischenGruppen von Menschen, die, wenn sie nur einigermaßen von Dauer undBestand sein will, ohne die Institution oder zumindest die Suggestioneines Do ut des, eines wechselseitigen Leistungsverhältnisses auskommt!Bei der feudalen Herr-Knecht-Beziehung freilich erweist sich, schaut

man genauer hin, dieses wechselseitige Leistungsverhältnis doch eher alsgewalttätig-zirkelhafte Erschleichung. Was die Herren den Knechten alsGegenleistung für ihre Frondienste bieten, ist militärischer Schutz undpolitische Sicherheit, Landfrieden und zivile Ordnung. Diesen Schutzund diese Sicherheit aber bieten die Herren den Knechten im Wesent-lichen ja vor sich und ihresgleichen, vor den Angriffen und Einfällenihrer Standesgenossen aus anderen Territorien und vor ihren eigenenÜbergriffen und Willkürakten im Innern. Die Gefahren, vor denen sie dieUntertanen schützt, beschwört die feudale Herrschaft durch ihre eigeneExistenz herauf, die Sicherheit, die sie ihnen bietet, muss sie gegen die

eigene Unberechenbarkeit und Asozialität durchsetzen.Die einzige positive, nicht in der Unterdrückung der eigenen Aggres-sivität sich erschöpfende Leistung der feudalen Herrschaft besteht so amEnde darin, dass ihre Vertreter den in klösterlichen Kollektiven organi-sierten und im Rahmen der säkularen Gesellschaft als klerikales Corpusetablierten Nachfolgern Christi eine unantastbare, sakrosankte Existenzkonzedieren beziehungsweise sogar aktiv Schutz und Förderung ange-deihen lassen und sich damit denn auch um die Heilsperspektive ihrerUntertanen verdient machen, sprich, dafür Sorge tragen, dass letztereungestörten Zugang zum Klerus haben und regelmäßigen Umgang mitihm pflegen können, um in den Besitz jener kultischen und moralischen

Segnungen zu gelangen, die unabdingbar für den Gewinn des künftigenHeils, des ewigen Lebens, sind.

Aber diese Segnungen erhalten jene kleinen Gruppen von Untertanen,denen die räumliche Affinität zu den klösterlichen Kollektiven bezie-hungsweise die berufliche Attraktivität für sie ermöglicht, sich ihrem

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Schutz und Schirm zu unterstellen und quasi an ihrer Sakrosanktheit

teilzuhaben, sich mit anderen Worten dem feudalen Untertanenstatus,der sonst ihr Los wäre, zu entziehen – diese Segnungen erhalten jenekleinen Gruppen ja nun direkt und ohne dafür die Zwangsrekrutierungund fronwirtschaftliche Ausbeutung durch die feudale Herrschaft in Kauf nehmen zu müssen. Frei vom politischen Zugriff und den ökonomischenForderungen der feudalen Herrschaft, können sie mit den klösterlichenKollektiven eine Symbiose pflegen, die, abgesehen vom bloß negativenGewinn ihrer politischen und ökonomischen Freisetzung, ihnen mehrnoch ein offenkundiges Positivum, nämlich die Ersetzung der Pseudore-ziprozität des herrschaftlichen Verhältnisses durch wirklichen Austausch,durch eine echte, Leistung mit Gegenleistung kompensierende Beziehungzum wechselseitigen Nutzen bringt.

Und diese positive Austauschbeziehung beschränkt sich nicht auf diespirituellen Gegenleistungen, mit denen die Mönche den laienbrüder-lichen Beitrag zur Erhaltung des klösterlichen Kollektivs honorieren,erschöpft sich nicht darin, dass das klösterliche Kollektiv die materiellenDienste, die ihm sein laizistischer Anhang leistet, natürlich zuvörderstund mit Lust durch jene kultischen und moralischen Segnungen vergilt,die es im Übrigen ja auch für die säkulare Gesellschaft insgesamt be-reithält und durch die es seine territoriale Eigenständigkeit und politischeUnabhängigkeit im Rahmen der säkularen Gesellschaft rechtfertigt. Die

Austauschbeziehung erstreckt sich vielmehr ebenso wohl aufs rein Mate-rielle, da das klösterliche Kollektiv aufgrund der erwähnten historischenUmstände, die es ins Leben rufen, ja nicht nur betet, nicht nur seinerhimmlischen Bestimmung lebt, sondern auch arbeitet, dies himmlisch bestimmte Leben durch eigenhändig-irdische Anstrengung fristet undunterhält, und da es diese, vornehmlich der fundamentalen Versorgung,der Lebensmittelerzeugung durch Landbau, geltende irdische Anstren-gung und eigenhändige Arbeit, unabgelenkt durch sonstige irdischeBegierden oder Interessen und gewöhnt an die Disziplin und Ordnungmonomaner Zielgerichtetheit, mit so viel Erfolg unternimmt, dass der

Lohn der Anstrengung, die Frucht der Arbeit den mönchischen Eigenbe-darf, das zur Erhaltung des klösterlichen Kollektivs selbst Notwendige bald schon ebenso zunehmend wie zuverlässig übersteigt.

Dieser produktive Überschuss steht nun also, da die auf Verzicht undArmut, auf Entsagung und Askese gegründete Lebensweise der Mönche

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seine Verwendung als Überfluss, seinen quasiherrschaftlichen Konsum

verbietet und ausschließt, dem laienbrüderlichen Anhang der klösterli-chen Gemeinschaft als Gegenleistung für die vornehmlich spezialisiert-handwerklichen Leistungen, die er für letztere erbringt, zur Verfügungund begründet recht eigentlich die Symbiose zwischen beiden Gruppen,ihr reales, beiden zum wechselseitigen materiellen Nutzen gereichendesAustauschverhältnis. Indem die Laienbrüder für die Klostergemeinschaftvornehmlich handwerkliche Arbeiten verrichten, tun sie dies nicht inFronarbeit, finden sie sich mit anderen Worten nicht mit Gegenleistungenabgefunden, deren Zirkelschlüssigkeit darin besteht, dass sie ihnen imGrunde nichts weiter bieten als die Möglichkeit, ihre Arbeit in Friedenund ungestört zu verrichten, und erschöpfen sich die Gegenleistungenauch nicht im Spirituellen, nicht in der kultischen Sanierung und morali-schen Aufrüstung, die ihnen hinsichtlich des heilsperspektivisch letztenZwecks ihres Daseins zuteil wird, sondern sie können mehr noch er-warten, im realen Austausch für ihre materiellen Leistungen von derKlostergemeinschaft eine nicht minder materielle Kompensation zu er-halten, eine Kompensation, die sich an dem in materiellen Tauschhan-delsbeziehungen seit jeher gültigen empirischen, will heißen, auf denerfahrungsgemäßen Vergleich der zur Produktion der Sachen jeweilsaufgewandten leiblich-seelischen Kräfte, auf ein Gleichgewicht zwischenVerausgabung von Kraft und Kraftschöpfen gerichteten Äquivalenzprin-

zip bemisst.Und zu dem spirituellen Gewinn und dem materiellen Nutzen, die

im Unterschied zur territorialherrschaftlich-fronwirtschaftlichen Arbeitden Laien ihre unter dem Schutz und Schirm der Klostergemeinschaftgeleistete und auf diese bezogene Arbeit bringt, kommt noch ein wei-terer nicht zu verachtender Vorteil hinzu, der das betrifft, was man alsden industriellen Aspekt solcher Arbeit bezeichnen könnte. Er ergibtsich aus der Tatsache, dass die mönchischen Kollektive als die einzigeEinrichtung, die sich direkt und in toto aus den Zeiten des RömischenReiches herleitet und in einer Art von historischer Kontinuität aus der

imperialen Vergangenheit in die feudale Gegenwart hinüberreicht, wegenihrer in der monotheistischen Schriftgläubigkeit, dem Glauben an dieHeilige Schrift, an die Schrift als authentische göttliche Ausdrucks- undMitteilungsform begründeten schriftkulturellen Orientierung, um nichtzu sagen, literaten Fixierung als Erbe und Verweser all dessen firmieren,

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was das Römische Reich und die wiederum von ihm beerbten anderen

mittelmeerischen Kulturen an Bildung, Wissenschaft und Technik auf-zuweisen hatten – jedenfalls soweit diese Erbschaft in schriftlicher Formniedergelegt und festgehalten wurde und soweit sie, nicht zuletzt dankder mönchischen Schriftgläubigkeit, die Wirren und Zerstörungen desimperialen Konkurses überlebt hat.

Nicht, dass die mönchischen Kollektive auf diese zivilisatorische Erb-schaft von Haus aus besonderen Wert legten, auf ihre Überlieferung undPflege besonders erpicht wären! Es ist vielmehr ihre der Tatsache, dassseit der Zeit des Exils, seit dem Verschwinden Gottes in einer einzigund allein noch durch die messianische Präsenz revozierbaren gnosti-schen Absenz, das Gotteswort ausschließlich Schriftform hat, geschuldeteSchriftgläubigkeit ganz allgemein, die sie nötigt, jedwede schriftlichenZeugnisse der zugrunde gegangenen Zivilisation, Schriftzeugnisse wel-cher Art auch immer, aufzubewahren und ihren Bibliotheken einzuverlei- ben. Ihr Interesse finden von Haus aus nur die heiligen Schriften selbstund deren Exegesen durch Angehörige des klerikalen Corps. Wenn siedie anderen, profanen, irdischen Angelegenheiten gewidmeten Schriftenstudieren, dann nur, um darin weitere Belege für die Wahrheit des Gottes-wortes, prophetische, philosophische, moralische Bestätigungen für denHeilsprozess zu finden, den Gott mit der Geschichte seines auserwähltenVolkes und dem Leben und Sterben seines eingeborenen Sohnes gewirkt

hat.Immerhin aber gelangen sie auf diese Weise dazu, das in ihren Klöstern

versammelte profane Schrifttum in Augenschein zu nehmen, und hier er-weist sich nun unter den besonderen Bedingungen, unter denen sie leben,unter den Bedingungen eines Daseins, das sie nur dann der himmlischenPerspektive, der spirituellen Erlösung verschreiben können, wenn siezugleich selber für seine irdische Erhaltung, seinen materiellen UnterhaltSorge tragen, die praktische Brauchbarkeit jener Erbschaft der zugrundegegangenen Zivilisation. So gewiss sich die Mönchskollektive unter dengegebenen Umständen nicht ausschließlich dem Orare, dem Denken

ans ewige Leben, weihen können, sondern auch und zugleich mit demLaborare, der Sorge fürs zeitliche Dasein, befasst sind, so gewiss erkennensie die Tauglichkeit jener um Themen wie Agronomie und Gartenbau,Hauswirtschaft, Pflanzen- und Heilkunde, Mathematik, Astronomie, Me-chanik und Baukunst kreisenden profanen Schriften wenn schon nicht für

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den letzten Zweck des Oratoriums, des lebenspendenden Gottesdienstes,

so doch für die näheren Absichten des Laboratoriums, der daseinserhal-tenden Selbstversorgung.Was sie aus jenen Schriften erfahren, was das in ihnen niedergelegte

Wissen sie lehrt, taugt allgemein gesprochen dazu, ihre Daseinsbedingun-gen zu verbessern, ihren Lebensstandard zu heben, ist spezifischer gesagtdazu angetan, ihnen durch die astronomisch detaillierte Antizipation des jahreszeitlichen Zyklus und die kalkulatorisch fundierte Planung der inseinem Verlauf zu erbringenden Arbeitsleistungen eine zuverlässigereund effektivere Organisation ihrer ökonomischen Aktivitäten zu ermög-lichen, sie beim Bau von Kult-, Wohn- und Nutzgebäuden anzuleitenund auf geometrische Konstruktionsmethoden und architektonische Lö-sungen verfallen zu lassen, sie mit Werkzeugen, Meliorisationsverfahren,Kulturen und Anbautechniken bekannt zu machen und ihnen Formender Verarbeitung und Konservierung von Nahrungsmitteln und der Vor-ratswirtschaft und Haushaltsführung nahezubringen, ihren biologischenStoffwechsel zu regulieren und ihre Widerstandskraft gegen Krankheiten beziehungsweise ihre Heilaussichten bei Siechtum und Verletzungen zuerhöhen.

Ihre eigentlich nur ad majorem gloriam dei gedachte, unter den gege- benen Umständen aber der eigenen Lebensführung zugute kommendeBeschäftigung mit der wissenschaftlich-technischen Hinterlassenschaft

der untergegangenen Zivilisation hat zur Folge, dass die klösterlichenKollektive einen industriellen Entwicklungsschub durchmachen, derihnen in qualitativer ebenso wie in quantitativer Hinsicht, in Sachen Erfin-dungsreichtum ebenso wie in punkto Produktivkraft einen klar erkenn- baren Vorsprung vor ihrer feudalherrschaftlich-säkularen Umgebungverschafft und sie vor dem Hintergrund der fronwirtschaftlichen Orga-nisationsformen und herkömmlichen Produktionsprozesse der letzterenals ebenso effektive Musterbetriebe wie progressive Versuchsanstaltenausweist. Und von diesem dem Entwicklungspotenzial des antiken Erbesentspringenden industriellen Vorsprung profitiert nun natürlich auch das

laienbrüderlich-handwerkliche Glacis der Klosterkollektive, sei’s indirektdadurch, dass die Laien sich an dem Tun der Mönche ein Beispiel nehmenund sich Verfahrenstechniken, Produktionsmittel und Produktformen bei ihnen abschauen, sei’s direkt dadurch, dass sie vom Wissensfun-dus der Mönche zehren und sich bei ihnen Anregungen und Hilfen für

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die Herstellung praktischer Apparaturen, die Erfindung mechanischer

Werkzeuge und die Lösung technischer Probleme holen können.Des spirituellen Gewinns gewiss, den der direkte kultische und mora-lische Einfluss der klerikalen Gemeinschaft ihnen im Blick auf ihr himm-lisches Leben beschert, und des materiellen Nutzens teilhaftig, den derGüteraustausch mit dem Landwirtschaft treibenden Klosterkollektiv ih-nen in Ansehung ihres irdischen Daseins bringt, können die unter demSchutz und Schirm der klösterlichen Institution niedergelassenen Laien-gruppen sich auf ihre diversen, handwerklich spezialisierten Arbeitenkonzentrieren und dank teils des praktischen Vorbilds, teils des theoreti-schen Beistands der Mönche Produkte kreieren und Produktionsniveauserreichen, die in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht weit übertref-

fen, was das in Sachen Arbeitsmoral, Spezialisierung und technischemKnow-how mit Abstand primitivere Umfeld, die feudal verfasste, säkula-re Gesellschaft zustande bringt.

Die produktivitätsbedingten Überschüsse, die die klösterlich fundierten hand-werklichen Produzentengemeinschaften erzielen, rufen die mit dem Imperiumzugrunde gegangene kommerzielle Funktion erneut auf den Plan. Diese ist abernun keine aus herrschaftlichen Verhältnissen herausprozessierte und mit Hilfe ei-nes aristokratischen Moments von territorialer Herrschaft eine handelsstädtisch-handwerkliche Produzentengemeinschaft kreierende Einrichtung, sondern jetzt

 präsentiert sie sich umgekehrt als die Kreation einer im herrschaftlichen Kon-text dank klösterlicher Autonomie spontan ins Leben tretende Gemeinschafthandwerklicher Produzenten.

Und die Folge dieses in qualitativer wie in quantitativer, in produktspe-zifischer wie in produktionseffektiver Hinsicht avancierten Produktions-niveaus sind gefragte Güter in überschüssiger Menge, die weder von derauf ein bedürfnislos einfaches Leben, auf subsistenzielle Bescheidung ein-geschworenen mönchischen Gemeinschaft als Tauschobjekte in Anspruchgenommen noch von einer als Fronherr bereitstehenden Feudalherrschaft

als Überfluss mit Beschlag belegt werden und die deshalb, um dennochvon Nutzen zu sein, nach einem anderen, in den langen Wirren des impe-rialen Konkurses und der postimperialen Konkursabwicklung fast zumErliegen gekommenen, fast verschwundenen gesellschaftlichen Mecha-nismus, der kommerziellen Funktion, verlangen. Sollen die von einer

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Erfindungsgabe und einer Produktivkraft, denen das antike Erbe auf die

Sprünge hilft, erzeugten überschüssigen Güter nicht nutzlos produziertwerden, so müssen sie an den Mann und an die Frau gebracht werden.Und zwar – da ja in diesen durch die klösterlichen Exklaven fundiertenFreiräumen die im Übrigen herrschende Form fronwirtschaftlicher Ex-ploitation und territorialherrschaftlicher Expropriation außer Geltung ist– nach dem gleichen Modus, nach dem sie auch im Rahmen eben jenesFreiraums an den Mann beziehungsweise den Mönch gebracht werden:mittels sächlicher Transaktionen, Gütertausch.

Dabei ist freilich von Anfang an klar, dass solche zur Nutzung desgleichermaßen qualitativen und quantitativen Überschusses, den derklösterliche Freiraum produziert, erforderlichen Transaktionen nicht auf dem Niveau des in letzterem selbst praktizierten einfachen, unmittel- baren Tauschhandels verharren und nicht nach seinem Muster vor sichgehen können. Zu groß nämlich sind die räumlichen Entfernungen, dieüberwunden werden müssen, und zu kompliziert die gesellschaftlichenBeziehungen, die geknüpft und unterhalten werden müssen, um dieTransaktionen statthaben und von Erfolg gekrönt sein zu lassen, als dassder im klösterlichen Wirtschaftsraum eingebürgerte unmittelbare Gü-tertausch der Situation noch gerecht werden könnte. In der Klosterge-meinschaft selbst, die in ihrer mit den handwerklichen Laiengruppenetablierten Symbiose bereits ausreichend versorgt und in ihrer kargen

Lebensweise auch nicht weiter bedürftig ist, lassen sich nämlich für diedank des Erfindungsgeists und der Produktivkraft, die das antike Erbenährt, wachsenden Überschüsse, eben weil es Überschüsse sind, kei-ne Abnehmer finden. Im Gegenteil, die Klostergemeinschaft verschärftden durch die handwerkliche Überschussproduktion erzeugten und inRichtung Austausch wirkenden Druck noch dadurch, dass sie in ihremebenfalls durch das antike Erbe inspirierten landwirtschaftlichen Betriebihrerseits Überschüsse produziert, die, um nicht unnütz erzeugt wordenzu sein und den menschlichen Sinn fürs Haushalten mit den eigenenFähigkeiten und Kräften nicht zu frustrieren und zu demotivieren, nach

Austausch verlangen.Und ebenso wenig erwarten lässt sich, dass die vom mustergültigenWirtschaftsraum der klösterlichen Kollektive produzierten Überschüs-se in den angrenzenden Territorialherrschaften absetzbar sind, da dies ja entsprechende, durch ihre qualitative Beschaffenheit nicht weniger

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als durch ihr quantitatives Vorhandensein als Tauschobjekte taugliche

Überschüsse bei den territorialen Nachbarn voraussetzte, die aber das besagte Produktivitätsgefälle zwischen den beiden Wirtschaftsräumen,die Tatsache, dass technisch avancierte, ihre Selbstversorgung in eigenerRegie und mit der Intensität, die eine vom Ingenium geleitete Arbeitgestattet, betreibende Gemeinschaften technisch rückständigen, ihrenUnterhalt auf den extensiven Einsatz und die gedankenlose Ausbeu-tung fremder Arbeitskraft gründenden Herrschaften gegenüberstehen,praktisch ausschließt.

Die klösterlichen Gemeinschaften beziehungsweise die an sie ange-lehnten laizistischen Gruppen müssen also, wenn sie ihre Überschüsse

in der gewohnten Weise, per modum des Austauschs, loswerden wollen,weiter ausgreifen, über die benachbarten herrschaftlichen Territorienhinausgelangen, um sei’s in anderen, ähnlich avancierten, ins territori-alherrschaftliche Gelände eingesprengten, klerikal fundierten Exklaven,sei’s in entfernten, durch andere Produkte oder günstigere Produkti-onsbedingungen ausgezeichneten Regionen die für den Absatz ihrerÜberschüsse erforderlichen Tauschobjekte ausfindig zu machen. Undsie müssen, um ihre überschüssigen Produkte gegen Güter tauschen zukönnen, an denen es ihnen mangelt oder nach denen es sie verlangt, nichtnur räumlich ausgedehnte Transporte und zeitlich längere Reisen in Kauf 

nehmen, sie müssen mehr noch damit rechnen, dass sie erst auf Umwe-gen, sprich, mittels eines mehrere Stationen durchlaufenden Ringtauschs,an Tauschobjekte gelangen, die als Gebrauchsgegenstände beziehungs-weise Bedürfnisbefriedigungsmittel ihr eigenes Interesse erregen. Siemüssen mit anderen Worten damit rechnen, dass sie zwar in der Ferneauf Leute stoßen, die mit den Überschüssen, die sie mitführen, etwas an-fangen können, dass die Tauschobjekte, die diese Leute anzubieten haben,aber nicht notwendig und vielmehr nur im Ausnahmefall solche sind, mitdenen wiederum sie etwas anfangen können, und müssen deshalb darauf vorbereitet sein, mit jenen, sie selber nicht interessierenden Gütern, die

sie eingetauscht haben, ihre Handelsfahrt fortzusetzen, auf der Suchenach wiederum anderen Gütern, mit denen sie vielleicht auch nichtsanfangen können, die sich aber an einem dritten Ort als austauschbargegen Güter erweisen, die tatsächlich für sie als Mangelware oder akutesBefriedigungsmittel in Betracht kommen.

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Die Bewältigung dieser ebenso sehr räumlich-zeitlich erschwerten wie

prozesstechnisch komplizierten Tauschsituation erfordert nun aber dieEinführung zweier Neuerungen, die das vor Ort des klosterzentriertenWirtschaftsraums geübte unmittelbare Tauschsystem definitiv sprengenund die freilich, insofern sie nichts weiter bewirken als die Überfüh-rung jenes unmittelbaren Tauschs in den vermittelten Austausch, den diezugrunde gegangene antike Zivilisation als kommerzielle Transaktionkannte und praktizierte, sich zugleich als Neuerungen dementieren undals simple Wiederherstellung eines zwischenzeitlich, in den Wirren desimperialen Konkurses, verloren gegangenen Status quo ante zu erkennengeben.

Zum einen nämlich impliziert die räumlich-zeitliche Erschwerungder Tauschbeziehungen die Notwendigkeit, das ganze Geschäft von denProduzenten selbst auf Mittelsleute zu übertragen, die damit befasstsind, die Tauschbeziehungen zu knüpfen und aufrechtzuerhalten, denTransport und Vertrieb der Tauschobjekte ins Werk zu setzen und durch-zuführen, kurz, die Sorge um die kommerzielle Nutzung der Überschüssezu ihrer, sie als ihre Spezialaufgabe hauptberuflich okkupierenden Sachezu machen. Es bildet sich mit anderen Worten ein Stand von Händlernoder Kaufleuten, deren Profession es ist, zwischen den klösterlichen Ex-klaven beziehungsweise den avancierten Wirtschaftsräumen, die sichum sie herum formieren, und den vereinzelten territorialen Regionen,

in denen klimatisch, geographisch oder biologisch besondere Gegeben-heiten für natürlichen Überfluss sorgen, eine Verbindung herzustellenund zu halten, um auf den geschaffenen Verbindungswegen, den baldschon alle herrschaftlichen Territorien durchziehenden Handelsrouten,die in jenen industriell avancierten Wirtschaftsräumen und von der Natur begünstigten Regionen erzeugten Überschüsse zu vertreiben und sie am jeweils anderen Ort ihre Abnehmer finden, sprich, sich nach Maßgabeder lokal und regional verschiedenen Bedürfnisse und Versorgungslagegegeneinander austauschen zu lassen.

Es kommt, wenn man so will, zu einer Wiederholung der in den frühen

Zivilisationen, dem vorklassischen Altertum, statthabenden Entwick-lung, in deren Verlauf Handelsfahrer, reisende Kaufleute, zwischen denverschiedenen Territorialherrschaften hin und her pendeln, um die Über-schüsse der einen Herrschaft, die von einer anderen Herrschaft als Befrie-digungsmittel goutiert beziehungsweise als Mangelware begehrt werden,

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gegen Überschüsse dieser anderen Herrschaft auszutauschen, die wie-

derum der ersteren als Befriedigungsmittel oder Mangelware zusagen –wobei jene Kaufleute anfangs nur als Kommissionäre und Beauftragte, alsDiener und Faktota der einen oder anderen Herrschaft agieren, in demMaße aber, wie sie kommerziellen Reichtum in eigenen Händen akku-mulieren, Selbständigkeit und eine von territorialherrschaftlicher Beauf-tragung oder Bevormundung relativ dispensierende Bewegungsfreiheitgewinnen und mittels des in ihren Händen akkumulierten kommerziellenReichtums direkte, nicht mehr territorialherrschaftlich kontrollierte be-ziehungsweise fronwirtschaftlich vermittelte Austauschbeziehungen zuProduzentengruppen aufbauen, bis schließlich in Regionen, wo der ter-ritorialherrschaftliche Einfluss und Zugriff aus Gründen der räumlichenDistanz, der geographisch geschützten Lage oder der ethnisch-politischenEigenart der Betreffenden schwach ist und wo zugleich die Bedingungenfür ein weitgespanntes Handelsnetz günstig sind, an Küsten und auf Inseln, die am Rande der Territorialherrschaften beziehungsweise in ihrenÜbergangszonen liegen – bis also schließlich dort im dynamischen Kraft-feld beziehungsweise Kristallisationspunkt der kommerziellen FunktionProduzentengemeinschaften entstehen, die sich in relativer ökonomischerSelbstbestimmtheit und politischer Unabhängigkeit zu behaupten vermö-gen und einen von den fronwirtschaftlichen Territorialherrschaften, die bis dahin die Norm bilden, markant verschiedenen, wenn auch mit ihnen

ökonomisch kontrahierenden und sich politisch arrangierenden neuenGesellschaftstyp, die antike Handelsstadt, ins Leben rufen.

 Jene politisch-ökonomisch so überaus folgenreiche Gruppe von Händ-lern und Kaufleuten tritt also unter den postimperialen, feudalgesell-schaftlichen Bedingungen erneut in Erscheinung, nur dass jetzt die vonfronwirtschaftlicher Ausbeutung relativ dispensierte und der territo-rialherrschaftlichen Bevormundung relativ entzogene Produzentenge-meinschaft keineswegs das Resultat oder, wenn man so will, den Effektund Ausfluss, sondern im Gegenteil die Voraussetzung und in der Tatden Grund und Anlass der kommerziellen Aktivitäten bildet. Die von

fronwirtschaftlicher Ausbeutung und territorialherrschaftlicher Kontrollerelativ freie Produzentengemeinschaft im Rahmen feudalgesellschaftli-cher Verhältnisse ist mit anderen Worten nichts, was durch das Wirkender kommerziellen Funktion erst aus den feudalgesellschaftlichen Ver-hältnissen herausprozessiert und als deren paradoxes Geschöpf zustande

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gebracht werden müsste, sondern sie ist eine unabhängig von den feu-

dalgesellschaftlichen Verhältnissen und wie von selbst sich einstellende,unmittelbare Gegebenheit, die nun umgekehrt nach der kommerziellenFunktion verlangt und diese quasi aus dem Hut ihres produktiven Tunsund Beginnens hervorzaubert.

Und unmittelbare Gegebenheit und damit quasi natürliche Voraus-setzung für das Wiederaufleben kommerzieller Aktivitäten ist die unterfeudalgesellschaftlichen Verhältnissen wie von selbst entstehende Pro-duzentengemeinschaft nun auch nicht etwa in der Gestalt, die sie in derAntike hatte, als ein ebenso prekäres wie peripheres Gebilde, eine anden Rändern und in den Interstitien der herrschaftlichen Territorien sich

einnistende Abnormität, eine sich gegen die Allmacht der territorialenHerrschaft nur mühsam verwahrende Eigenheit, sondern jetzt ist sie eininmitten der herrschaftlichen Territorien allenthalben raumgreifenderSonderfall, eine in den feudalen Herrschaftszusammenhang, wie manwill, eingebettete oder eingesprengte und die Regel feudaler Herrschaftebenso sehr systemisch-generell bestätigende wie empirisch-individuell bestreitende und in diesem Sinne ihrerseits regelmäßige Ausnahme. An-ders als die von der Fronwirtschaft befreiten antiken Produzentengemein-schaften, die, weil sie durch das Wirken der kommerziellen Funktionaus dem territorialen Herrschaftszusammenhang quasi herausgesprengt

werden und sich ihm gegenüber behaupten müssen, von den territorialenHerrschaften auch nur als unbezwingliche Kontrahenten akzeptiert bezie-hungsweise als nützliche Lieferanten toleriert werden, finden sich die vonder Fronwirtschaft ausgenommenen postimperialen Produzentengemein-schaften neuen Typs, weil sie dank ihrer Symbiose mit den die Territorienallenthalben perforierenden Pforten zum Himmel, den sakralen Bereichender Klosterkollektive, in den territorialen Herrschaftszusammenhangquasi eingesprengt und in seiner Mitte sicher aufgehoben sind, von denterritorialen Herrschaften als in die territoriale Sonderstellung der Klos-terkollektive einbezogene und an deren Selbsterhaltungsunternehmen

partizipierende Laiengruppen respektiert beziehungsweise sanktioniert.Damit ist der entscheidende Grund und tragende Boden für die so-wohl die dynamisch-systematische Anordnung der Elemente, die Ge-schehensabfolge, als auch die topisch-phänomenologische Beschaffenheitdes Ereignisses, die Erscheinungsweise, betreffende Differenz benannt,

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in der sich die Produzentengemeinschaft neuen Typs gegenüber der Pro-

duzentengemeinschaft der antiken Handelsstadt präsentiert: Es ist dieExistenz jener klösterlichen Bezirke, jener klerikalen Exklaven, die denProduzentengemeinschaften gleichermaßen als neutrales Entstehungsme-dium und als katalytisches Prozessferment dienen und in deren Schatten beziehungsweise unter deren Schutz und Schirm die letzteren sich quasinaturwüchsig, als durch die günstigen Lebens- und Wachstumsbedin-gungen, die das neutrale Medium und katalytische Ferment ihnen bietet,ebenso sehr beförderte wie herausgeforderte zwanglose Form gesell-schaftlicher Reproduktion entwickeln können.

Dieses neutrale Medium und katalytische Ferment, diese klösterliche

Vitrine oder Retorte, worin sie entstehen und gedeihen, erspart der Pro-duzentengemeinschaft postimperialen Typs zugleich jene soziale Zwie-schlächtigkeit, von der die antike Produzentengemeinschaft am Endezerrissen wird, jene politische Kompromissbildung, die der Polis letztlichzum Verderben gereicht. Weil die alte Produzentengemeinschaft erstmühsam durch die kommerzielle Funktion aus dem territorialherrschaft-lichen Kontext, als dessen integrierendes Moment, dessen Faktor oderFaktotum die letztere selbst von Haus aus firmiert, herausprozessiertwerden muss, bleibt, um jene von der kommerziellen Funktion inszenier-te Emanzipationsbewegung zu einem glücklichen Abschluss zu bringen

und für die von der territorialen Herrschaft emanzipierte neue Gemein-schaft eine bleibende Bühne, einen haltbaren Zufluchtsort und Freiraumzu finden, den Akteuren gar nichts anderes übrig, als ein wie immer peri-pheres beziehungsweise marginales Stück des territorialherrschaftlichenKontextes für sich zu gewinnen und auf ihre Seite zu ziehen, sich mitdiesem territorialen Teil gegen das Ganze zu verbünden und es in einBollwerk gegen alle eventuellen Rekuperations- und Redintegrationsge-lüste des Ganzen umzufunktionieren. Dem die Emanzipationsdynamikentfesselnden und die Produzentengemeinschaft neuen Typs ins Lebenrufenden kommerziellen System bleibt, eben weil es von Haus aus oder

an sich nur funktionelles Moment des territorialherrschaftlichen Kom-plexes ist, gar nichts anderes übrig, als mit einem aus geographischen,demographischen oder ethnischen Gründen zum Partikularismus dispo-nierten Segment des Komplexes zu komplizieren und dieses Segment zueiner sich gegenüber dem Gesamtkomplex behauptenden Basis seines

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dauerhaften Bestehens und seines dank der neuen Produzentengemein-

schaft, die hier ihre Heimstatt findet, erfolgreichen Wirkens werden zulassen.Keine antike Handelsstadt, für die nicht diese Verbindung aus treiben-

dem kommerziellem Element und tragendem territorialem Fundamentkonstitutiv wäre! Keine Polis oder Urbs mit anderen Worten, die ohneEinbettung in ein aristokratisch-grundherrschaftliches Milieu und ohnedas gemeinschaftsdienliche Engagement, die liturgische Unterstützungdieser dem theokratisch-territorialherrschaftlichen Komplex entrisse-nen, in einen Bundesgenossen der kommerziellen Unternehmung undihrer Produzentengemeinschaft umgewendeten und dafür mit sozialemAnsehen und politischer Macht, mit der Befreiung vom despotischenRegiment des theokratischen Kultdienstes, des rituellen Funktionärstums belohnten Aristokratie auskäme! Diese ihrer angestammten Heimat, dertheokratischen Kultgemeinde, entfremdete und den liturgischen Rahmenfür die neue handelsstädtische Gemeinschaft abgebende Aristokratie, die,verführt durch die materiellen und ideellen Prämien, die letztere für sie bereit hält, die alten Bindungen selbstherrlich kappt und die an andererStelle beschriebene Konversion vom Kult der die Welt affirmierendengöttlichen Mächte zu dem des die Welt negierenden wesentlichen Seinsvollzieht – sie ist es, die zum neuen Gemeinwesen die nötige territorialeVerankerung, militärische Widerstandskraft und politische Selbstbehaup-

tungsenergie mitbringt und die damit diesem neuen Gemeinwesen aller-erst Halt und Bestand verleiht. Freilich ist sie es auch, die das, was sietatkräftig zu kreieren und zu erhalten dient, am Ende ebenso tatkräftig inden Ruin treibt, weil sie den ökonomischen Spaltungen und Krisen, diedas für die Entwicklung des Gemeinwesens maßgebende kommerziellePrinzip dank seiner Dynamik und revolutionären Durchschlagskraftheraufbeschwört, machtlos gegenübersteht beziehungsweise nur mit denihr vertrauten, letztlich krisenverschärfenden Mitteln einer palliativenDistributionspolitik im Innern und einer offensiven Expansionsstrategienach außen beizukommen bemüht ist.

Auf dieses zweifelhafte und am Ende verderbenbringende liturgischeFundament kann die nicht dem Wirken einer kommerziellen Funktion,die von Haus aus herrschaftlicher Faktor ist, entsprungene, sondern quasiaus der Retorte, in vitro gezeugte Produzentengemeinschaft der feudal-gesellschaftlichen Ära verzichten, weil ihr liturgischer Nährboden eben

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 jenes neutrale Medium des klerikalen Freiraums, jenes Glasgefäß des

klösterlichen Kollektivs ist, das, befasst mit toto coelo anderen Geschäftenals dem Streben nach irdischem Glück und materiellem Wohlergehen, dersich in seinem Kraftfeld sammelnden Produzentengemeinschaft für denSchutz und Schirm, den es ihr bietet, keinerlei ökonomische Gewinnbe-teiligung abverlangt und nicht den geringsten politischen Herrschafts-anspruch ihr gegenüber geltend macht und das in der Tat, zusätzlichzu dem nützlichen Gütertausch, den das symbiotische Verhältnis beiderimpliziert, für die Produzentengemeinschaft günstigste Entwicklungsbe-dingungen schafft, weil es ihr durch die disziplinierte Arbeit, die es selberverrichtet, und durch das überlieferte Schrifttum, das es getreulich be-wahrt und studiert, gleichermaßen als Vorbild und Lehrer, als praktischerPrototyp und technischer Instrukteur zu dienen vermag.

Und im Zuge der gedeihlichen Entwicklung, die ihr dieses klösterlich-künstliche Medium, in dem sie quasi natürlich entsteht, ermöglicht, bringt nun also die Produzentengemeinschaft neuen Typs die kommerzi-elle Funktion wieder ins Spiel: als ihr eigenes Geschöpf, das ganz und garihren besonderen Interessen entspringt und entspricht und von Haus ausmit der umgebenden territorialen Herrschaft und deren Bedürfnissen undAspirationen nichts zu schaffen hat. Sowenig die kommerzielle Funk-tion sich hier in der vormaligen Rolle eines als Faktor der territorialenHerrschaft vorausgesetzten Erzeugers der handwerklichen Produzenten-

gemeinschaft präsentiert und sosehr sie jetzt umgekehrt als originales Ge-schöpf eben dieser handwerklichen Produzentengemeinschaft erscheint,die ihrerseits eine Spontangeburt der ins säkular-herrschaftliche Territo-rium als klerikal-klösterliche Nährböden oder Matrizen eingesprengtenPforten zum Himmel ist, sowenig hat sie nun natürlich auch mit der ter-ritorialen Herrschaft und deren Ansprüchen und Erwartungen von Hausaus etwas gemein und sosehr ist sie durch die Absichten und Pläne ebender Produzentengemeinschaft bestimmt, als deren originale Funktion siewieder ersteht.

Und diese Absichten und Pläne, denen die wiedererstandene kommer-

zielle Funktion dient, betreffen die Überschüsse, die dank des avanciertenStands ihrer Produktion die Produzentengemeinschaft neuen Typs er-zeugt, und beziehen sich auf den Austausch dieser Überschüsse mitandernorts erzeugten Überschüssen, das heißt, mit Gütern, die sich imNormalfall an vergleichbar avancierten, im territorialherrschaftlichen

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Gefüge verstreuten und durch die klerikalen Exklaven, denen sie zuge-

ordnet sind, vor territorialherrschaftlichem Zugriff relativ geschütztenProduktionsstätten sowie im Ausnahmefall in entfernten Regionen findenlassen, die durch natürliche Bedingungen begünstigt und mit Überflussder einen oder anderen Art gesegnet sind.

Die territorialherrschaftlichen Nachbarn kommen wegen ihrer ver-gleichsweisen ökonomischen Primitivität, ihrer technischen Rückstän-digkeit und ihres fronwirtschaftlichen Mangels an Unternehmungs- undInnovationsgeist, als Austauschpartner im Zweifelsfall nicht in Betracht,und so bleibt den an der kommerziellen Verwendung ihrer Überschüsseinteressierten Produzentengemeinschaften gar nichts anderes übrig alsan den territorialherrschaftlichen Nachbarn vorbei mit ihresgleichen undmit von der Natur begünstigten fernen Regionen in Kontakt zu tretenund kommerzielle Transaktionen zu tätigen. Nichts anderes als dies Er-fordernis von im Wortsinne der Präposition “trans” zu verstehendenTransaktionen, von ebenso sehr räumlich ausgedehnten, weite Streckenüberwindenden wie verfahrenstechnisch komplizierten, unter Umstän-den viele Stadien durchlaufenden Austauschprozessen, ruft nun also diekommerzielle Funktion und die sie berufsmäßig wahrnehmende Gruppevon Händlern und Kaufleuten erneut auf den Plan – als ein Bindeglied,eine Vermittlungsinstanz, die, weit entfernt davon, sich auf die territo-rialherrschaftlichen Gebiete zu beziehen und mit deren Herrschaften inKontrakt zu stehen, vielmehr ihren Initiator und Auftraggeber einzig undallein in jenen apart vom System feudaler Herrschaft im Schatten derklerikalen Exklaven wie Pilze aufschießenden Produzentengemeinschaf-ten findet und von Haus dieser seiner Zuordnung aus einzig und alleindie Aufgabe hat, durch ihre Transaktionen jene verstreuten Produzenten-gemeinschaften zu einem System sui generis zusammenzuführen, sie ingegenweltlicher Abstraktheit vom feudalen Herrschaftssystem oder, wiegesagt, an ihm vorbei zu einem funktionierenden Austauschzusammen-hang zu synthetisieren.

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Die durch Überschussproduktion bedingte Überführung des materialen Tauschs

in kommerziellen Austausch bringt die Wiederaufnahme der Geldfunktion, desEdelmetalls in der Rolle eines universalen Austauschobjekts oder allgemeinen Äquivalents mit sich. Der Einsatz des Edelmetalls in seiner regressiv-archaischenBedeutung, seine Verwendung als Tribut, sorgt dafür, dass die feudale Herrschaftden Handel zwischen den Produzentengemeinschaften, dessen Wege nolensvolens durch ihre Territorien führen, tolerieren. Gleichzeitig aber erweisen sichdie Tributzahlungen als List der kommerziellen Vernunft, weil sie die feudalen

 Herrschaften dazu animieren, Handelswaren zu kaufen und so nicht nur dieTribute, sondern in zunehmendem Maße auch ihren eigenen herrschaftlichenThesaurus als Mittel zur konsumtiven Teilhabe am kommerziellen Austausch zunutzen.

Allerdings ist da das Problem, dass stricto sensu an den territorialherr-schaftlichen Nachbarn vorbei oder, wie eben formuliert, in gegenwelt-licher Abstraktheit von ihnen die von den Produzentengemeinschaftenklerikaler Dependenz initiierten kommerziellen Transaktionen sich un-möglich durchführen lassen. So gewiss die feudalen Nachbarn Nachbarnsind und mit ihren Territorien an die Exklaven der klösterlichen Frei-räume angrenzen und sie, die sich deshalb ebenso wohl als Enklaven betrachten lassen, einschließen, so gewiss müssen die kommerziellenTransaktionen durch die feudalen Gebiete hindurch verlaufen und sind

abhängig von der Bereitschaft der Feudalherren, sie passieren zu lassen.Diese Bereitschaft aber lässt sich mitnichten als selbstverständlich voraus-setzen. Im Gegenteil ist damit zu rechnen, dass die Feudalherren die ihrTerritorium durchziehenden Händler als in ihre Gewalt gegebene Fremdeund die Waren, die sie mit sich führen, als ihnen kraft ihrer territorialenHoheitsrechte zustehendes Beutegut betrachten.

Schließlich bewegen sich anders als die im Schatten und unter demSchirm der klösterlichen Kollektive niedergelassenen Produzentenge-meinschaften selbst, die durch die topische Nähe zu und ökonomischeVerbindung mit dem klerikalen Freiraum von dessen Unantastbarkeit

profitieren, jene für die Produzentengemeinschaften aktiven Händlerquasi im offenen Gelände der feudal verfassten säkularen Gesellschaftund finden sich damit automatisch der Herrschaft ausgeliefert, die indieser Gesellschaft Gewalt übt und Gericht hält. Und mag sich die Ge-waltübung und Gerichtsbarkeit der säkularen Herrschaft im eigenen

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Gemeinwesen und gegenüber den eigenen Untertanen durch das soziale

Mitbringsel des Stammesbrauchs, die imperiale Hinterlassenschaft vonStaatsgesetzen und die klerikale Zutat der kultisch fundierten christli-chen Moral noch so beschränkt und von Willkür entfernt zeigen, wassollte die säkularen Herren daran hindern, gegenüber den ihr Territoriumdurchziehenden und durch keine Gruppenzugehörigkeit oder Satzunggeschützten Fremden eben diese Willkür herauszukehren, ihnen die mit-geführten Güter abzunehmen und sich für großmütig zu halten, wenn sieden Beraubten immerhin das Leben lassen?

Freilich, wenn die feudalen Herrschaften so verfahren, werden sie vonden ihr Territorium durchziehenden Händlern nicht lange profitieren.Sie werden die aufkeimende kommerzielle Tätigkeit im Keim ersticken,durch ihre Raubsucht und Habgier das im Entstehen begriffene Systemder zwischen den Produzentengemeinschaften neuen Typs verlaufendenTransaktionen im Voraus vereiteln. Wie, wenn sie auf den Gewinn derganzen Beute verzichten, sich mit weniger, einem Tribut, einem Wegezoll,zufrieden geben, und dafür aber das Geschehen aus einem einmaligenoder unverhofft seltenen Ereignis zu einem regelmäßigen, zuverlässig zuerwartenden Vorgang wird? Wie, wenn sie den Durchzug der Händlertolerieren, ihnen gar Schutz und sicheres Geleit zuteil werden lassen, unddafür stipulierte Zuwendungen, einen Teil des Handelsguts als quasiVermittlungsgebühr erhalten?

Recht geleitet und mit Verstand begabt, lässt sich eben die Raubgierund Habsucht der feudalen Herrschaft, die dem aufkommenden Systemkommerzieller Transaktionen zum frühen Verderben zu gereichen droht,in einen Anreiz und Köder verwandeln, der die feudale Herrschaft imgenauen Gegenteil jenem System als Wegbereiter und Schutzherr zurSeite springen lässt. Bleibt allerdings die Frage, wie es den Händlerngelingen soll, für ihre feudalen Schutzherren auch immer einen sie inter-essierenden und befriedigenden Tribut und Wegezoll zur Hand zu haben,ganz zu schweigen von dem Problem der quantitativen Zumessung undpraktischen Abtrennung des den Schutzherren jeweils als Tribut und

Wegezoll zu überlassenden Handelsguts.Aber da ist ja auch noch die zweite, bislang unerwähnt gebliebeneNeuerung, die mit dem Bedürfnis der Produzentengemeinschaften neuenTyps, ihre Überschüsse nutzbringend zu verwenden, ins Spiel kommtund die sich ebenso wie die erste bei näherem Hinschauen als bloße

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Wiederaufnahme einer bereits in den Tagen der alten Handelsstädte und

in den Zeiten des Imperiums gängigen und in der Tat grundlegenden Ein-richtung erweist. Wie nämlich die durch die Produzentengemeinschaftenneuen Typs geschaffene Situation wegen der mit ihr gegebenen räumlich-zeitlichen Ausdehnung der Tauschbeziehungen die Wiedereinführungvon Händlern und Kaufleuten erforderlich macht, von kommerziellenMittelsmännern oder Maklern, die von Berufs wegen mit der Herstellungund Pflege eben jener Tauschbeziehungen befasst sind, so lässt sie zu-gleich wegen der in ihr implizierten prozesstechnischen Komplizierungoder Vernetzung der Tauschbeziehungen den erneuten Einsatz einer alsallgemeines Äquivalent firmierenden Universalware, des aus Edelmetall

 bestehenden und als ein Passepartout für den Zugang zu allen anderenWaren dienenden Geldes nötig werden.Nötig wird das in der Funktion von allgemeinem Äquivalent, Geld,

eingesetzte Edelmetall aus ganz und gar systemeigenen Gründen, ausGründen mit anderen Worten, die ganz und gar in der Logik des sichzwischen den Produzentengemeinschaften neuen Typs anbahnendenSystems von Transaktionen liegen: weil es das probate Mittel ist, umden als Normalfall der Handelstätigkeit sich erweisenden Ringtausch,das kommerzielle Verfahren, bei dem mehrere Tauschakte durchlau-fen werden müssen, um ein anfängliches Produkt, das überschüssig ist,

schließlich durch ein Gut, das gebraucht wird, zu ersetzen – um alsodies im Zweifelsfall erforderliche Ringtauschverfahren vergleichsweisekomplikations- und reibungslos zu bewältigen. Indem das Edelmetallabwechselnd die zum Tausch gebrachten Objekte repräsentiert und balddas überschüssige Produkt, bald das benötigte Gut vertritt, dient es als einÜbergangsmoment, ein Zwischenglied, das aus dem Tausch allererst denso zu nennenden, weil Offenheit, Wahlfreiheit implizierenden Austauschwerden lässt und nämlich den einfachen, einmaligen Platzwechsel derObjekte, der nur Erfolg verheißt, wenn sich das gewünschte Objekt bereitsin greifbarer Nähe befindet, in eine Prozession überführt, die dank seiner

Platzhalterrolle einen wiederholten, eine Reihe von Objekten sukzes-sive durchlaufenden Positionswechsel erlaubt und jedes gewünschteGut, im Prinzip zumindest, in Reichweite rückt. Durch seine Haltbarkeit,seine Teilbarkeit und seine Transportfähigkeit für jene Platzhalterrolle, jene Funktion eines Universalguts oder allgemeinen Äquivalents bestens

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geeignet, fungiert das Edelmetall im Austauschprozess, der per definitio-

nem der Entschränkung und Ausweitung des Tausches zum AustauschProzess ist, gleichermaßen als die Motivation liefernde, in der Bedeutungeines Guts der Güter den Prozess in Gang setzende Copula und als fürKontinuität sorgendes, im Sinne einer Münze des Marktes den Prozess inGang haltendes katalytisches Ferment.

Und dies für die kommerziellen Transaktionen sowohl wegen ihrerräumlich-zeitlichen Ausdehnung als auch wegen ihrer prozesstechni-schen Komplizierung als universales Passepartout, allgemeines Äquiva-lent unentbehrliche Edelmetall ist nun zugleich aber auch das gegebeneGut, das natürliche Mittel, um die jedem Handelsverkehr verderblicheRaubgier und Habsucht der die Produzentengemeinschaften neuen Typsumlagernden Feudalherren auf ein erträgliches Maß zu reduzieren und inmit solchem Handelsverkehr vereinbaren Grenzen zu halten, sprich, dieStrategie einer Antizipation und Verhinderung der von Seiten der Feu-dalherren zu gewärtigenden gewaltsamen Ausplünderung und zwangs-weisen Enteignung durch die freiwillige Leistung bestimmter Tribute, dieregelmäßige Zahlung ausgehandelter Wegezölle in die Tat umzusetzen.

Das natürliche Mittel, um jener Strategie zum Erfolg zu verhelfen unddie Feudalherren zu ködern und kirre zu machen, ist dabei das Edel-metall nicht schon deshalb, weil es durch seine erwähnten physischenEigenschaften, seine Haltbarkeit, Teilbarkeit und Transportfähigkeit, im

Unterschied zu anderen Gütern den Kaufleuten ermöglicht, es jederzeitund in immer gleicher Beschaffenheit mit sich zu führen und den Feu-dalherren nach Bedarf dosiert zuzuwenden, sondern zuvörderst undvor allem wegen seiner kuriosen, quasi metaphysischen Qualität, trotzseines geringen praktischen Nutzens allgemein geschätzt und jedermannwillkommen zu sein oder, um eine an anderer Stelle verwendete For-mulierung aufzugreifen, allgemeine Wertschätzung mit geringem Ge- brauchswert zu verbinden. Ohne die Qualität des Edelmetalls, jedermannals ein ungeachtet seiner fehlenden Lebensnotwendigkeit dringendesDesiderat zu erscheinen, ohne seine von subsistenziellen Erfordernissen

unabhängige allgemeine Attraktivität und seine daraus resultierende undüberall und jederzeit nutzbar zu machende Austauschträchtigkeit wären jene anderen, austauschpraktischen Eigenschaften, die das Edelmetall besitzt, ja überhaupt nicht von Interesse und kämen gar nicht erst zumZuge.

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Diese es zum universalen Tauschobjekt oder allgemeinen Äquivalent prä-

destinierende Qualität aber, trotz seiner subsistenziellen Unerheblichkeitvon jedermann geschätzt und begehrt zu sein, bringt das ins kommerziel-le System übernommene und als zentrale Funktion integrierte Edelmetallaus der territorialherrschaftlichen Sphäre mit, wo es schon lange vor derEntstehung kommerzieller Zusammenhänge als herrschaftlicher Schatzund Reichtumssymbol fungiert. So gesehen, mag es als eine Ironie derGeschichte erscheinen, dass nun das ins kommerzielle System integrierteund in ihm als universales Passepartout des Austauschs firmierendeEdelmetall dazu dient, in der alten thesaurisch-symbolischen Bedeutung,die es als Zoll und Tribut hervorkehrt, dem kommerziellen System, nega-tiv ausgedrückt, Dispens und Verschonung von den Zu- und Übergriffender feudalen Herrschaft zu erkaufen und, positiv gefasst, inmitten derterritorialherrschaftlichen Sphäre und durch sie hindurch Bewegungsfrei-heit und Entfaltungsraum zu sichern. Wie einst, in den Tagen der frühen,theokratischen Territorialherrschaften, das als herrschaftlicher Schatzgehortete Edelmetall dazu herhielt, den in herrschaftlichen Diensten sichentspinnenden kommerziellen Aktivitäten als allgemeines ÄquivalentBahn zu brechen und auf die Sprünge zu helfen, so taugt das in seinerÄquivalentfunktion erneut zum Einsatz gebrachte Edelmetall jetzt, unterBedingungen der neuen, feudalen Territorialherrschaften, dazu, den dankder Freiräume, die die Jenseitsreligion eröffnet, auf der Basis der Pro-

duzentengemeinschaften, die diese Freiräume nutzen, unabhängig vonder feudalen Herrschaft sich entwickelnden kommerziellen Aktivitätendie Unabhängigkeit von der feudalen Herrschaft und Unangefochten-heit durch sie zu erhalten, indem es nämlich, seiner Äquivalentfunktion,seiner kommerziellen Bedeutung sich partiell entkleidend, als Tributund Wegezoll in die Rolle des archaischen Schatzes und Reichtumssym- bols zurückfällt und in dieser Rolle dem kommerziellen System Freiheitvon herrschaftlicher Einmischung und Gewaltübung zu erkaufen dient.Fürwahr, eine Ironie der Geschichte!

Tatsächlich aber eine Ironie der Geschichte, die sich bei näherem Hin-

sehen eher wohl als eine Strategie des Kalküls oder, wenn man so will,List der Vernunft herausstellt. Jenes in der regressiven Eigenschaft einesSchatzes und Reichtumssymbols eingesetzte allgemeine Äquivalent, jenesals Tribut und Wegezoll, sprich, als ein Lösegeld, das die kommerziellenAktivitäten von herrschaftlicher Intervention und Gewalt freikaufen soll,

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der feudalen Herrschaft überlassene Edelmetall erweist sich nämlich,

näher betrachtet, mehr noch als ein Lockmittel, ein Köder, der, währender zum einen die Aufgabe erfüllt, die feudale Herrschaft als einen demkommerziellen System bedrohlichen und abträglichen Faktor zu bannenund fernzuhalten, es zum anderen schafft, eben diese feudale Herrschaftals einen dem kommerziellen System freundlichen und förderlichen Ak-teur anzusprechen und zu rekrutieren. Während, mit anderen Worten,das als Tribut und Wegezoll eingesetzte Edelmetall die feudale Herrschaftals politischen Widersacher und Spielverderber ausschaltet oder, bessergesagt, besänftigt und stillstellt, gibt es ihr gleichzeitig Anlass und regt siedazu an, sich als ökonomischer Interessent und Mitspieler zu versuchen.

Zwar haben, wie bemerkt, die feudalen Herrschaften an Gütern desGebrauchs und Genusses im Zweifelsfall wenig anzubieten, was denHändlern den Austausch mit den von ihnen mitgeführten Waren loh-nend erscheinen ließe, aber was die Herrschaften ja durch die territoria-len Lösegelder oder Stillhalteprämien erhalten, die ihnen die ihr Gebietdurchquerenden Händler zahlen, ist Edelmetall, das, wiewohl ihnen,den Herrschaften, in der regressiv-archaischen Bedeutung eines thesau-rischen Herrenguts und Reichtumssymbols überlassen, doch aber denHändlern selbst allemal in der progressiv-systematischen Funktion einesuniversalen Austauschobjekts oder allgemeinen Äquivalents für die vonihnen mitgeführten Waren präsent ist und deshalb auch von den Herr-

schaften jederzeit genutzt werden kann, um bei den Händlern Waren imGegenwert eben dieses ihnen zuvor in thesaurischer Maskierung von denHändlern überlassenen allgemeinen Äquivalents zu erwerben.

Ein und dasselbe Mittel, das primär dem Zweck dient, die feudalenHerren als aggressive Entwender und Aneigner zu neutralisieren und ausdem kommerziellen System herauszuhalten, beweist also sekundär dasVermögen, sie als transaktive Abnehmer und Verbraucher zu interessie-ren und in das kommerzielle System hineinzuziehen. Das den feudalenHerren als Tribut überlassene Edelmetall erlaubt es, sie, die in sächlicherHinsicht nichts zum kommerziellen System beizutragen haben, dennoch

in persönlicher Eigenschaft mit dem kommerziellen System kontrahierenund sich in ihm engagieren zu lassen – zwar nicht als Beiträger, wohl aberals Teilhaber, nicht als Produzent, wohl aber als Konsument.

Nicht, dass dies per Tribut provozierte feudale Engagement, diesedurch das Lösegeld, das für den ungestörten Warenverkehr gezahlt wird,

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erkaufte Teilhabe der feudalen Herrschaft an den Waren selbst den Händ-

lern einen ökonomischen Gewinn brächte. Im Normalfall, das heißt, beiihren Transaktionen mit den neuen Produzentengemeinschaften, denensie ihre historische Wiedergeburt verdanken, geben die Händler das all-gemeine Äquivalent Edelmetall ja für materiale Güter, für Waren, aus, diesie dann weiterverkaufen und durch deren Verkauf sie sich das Edelme-tall zurückholen – und zwar zuzüglich jenes Mehr an Edelmetall, jenesqua Edelmetall realisierten Mehrwerts, der ihren Anteil, ihren durch dieTransaktion erzielten Gewinn bildet, einen Profit, der dadurch zustandekommt, dass die Produzenten ihre Produkte den Händlern für ein gerin-geres Quantum allgemeines Äquivalent überlassen, als dem Produktwerteigentlich entspricht, dass sie das Äquivalenzprinzip außer Kraft setzen,

um den Händlern zum Lohn für ihre Transaktionstätigkeit einen Teildes Produkts unentgeltlich zu übereignen, und der tatsächlich aus Sichtder Händler den alleinigen Sinn und Nutzen der ganzen Transaktiondarstellt, jenen merkwürdigen Sinn und Nutzen, der in nichts anderemals darin besteht, mehr allgemeines Äquivalent in kommerzieller Handzu versammeln, nur um damit mehr materiales Produkt zu erstehen unddies wiederum in mehr allgemeines Äquivalent umzusetzen, kurz, umden unendlichen Zirkel kommerzieller Akkumulation zu betreiben.

In dem besonderen, als Tributzahlung deklarierten Fall hingegen, vondem hier die Rede ist, geben die Händler ja das Edelmetall nicht für Güter,

sondern, kalauernd gesagt, für Güte, nicht für materiales Wohlergehen,sondern für soziales Wohlverhalten aus. Die feudalen Herrschaften er-halten mit anderen Worten das allgemeine Äquivalent nicht, weil siedafür eine materiale Gegenleistung erbringen, sondern nur, damit sie sichsozialkonform verhalten, sprich, das kommerzielle System als Ganzesin Frieden und gewähren lassen. Wenn sie nun mit dem allgemeinenÄquivalent zu den Händlern zurückkehren und es gegen deren materialeGüter austauschen, so läuft dies, da sie ja zum materialen Güterbestandder Händler nichts beitragen, darauf hinaus, dass sie mittels des ihnenvon den Händlern überlassenen Äquivalents von diesem Bestand kom-pensationslos zehren, den in materialen Gütern, in Waren, bestehenden

Reichtum der Händler nicht mehren, sondern im Gegenteil mindern.Natürlich ist dies kein Einwand gegen den Sinn und Nutzen der Tri-

 butleistungen der Händler. Auch wenn sie sich damit keinen ökonomi-schen Gewinn verschaffen, erkaufen sie sich doch immerhin die politi-schen Rahmenbedingungen dafür, dass sie ihrer kommerziellen Tätigkeit

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überhaupt nachgehen und in deren Verlauf ökonomischen Gewinn er-

zielen können. Und dies ist ihnen das Opfer, das sie bringen müssen,allemal wert, die Minderung des ökonomischen Gewinns, den sie erzielenkönnten, müssten sie nicht einen Teil ihrer Waren, ihres Kapitals, für dieHerstellung jener politischen Rahmenbedingungen ihres ökonomischenGeschäfts drangeben.

Genauer besehen indes ist das Opfer gar keines, jedenfalls keines inder Bedeutung eines im Mindesten kompensationslosen Verlusts; es er-weist sich als nicht einmal aus der ökonomischen Perspektive sinn- undfruchtlos gebracht. Hier nämlich kommt die erwähnte Strategie des Kal-küls oder List der Vernunft ins Spiel. Indem die Händler den feudalenHerrschaften allgemeines Äquivalent als Tribut und Wegezoll überlassen,eröffnen sie ihnen in den Grenzen des Wertes, den die Tributzahlung hat,freien Zugang zu ihren Waren. Sie laden die Herrschaften gewissermaßenein, die Nützlichkeit beziehungsweise die Vorzüge und Annehmlich-keiten der Güter, die sie vertreiben, kennen zu lernen. Sie bringen dieHerrschaften quasi auf den Geschmack, geben ihnen Gelegenheit, sichan den Konsum, den sie ihnen durch ihren Tribut ermöglichen, zu ge-wöhnen. Aus der Perspektive moderner Verkaufstechniken gesprochen,dienen die den Herrschaften durch die Tributzahlungen der Händler zu-gänglich gemachten Handelsgüter als Werbegeschenke, als Gratisproben,deren Funktion es ist, die Herrschaften an das Sortiment heranzuführen

und mit ihm vertraut zu machen, auf dass sie es in Zukunft aus induzierteigenem Antrieb oder resultativ persönlichem Bedürfnis frequentierenund in Anspruch nehmen.

Und nicht nur aus eigenem Antrieb, sondern auch mit eigenen Mitteln,nicht nur kraft persönlichen Bedürfnisses, sondern auch dank privatenVermögens! Wenn die Händler den feudalen Herrschaften Edelmetall alsTribut und Wegezoll überlassen, dann unterwerfen sie es ja, wie gesagt,einer regressiven Bestimmung, der zufolge es seine kommerziell genutzteFunktion als allgemeines Äquivalent wieder mit der habituell geschätztenBedeutung einer herrschaftlichen Pretiose vertauscht, und verwandeln

mit anderen Worten ihr allgemeines Äquivalent zurück in jenes Her-rengut und Reichtumssymbol, dem es ursprünglich entstammt und ausdem es in seiner neuen Funktionalität einst durch die kommerziellenTransaktionen mühsam herausprozessiert werden musste. Und wenn diefeudalen Herrschaften das Edelmetall dankbar in Empfang nehmen und

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sich durch seine Gabe besänftigen und zum Stillhalten beziehungsweise

zum Entgegenkommen bereden lassen, dann deshalb, weil sie es nachwie vor in seiner alten Bedeutung goutieren und hochhalten, es nachwie vor als Herrengut begehren, als Schatz schätzen. Und nicht nur pas-siv begehren, sondern durchaus aktiv erstreben, nicht nur theoretischhochhalten und schätzen, sondern mehr noch praktisch festhalten undhorten! Dass die Herrschaften, wo immer sie Edelmetall kriegen können,es auch nehmen, dass sie erfüllt sind von einem unstillbaren, weil quasimetaphysischen Hunger nach Edelmetall – das verbürgt die Tatsache,dass der herrschaftlichen Existenz das Edelmetall unverändert in seinerarchaischen Bedeutung als Reichtumssymbol, als Signum herrschaftlicher

Verfügung vor Augen steht.Dabei sind sie zur Befriedigung ihres Verlangens nach Edelmetall kei-neswegs und nicht einmal primär auf die Tributzahlungen der Händlerangewiesen. Tatsächlich fehlt es ihnen nicht an Bezugsquellen, um sichauch auf nichtkommerziellem Weg in den Besitz von Edelmetall zu set-zen. Da sind die nichtkommerziellen Tributzahlungen durch ihresglei-chen beziehungsweise durch Vasallen, da sind die Kostbarkeiten, dieGesandtschaften mitbringen, und die Brautschätze, die durch Eheschlussin ihre Hände gelangen, da ist die Beute aus Kriegszügen und Raubfahr-ten, und da ist schließlich und vor allem die Ausbeute aus der Quelle

sans phrase, das Edelmetall, das ihnen auf ihrem Territorium befindlichenatürliche Vorkommen und leicht schürfbare Fundstellen liefern.Die feudalen Herrschaften sind also im Zweifelsfall, der der Normalfall

ist, auch ohne Zutun der kommerziellen Tributzahler in Sachen Edelme-tall bereits gut bestückt und verfügen über wohlgefüllte Schatzkammern.Und sie sind, so gesehen, in der Lage, auch über den begrenzten Zugang,den die Tributzahlungen der Händler ihnen eröffnen, hinaus auf derenWaren zuzugreifen. Wenn sie nur wollen, können sie ihren auf nichtkom-merziellem Wege angehäuften Schatz jederzeit in der von den Händlernhonorierten Funktion eines allgemeinen Äquivalents zum Erwerb der

von letzteren feilgebotenen materialen Güter verwenden.Wenn sie nur wollen! Und dass sie wollen, dafür sorgen die eben des-halb hinter der Fassade ihrer Besänftigungs- und Freikaufsbedeutung alsStrategie des Kalküls oder List der Vernunft erkennbaren Tributzahlun-gen, die die Händler an die Herrschaften entrichten. Indem die Händler

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den Herrschaften coram conventu oder im Angesicht der von ihnen mit-

geführten materialen Güter Edelmetall überlassen, laden sie sie ein oder, besser gesagt, verführen sie sie, dies Edelmetall gegen jene materialen Gü-ter auszutauschen, es gleich wieder in sie umzusetzen. Indem die Händlerpro forma ihrer kompensationslosen Tributzahlung das allgemeine Äqui-valent auf die Rolle des thesaurischen Reichtumssymbols regredierenlassen, provozieren sie pro materia seiner topischen Nähe und systema-tischen Verbundenheit mit den zur Schau gestellten Handelswaren dieHerrschaften dazu, das thesaurische Reichtumssymbol umgekehrt gleichwieder in der Funktion eines universalen Austauschobjekts, die ihm daskommerzielle System vindiziert, zu realisieren, sprich, es als allgemeinesÄquivalent zur Geltung kommen zu lassen. Während die Händler proforma ihrer Tributzahlungen der alten Ordnung einer die Aneignungterritorialen Reichtums flankierenden herrschaftlichen SchatzbildungTribut zollen, betreiben sie pro materia der postwendenden Reklamationdes Tributs als eines für den Kauf der mitgeführten materialen Gütertauglichen universalen Austauschobjekts die Einübung der Herrschaftenin die Kunst des kommerziellen Austauschs und die Umfunktionierungdes herrschaftlichen Schatzes als Ganzen in einen nach Maßgabe der bei den Herrschaften geweckten Bedürfnisse ihnen, den Händlern, zurVerfügung stehenden Ausdruck kommerziellen Werts.

Durch die als Gratisproben firmierenden materialen Güter, die ihnen

der Tribut der Händler in die Hände spielt, geködert und durch dasständige Quidproquo zwischen Schatz und Äquivalent, das Wechselspielzwischen habituellem Reichtumssymbol und funktionellem Wertaus-druck auf Trab gebracht beziehungsweise ins transaktive Geschehen, inskommerzielle Geschäft eingeübt, fangen die feudalen Herrschaften an,zur Befriedigung ihrer durch die Waren der Händler geweckten Bedürf-nisse auf den herrschaftlichen Schatz, ihr eigenes, in der Schatzkammergehortetes Edelmetall, zurückzugreifen, und werden so zu aktiven Mit-wirkenden beim kommerziellen Prozess, sprich, zu wesentlichen Fak-toren im kommerziellen System. Tatsächlich nämlich verändert sich in

dem Augenblick, in dem sie ihren Zugriff auf die Waren der Händleraus eigenen Mitteln zu finanzieren, ihren herrschaftlichen Schatz alskommerzielles Äquivalent einzusetzen beginnen, ihre ökonomische Be-deutung entscheidend oder gewinnen sie, besser gesagt, überhaupt ersteine ökonomische Funktion.

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In dem Maße, wie die feudale Herrschaft sich daran gewöhnt, mittels ihres The-

saurus an den Handelsgütern der handwerklichen Produzentengemeinschaftenzu partizipieren und aber wegen ihrer Rückständigkeit in produktionstechnischer Hinsicht ausschließlich in dieser konsumtiven Form partizipiert, wächst sie indie Rolle des für das Funktionieren des akkumulativen kommerziellen Systemsunabdingbaren Mehrwertrealisierers hinein. Sie erfüllt damit für das nachim-

 periale Handelssystem die gleiche Aufgabe, die den zwar über Edelmetall, nichtaber über nennenswerte Handelsgüter verfügenden Stammespopulationen imwestlichen Mittelmeer im System der antiken handelsstädtischen Produktionsge-meinschaft zufällt, wobei allerdings jenes System letztlich an der Hypothek desterritorialherrschaftlichen Kontextes scheitert, dem es entspringt und von dem essich nicht zu emanzipieren vermag.

Solange die feudale Herrschaft ausschließlich mittels der Tributzahlun-gen an dem in Händlerhand versammelten Warenbestand partizipiert,kommt ihr, unbeschadet des sozialen Wohlverhaltens und der politischenVerträglichkeit, die ihr dadurch abgenötigt wird, und ungeachtet alsoder grundlegenden Bedeutung, die diese Partizipation für die Existenzdes kommerziellen Systems als gesellschaftlicher Einrichtung hat, einekommerzielle Rolle oder ökonomische Funktion höchstens und nur imnegativen oder ironischen Sinne zu. Wenn die Händler anderen Edelme-tall überlassen, dann im Normalfall nur, weil sie im Austausch dafür von

den anderen materiale Güter erhalten. In Edelmetall und dem allgemei-nen Äquivalent, das es im kommerziellen System verkörpert, bestehendeAnsprüche an die Warensammlung in ihren Händen räumen die Händlerim Normalfall anderen nur ein, wenn diese als Produzenten firmierenund einen entsprechenden Beitrag zur Warensammlung leisten. Der Bei-trag, den sie als Produzenten zur kommerziellen Warensammlung leisten,stellt die erste ökonomische Funktion jener anderen dar, mit denen imNormalfall die Händler kontrahieren. Dass jene anderen dann ihre inEdelmetall bestehenden Ansprüche an den Markt realisieren, dass siemit anderen Worten das ihnen von den Händlern überlassene allgemeine

Äquivalent wiederum gegen materiale Güter in Händlerhand austau-schen, das Edelmetall im Austausch gegen Waren, die sie gebrauchenkönnen, in die Hände der Händler zurückkehren lassen, stellt ihre zwei-te, sie als Konsumenten definierende ökonomische Funktion dar, dieden Kreislauf des kommerziellen Gebens und Nehmens vollendet, mit

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der sich der als Verwertungsprozess funktionierende Zirkel, den das

allgemeine Äquivalent beschreibt, schließt.Anders im Falle der Tributzahlungen an die feudale Herrschaft! Hierräumen die Händler der letzteren quasi ungedeckte Ansprüche auf ihreWarensammlung ein, sprich, sie bestehen nicht auf einer Kompensationder der feudalen Herrschaft eingeräumten äquivalenten Ansprüche durcheinen von der letzteren zu leistenden, wertmäßig korrespondierendenBeitrag zur kommerziellen Warensammlung. Die feudale Herrschaft fin-det sich deshalb auch von den Händlern ausschließlich in der zweitenökonomischen Funktion gefordert, nur als Abnehmer, Konsument, nichtauch als Beiträger, Produzent. Die Tributzahlungen ermöglichen der feu-

dalen Herrschaft, auf etwas Ansprüche geltend zu machen und es sichanzueignen, was nicht sie, sondern andere geschaffen und beigetragenhaben. Formell betätigen sie sich wie die anderen als Realisierer vonWert, als Rückverwandler der von den Händlern vertriebenen materialenGüter oder Waren in die im Austausch dafür von den Händlern verlangteMünze des Marktes, das allgemeine Äquivalent, reell aber spielen sie da-mit die Rolle von reinen, dem kommerziellen System ins Haus fallendenNutznießern, kurz, von Schmarotzern, weil ihre Ansprüche an den Markt ja mangels eigener Beiträge nolens volens denen der anderen ins Gehegekommen und mit ihnen konkurrieren.

Dass die den Tributzahlungen unvermittelt entspringenden Ansprücheder feudalen Herrschaft die der anderen nicht auch beschneiden undschmälern und also nicht gleich das kommerzielle System als solchesin Frage stellen, weil sie seine Fähigkeit beeinträchtigen, jene Ansprü-che an die Warensammlung, die sich die anderen durch eigene Beiträgeerworben haben, ordnungsgemäß und im vollen Gegenwert zu befrie-digen, verdankt sich einzig und allein dem erwähnten Umstand, dassalle kommerziellen Transaktionen ab ovo darauf angelegt sind, einenMehrwert, ein Mehr an Edelmetall in Händlerhand, zu erzielen, und dassdies dadurch erreicht wird, dass, wie oben festgestellt, die Produzenten

ihre Produktion den Händlern für ein geringeres Quantum allgemeinesÄquivalent überlassen, als dem Produktwert eigentlich entspricht, dasssie den Händlern zum Lohn für ihre Transaktionstätigkeit einen Teildes Produkts unentgeltlich übereigenen. Dies unter der Camouflage desAustauschs von allgemeinem Äquivalent gegen materiale Güter, den sie

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mit den Produzenten praktizieren, unentgeltlich angeeignete Mehrpro-

dukt können die Händler nun der feudalen Herrschaft im Austauschgegen die ihr zuvor geleisteten Tributzahlungen überlassen, ohne denAnsprüchen an die Warensammlung, die sich die Produzenten durch ihreBeiträge erworben haben, in die Quere zu kommen und ohne also dengrundlegenden Funktionsmechanismus des kommerziellen Systems inGefahr zu bringen.

Statt das kommerzielle System in seiner aufs Do ut des mit den Pro-duzenten abgestellten Grundfunktion zu beeinträchtigen, schädigen dieHändler nur sich selbst beziehungsweise die Ausbau- und Entfaltungs-ambitionen, die sie quasi naturgemäß mit dem kommerziellen Systemverbinden; sie schädigen mit anderen Worten nicht den mechanischenFortgang, wohl aber die organische Entwicklung des Systems. Und dasgleich in doppelter Hinsicht! Denn erstens geht das allgemeine Äqui-valent, das die Händler für die Tributzahlung hingeben, zu Lasten derSumme allgemeinen Äquivalents, die sie im Normalfall dazu verwenden,neue mehrwertige materiale Güter bei den Produzenten zu erstehen; alsTributzahlung verliert also das allgemeine Äquivalent seine akkumulati-ve Qualität. Und zweitens dient das als Tributzahlung hingegebene allge-meine Äquivalent, indem es als konsumtiver Anspruch zu den Händlernzurückkehrt, zur Realisierung des Mehrwerts der in Händlerhand befind-lichen Gütersammlung; das heißt, durch das Alias oder den Strohmann

der feudalen Herrschaft betätigen sich die Händler selbst als Konsu-menten, realisieren sie aus eigenen Mitteln den Wert des Mehrproduktsin ihrer Hand, statt andere als Konsumenten zu gewinnen, andere denMehrwert realisieren zu lassen, und finden so den eigentlichen Zweckder kommerziellen Veranstaltung, die Wertakkumulation, die Vermeh-rung von allgemeinem Äquivalent in Händlerhand, vereitelt. Gleich indoppelter Hinsicht also lässt sich von einer ökonomischen Funktion dermittels der Tributzahlungen der Händler am kommerziellen Austauschpartizipierenden feudalen Herrschaft höchstens und nur im negativenoder ironischen Sinne reden.

Genau das aber ändert sich in dem Augenblick, in dem es via die Tri- butzahlungen und kraft der in ihnen wirksamen Macht des zirkulativenKalküls oder List der kommerziellen Vernunft den Händlern gelingt,die feudale Herrschaft soweit an ihre Partizipation am Austausch zugewöhnen, dass sie bereit ist, auch unabhängig von den Tributzahlungen

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teilzunehmen und ihre Teilnahme mit Edelmetall aus eigenen Beständen,

sprich, aus ihrer zur Quelle allgemeinen Äquivalents instrumentalisiertenSchatzkammer, zu bestreiten. Indem die feudale Herrschaft dies tut, legtihre Partizipation am Austauschgeschäft alle Züge einer negativen oderironischen Funktionalität ab und gewinnt schlagartig ein auch und geradein ökonomischer Hinsicht affirmatives Ansehen und in der Tat eine durchund durch konstruktive Bedeutung.

Erstens nämlich geht, was die feudale Herrschaft an allgemeinem Äqui-valent zum Austausch beisteuert, damit nicht mehr zu Lasten der denHändlern für den Erwerb neuer materialer Güter zur Verfügung ste-henden Summe, nicht mehr zu Lasten ihres akkumulativen Fonds, ihresliquiden Kapitals. Und zu dieser negativen Ersparnis kommt zweitens derpositive Gewinn hinzu, dass die feudale Herrschaft tatsächlich nun genau jene Aufgabe einer Realisierung des in der materialen Gütersammlungder Händler steckenden Mehrwerts erfüllt, deren Erledigung sie zuvordurch ihre die Tributzahlungen der Händler ins Treffen werfende Dazwi-schenkunft durchkreuzte, dass sie tatsächlich nun in eigener Person alseben jene anderen figuriert, denen sie bis dahin als unwillkommenes Al-terego der Händler, als von den Händlern wider Willen beziehungsweisemit der List und Tücke langfristigen Kalküls eingeführter Strohmannzuvorkam und den Auftritt vermasselte.

Besetzt und ausgefüllt werden muss jene Rolle des den Mehrwert, der

in der kommerziellen Warensammlung steckt, realisierenden Konsumen-ten ja auf jeden Fall, soll das von den Händlern inszenierte Austausch-spiel auf Dauer, und ohne der Hektik und galoppierenden Hypertrophieeines Schneeballsystems zu verfallen und am Ende zu erliegen, funktio-nieren. So gewiss der ganze Kontrakt der Händler mit den Produzentendarauf abgestellt ist, mehr Produkt in Händlerhand zu versammeln,als dem dafür gezahlten allgemeinen Äquivalent wertmäßig entspricht,und dieses Mehrprodukt dann als Mehrwert zu realisieren, sprich, perAustausch in allgemeines Äquivalent zu transferieren, so gewiss sind dieHändler zur Erfüllung dieses für ihr Austauschgeschäft maßgebenden

Zwecks auf andere Austauschpartner als die Produzenten, mit denen siekontrahieren, angewiesen. Jenen Produzenten überlassen sie ja nur soviel von der Warensammlung in ihrer Hand, wie dem Wert des allge-meinen Äquivalents entspricht, das sie ihnen zuvor für ihren Beitrag zurWarensammlung gezahlt haben; es bleibt also logischerweise immer das

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Mehrprodukt übrig, das die Produzenten ihnen für das gezahlte allgemei-

ne Äquivalent geliefert haben – und für dieses Mehrprodukt müssen alsKäufer, als Wertrealisierer andere als die Produzenten gefunden werden.Zwar können das erst einmal neue Produzenten sein, die mit dem

allgemeinen Äquivalent, das sie für ihre eigenen materialen Beiträgezur Warensammlung der Händler erhalten, den in dem Mehrproduktder alten Produzenten steckenden Mehrwert realisieren, aber solangediese neuen Produzenten für das allgemeine Äquivalent, mit dem sieihre Mehrwertrealisierungsfunktion erfüllen, zur Warensammlung inHändlerhand wiederum mehrwertiges Produkt hinzufügen, vergrößernsie die in der Warensammlung steckende und ihrer Realisierung oder Ein-

lösung harrende Wertsumme nur immer weiter und verschärfen mithindie Diskrepanz zwischen diesem in der Warensammlung steckenden ma-terialen Wert und dem für seine Realisierung oder Einlösung verfügbarenallgemeinen Äquivalent.

Der Logik eines kommerziellen Systems zufolge, das – jedenfalls ausSicht seiner Initiatoren und Betreiber – wesentlich akkumulativ orientiertist, das also nur produzieren lässt, um mehr produzieren lassen zu kön-nen, und das zur Durchführung dieser seiner akkumulativen Strategieauf den Mechanismus einer regelmäßigen redemptiven Überführungdes mehrwertigen Produkts in allgemeines Äquivalent zwecks investiver

Rücküberführung des allgemeinen Äquivalents in neues mehrwertigesProdukt angewiesen ist – der Logik eines solchen Systems folgend, führtdeshalb kein Weg an kommerziell Mitwirkenden vorbei, die primär oderin der Hauptsache als Konsumenten am Austausch beteiligt sind, die mitanderen Worten mehr allgemeines Äquivalent als materialen Produkt-wert in die Zirkulation, den Austauschprozess, einspeisen und die durchdiesen ihren rein konsumtiven, das heißt, keiner vorherigen produktivenLeistung geschuldeten Beitrag an allgemeinem Äquivalent die Funktionerfüllen, die in der Zirkulation, dem Austauschprozess zwischen Produ-zenten und Händlern, befindliche Menge an allgemeinem Äquivalent der

durch den Austauschprozess ständig vergrößerten materialen Wertmengeimmer neu anzugleichen, um auf diese Weise den Händlern zu ermög-lichen, den vollen Wert des in ihrer Hand versammelten mehrwertigenmaterialen Produkts in die Beschaffung neuen mehrwertigen materialenProdukts zu investieren, sprich, erfolgreich Akkumulation zu betreiben.

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Genau dieser Stellenbeschreibung eines das Mehrprodukt als Mehrwert

realisierenden, weil produktionsunabhängig konsumierenden Mitwir-kenden entspricht nun aber die feudale Herrschaft – jedenfalls von demAugenblick an, in dem sie anfängt, ihren Konsum aus eigenen Edelme-tallbeständen statt aus den Tributzahlungen der Händler zu bestreiten,und also den bloßen Schein einer Einspeisung zusätzlichen allgemeinenÄquivalents in die Zirkulation und einer dadurch erwirkten monetä-ren Egalisierung oder pekuniären Bilanzierung der in der Zirkulation befindlichen materialen Wertmenge gediegene Wirklichkeit werden lässt.

Und zwar genügt die feudale Herrschaft der Stellenbeschreibung in besonderem Maße und auf geradezu perfekte Weise, weil sie nämlichmangels eigener Produktionskapazitäten und materialer Beiträge zumAustauschprozess die konsumtive Funktion in Reinkultur wahrnimmt,den Konsumenten par excellence verkörpert. Eben das, was sie für denkommerziellen Austauschprozess, der sich zwischen den unter klerika-lem Schutz und Schirm etablierten Produktionsgemeinschaften neuenTyps anspinnt, als aktive Mitwirkende untauglich macht, sie als produk-tive Teilnehmer kategorisch von ihm ausschließt: ihre fronwirtschaftlicheRückständigkeit und Armseligkeit und ihr dementsprechender Mangelan kommerziell verwertbaren Produkten, an Handelswaren – eben dasverleiht der feudalen Herrschaft unter der wie selbstverständlich gegebe-nen Voraussetzung ihrer Verfügung über das Herrengut Edelmetall beste

Tauglichkeit für die im kommerziellen System ebenfalls vorgeseheneRolle des rezeptiven Interessenten, lässt sie wie geschaffen für den vonder Logik des Systems implizierten Part des konsumtiven Teilhabers sein.

Als eine soziale Gruppe, die zwar über als allgemeines Äquivalent brauchbares Edelmetall verfügt, zur materialen Warensammlung derHändler aber nichts als das der eigenen Mangelsituation geschuldetekonsumtive Bedürfnis nach ihr beizutragen vermag, zeigt sich die feudaleHerrschaft perfekt für die Aufgabe geeignet, das in dieser Warensamm-lung stets enthaltene Mehrprodukt in seinem Wert zu realisieren undso die Bedingung für jene jeweils wertmäßig erweiterte Reproduktion

des Austauschprozesses zu erfüllen, ohne die der letztere seinen we-sentlichen Beweggrund einbüßte. Aus einer gesellschaftlichen Instanz,die im Blick auf den zwischen den Produktionsgemeinschaften neuenTyps sich entspinnenden Austauschprozess faktisch-unmittelbar nichtsals einen Störfaktor und Hemmschuh zu bilden verspricht, wird so die

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feudale Herrschaft wie von Zauberhand, sprich, systematisch-vermittelt,

zu einem, wie man will, treibenden Motor oder befördernden Katalysatorzwar nicht für den kommerziellen Austauschprozess als solchen, wohlaber für die Erfüllung der dem Prozess von Seiten der Händler als seineultima ratio, sein Grundmotiv, eingeschriebenen Akkumulationsabsicht.

Wenn man so will, spielt die feudale Herrschaft für die in den sa-krosankten Freiräumen der postimperial-territorialherrschaftlichen Ge-sellschaften entstehenden Produktionsgemeinschaften neuen Typs eineganz ähnliche Rolle, wie sie für die an der maritimen Peripherie derpräimperial-territorialherrschaftlichen Gesellschaften sich etablieren-den Vorgänger jener neuen Produktionsgemeinschaften, sprich, für dieantiken Handelsstädte, die außerhalb der territorialherrschaftlichen Sphä-

re siedelnden rückständigen, noch weitgehend stammesförmig organi-sierten Populationen des mediterranen Westens spielen. Gemeinsam ist beiden, der postimperial-feudalen Herrschaft und den nichtterritorial-herrschaftlichen Populationen der präimperialen Zeit, das Zugleich vonMangel an materialen Gütern und Überfluss an allgemeinem Äquivalent,und diese Gemeinsamkeit macht sie beide tauglich, lässt sie wie geschaf-fen sein für die Aufgabe, den jeweiligen Produktionsgemeinschaften ihrMehrprodukt abzunehmen und durch die Realisierung des im Mehr-produkt verkörperten Mehrwerts das Funktionieren des kommerziellenAkkumulationsprozesses zu gewährleisten.

Nur mit dem wichtigen Unterschied, dass die feudale Herrschaft denpostimperialen Produktionsgemeinschaften als konsumtiver Wertreali-sierer praktisch von Anfang an und quasi in der Bedeutung eines beimAufbau des kommerziellen Austauschsystems sekundierenden Faktorszur Verfügung steht, wohingegen die nichtterritorialherrschaftlichen Po-pulationen als konsumtive Wertrealisierer erst in dem Augenblick insSpiel kommen, in dem das kommerzielle Austauschsystem schon weitentfaltet ist und wegen der in den antiken Handelsstädten entwickeltenProduktivität und der daraus konsequierenden Absatzprobleme in dieKrise gerät, so dass jene Populationen also eher in der Rolle eines auf derBühne erscheinenden Nothelfers, eines dem System in seiner Zwangslage

von außerhalb beispringenden deus ex machina auftreten!Wie oben erwähnt und an anderer Stelle ∗ näher ausgeführt, sind dieneuartigen Produktionsgemeinschaften der antiken Handelsstädte Re-

∗ Siehe Herrschaft, Wert, Markt – Zur Genese des kommerziellen Systems, Unrast Verlag,Münster 2006.

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sultat eines vorangegangenen langen, ausschließlich zwischen Territo-

rialherrschaften verlaufenden kommerziellen Austauschprozesses undfinden sich durch die im Zuge jenes Prozesses dank der ihm ab ovo eige-nen Akkumulationsstrategie zunehmend an Stärke und Eigenständigkeitgewinnende kommerzielle Funktion aus jenem rein territorialherrschaft-lichen Kontext förmlich herausprozessiert. Ursprünglich nur mit Terri-torialherren kontrahierend, die in Personalunion und in wechselnderFunktion beides sind, durch seine Untertanen und Knechte fronwirt-schaftlich materiale Güter erzeugender Produzent und mittels des alsallgemeines Äquivalent firmierenden Herrenguts Edelmetall die mate-rialen Güter in ihrem kommerziellen Wert realisierender Konsument,und zwischen denen die Handeltreibenden anfänglich bloß als Faktota,als Agenten ihrer Herren, und schließlich dann aber als Unternehmer,als selbständige Kaufleute, ein wachsendes und den Territorialherrenzumal in ihrer Konsumenteneigenschaft immer unentbehrlicher werden-des kommerzielles Zirkulationssystem entfalten – ursprünglich also nurmit Territorialherren kontrahierend, finden sich die Handeltreibendendurch die Schranken, die das ebenso schwerfällige wie ambitionslosefronwirtschaftliche Erzeugersystem der Güterproduktion und der vonihr abhängigen kommerziellen Entfaltung setzt, zu guter Letzt dazu ge-trieben, den Produktionssektor, vorzugsweise in seinen handwerklichenErscheinungsformen, wo immer möglich von seiner fronwirtschaftlichen

Einbindung beziehungsweise Fesselung zu befreien und als eine ihnendirekt zuarbeitende, mit ihnen unmittelbar, ohne territorialherrschaftlicheVermittlung, kontrahierenden Faktor zu etablieren – was ihnen auf derterritorialen Basis und mit der regionalen Unterstützung bestimmter, ander maritimen Peripherie der großen Territorialherrschaften siedelnder,von Haus aus unbedeutender und im Bemühen, sich gegenüber letz-teren in ethnischer, soziostruktureller und kultureller Eigenständigkeitzu behaupten, an dem Einfluss und Reichtum, den der kommerzielleAktivposten mit sich bringt, interessierter Gemeinschaften auch gelingt.

Das in Gestalt der antiken Handelsstadt damit ins Leben gerufene

Modell einer in arbeitsteilig-kooperativer Verbindung mit der kommerzi-ellen Funktion und in subsistenzieller Angewiesenheit auf sie agierenden,kurz, als Markt sich entfaltenden Produktionsgemeinschaft erweist sichwegen der ökonomischen Chancen, die es den Beteiligten bietet, undder politischen Freiheiten, die es ihnen eröffnet, als so innovativ und

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produktiv, dass die Handelsstadt sich nicht nur gegen die Begehrlichkei-

ten und die Gewalt der territorialherrschaftlichen Nachbarn defensiv zu behaupten und gegebenenfalls offensiv durchzusetzen vermag, sonderndass sie auch bald schon mit ihrem Güterangebot, ihrer kommerziellenKapazität an die Grenzen der Aufnahmefähigkeit beziehungsweise derKonsumbereitschaft ihrer herrschaftlichen Handelspartner stößt, die, weilsie ja selber fronwirtschaftliche Produzenten beziehungsweise über weiteStrecken Selbstversorger sind, teils an den Gütern, die ihnen die Handels-stadt anbieten könnte, keinen Bedarf haben, teils ihre Konsumtätigkeitmit eigenen Produkten finanzieren und damit die Absatzprobleme derkommerziellen Funktion nur prolongieren und verschärfen.

Aus dieser, durch die Produktivkraft der handelsstädtischen Produk-tionsgemeinschaft heraufbeschworenen Absatzkrise befreit nun also derHandel mit den besagten, außerhalb der territorialherrschaftlichen Sphä-re, im westlichen Mittelmeer, siedelnden zivilisatorisch rückständigenStammespopulationen, die mit ihrer fehlenden oder unentwickelten Gü-terproduktion bei gleichzeitiger Verfügung über Edelmetallvorkommenals ein regelrechter deus ex machina in dem durch die Produktivität derPolis heraufbeschworenen Austauschdrama figurieren. Und mit jenenneuen, unproduktiven Austauschpartnern ist zugleich die Aufspaltungund Zerlegung der in den alten, territorialherrschaftlichen Handelspart-nern ungeschiedenen beiden Funktionen des Produzenten und des Kon-

sumenten perfekt.Wie die mangelnde Produktivkraft oder Produktionsbereitschaft der

territorialherrschaftlichen Handelspartner das kommerzielle System zumersten dazu veranlasst, die Produzentenfunktion aus ihrer fronwirtschaft-lichen Einbindung herauszulösen und in Gestalt der handelsstädtischenProduktionsgemeinschaft als ein der kommerziellen Funktion unmit-telbar zugeordnetes Moment neu zu etablieren, so findet sich jetzt zumzweiten das kommerzielle System durch die der neuen Produktionsge-meinschaft eigene Produktivität und Innovationskraft dazu angetrieben,auch die Konsumentenfunktion als ein vom territorialherrschaftlichen

Kontext unabhängiges Moment zu realisieren und durch – die territori-alherrschaftliche Sphäre transzendierende – Austauschbeziehungen suigeneris in Position zu bringen.

Dem oben angedeuteten idealiter kontinuierlichen Akkumulationsver-fahren, bei dem Produzenten, deren Subsistenz ganz und gar vom Markt

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abhängt, für den Markt ein Mehrprodukt erzeugen, das einer kraft des

marktunabhängigen allgemeinen Äquivalents, über das sie verfügt, alsKonsumenten firmierenden anderen Gruppe zufällt, die wiederum da-durch, dass sie mittels des allgemeinen Äquivalents das Mehrprodukt alsMehrwert realisiert, den Handeltreibenden ermöglicht, die Produzentenin einem quantitativ erweiterten beziehungsweise qualitativ gesteigerten,mehr Personen einbeziehenden beziehungsweise das vorhandene Perso-nal zu größeren Leistungen antreibenden neuen Produktionsprozess zuengagieren – einem solch kontinuierlichen Akkumulationsverfahren stehtalso eigentlich nichts mehr im Wege.

Oder vielmehr ist das Einzige, aber schwergewichtig Entscheidende,was ihm im Wege steht, das alte, dem handelsstädtischen Marktsystemvorausgehende territorialherrschaftliche Austauschsystem, aus dem jeneshervorgegangen ist und das nun aber durch seine in spannungsgeladenerParallelität oder vielmehr konfliktträchtiger Komplizität fortdauerndeExistenz seinem Geschöpf beziehungsweise – angesichts der Unfreiwil-ligkeit der Hervorbringung besser gesagt – seiner Ausgeburt, eben demhandelsstädtischen Marktsystem, wie ein Klotz am Bein hängt oder wieeine durch ihr Schwergewicht erdrückende Hypothek die Bewegungsfrei-heit raubt und den weiteren, einer rein kommerziellen Entwicklungslogikalles andere als entsprechenden Weg diktiert.

So sehr es nämlich dem handelsstädtischen System gelingt, dank der

relativen sozialen Ungebundenheit und politischen Freiheit der in ihmArbeitenden einen markanten ökonomisch-technischen Entwicklungsvor-sprung vor der territorialherrschaftlichen Sphäre zu erringen, und so sehrdas in diesem Entwicklungsvorsprung implizierte Produktivitätsgefälledazu führt, dass die Handelsstadt unverhältnismäßig günstige, sprich, ex-orbitant lukrative Austauschbeziehungen zu den Territorialherrschaftenzu unterhalten vermag, so sehr erweist sich dieser Triumph des neuen,handelsherrlich-städtischen über das alte, fronherrschaftlich-territorialedoch zugleich als ein zweischneidiges Resultat, ein Pyrrhussieg, weil deraußerordentliche Reichtum, der damit in die Stadt gelangt, nur den an

 jenen Handelsbeziehungen beteiligten Gruppen zugute kommt, wäh-rend er andere, für den Bestand des handelsstädtischen Komplexes nichtweniger wichtige Gruppen, nämlich die mit der Pflege und Sicherungder territorialen Basis der Handelsstadt befassten Schichten, den bäuer-lichen Anhang der aristokratisch-politischen Führung der Stadt, um die

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Existenzgrundlage bringt und verarmen lässt, und weil dieser Reichtum

somit soziale Spannungen und politische Konflikte heraufbeschwört, diewiederum die aristokratische Führung dadurch zu lösen oder jedenfallszu bewältigen sucht, dass sie mit Unterstützung der verarmten Volks-schichten das für die Stadt maßgebende kommerzielle System, partiellzumindest, suspendiert und durch direktere Methoden der Aneignungfremden Reichtums ergänzt, wo nicht gar ersetzt – sei’s dass sie, wie imFalle der athenischen Polis, diese Aneignungsstrategie auf ihresgleichen,die anderen, als Bundesgenossen zur Kasse gebetenen Handelsstädte, beschränkt, sei’s dass sie, wie es die Urbs Romana tut, die ganze terri-torialherrschaftliche Sphäre mit Kontributionen und Konfiskationen zu

 besteuern und auszuplündern beginnt. In diesem neuen, mittels bürokra-tischem Zwang oder militärischer Gewalt expropriativen Erwerbssystem,das aus der Handelsstadt ein hegemoniales beziehungsweise imperialesGebilde werden lässt, spielt zwar die kommerzielle Funktion als appro-priatives und zirkulatives Faktotum, als Eintreiber und Verteiler, nachwie vor eine wichtige Rolle, aber als maßgebende Instanz, als durch denmarktförmigen Austausch, den sie in Szene setzt, für die soziale Ordnungund die politische Machtverteilung grundlegende Einrichtung hat sieausgedient.

So also ist es das alte, dem handelsstädtischen Marktsystem ebenso

sehr vorausgesetzte wie gleichzeitig mit ihm perennierende und als Han-delspartner kontrahierende territorialherrschaftliche Austauschsystem,das durch die politisch ebenso verderblichen wie ökonomisch günstigenAustauschrelationen, die es der Handelsstadt bietet, diese zerrüttet und inUnordnung stürzt und zwecks Sicherung ihres Bestands und Zusammen-halts zu einer nicht kommerziell vermittelten, machtpolitisch fundiertenEntwicklung motiviert, die ihr zwar erst einmal eine glänzende undgeradezu atemberaubende Karriere ermöglicht und zu einer angesichtsihrer territorialen Kleinheit und personalen Beschränkung hypertrophanmutenden Machtstellung verhilft, sie am Ende aber auch überfordert

und in den Ruin ihrer bloß geborgten, sprich, schmarotzerischen undnämlich indirekt oder direkt vom Überfluss der territorialherrschaftlichenSphäre zehrenden Existenz treibt.

Die kraft der Produktivität des handelsstädtischen Marktsystems zuvordurchgesetzte und vollendete Trennung der ökonomischen Funktionen

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durch Einführung eines dem reinen Produzenten der städtischen Produk-

tionsgemeinschaft korrespondierenden und im Rahmen der außerterrito-rialherrschaftlichen Handelsbeziehungen mit den Stammespopulationendes westlichen Mittelmeers Gestalt annehmenden reinen Konsumentenund die durch diese Funktionstrennung im Prinzip ermöglichte syste-matische kommerzielle Entfaltung und im heutigen Sinne konsequenteAkkumulationsstrategie scheitern an dieser durch das Verhältnis zurterritorialherrschaftlichen Sphäre provozierten nichtkommerziellen Kri-senbewältigung der Handelsstadt, ihrer Umrüstung in ein hegemoniales beziehungsweise imperiales Instrument zur Beschaffung von Reichtum,und bleibt Episode. Der seine hypothekarische Bedeutung wirksam ka-

schierende Kredit, den das territorialherrschaftliche Austauschsystemdem handelsstädtischen Marktsystem, das sich aus ihm herausgearbeitethat, einräumt, erweist sich am Ende als fatal und lockt die Handels-stadt, ehe sie ihr Marktsystem als einen funktionsteilig in sich geschlosse-nen Kreislauf, als einen selbsttragenden Organismus, einen aus eigenenStücken repetitiven Automatismus dauerhaft etablieren kann, in dasVerderben der hegemonialen Persönlichkeitsveränderung oder imperia-len Charakterkonversion, in das sie der Versuch, mit seinen politisch-ökonomischen Folgen fertig zu werden, unaufhaltsam hineintreibt.

 Anders als die zum territorialherrschaftlichen Kontext peripheren antiken Han-delsstädte durchzieht das Marktsystem, das die in den klerikalen Freiräumenentstandenen handwerklichen Produktionsgemeinschaften zusammenschließt,die feudalherrschaftlichen Territorien wie ein Myzel. Allerdings ist es im Wider-spruch zu seiner dynamisch-systematisch maßgebenden Rolle, topisch-syntag-matisch betrachtet, nur erst ein verschwindend sporadisches Element in der

 feudalgesellschaftlichen Totalität und bedarf, um actu der zentrale Faktor zuwerden, der es potentia ist, gleichermaßen der Größe und der Anzahl seinerin den handwerklichen Produktionsgemeinschaften bestehenden konstitutivenElemente nach eines gewaltigen Wachstums.

Von solchem Kredit und den darin versteckten verderbenbringendenhypothekarischen Belastungen weiß das neuartige, postimperiale Markt-system rein gar nichts. Es weiß ebenso wenig davon, wie es überhauptvon einem ihm vorausgesetzten und als ebenso sehr sein fortlaufendes

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Milieu, sein Hintergrund, wie als seine ursprüngliche Matrix, sein Entste-

hungsort fungierenden territorialherrschaftlichen Austauschsystem weiß.Seinen Ursprung hat das neuartige Marktsystem feudalgesellschaftli-cher – nicht etwa Provenienz oder auch nur Dependenz, sondern einzigund allein – Zuordnung und Einbettung vielmehr in den als Pfortenzum Himmel etablierten religiösen Freiräumen, von denen der territo-riale Zusammenhang der Feudalherrschaft durchsetzt ist; seinen Anfangnimmt es in dem geschützt retortenähnlichen Medium und unter denversuchsanstaltsförmigen Bedingungen, die jene Freiräume ihm bieten.

Weit entfernt davon, dass es wie einst aus ihm fremden, um nicht zusagen widrigen, sozialen Verhältnissen mühsam herausprozessiert, durchdie Labor fronwirtschaftlicher Produktivkraft und die Hebammendiensteder kommerziellen Funktion nach und nach hervorgetrieben werdenmüsste, tritt dank des Schutzes und Schirms, den die religiösen Freiräu-me, die klostergemeinschaftlichen Exklaven ihm bieten, das Marktsystemquasi als Spontangeburt ins Leben – als eine Vielzahl vornehmlich hand-werklicher Produktionsgemeinschaften, die im symbiotischen Verbundmit den agrarisch tätigen Klostergemeinschaften eben das empiriologischsind, was die antike Figur der Athene, der Schutzgöttin der Handels-stadt, nur erst mythologisch imaginiert oder prätendiert: eine dem Kopf entstiegene, sprich, der Ratio einer Überlebensstrategie, die dank dersakral-transzendenten Perspektive, unter der sie steht, von immanenzei-

genen habituellen Rücksichten und rituellen Zwängen weitgehend freiist, entsprungene gesellschaftliche Vereinigung beziehungsweise aus demKalkül einer Existenzsicherung, die dank der final-jenseitigen Bestim-mung, der sie dient, diesseitsspezifischen Sinnfragen und Zweifeln soziemlich enthoben ist, hervorgegangene menschliche Unternehmung.

Und sowenig diese in vitro klösterlicher Exterritorialität gezeugten,quasi also der Gnade Gottes geschuldeten Produzentengemeinschaften ineinem anders gearteten ökonomischen Zusammenhang wie dem territo-rialherrschaftlichen Austauschsystem des Altertums ihre Voraussetzungoder Grundlage haben, sowenig bedürfen sie nun natürlich auch einer als

Geburtshelferin wirksamen, als Triebkraft aktiven kommerziellen Funk-tion, um sie solch heterogener ökonomischer Voraussetzung überhaupterst zu entreißen, sie aus solch heteronomer systematischer Grundlageallererst herauszuprozessieren. Weit entfernt davon, als Maieutikum,als extern treibendes Motiv gebraucht zu werden, ist die kommerzielle

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Funktion ausschließlich als Faktotum, als intern organisierendes Moment

gefragt. Wie die postimperialen Produzentengemeinschaften selbst eineletztlich der religiösen Orientierung der territorialherrschaftlichen Ge-sellschaften feudalen Typs, ihren heilsgeschichtlichen Auslassungen oderZäsuren, ihren Pforten zum Himmel, gedankte Spontangeburt sind, soist wiederum die kommerzielle Funktion, fern aller urheberschaftlichenBedeutung oder Hebammenrolle, eine spontane Hervorbringung und na-türliche Implikation eben jener Spontangeburt, sprich, ein Verknüpfungs-und Transaktionsmechanismus, den die verstreuten Produzentengemein-schaften aus ganz und gar eigenen Stücken ins Werk setzen, um durchden wechselseitigen Austausch ihrer materiellen Überschüsse und in-

dustriellen Neuerungen gleichermaßen die für ihre Subsistenz und ihrÜberleben rationellsten Bedingungen zu schaffen und das ihrem Gedei-hen und ihrem Wohlstand förderlichste Kalkül in Kraft zu setzen.

Freilich führt diese nicht, wie in der Antike, die Produzentengemein-schaften allererst auf den Plan rufende, sondern umgekehrt von denpräsenten Produzentengemeinschaften freihändig in Szene gesetzte unddie disparaten arbeitsteilig-kooperativen Kollektive in ein Marktsystemüberführende kommerzielle Funktion das Prinzip mit sich, das ihr abovo ihrer herrschaftlichen Provenienz und ursprünglichen Konstitutionso wesentlich ist wie sie sich selbst, nämlich das Akkumulationsprin-

zip, das da macht, dass kein Marktsystem, kein System von durch denMarkt dotierten und für den Markt arbeitenden Produzenten ohne Kon-sumenten auskommt, die für die erweiterte Reproduktion des Systems,seine extensive Ausdehnung beziehungsweise intensive Entfaltung Sorgetragen, dass mit anderen Worten das Marktsystem erst dann ein Systemsans phrase, ein komplettes Ganzes ist, wenn es besondere Gruppen ein-schließt, die als Abnehmer des ex principio der kommerziellen Funktionauf dem Markt erscheinenden Mehrprodukts fungieren können, weilsie über das zur Realisierung des Mehrprodukts als Mehrwert nötigemarktunabhängige allgemeine Äquivalent verfügen, und die durch diese

Realisierung des Mehrprodukts als Mehrwert der kommerziellen Funkti-on ermöglichen, das von den Produzenten dem Markt gelieferte Produktin seinem vollen, auch den Mehrwert umfassenden Wert in einen neuen,mehrwertigen Produktionsgang zu investieren, es als Mehrwert schaf-fenden Wert zur Geltung zu bringen, sprich, das ihr, der kommerziellen

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Funktion, als archaische Erbschaft eingeschriebene Akkumulationsbe-

dürfnis zu befriedigen.Und die Erfüllung dieses mit jedem Marktsystem einhergehendenDesiderats, die Besetzung der die Produzentenfunktion und den kom-merziellen Mechanismus allererst zum System komplettierenden Kon-sumentenrolle – sie ist nun recht eigentlich das Tüpfelchen auf dem ider inmitten der Gesellschaftsverhältnisse territorialherrschaftlich alterPrägung aus der Retorte klerikaler Exterritorialität hervorgehenden undsich zu einem territoriumsübergreifenden Austauschzusammenhangeigener Ordnung, wenn schon nicht eigenen Rechts, organisierendenProduzentengemeinschaften neuen Typs. Niemand anders als die feudaleHerrschaft selbst nämlich erfüllt dies Desiderat, schlüpft in die Kon-

sumentenrolle oder findet sich, besser gesagt, zu ihr verführt und insie gedrängt. Nicht genug damit, dass die territoriale Herrschaft undihr fronwirtschaftliches System keine genetische Voraussetzung für dasentstehende Marktsystem bilden, nicht als gleichermaßen äußere Grund-lage und heteronomes Pendant des Marktsystems fungieren, sieht sichmehr noch und umgekehrt die Territorialherrschaft in ihrer konditiona-len Bedeutung für das Marktsystem allererst durch das letztere selbstgesetzt, sieht sie sich als tragendes Moment oder Funktionselement desMarktsystems durch es generiert und rekrutiert.

So sehr die als feudale restituierte Territorialherrschaft als äußeres Mi-

lieu, als quasi natürliche Umwelt vorhanden ist, so sehr ist sie doch demin ihren religiösen Freiräumen, ihren klerikalen Poren spontan entstehen-den Marktsystem unmittelbar äußerlich und gemäß ihrer Äußerlichkeitim Zweifelsfall feindlich und hinderlich und gewinnt für letzteres nurin dem Maße als Positivum Relevanz und als Aktivposten Interesse, wiesie sich aufgrund ihres Mangels an Konsumgütern und ihrer Verfügungüber Edelmetall als Konsument vereinnahmen lässt und so dem Markt-system erlaubt, mit einem Schlage sowohl ihrer Feindseligkeit zu wehren beziehungsweise ihren Widerstand zu brechen als auch das Modell einerfunktionsteilig in sich geschlossenen akkumulativen Zirkulation, einesaus eigenem Vermehrungstrieb wachsenden ökonomischen Organismus

durch das noch fehlende Funktionselement zu ergänzen, sprich, komplettzu machen.

Die Territorialherrschaft bequemt sich mit anderen Worten hier zu ebender systemintegrierenden Funktion, die in der Antike, im Zuge der ers-ten Entstehung eines Marktsystems, die außerterritorialherrschaftlichen

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Stammesgruppen und rückständigen Populationen übernehmen und die

damals allerdings, wie das entstehende Marktsystem insgesamt, Episode bleibt, weil dort, wie gezeigt, das Marktsystem seine Voraussetzung undMatrix in einem territorialherrschaftlichen Austauschsystem hat, dasihm als Klotz am Bein auch weiterhin anhängt, als eine schwere Hypo-thek, die umso schwerer wiegt, als sie ihren hypothekarischen Charakterdurch die Blume kreditiven Entgegenkommens und gewinnträchtigsterBegünstigung zur Geltung bringt, eine Hypothek, die durch die sozialenVerwerfungen und politischen Spaltungen, in denen sie sich artikuliert,das Marktsystem in den Konkurs zu treiben droht und, indem sie eszwingt, sich zur Abwendung des Konkurses bis zur Unkenntlichkeit zuentstellen und die Fasson eines hegemonial-kontraktiven Schmarotzersoder imperial-extraktiven Ausbeuters anzunehmen, es nur umso sichererin sein auf diese Weise selbstgewirktes Verderben führt.

Vor solcher Fatalität des Entstehens ist das neue, postimperial sichregenerierende Marktsystem offenbar bestens geschützt. Und zwar nichtnur negativ deshalb, weil es dank des eigentümlichen Mediums seinerBildung, seines als klerikaler Freiraum firmierenden Mutterbodens, garkeine territorialherrschaftliche Voraussetzung hat, keiner in einem Aus-tauschsystem, das eine nur erst als herrschaftliches Faktotum fungierendekommerzielle Funktion zwischen Fronwirtschaften knüpft, bestehendenMatrix, die sich dann später hypothekarisch geltend machen könnte,

entspringt, sondern mehr noch positiv dadurch, dass es jene, ihm mit-nichten genetisch vorausgesetzte, sondern bloß historisch zugeordneteTerritorialherrschaft je schon als Moment seiner selbst vereinnahmt, alsklar definiertes Funktionselement seinem System integriert, indem esihr, wie gezeigt, die Rolle des reinen Konsumenten, des Mehrwertreali-sierers vom Dienst überträgt, und dass es so der in seinen kommerziell-systematischen Kontext Eingeführten und Eingebundenen von vornher-ein jede Möglichkeit verschlägt, sich gegen es in welcher Weise auchimmer als heteronome Bestimmung und hypothekarische Belastung inStellung zu bringen.

Ehe sie weiß, wie ihr geschieht, findet sich die Territorialherrschaftdurch ihre materiellen Bedürfnisse und ihren herrschaftlichen Schatz,dessen allgemeine Äquivalenz, dessen universalen Tauschwert die Tri- bute der Händler ihr zu Bewusstsein bringen, in das durch die Händlerorganisierte Marktsystem hineingezogen und in ihm funktionalisiert und

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damit jeder Chance beraubt, sich jenem System gegenüber noch als das

eigene Ganze, das sie von Haus aus ist, zum Tragen zu bringen undihm sei’s durch störfaktorelle Einflussnahme und aktive Sabotage, sei’seinfach durch trägheitsmomentanes Beharrungsvermögen und passivenWiderstand in die Quere zu kommen.

Dabei ist strukturelle Bedingung für den durchschlagenden Erfolg die-ser jede substanziell-genetische Abhängigkeit von vornherein ausschlie-ßenden beziehungsweise unterlaufenden systematisch-funktionellen Ver-einnahmungsstrategie, durch die sich die Territorialherrschaft wie vonZauberhand aus einem das Marktsystem potenziell konterkarierendenStörfaktor in ein aktuell integrierendes Moment des Marktsystems trans-formiert zeigt, natürlich der in der Topik des letzteren, in seiner Assozia-tion mit den religiösen Freiräumen, den klostergemeinschaftlichen Exkla-ven, einbegriffene Umstand, dass es nicht wie in der alten Welt peripherzur territorialherrschaftlichen Sphäre und in Bezug auf sie randständig-sporadisch in Erscheinung tritt, sondern vielmehr in medias res der ter-ritorialherrschaftlichen Sphäre Einzug hält und sich im Verhältnis zu ihrpunktförmig-pandemisch in Szene setzt. Weil es wie die ihm Schutz undEntfaltungsraum gewährenden klösterlich-klerikalen Pforten zum Him-mel, denen es anhängt und die es umlagert, die territorialherrschaftlicheSphäre allenthalben durchsetzt und quasi universal perforiert, ist dasneue Marktsystem in Gestalt seiner einzelnen Produktionsgemeinschaf-

ten überall vor Ort und am Mann, wenn es gilt, durch die zwecks seinerEtablierung als System von ihm ebenso ubiquitär generierte kommerzielleFunktion die einzelnen Territorialherrschaften ihrer systemkonformenRolle als Konsumenten sans phrase, reine Mehrwertrealisierer zu über-führen.

Dank seiner nach Maßgabe des religiösen Organisationsgeflechts dieterritorialherrschaftliche Sphäre pandemisch punktierenden Standorteund der diese Standorte vernetzenden kommerziellen Verbindungendurchzieht das Marktsystem die ganze Sphäre wie ein Myzel und hatwegen dieser seiner generellen Objektnähe oder Feindberührung geringe

Mühe, den potenziellen Feind zum aktuellen Partner zu gewinnen, denfeudalen Kontrahenten zum kommerziellen Kontrakt zu bewegen, sprich,die jeweilige Territorialherrschaft zu jener eigentümlichen Symbiose an-zustiften, der zufolge es der letzteren Nährstoffe, materiale Güter, liefertund dafür von ihr das für die Nährstoffproduktion oder vielmehr für

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deren Wachstum erforderliche katalytische Ferment, allgemeines Äquiva-

lent, erhält.Der Hinweis auf die von aller marginalen unde sporadischen Exis-tenz weit entfernte Medialität und Omnipräsenz des Marktsystems wärefreilich unvollständig und unter Umständen sogar irreführend ohne diegleichzeitige Erwähnung der eklatanten Diskrepanz zwischen dieser sei-ner – systematisch genommen – unbezweifelbaren Zentralität und Signifi-kanz und seiner – syntagmatisch betrachtet – vorläufig ebenso unbestreit- baren Punktualität und Geringfügigkeit. So sehr mit anderen Worten dasMarktsystem dynamisch-systematisch als das organisierende Zentrumgelten kann, an das die Territorialherrschaften, ohne zu wissen, wie ihnengeschieht, anschießen und durch das sie sich im Nu in ein integrierendesMoment, ein kommerzielles Funktionselement transformiert finden, sosehr erscheint das Marktsystem doch aber topisch-syntagmatisch nurerst als ein quasi archimedischer Punkt, der, seiner Vielzahl zum Trotz,ob seiner relativen Kleinheit und respektiven Unbedeutendheit in dervoluminösen territorialherrschaftlichen Sphäre im Großen und Ganzender fronwirtschaftlich-feudalen Gesellschaft, regelrecht verschwindetund verborgen liegt und der erst gefunden oder, besser gesagt, in seinerWirkmächtigkeit entfaltet werden, sich als das Potenzial, das er ist, aktua-lisieren muss, ehe er seinem archimedischen Namen Ehre machen und dieWelt aus den Angeln heben, genauer gesagt, die territorialherrschaftliche

Sphäre nach seinem akkumulationsstrategischen Bilde umformen kann.Eingebettet in das weite Feld fronwirtschaftlich-territorialherrschaft-

licher Dependenz, sind die durch die kommerzielle Funktion ihres Zei-chens organisierten Produzentengemeinschaften nur erst die Samen- undSenfkörner, die aufgehen und wachsen müssen, ehe sie realiter werden,was sie idealiter bereits sind, ein die Erde überziehender und sich inden Acker und Nährboden für seine spezifische Produktion, die Schöp-fung von Wert, und sein eigentümliches Produkt, den Wert, der sichselbst verwertet, der zu seiner eigenen Schöpfung dient, verwandelnderOrganismus.

Das Ensemble der zusammen mit den Himmelspforten, die den irdi-schen Gesellschaftsleib heilsperspektivisch aufschließen, den religiösenPoren, die ihn in seiner Erdenschwere christologisch ventilieren, in denfeudalgesellschaftlichen Kontext eingelassenen Produzentengemeinschaf-ten neuen Typs, die kraft der kommerziellen Funktion, die zwischen

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ihnen die Verbindung herstellt, ein Marktsystem bilden, ist also eine

Potenz, die durch die ökonomische Integration der feudalen Herrschaft,durch ihre Vereinnahmung als Mehrwertrealisierer, potenziell zwar oderim systematischen Prinzip bereits das gesamte feudalgesellschaftlicheCorpus in Dienst nimmt und ihren Zwecken gefügig macht, die sich aberaufgrund der überwältigenden Leibesfülle jenes feudalgesellschaftlichenCorpus, aufgrund der dem Corpus eigenen und seine Integration insMarktsystem jeweils zum punktuellen Ereignis, zur winzigen Episo-de verflüchtigenden empirischen Existenz, aktuell oder in Wirklichkeitnoch weitgehend in der Latenz des feudalgesellschaftlichen Lebens ver-halten und auf ein, kaum dass es darin erscheint, auch schon wiedervon ihm verschlungenes, kursorisches Moment, eben auf eine Art von biographischem Samenkorn beschränkt findet.

Während das Marktsystem zwar die feudale Herrschaft als Konsu-menten rekrutiert und so zu einem integrierenden Funktionselementseiner eigenen erweiterten Reproduktion werden lässt, bleibt ihm dochzugleich das dieser Herrschaft fronwirtschaftlich dienstbare, bäuerlicheGros der feudalen Gesellschaft noch weitgehend entzogen und tritt ihmals ein heterogen-syntagmatisches Umfeld entgegen beziehungsweiseumgibt es wie ein fremdartig-anorganisches Milieu, worin es sich alsein nur punktuell wirksames und, aufs gesellschaftlich Ganze gesehen,immer wieder verschwindendes Moment verliert und gleichermaßenseine systematische Geltung und sein organisches Funktionieren in engeGrenzen gebannt und in der Tat zum Ausnahmefall degradiert findet.

Um aktuell oder in Wirklichkeit zu werden, was es potenziell oderdem Prinzip nach bereits ist, und um also das in ihm gestaltgewordeneModell marktwirtschaftlich-akkumulativen Produzierens in die Tat derfeudalgesellschaftlichen Totalität umzusetzen, muss es gleichermaßender Größe und der Anzahl seiner konstitutiven Elemente nach, sprich,sowohl im Volumen als auch in der Menge jener relativ unabhängigenProduzentengemeinschaften, aus denen die kommerzielle Funktion es,das System, organisiert, gewaltig zulegen und völlig andere Dimensionen

erreichen.

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Die Vervielfältigung der durchs Marktsystem zusammengeschlossenen Produ-

zentengemeinschaften erweist sich als die via regia zur Entfaltung des Sys-tems, weil die feudalen Herrschaften wegen der habituell-konsumtiven und derstrukturell-kompetitiven Vorteile, die jene handwerklichen Produzentengemein-schaften ihnen bieten, und weil sie sich als finanziell lukrativ erweisen, nachKräften darum bemüht sind, sie auf ihren Territorien anzusiedeln. Um sie bei sichheimisch zu machen, räumen sie den Kommunen ökonomische Entfaltungsmög-lichkeiten und politische Freiheiten ein und lassen zu, dass sie sich zu weitgehendeigenständigen und selbstverwalteten Gemeinwesen entwickeln.

Was die Größe, das Volumen der einzelnen Produzentengemeinschaftangeht, so liegen freilich Zunahme und Wachstum in der Natur des Sys-tems selbst. So gewiss das erstmals in der klassischen Antike in Szenegesetzte und jetzt unter anderen Vorzeichen, in anderer Konstellationund mit anderem Personal wieder auf den Plan tretende Modell ausmarktwirtschaftlich organisierten und integrierten Produzenten, denMarkt herstellender kommerzieller Funktion und den markteigenen Pro-duktionsüberschuss verwertenden hauptberuflichen Konsumenten seineultima ratio in der Wertakkumulation, der stets erweiterten Reproduk-tion des immer Gleichen, der um der Zirkulation willen angestrengtenProduktion und einer um der Produktion willen betriebenen Zirkulationfindet, so gewiss impliziert dieses Modell ein naturgemäß fortlaufendes

extensives beziehungsweise intensives, die Zahl der Produzenten bezie-hungsweise ihre Produktivkraft betreffendes Wachstum der jeweiligen,das System tragenden Elemente, der einzelnen Produzentengemeinschaf-ten.

Von den kommerziellen Betreibern des Systems mit einem dank derherrschaftlichen Konsumenten und ihrer Funktion als Mehrwertrealisie-rer von Mal zu Mal vergrößerten Wertquantum, einem kontinuierlichenMehr an allgemeinem Äquivalent konfrontiert, das ihnen als marktgän-gige Münze zur Verfügung steht, sofern sie ein entsprechendes Mehr anProduktionsleistung erbringen, können die Produzentengemeinschaften

eigentlich gar nicht anders, als diese Chance zur Vergrößerung ihresWohlstands mittels vermehrter Arbeit zu nutzen und sei’s ihre Reihendurch weitere Produzenten aufzufüllen, sei’s durch technische Neue-rungen oder arbeitsorganisatorische Verbesserungen ihre Produktivität,sprich, die Arbeitsleistung des vorhandenen Personals, zu steigern.

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Allerdings stehen dieser in der Natur des Marktssystems beschlossenen

Wachstumstendenz der Produzentengemeinschaften äußere, aus demfactum brutum des feudalherrschaftlichen Kontextes resultierende Ein-schränkungen und Hemmnisse entgegen, die, wenn schon das Wachstumnicht überhaupt zu durchkreuzen und zu unterbinden, so jedenfalls dochzu behindern und stark zu verlangsamen geeignet sind. Da ist erstens dieräumliche Enge der auf die klösterlichen Exklaven, die klerikalen Freiräu-me beziehungsweise auf deren unmittelbaren Umkreis eingeschränktenProduzentengemeinschaften, die einer Entfaltung nur zu rasch Grenzensetzt. Und da sind zweitens die personalen Nachschubprobleme, dieaus der Tatsache resultieren, dass sich die im territorialherrschaftlichenUmfeld der Produzentengemeinschaften lebende Bevölkerung in fron-wirtschaftlicher Abhängigkeit von der Feudalherrschaft befindet unddiese eine Desertion und Abwanderung ihrer Untertanen in die relativeproduzentengemeinschaftliche Freiheit im Normalfall nicht toleriert.

Angesichts solch gravierender Hindernisse, mit denen sich die ein-zelne Produzentengemeinschaft im Blick auf die ihr vom Marktsystemnahegelegte, um nicht zu sagen, abgeforderte Expansion und Vergröße-rung konfrontiert findet, kommt offenbar alles auf die Wirksamkeit undden Erfolg der zweiten zur marktsystematischen Durchdringung desfeudalgesellschaftlichen Zusammenhangs geeigneten Methode, nämlichder Vermehrung der Produzentengemeinschaften, ihrer zahlenmäßigen

Vervielfältigung an. Auf den ersten Blick scheint nun zwar dieses zweiteVerfahren noch weniger aussichtsreich, weil es ja angesichts der topischenVerhältnisse, der Raumaufteilung zwischen durchgängigen feudalherr-schaftlichen Territorien und eingestreuten klösterlich-klerikalen Freiräu-men, ein Vordringen der Produzentengemeinschaften auf feudalherr-schaftliches Gebiet, sprich, einen Transfer der im klösterlich-klerikalenFreiraum gegebenen besonderen politisch-ökonomischen Existenzbedin-gungen in die ihnen stracks widerstreitende und sie nach Maßgabe ihrerlehnsrechtlich-fronwirtschaftlichen Verfassung regelrecht ausschließendeherrschaftliche Domäne voraussetzte. Wie sollte wohl ausgerechnet der

auf Loyalität statt auf Reziprozität und auf persönliche Abhängigkeitstatt auf sächlichen Austausch gegründete feudale Kontext den konstitu-tiven Elementen des neu entstehenden Marktsystems, den kommerziellmiteinander verknüpften Produzentengemeinschaften neuen Typs, eineFreistätte und einen Entfaltungsraum bieten und so die Grundlage für

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das besagte zweite Verfahren zum Auf- und Ausbau des Marktsystems,

nämlich die Vermehrung und Vervielfältigung eben dieser für das Systemkonstitutiven Produzentengemeinschaften liefern?Indes, was auf den ersten Blick geradezu ausgeschlossen erscheint,

stellt sich auf den zweiten vielmehr als die via regia der weiteren Kar-riere des Marktsystems heraus. Und zwar deshalb, weil die Wort- undGeschäftsführer der feudalgesellschaftlichen Sphäre, eben die feudalenHerrschaften selbst, gegenüber jenem Verfahren einer fortgesetzten Streu-ung und Vervielfältigung der Produzentengemeinschaften, sprich, ihrerDissemination und Ausbreitung in die feudalgesellschaftliche Sphärehinein, nicht etwa bloß Toleranz und Aufgeschlossenheit an den Tag

legen, sondern sich mehr noch als seine begeistertsten Partisanen undentschiedensten Förderer erweisen.Tatsächlich sind sie es, die feudalen Herrschaften, die darauf verfal-

len, im Blick auf die dank der klerikalen Freiräume ihrer territorialenHerrschaft weitgehend entzogenen Produzentengemeinschaften eineAusnahme von der Regel der lehnsrechtlich-fronwirtschaftlichen Verfas-sung der von ihnen beherrschten Gesellschaften zu machen und solchenGemeinschaften nämlich auf den eigenen Territorien einen rechtlichenRahmen und politisch-ökonomische Bedingungen zu bieten, die ihnenein vergleichbar unabhängiges Wirtschaften wie in den klerikalen Frei-

räumen ermöglicht. In der Tat sind sie es, die feudalen Herrschaften,die der Bildung und Etablierung solcher Produzentengemeinschaftenauf ihrem Territorium Vorschub leisten, indem sie im Verhältnis zu ih-nen all die feudalherrschaftlichen Rechte und Ansprüche außer Kraft beziehungsweise hintan setzen, die ihre Bildung und Etablierung in derfeudalherrschaftlichen Sphäre eigentlich ausschließen. Was die feudalenHerrschaften dazu motiviert, den Produzentengemeinschaften Avancenzu machen und sie auf ihrem Hoheitsgebiet bereitwillig Fuß fassen zulassen, ihnen dort neue, durch profane Verträge, statt durch klerikaleProtektion gesicherte Standorte einzuräumen, sind die offenkundigen,

öffentlichen ebenso sehr wie privaten und staatlichen nicht weniger alspersönlichen, Vorteile, die sie aus der unmittelbaren Präsenz und deminnerterritorialen Wirken der Gemeinschaften ziehen.

Keineswegs nämlich sind es nur habituelle, die Konsumgewohnhei-ten, den Lebensstandard betreffende Annehmlichkeiten, die, wie schon

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ausgeführt, die durch die kommerzielle Funktion zum Marktsystem orga-

nisierten Produzentengemeinschaften dank ihres von fronwirtschaftlicherBevormundung und Ausbeutung relativ befreiten und vom eigenen In-teresse, von der Aussicht auf eigeninitiativen Wohlstand bestimmtenArbeitens und Wirtschaftens und dank ihrer dadurch genährten Pro-duktiv- und Erfindungskraft den feudalen Herrschaften mittels kom-merzieller Funktion zu bieten vermögen und die natürlich umso größerund umso zuverlässiger zu haben sind, wie die Produzentengemein-schaften in nächster räumlicher Nähe und im engsten sozialen Kon-takt zu den feudalen Herrschaften tätig sind. Mindestens ebenso schwerwie die habituell-konsumtiven Annehmlichkeiten wiegen vielmehr die

strukturell-kompetitiven Vorteile, die teils darin bestehen, dass dankder auf ihren Territorien stationierten Produzentengemeinschaften diefeudalen Herrschaften einen direkten Zugang zum jeweils letzten Standder Technik gewinnen und vergleichsweise unmittelbar von den in denProduzentengemeinschaften vorangetriebenen neuesten Entwicklungen,ihren jeweils jüngsten inventorischen Errungenschaften profitieren, teilsdarin, dass das die Produzentengemeinschaften organisierende Handels-system die betreffende Territorialherrschaft in entsprechend verstärktemMaß in sein Netz aus Handelswegen und Handelsniederlassungen einbe-zieht und sie durch den wachsenden Strom von Gütern und Menschen,

den es in sie hinein und aus ihr herauspumpt, ebenso sehr für Einflüsseaus der umgebenden Welt öffnet wie selber auf die umgebende WeltEinfluss nehmen lässt.

Was das erstere, den Zugang zum technischen Fortschritt und die Teil-habe an der Produktivitätsentwicklung betrifft, so beschränkt sich dasInteresse der feudalen Herrschaften keineswegs nur auf den rüstungsre-levanten Bereich, den Festungsbau und die Metallbearbeitung, sondernerstreckt sich auf zahlreiche andere Gebiete wie etwa die landwirtschaft-liche Produktion, den Werkzeug- und Fahrzeugbau, den Bergbau und diefür die herrschaftliche Repräsentation wichtigen Produktionssparten wie

etwa die Tuchmacherei oder die Feinschmiedekunst. All diese Gewerkesteigern und stärken in dem Maße, wie die feudale Herrschaft sie in ihrerunmittelbaren Nähe zu verankern, sie auf dem eigenen Territorium zuetablieren vermag und wie sie ihr, wenn auch strikt vermittelt durchden Austauschmechanismus der kommerziellen Funktion, zu Gebote

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stehen, die materiellen Ressourcen, die militärische Macht und das soziale

Ansehen der jeweiligen Herrschaft.Und was das zweite angeht, die wachsende Einbeziehung der jewei-ligen Herrschaft in das als Marktsystem ausgelegte Handelssystem, so befördert sie nicht nur praktisch-ökonomisch deren Gewicht und Ak-tualität, sondern dient ebenso sehr politisch-ideologisch ihrem Ansehenund ihrer Attraktivität. In einem Herrschaftssystem wie dem feudalen,das wesentlich auf persönlichen Abhängigkeiten und verwandtschaft-lichen Beziehungen aufbaut und unter der Drohung eines dank Beleh-nungen, Ehebündnissen und Erbschaften ständigen internen Wandels,einer permanenten kaleidoskopartigen Verschiebung, Neuaufteilung undNeuanordnung seiner territorialen Einheiten steht – in einem solchenHerrschaftssystem stellen für die einzelne Einheit materielle Kräftigungenund funktionelle Stabilisierungen wie die beschriebenen keinen geringenWettbewerbsvorteil und unter Umständen den Fortbestand der Herr-schaft sichernde Aktivposten dar.

Und zu diesem strukturell-kompetitiven Vorteil, den für die jeweili-ge Feudalherrschaft die Präsenz des neuen Marktsystems und etlicher beziehungsweise möglichst vieler seiner konstituierenden Elemente inihrem Herrschaftsbereich bedeutet, kommt nun zu allem Überfluss nochder finanziell-lukrative Aspekt hinzu, den diese Einlassung und Ein-gliederung marktwirtschaftlicher Produzentengemeinschaften ins feu-

dalherrschaftliche Territorium für den Feudalherren hat. Wie sich schondie anfängliche Handelsfunktion, während sie noch nur erst die auf dieklösterlich-klerikalen Freiräume beschränkten Produzentengemeinschaf-ten marktwirtschaftlich miteinander verknüpft, bereit findet, für den un-gehinderten beziehungsweise geschützten Durchzug und Güterverkehrdurch die dazwischen liegenden feudalen Territorien deren HerrschaftenTribut oder Wegezoll zu zahlen, so sind nun auch die mittlerweile auf denfeudalen Territorien Fuß fassenden und sich dort häuslich einrichtendenProduzentengemeinschaften willens, sich den territorialen Herrschaftenfür den besonderen Status, den diese ihnen einräumen, materiell erkennt-

lich zu zeigen, ihnen die ausnehmenden Freiheiten, die sie von ihnengewährt bekommen, finanziell zu honorieren.Dafür, dass die feudalen Herrschaften sie von fronwirtschaftlichen Ver-

pflichtungen und Dienstleistungen ausnehmen und ihnen weitgehendeFreiheit nicht nur bei ihren ökonomischen Unternehmungen, sondern

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auch bei ihrer politischen Organisation lassen sowie ihnen Selbstverwal-

tungs- und Gerichtsbarkeitskompetenzen zugestehen, sind die Produ-zentengemeinschaften gerne bereit, den Herrschaften die Dispensationenund Privilegien, die sie von ihnen erhalten, finanziell zu vergüten undsie durch regelmäßige Wege-, Markt- und Warenzölle sowie durch Son-derleistungen in Notzeiten oder im Verteidigungsfall an dem Wohlstand,den sie unter herrschaftlichem Schutz erwirtschaften, in Maßen teilhabenzu lassen. Das fällt ihnen umso leichter, als – vergleichbar den Tribu-ten, die die kommerzielle Funktion in den frühesten, noch weitgehendklerikal gefärbten Anfängen des Marktsystems an die Territorialherrenentrichtet und die ja neben der negativen Funktion einer Sicherung des

Handelsverkehrs gegen herrschaftliche Eingriffe auch noch die positiveAufgabe einer Einübung der Herrschaft in die Konsumentenrolle erfüllen– auch diese der Territorialherrschaft geleisteten Zölle und Zahlungennicht einfach tote Kosten sind, sondern neben ihrer Funktion einer Ho-norierung des Status quo dazu dienen, der Herrschaft immer weiterden Schneid ihres Souveränitätsanspruchs gegenüber den auf ihrem Ter-ritorium heimischen Produzentengemeinschaften abzukaufen, ihr dasZugeständnis immer weiterer ökonomischer Konzessionen, politischerFreiheiten und sozialer Rechte an die letzteren als sinnvoll, weil finanzielllohnend erscheinen zu lassen.

Die feudale Herrschaft erfährt also die durch die kommerzielle Funkti-on zum interterritorialen Marktsystem organisierten Produzentengemein-schaften aus der Retorte der klerikalen Freiräume, wenn es ihr gelingt,sie aus ihrer Retortenexistenz in die territorialherrschaftliche Empirie zuüberführen und dort heimisch werden zu lassen, gleich in mehrfacherHinsicht als eine Bereicherung ihrer Herrschaft und Stütze ihres Strebensnach Macht und nach Kontinuität der Macht. Nicht genug damit, dass dieauf dem Territorium heimischen Produzentengemeinschaften, habituell-konsumtiv gesehen, der jeweiligen Herrschaft willkommen sind, weilsie ihren Lebensstandard, ihr materielles Wohlergehen befördern, sie

kommen ihr auch, strukturell-kompetitiv betrachtet, gelegen, weil sieihre Konkurrenzfähigkeit im Verhältnis zu den anderen Territorialherr-schaften vergrößern, sprich, gleichermaßen ihre ökonomisch-reale Machterhöhen und ihren politisch-sozialen Status stärken, und sie erweisensich zu allem Überfluss auch noch als eine für die Herrschaft selbst, das

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Staatssubjekt als Privatperson und sein Vermögen, den Fiskus, finanziell-

lukrative Einrichtung, weil sie bereit sind, dies Staatssubjekt dafür, dasses ihnen auf seinem Hoheitsgebiet eine Freistatt einräumt, durch Zölleund Abgaben an den Gewinnen aus ihren handwerklich-industriellenProduktionen beziehungsweise den auf ihren Produktionen basierendenkaufmännisch-kommerziellen Transaktionen teilhaben zu lassen.

Was Wunder, dass die diversen Feudalherrschaften darin wetteifern,solche Produzentengemeinschaften auf ihren Territorien anzusiedelnund ihnen ihre von den klerikalen Freiräumen her gewohnten und fürihr erfolgreiches Funktionieren unentbehrlichen Lebensbedingungen zuschaffen beziehungsweise zu garantieren, ihnen also im offenkundigenWiderspruch zur herrschenden, von fronwirtschaftlicher Abhängigkeitund persönlichen Dienstleistungen geprägten Verfassung der feudalenGesellschaft relative ökonomische Eigeninitiative und politische Selbstbe-stimmung zuzugestehen. Was Wunder, dass sie sogar die Abwanderungund Flucht von Untertanen (lieber allerdings aus fremden Herrschafts-gebieten als aus den eigenen) und deren Übersiedlung in die von ihnengeschaffenen beziehungsweise garantierten Freiräume tolerieren – imInteresse des Wachsens und Gedeihens dieser die Freiräume okkupieren-den Gemeinschaften, die ihrer Herrschaft in so vielerlei Hinsicht Vorteile bringen und von Nutzen sind.

Und was Wunder, dass sich so mit paradox-tatkräftiger Hilfe der Feu-

dalherrschaft die ihr in der politischen Idee ebenso wie im ökonomischenPrinzip stracks widerstreitende Produzentengemeinschaft neuen Typsvervielfältigt und in alle feudalen Territorien hinein ausbreitet und, ver-mittelt und vernetzt durch die kommerzielle Funktion, binnen zwei, drei Jahrhunderten zu einem Marktsystem entfaltet, dessen Struktur die desfronwirtschaftlich-feudalherrschaftlichen Zusammenhangs durchgängigkomplementiert und zu einer Art von – wenn auch weniger paralleler, alskontrapunktischer – Doppelhelix gestaltet, einem Marktsystem, das sichwegen seiner ökonomischen Leistungen und Beiträge zum Feudalsystemaus diesem bald schon nicht mehr wegdenken lässt und ihm am Ende so

unentbehrlich und wesentlich ist als es sich selbst.Durch ihre Integration ins Marktsystem ebenso sehr ökonomisch ge-stärkt und zum Wachstum angeregt, wie durch die feudale Förderungund Privilegierung befestigt und zur Eigenständigkeit disponiert, ver-wandeln sich dabei die überall, wenn auch abhängig von geographischen,

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zum Schutz ihres im territorialherrschaftlichen Kontext halbwegs exterri-

torialen Status, zur Bewahrung ihrer städtischen Freiheit zu treffen undnämlich für den immer möglichen und – wie die historische Erfahrungzeigt – zunehmend wahrscheinlicheren Fall gerüstet zu sein, dass bei dereinen oder anderen Feudalherrschaft das für die Tolerierung und Privi-legierung solch halbwegs autonomer städtischer Gemeinwesen grundle-gende Motiv partizipativen Interesses und friedlichen Eigennutzes nichtausreichend verfängt und der offenen Raubgier oder herrschaftlicherWillkür weicht.

An Wahrscheinlichkeit gewinnt dieser Fall, eben weil im Zuge derhistorischen Entwicklung die halbwegs autonomen städtischen Gemein-

wesen dank ihrer Produktivität und ihrer kommerziellen Aktivitätenimmer wohlhabender und, was gleichermaßen ihren technischen Standund ihren konsumtiven Lebensstandard betrifft, immer beneidenswerterund verführerischer werden und weil aus Gründen, die noch zu erör-tern sein werden, die Feudalherrschaften, zumindest in Teilen, im Ver-gleich damit immer stärker ins Hintertreffen geraten und immer mehrverbauern und verarmen. Angesichts des Reichtums und der Pracht,die die Städte entfalten, und des Lebensstils, den sie pflegen, muss beiall den feudalen Herrschaften, die mangels Kaufkraft die ihnen vomMarktsystem zugewiesene Konsumentenrolle nicht mehr oder nur noch

unzulänglich wahrzunehmen vermögen, die Neigung oder Versuchungwachsen, mit dem einzig ihnen verbliebenen Pfund, ihrer militärischenSchlagkraft, zu wuchern und sich mit Gewalt zu holen, was das sichfortentwickelnde, kommerziell organisierte Produktionssystem ihnenvorenthält beziehungsweise entzieht.

Ein und dasselbe städtische Wachsen und Gedeihen aber, das in den inihren Burgen und Herrensitzen residierenden und an den Segnungen, diesolchem Wachsen und Gedeihen entspringen, nicht mehr wie gewünschtteilhabenden feudalen Herrschaften die Raubgier weckt, gibt den Städtenauch die Mittel an die Hand, solcher Raubgier zu trotzen und einen Riegel

vorzuschieben und den feudalen Herrschaften den Respekt vor der Frei-heit und Integrität der städtischen Gemeinwesen als wenn schon nicht imeigenen Interesse gelegene, so doch der politischen Klugheit entsprechen-de, als wenn schon nicht von innerer Motivation getragene, so doch durchdie äußeren Umstände gebotene Haltung vor Augen zu führen.

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Verschiedene Faktoren treiben die klerikalen Freiräume dazu, sich als ständisch

definierte Territorien dem feudalen Herrschaftssystem einzugliedern, womit sieihre topische Exterritorialität und ihre ökonomische Eigenständigkeit verlierenund die dynamische Exzentrik des Klerus sich teils zur bloßen Kultdienerschaft

 funktionalisiert, teils zur irdischen Landnahmelust verwildert.

Dass die sich in alle herrschaftlichen Territorien ausbreitenden und imMedium des Marktsystems, das sie bilden, zu mehr oder minder freien beziehungsweise autonomen städtischen Gemeinwesen entfaltendenProduzentengemeinschaften sich so dauerhaft festsetzen und, geschütztgleichermaßen durch die ökonomische Nützlichkeit, die sie für die Feu-dalherrschaft besitzen, und durch die militärische Widerstandskraft, mitder sie herrschaftlichen An- und Übergriffen gegebenenfalls begegnen,zu einem nicht mehr wegzudenkenden und in der Tat fortschreitendan ökonomischem Gewicht und politischer Bedeutung gewinnendenBestandteil der feudalen Gesellschaft avancieren, geschieht zu ihremGlück und just zur rechten Zeit, weil sie ihrer ursprünglichen, quasiexterritorialen Standorte in den klösterlich-klerikalen Freiräumen in demMaße verlustig gehen, wie die letzteren sich feudalisieren und, einenterritorialherrschaftlich-fronwirtschaftlichen Charakter annehmend, indie Reihen ihrer säkularen Nachbarn eingliedern – zwar als Gebiete mitgeistlichen Herren von den Territorien mit weltlichen Herren ständisch-

zeremoniell unterschieden, aber in allen praktisch-funktionellen Hinsich-ten, in den Dominialrechten auf ihr Gebiet, den Lehnspflichten gegenüberdem Oberherrn und den Leistungsansprüchen an ihre Untertanen denweltlichen Territorien ebenso sehr angeglichen wie gleichgestellt.

Begründet ist diese Feudalisierung der klerikalen Freiräume erstlich inder zur Gewohnheit sich auswachsenden Neigung der säkularen Lehns-und Oberherren, die Leiter großer Klostergemeinschaften und die Ober-hirten der Laiengemeinden, Äbte und Bischöfe, mit Gütern zu belehnenund in Vasallendienst zu nehmen, weil bei diesen Vasallen naturgemäßkeine Erbfolgen, keine familiären Machtkonzentrationen und Anspruchs-

haltungen, kurz, keine dynastischen Verwicklungen zu erwarten sindund weil im Normalfall diese Vasallen den feudalen Verwandtschaftssys-temen, den großen Adelssippschaften, hinlänglich fremd und abstraktgegenüberstehen, um sich dem Lehns- und Oberherrn, dem allein sie ihreherrschaftliche Stellung verdanken, besonders verpflichtet zu fühlen und

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sich mangels sonstigen Rückhalts in besonderer Abhängigkeit von ihm

zu befinden und einer besonderen Anhänglichkeit an ihn zu befleißigen.Zum zweiten leistet der Feudalisierung der kirchlichen Gebiete dievom Klerus gemäß der Devise, dass der Appetit mit dem Essen kommt,zunehmend propagierte laizistische Werkheiligkeit Vorschub, sprich,die Doktrin, dass materiale Stiftungen an die Kirche im Allgemeinenund territoriale Schenkungen und Hinterlassenschaften an Diözesen undAbteien im Besonderen dem Seelenheil des Stifters, Gebers oder Erb-lassers förderlich sind und seine Aussichten auf schließliche Errettungentscheidend verbessern können. Zumal in dem Maße, wie der Klerusder fortschreitenden Verdiesseitigung der Laien, ihrer durch materiale

Fortschritte und Hebung des Lebensstandards bedingten wachsendenIndifferenz gegenüber der Heilsperspektive zu wehren beziehungsweisezu steuern sucht und zwecks Erhaltung seiner moralischen Zensoren-rolle ein letztes Gericht und die damit verknüpfte Möglichkeit ewigerVerdammnis und Höllenpein in den heilsperspektivischen Vordergrundrückt, wächst die individuelle Bereitschaft, die Kirche in Person ihrer bischöflichen Vertreter oder in Gestalt ihrer klösterlichen Gemeinschaftenmit Schenkungen zu bedenken und als Erben einzusetzen, um auf dieseWeise Verschonung von den Schrecken des Jüngsten Gerichts zu erlangenoder jedenfalls die Aussicht auf solche Verschonung zu verbessern.

Und drittens wird die Feudalisierung des Klerus noch durch die Kolo-nisationstätigkeit, die in Bevölkerungsdruck und territorialem Vergröße-rungsstreben begründete Eroberung und Unterwerfung der nichtchristli-chen Gebiete in der Mitte und im Osten des europäischen Kontinents vor-angetrieben, bei der in Erfüllung seines Missionsauftrages der mönchi-sche und episkopalische Klerus ebenso sehr eine expansionsstrategischeVorreiterrolle spielt wie eine siedlungspolitische Grundlegungsaufgabeerfüllt und dafür vom jeweiligen säkularen Initiator oder Förderer derLandnahme, egal, ob es sich um die königliche Macht selbst oder umRegionalfürsten handelt, vorzugsweise mit den neuen Territorien belehnt

und mit den in ihnen anfallenden Verwaltungs- und Ordnungsfunktionen betraut wird.All das wirkt zusammen, um die mönchisch-klösterlichen Gemein-

schaften in specie und die episkopalisch-klerikalen Organisationen ingenere allmählich ihre topische Exterritorialität verlieren und ihre ebenso

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ökonomisch fundierte wie politisch artikulierte Eigenständigkeit aufge-

 ben zu lassen, so dass sich am Ende die einstigen kirchlichen Freiräumeunter dem Gewicht und Einfluss der ihnen zugewachsenen beziehungs-weise zugefallenen neuen, territorialherrschaftlich-fronwirtschaftlich ver-fassten Gebiete als ständisch definierte Territorien in das feudale Herr-schaftssystem überführt und ihm vollständig eingegliedert zeigen. Seinedynamische Exzentrik, seine professo modo heilsperspektivische Aus-richtung, und seine daraus hervorgehenden kommunalen Organisati-onsformen und Lebensweisen beziehungsweise seine daran geknüpftensozialen Dienstleistungen und Funktionen dagegen behält der Klerus inseinen beiden Haupterscheinungsformen, der mönchisch-klösterlichenund der episkopalisch-diözesanen, mehr oder minder bei und führt siein wie immer modifizierter, wie immer seinem neuen feudalen Real-fundament angepasster Weise fort. Das muss er auch, da ja diese seine, bezogen auf das säkular-irdische Dasein, relative Exzentrik und seine sichdaraus herleitenden Rollen des kultisch-sakramentalen Nothelfers unddes praktisch-moralischen Wegweisers den letzten Rechtfertigungsgrund,die ultimative Legitimationsbasis auch noch und unverändert für seinedem feudalgesellschaftlichen Kontext nunmehr integrierte ständisch be-sonderte Existenz, sprich, für den korporativen Status bilden, den er imsäkular-irdischen Dasein dank seiner ihm zugewachsenen territorialenVerankerung und Verantwortung an der Seite der feudalen Herrschaft

und im Verbund mit ihr jetzt innehat.Freilich kann, dass die dynamische Exzentrik der klerikalen Existenz

und die ihr entspringenden gesellschaftlichen Dienstleistungen undFunktionen des Klerus sich damit aller als topische Exterritorialität undökonomische Eigenständigkeit firmierenden irdischen Basis sui generis beraubt und, eingebettet in und gekettet an die ihnen stracks wider-streitende Daseinsform einer korporativen Teilhabe und aktiven Mitwir-kung am Geschäft irdischer Machtausübung und territorialer Herrschaft,auf einen bloßen Rechtfertigungsgrund oder, besser gesagt, Berechti-gungsnachweis für eben jene Teilhabe und Mitwirkung an der weltlichen

Herrschaft reduziert zeigen – freilich kann dies, mag es auch an den alsgleichermaßen tragende Elemente und Ausdrucksmittel der Exzentriketablierten Organisationsformen und Lebensweisen des Klerus wenigändern und ihre traditionellen Strukturen weitgehend unberührt lassen,doch aber nicht ohne gravierende Rückwirkungen auf die vom Klerus

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kraft dieser seiner exzentrischen Organisationsformen und Lebensweisen

erbrachten sakramentalen Dienstleistungen und ausgeübten sozialenFunktionen beziehungsweise auf deren verhältnismäßige Gewichtungund relative Bedeutung bleiben. Während die kultisch-sakramentale Not-helferrolle, die den Laien geleistete Hilfestellung bei der Erlangung desHeilsmittels, als der harte Kern seines gesellschaftlichen Rechtfertigungs-grunds oder Berechtigungsnachweises dem Klerus vollständig erhaltenund seine zentrale Aufgabe bleibt, tritt die praktisch-moralische Weg-weiserfunktion, die den Laien gegebene Anleitung zur Führung einesgottgefälligen Lebenswandels oder heiligen Lebens, weitgehend in denHintergrund und büßt jene Komplementarität, jene konditionale Unab-dingbarkeit ein, die sie dem Klerus zur unabweislichen Pflicht machte.

Wie sollte auch der Klerus, der nunmehr gleichermaßen seine realeExistenz und seine soziale Stellung kaum weniger als der säkulare Adeloder höchstens ständisch von ihm unterschieden auf den Status quo einerfronwirtschaftlich beziehungsweise dienstmannschaftlich organisiertenund so oder so in weltlicher Arbeit und Geschäftigkeit verhaltenen, mitnatürlichen und gesellschaftlichen, materiellen und strukturellen Repro-duktionsaufgaben beladenen Untertanenschaft gründet – wie sollte wohldieser Klerus noch daran interessiert sein und ernsthaft daran arbeiten,durch eine als praktische Heranführung und Angleichung des profanenDaseins ans heilige Leben wohlverstandene moralische Lenkung und

Erbauung jenen weltlichen Status quo zu überwinden und aufzuhebenoder jedenfalls zu bessern und zu veredeln? So gewiss das heilige Lebendes Klerus, durch die Feudalisierung der klerikalen Freiräume seiner ex-territorialen Grundlage und ökonomischen Eigenständigkeit weitgehendentkleidet, nun materiell und strukturell auf dem gleichen säkularenFundament ruht wie die feudale Herrschaft, so gewiss verliert der Klerusallen Impetus, diesen laizistischen Status quo seiner eigenen, klerikalenExistenz anzugleichen, also durch moralische Erbauung quasi die Auf-hebung des weltlichen Fundaments zu dem geistlichen Bau, den es dochtragen soll, zu betreiben, kurz, sich den Boden zu entziehen, der ihn

nunmehr trägt, den Ast abzusägen, auf dem er mittlerweile sitzt.So aber aller Vorbildlichkeit und Wegweiserfunktion für das laizistischeDasein beraubt, reduziert sich das heilige Leben, auch wenn es für deneinzelnen Kleriker selbst als via regia zum Heil fortbestehen, für ihn per-sönlich oder subjektiv die Bedeutung einer wesentlichen Heilsbedingung

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 behalten mag, objektiv oder gesellschaftlich auf eine für die sakramentale

Aufgabe, die der Klerus zu erfüllen hat, unabdingbare Voraussetzung,ein von der Nothelferrolle, kraft deren er den Laienständen den Weg zumHeil erschließt, nicht wegzudenkendes Requisit. Tatsächlich tritt damitgenau das ein, was die dem Klerus übertragene praktisch-moralischeAufgabe, seine Rolle als spiritus rector und Zensor der Laienschaft, jagerade verhindern soll: nämlich die Funktionalisierung oder, besser ge-sagt, Instrumentalisierung des durch sein heiliges Leben bestimmtenKlerus zum reinen Kultdiener, zu einem für die Aufrechterhaltung derHeilsperspektive durch die sakramentale Versorgung der Gesellschaft mitdem Heilsmittel zuständigen Funktionär.

Und diese sakramentale Instrumentalisierung des Klerus und des hei-ligen Lebens, das ihn auszeichnet, diese seine Abdankung in der Rolleeiner die Laiengesellschaft durch ihr heiliges Leben zu erbauen bestimm-ten praktisch-moralischen Instanz, schlägt nun aber nolens volens auchauf die Heilsperspektive selbst, auf den als Jenseitskonzept definiertenInhalt oder Zielpunkt der vom Klerus behaupteten dynamischen Exzen-trik zurück. Seine Vorbildlichkeit, seine Verbindlichkeit als Paradigmaverdankt das heilige Leben ja seinem Anspruch, als Hinwendung zumewigen Leben zugleich ein Vorgriff auf es zu sein, für den künftigenHeilszustand in dem Maße bereit und geschickt zu machen, wie es ihnpräfiguriert und in ihn einführt. Geht nun aber das heilige Leben sei-

ner praktisch-moralischen Paradigmatik verlustig und wird zu einemreinen Funktionselement der heilsperspektivischen Nothelferrolle desKlerus, zu einem bloßen kultisch-sakramentalen Requisit, so geht mit derVorbildlichkeit auch und zugleich der Vorgriffscharakter verloren, büßtdas heilige Leben mit der Orientierungs- und Wegweiseraufgabe auchund zugleich sein Vorstellungsvermögen, seine Darstellungskraft ein,gerät mit der Präparationsfunktion, die das heilige Leben hinsichtlich desewigen Lebens erfüllt, ebenso wohl das Präfigurationsmoment, mit derper actum des heiligen Lebens wegweisenden Ausrichtung aufs ewigeLeben ebenso wohl dessen per medium des heiligen Lebens haltgebende

Vorführung in Vergessenheit.Das aber bedeutet, dass für die Laien dies ewige Leben, dieser jen-seitige Inhalt und Gegenstand der mönchischen Exzentrik, kurz, derkünftige Heilszustand, all die Anschaulichkeit und Bestimmtheit, all dieVergleichbarkeit mit irdischen Zuständen und Affinität zu diesseitigen

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Verhältnissen, die ihm das heilige Leben bis dahin verlieh, einbüßt und

zur Zielscheibe, zur Projektionsfläche beliebiger irdischer Bedürfnisseund kaum verhohlen diesseitiger Absichten werden kann. Die krassesteund historisch schwerwiegendste Folge dieses Obsoletwerdens des hei-ligen Lebens in der Rolle eines kraft seines Vorgriffs aufs ewige Lebenwirksamen Vorbilds für das menschliche Dasein und der darin beschlos-senen Entspezifizierung und Freisetzung des ewigen Lebens selbst zumGegenstand einer von durchaus irdischen Beweggründen beflügeltenPhantasie und Inhalt eines ganz und gar diesseitigen Triebkräften ent-springenden Verlangens sind die unter dem Namen Kreuzzüge in dieGeschichte eingegangenen Raub- und Eroberungsfahrten des abendländi-schen Adels, bei denen in Reaktion auf die Bevölkerungszunahme in derOberschicht, auf einen wachsenden Überschuss an Herrschaftspersonal,und im Gewahrsam der geographischen und ökonomischen Aussich-ten, die der in die Territorien des alten Römischen Reiches ausgreifendekommerzielle Zusammenhang den überschüssigen feudalen Gruppeneröffnet, die Orientierung aufs himmlische Jerusalem der Kaprizierungaufs irdische Palästina beziehungsweise auf die letzteres umschließendenund der Christenheit vorenthaltenden muslimischen Reiche weicht undan die Stelle des Strebens nach dem Himmelreich und nach Einkehr, nach jenseitig-spiritueller Erfüllung, der Kampf um weltliche Landnahme undBereicherung, um diesseitig-materielle Befriedigung tritt.

Auch wenn es sich bei dieser Ersetzung des himmlischen durch dasirdische Jerusalem um keine einfache Verdrängung handelt und der for-male Anspruch, durch die Einnahme der irdischen Wirkungsstätte desHeilsbringers dem himmlischen Heil einen wesentlichen Schritt näherzu kommen, subjektiv, im Bewusstsein des Einzelnen, höchste Relevanz beansprucht und selbstredende Evidenz behauptet, objektiv oder mate-rialiter bleibt der Vorgang eine so nachhaltige Deklination der Exzentrik,eine so gravierende Verschiebung des heilsperspektivischen Ziel- undInteressenpunktes, dass demgegenüber alles Kontinuitätsbewusstsein desEinzelnen, alles subjektiv unveränderte Streben nach dem himmlischen

Heil als vom eroberungssüchtigen und raubgierigen Kollektiv dem Ein-zelnen zur Verfügung gestellter Vorwand, als gesellschaftlich kommodeRationalisierung erscheint. Wie sehr diese als Untermauerung getarnteUnterminierung des himmlischen Telos durch einen irdischen Topos indie traditionelle Exzentrik, die gewohnte perspektivische Ausrichtung

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auch und gerade des heiligen Lebens des Klerus eingreift und wie wenig

der nunmehr in feudaler Herrschaftlichkeit und ständischer Etabliertheit befangene und sein heiliges Leben nurmehr als Kondition seiner kultisch-sakramentalen Wirksamkeit führende Klerus selbst dieser Verschiebungin der Heilsorientierung etwas entgegenzusetzen hat, zeigt die Entste-hung der Ritterorden, klerikaler Abenteurertrupps und Kampfgruppen, bei denen – zumal in der Phase ihrer an die orientalischen Eroberungs-fahrten anschließenden Kolonisierungstätigkeit im europäischen Osten –die Weihe zum heiligen Leben und zur mönchischen Gemeinschaft nichtsweiter mehr darstellt als die kirchlich erteilte Lizenz zur territorialherr-schaftlichen Expansion und zur Wahrnehmung feudalherrschaftlicherFunktionen und Prärogative.

Diese einer Entstellung und Verunstaltung der unzweideutig heils-perspektivischen Orientierung auch und sogar des Klerus selbst, seinerNachfolge Christi, seines heiligen Lebens, gleichkommende inhaltlicheVerschiebung und gegenständliche Verwilderung der dynamischen Ex-zentrik ist letzte Konsequenz jener Feudalisierung, jener ständischenEtablierung des Klerus, deren unmittelbare Folge der Verlust der demKlerus bis dahin eigenen topischen Exterritorialität und ökonomischenEigenständigkeit, kurz, das Verschwinden der kirchlich sanktioniertenFreiräume ist. Eben die dem feudalgesellschaftlichen Zusammenhangentzogenen kirchlichen Freiräume, denen die vom fronwirtschaftlichenProduktionssystem ausgenommenen Produzentengemeinschaften neu-en Typs und ihre Spontangeburt, die wiedererstandene kommerzielleFunktion, ihre Existenz und Lebensfähigkeit verdanken, verschwindenin dem Maße, wie sich der Klerus als ständisches Corpus der feudalherr-schaftlichen Formation eingliedert und dank Belehnungen, Schenkungen,Stiftungen und Vermächtnissen ein fronwirtschaftlich organisiertes Fun-dament erwirbt.

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Die freien Städte setzen die durch die vormaligen klerikalen Freiräume begründe-

te topische Exterritorialität und ökonomische Eigenständigkeit fort, während dieRitualisierung der dynamischen Exzentrik durch den sich feudalisierenden Kle-rus selbst ihnen erlaubt, letztere aus einer ihr profanes Dasein transzendierendenDirektive in eine es bloß noch strukturierende Rahmenbestimmung zu überfüh-ren.

Von daher gesehen, kann es in der Tat als ein Glück, um nicht zu sagen,als ein Fall von prästabilierter Harmonie erscheinen, dass bereits vor jenem Prozess der Feudalisierung des Klerus und dann parallel zu ihmdie neuen Produzentengemeinschaften das gleichermaßen durch ihrekonsumtiven Leistungen, ihre kompetitiven Vorzüge und ihre lukrativenBeiträge genährte Interesse, das die weltlichen Herrschaften an ihnen neh-men, zur Expansion in die territorialherrschaftlichen Gebiete zu nutzenverstehen. Indem die Produzentengemeinschaften sich auf territorialherr-schaftlichem Boden niederlassen und dank des Interesses der feudalenHerrschaft an ihrer Präsenz ökonomisch-organisatorische Privilegien undpolitisch-bürokratische Freiheiten für sich zu erwirken vermögen, dieihren Gemeinwesen eine im Verhältnis zum fronwirtschaftlichen Umfelddefinitive Sonderstellung und relative Autonomie sichern, gelingt esihnen in der Tat, sich aus dem Konkurs der klerikalen Freiräume zuretten und eine die dort genossenen Standortvorteile kontinuierende

Ausnahmestellung zu behaupten.Wenn man so will, erweisen sich die inmitten der feudalen Hoheitsge-

 biete Raum greifenden und sich als mehr oder minder selbstbestimmteGemeinwesen, mehr oder minder freie Städte etablierenden Produzenten-gemeinschaften als die Erben jener mit dem Verschwinden der klerikalenFreiräume dem Klerus zugleich verloren gehenden topischen Exterrito-rialität und ökonomischen Eigenständigkeit. Diese feudalherrschaftlicherMacht entzogene topische Exterritorialität und fronwirtschaftlicher Kon-trolle unzugängliche ökonomische Eigenständigkeit erhalten die freienStädte in ihren Mauern und mit ihren Mitteln aufrecht und in Geltung. In

ihren Mauern und mit ihren Mitteln – will heißen, in klärlich modifizierterForm und nämlich nicht mehr bedingt durch die orientierende Aussichtauf das bevorstehende und das irdische Dasein auf ein bloßes Durch-gangsmoment, eine schmale Pforte reduzierende Himmelreich und durchdie dominierende Absicht, dies irdische Dasein in den ausschließlichen

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Dienst eines für das Himmelreich bereit und geschickt machenden heili-

gen Lebens zu stellen, sondern nunmehr begründet in dem dirigierendenBestreben, das eigene, produktionsgemeinschaftlich-aparte Dasein ingrößtmöglicher Distanz zu und Unabhängigkeit von dem herrschendenModus fronwirtschaftlich-kollektivistischer Knechtschaft zu behaupten,und in dem okkupierenden Interesse, es bestmöglich zu nutzen, um dieSubsistenz zu verbessern und auf Erden ein gedeihliches Leben führen zukönnen.

Nicht also mehr der Schaffung eines aus dem Jammertal des irdischenDaseins kategorisch herausführenden Flüchtlingslagers, eines einzig undallein für die Vorbereitung auf die Seligkeit der himmlischen Gefildegeeigneten Übergangsraumes dienen die topische Exterritorialität undökonomische Eigenständigkeit, die die freien Kommunen von ihrer ur-sprünglichen Heimat, ihrer Matrix, als Erbe übernehmen, sondern dieseExterritorialität und Eigenständigkeit stehen jetzt im Dienste der Einrich-tung einer der Not und Knechtschaft feudalgesellschaftlicher Verhältnissespezifisch enthebenden Produktionsstätte, eines den Beschränkungendurch die Feudalherrschaft relativ entzogenen und dem Wohlergehenauf Erden, der Befriedigung materieller Bedürfnisse und kultureller An-sprüche nach Möglichkeit förderlichen Entfaltungsraumes. Nicht mehrwie in den klerikalen Freiräumen dem Seelenheil, der spirituellen Erlö-sung, einem qualitativ anderen, ewigen Leben sollen die von den freien

Kommunen der feudalen Territorien aufrechterhaltenen beziehungswei-se erneut durchgesetzten Konstitutiva topischer Exterritorialität undökonomischer Eigenständigkeit Vorschub leisten, sondern ihr zentralerZweck ist es nun, den Grund für einen aus der Rückständigkeit und Sta-gnation feudalgesellschaftlicher Reproduktion ausbrechenden leiblichenWohlstand und materiellen Fortschritt, für die Hebung der Qualität deszeitlichen Daseins selbst zu legen.

Dabei bedeutet die in Gestalt der innerterritorialen freien Kommunenvollzogene Säkularisierung der zuvor sakral begründeten, als konsti-tutive Merkmale der klerikalen Freiräume bestimmten beiden Momen-

te topischer Exterritorialität und ökonomischer Eigenständigkeit, ihreUmfunktionierung aus dem Streben nach himmlischem Heil dienlichenLebensumständen in dem Bemühen ums irdische Wohl förderliche Da-seinsbedingungen, natürlich keineswegs, dass auch das dritte, für dieklerikalen Freiräume charakteristische Moment, die als heiliges Leben

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sich artikulierende dynamische Exzentrik, in jenen Kommunen eine sä-

kularisierte Fortsetzung findet. Dies dritte Moment ist ja schon in denklösterlich-klerikalen Freiräumen kein Anliegen der in ihrem Schattenund Schutz siedelnden handwerklichen Produzentengemeinschaften,sondern die ausschließliche Okkupation der die Freiräume etablierendenklösterlich-mönchischen Gruppen und bildet die spezifische Differenzzwischen den als Laienschaft agierenden ersteren und den als Klerusoffiziierenden letzteren. Und daran ändert sich auch nichts, wenn nundie Produzentengemeinschaften sich des Schattens und Schutzes derkirchlichen Freiräume begeben und sich mit Duldung beziehungsweiseFörderung der säkularen Herrschaften auf deren Territorien als besonderepolitische Einheiten, als selbstverwaltete Kommunen einrichten, die, was

die beiden Momente der topischen Exterritorialität und der ökonomi-schen Eigenständigkeit angeht, durchaus als Erben oder Verweser derklösterlich-klerikalen Freiräume auftreten können.

Das dritte Moment, die sich als heiliges Leben artikulierende Exzen-trik, hingegen bleibt ganz und gar auszeichnendes Privileg oder defi-nierendes Merkmal der mönchisch-klerikalen Gruppen. Allerdings inder bei aller Kontinuität der Gestalt gründlich veränderten Funktioneiner jeder praktisch-moralischen Vorbildlichkeit für das irdische Daseinentkleideten und nurmehr als Bedingung der kultisch sakramentalenNothelferrolle, in der der Klerus dem irdischen Dasein beispringt, in-

teressierenden Spezialdisziplin! Wie gezeigt, legt mit fortschreitenderFeudalisierung des Klerus dessen in der Askese, Keuschheit, Armut undBarmherzigkeit der Nachfolge Christi ihren Ausdruck findende dynami-sche Exzentrik oder exklusive Ausrichtung aufs himmlische Heil die bisdahin in Anspruch genommene wegweisende Bedeutung oder normativeSollfunktion für die irdische Lebensführung, das Dasein der Laien, ab,um im speziellen Extremfall, wie ihn die Ritterorden exemplifizieren, dieshimmlische Heil im Quidproquo irdischer Eroberungen und Kolonisie-rungen zu entdecken, oder im generellen Normalfall, wie ihn der Klerusals feudalgesellschaftlicher Stand demonstriert, sich auf ein reines Funkti-onselement, eine conditio sine qua non, innerweltlicher Kultdienerschaft

und sakramentaler Versorgung des Laienstands mit dem Heilsmittel zureduzieren.

Für die zu halbwegs autonomen innerterritorialen Stadtbürgerschaftenavancierten nichtfeudalen Produzentengemeinschaften bedeutet die-se Entparadigmatisierung der dynamischen Exzentrik, diese mit der

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Feudalisierung des Klerus einhergehende Einbuße an moralischer Ver-

 bindlichkeit und imperativischem Sollcharakter, die das vom Klerus alsNachfolge Christi praktizierte heilige Leben erleidet, keinen geringenGewinn, wenn man es aus dem Gesichtspunkt der den stadtbürgerli-chen Laien aufgegebenen weltlichen Okkupation und zum Ziel gesetztenirdischen Lebensgestaltung betrachtet. Schließlich bedeutet die praktisch-moralische Vorbildlichkeit des heiligen Lebens für das profane Daseinden ständigen Einfluss des ersteren auf letzteres, den permanenten An-spruch des ersteren, sich letzteres anzuähneln oder nachzubilden, es inder ihm eigenen Geschäftigkeit und Betriebsamkeit zu unterbrechen undstillzustellen, um es im Sinne seiner Abwendung vom Irdischen und

Hinwendung zum Himmlischen, seiner Ausrichtung aufs heilsperspek-tivisch letzte Ende und höchste Gut zu revidieren, zu modifizieren, zumeliorisieren, zu sublimieren.

So sehr nun diese ständige Einmischung des heiligen Lebens ins welt-liche Dasein, diese fortlaufende maßgeblich-normative Einwirkung desKlerus auf die Laien auf territorialherrschaftlich-fronwirtschaftlichemGebiet von sozialpolitischem Nutzen sein und dort nämlich zu einer Ent-spannung und Humanisierung der andernfalls von Verrohung und Terror bedrohten Sozialbeziehungen, zu einer Entlastung und Zivilisierungdes andernfalls in nackte Willkür und Gewalt auszuarten disponier-

ten Herr-Knecht-Verhältnisses beitragen mag, so sehr wirkt sie sich imstadtbürgerlich-produzentengemeinschaftlichen Bereich störend und hin-derlich aus. Sie stört die Konzentration aufs tätige Leben und irdischeGeschäft, behindert die Arbeitsroutine und den Produktionsfluss. Alswiederkehrende Forderung, sich aktiv und verhaltenspraktisch dem Him-melreich zuzuwenden und auf die Ewigkeit vorzubereiten, geht sie zuLasten der irdischen Erfordernisse, lenkt von den zeitlichen Zielsetzun-gen ab.

Insofern kommt die mit der Feudalisierung des Klerus, seiner stän-dischen Integration ins feudalgesellschaftliche Corpus einhergehende

Befreiung der Laien von der praktisch-moralischen Paradigmatik desheiligen Lebens, kommt die Reduktion des letzteren auf eine bloße zurei-chende Bedingung der kultisch-sakramentalen Funktion, die der Klerusfür die Laien wahrnimmt, den stadtbürgerlichen Produzentengemein-schaften durchaus zupass, weil sie sich nun ohne moralisches Bedenken

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und ohne praktischen Vorbehalt zu ihrem Streben nach materiellem Wohl-

stand bekennen und der dafür nötigen Arbeit und Geschäftigkeit widmenkönnen.Nicht, dass die Preisgabe der praktisch-moralischen Vorbildlichkeit, die

das heilige Leben bis dahin für das profane Dasein beansprucht, gleichbe-deutend wäre mit dem Verlust überhaupt jeglicher Mustergültigkeit undVerbindlichkeit des Lebens des Klerus für das Dasein der Laien. So gewissvielmehr der Klerus auch nach seiner Feudalisierung und ständischenIntegration ins säkulare Herrschaftssystem an den traditionellen Formenseiner exzentrischen Lebensführung als an Bedingungen wenngleichnurmehr seiner kultisch-sakramentalen Wirksamkeit im Wesentlichen

festhält, so gewiss bleiben auch die als direkter Ausfluss beziehungsweiseReflex dieser traditionellen Lebensführung des Klerus das Dasein derLaien durchwaltenden und prägenden Verrichtungen und Verpflichtun-gen im Großen und Ganzen erhalten. Nach wie vor huldigen auch dienunmehr vom moralischen Stigma, ein minderwertiges und, verglichenmit dem geistlichen Leben, eigentlich unhaltbares und verwerflichesweltliches Dasein zu führen, befreiten Laien der Mustergültigkeit diesesgeistlichen Lebens, besuchen regelmäßig Messe und Gottesdienst, haltensonn- und festtägliche Einkehr, beten und fasten, spenden Almosen, übenzu bestimmten Zeiten sexuelle Enthaltsamkeit.

Nur dass diese dem heiligen Leben abgeschauten und ins profaneDasein als Beweise für dessen heilsperspektivische Grundorientierungeingegliederten Verhaltensformen und Gewohnheiten nun, da der vonder dynamischen Exzentrik des heiligen Lebens ursprünglich ausgehendenormative Anspruch und Nachfolgedruck gewichen ist, die Bedeutungeiner moralischen Sollbestimmung, einer doktrinellen Forderung, sichzu verändern, eingebüßt und den Charakter einer bloßen praktischenPflichtübung, einer rituell fixierten Dienstvorschrift angenommen haben!Zwar sind die dem heiligen Leben Reverenz erweisenden und seinerMustergültigkeit Tribut zollenden religiösen Rituale nach wie vor fester

Bestandteil des profanen Lebens und Unterpfand seiner in letzter Instanzsakralen Ausrichtung, aber die ihnen zuvor als gewissensnötigen Be-kenntnisakten innewohnende Tendenz, das profane Leben als defizientenModus ihrer selbst aktuell in Frage und an den Pranger zu stellen, es imSinne seiner Konversion zu einem unmodifiziert heiligen, kompromisslos

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christlichen Leben zu dynamisieren, sprich, über sich hinaus zu treiben

 beziehungsweise zu transzendieren – diese Tendenz haben sie verloren.Indem sie das profane Dasein komplementieren beziehungsweisestrukturieren, statt es zu dynamisieren beziehungsweise zu transzendie-ren, verwandeln sich diese der mönchisch-klösterlichen Nachfolge Christiabgeschauten und nachgebildeten Handlungen und Verhaltensweisenaus kritischen Momenten, die mit ihrem Eintreten das profane Dasein, jedes Festhalten an der Welt tendenziell vor den Fall seiner Verwerflich-keit und Sündhaftigkeit bringen, in kriterielle Elemente, die durch ihrePräsenz dem profanen Dasein, allem weltlichen Tun und Treiben aktuellseine Unbedenklichkeit attestieren, es als einen modus vivendi eigenenRechts sanktionieren.

Dabei steht außer Frage, dass diese sakralen Rituale und Verpflichtun-gen das profane Leben in einem gewissen Maße nach wie vor belastenund stören, dass sie seine Kontinuität zerreißen, es von seinen irdischenGeschäften ablenken, in seiner weltlichen Zielstrebigkeit behindern, inseiner produktiven Tätigkeit stillstellen. Aber erstens scheinen in einernach wie vor unter der Heilsperspektive stehenden, sprich, nach wie vorder reservatio mentalis einer im Prinzip totalen Entwertung des jetzigenErdendaseins durch das künftige Himmelreich unterworfenen Gesell-schaft solche vorübergehenden Unterbrechungen und Einschränkungendes profanen Daseins kein zu hoher Preis dafür, dass die sakralen Rituale

und Verpflichtungen mit ihrem Ritualismus, ihrem Pflichtübungscha-rakter alle moralische Dynamik, allen exzentrischen Nachfolgeimpetuseingebüßt haben und das profane Dasein nun also, statt es zu kritisierenoder gar zu verwerfen, vielmehr zu konsolidieren und als solches zusanktionieren dienen. Und zweitens zeigt sich, dass die sakralen Ritualeund Verpflichtungen den Schaden, den sie in Bezug auf die Kontinui-tät des Wirtschaftslebens und die Intensität der Werktätigkeit stiften,zum Teil auch wieder wettmachen beziehungsweise kompensieren, in-dem sie, wie etwa das Fasten oder die heiligen Feste, den Grund fürBedürfnisse etwa nach Fleischersatz und Prunkentfaltung legen, die für

eine außerordentliche Belebung von Sparten des Wirtschaftslebens wieetwa des Fischfangs, der Salzgewinnung, der Tuchindustrie und derFeinschmiedekunst sorgen.

Dank des mehrfachen Interesses, das die Feudalherrschaft an ihnennimmt, und der vielfältigen Förderung, die sie ihnen angedeihen lässt,

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in der Lage, hinsichtlich topischer Exterritorialität und ökonomischer

Eigenständigkeit das Erbe ihrer Entstehungsorte, der klerikalen Frei-räume, zu übernehmen, und gleichzeitig durch die Feudalisierung desKlerus vom praktisch-moralischen Nachfolgedruck, den bis dahin diesich als geistliches Leben artikulierende dynamische Exzentrik des letz-teren auf das weltliche Dasein ausübt, befreit und dazu legitimiert, dieAnerkennung der Vorbildlichkeit des geistlichen Lebens auf kirchlichePflichterfüllung, auf rituell-symbolische Gesten des guten Willens undrechten Glaubens zu beschränken – so also disponiert, können die in-mitten der territorialherrschaftlichen Regime als freie Kommunen sichetablierenden handwerklich-gewerblichen Produzentengemeinschaftensich ebenso sehr ökonomisch entfalten wie politisch behaupten und imSystem der die nördlichen Provinzen des vormaligen Imperiums ok-kupierenden territorialherrschaftlichen Gesellschaften als eine ebensointegrierende wie zunehmend an sozialem Gewicht und strategischerBedeutung gewinnende Komponente zur Geltung bringen.

So sehr sich diese Komponente ihrer ökonomischen Struktur und po-litischen Organisation nach vom anderen Bestandstück des Systems,dem fronwirtschaftlich-feudalen Zusammenhang, unterscheiden undso groß deshalb die Reibung zwischen ihnen sein beziehungsweise sokonfliktreich ihr Verhältnis sich gestalten mag, beide Systemteile sindwegen der ökonomischen, strategischen und finanziellen Vorteile, die dererstere dem letzteren bringt, und wegen der politischen, sozialen undkonsumpraktischen Abhängigkeit, in der sich der erstere von letzterem befindet, unabwendbar aufeinander angewiesen und untrennbar mit-einander verknüpft und könnten ab einem relativ frühen Stadium ihrerKohabitation gar nicht mehr ohne einander existieren oder jedenfallsals die Subsysteme, zu denen sie sich vermittels des jeweils anderenentwickelt haben, funktionieren.

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Vom Handelssystem der Antike unterscheidet das postimperiale Marktsystem,

dass das kommerzielle und das territoriale Element in topisch-allgegenwärtigerKohabitation und ökonomisch-durchgängiger Kommunikation miteinander exis-tieren. Dabei lässt sich das postimperiale Marktsystem durchaus als Erbin derklösterlich-klerikalen Freiräume betrachten, nur dass seine Dienstleistungen, diees für das gesellschaftliche Ganze erbringt, nicht mehr spirituell-moralischer,sondern kulturell-zivilisatorischer Natur sind und dass das gesellschaftlicheGanze seinerseits dem Marktsystem materiell-ökonomische statt ideell-strategische Hilfestellung leistet.

Die Konstellation erinnert an das zwieschlächtige System der mittel-meerischen klassischen Antike mit seinem Zugleich von theokratisch-monarchischen, fronwirtschaftlich strukturierten Territorialherrschaftenund aristokratisch-republikanischen, kommerziell organisierten Stadt-staaten, deren geographisches Neben- und soziales Gegeneinander sichdurch die kommerziellen Aktivitäten der letzteren in ein symbiotischesMit- und funktionelles Füreinander transformiert findet. Nur dass imUnterschied zu den antiken Stadtstaaten die freien Kommunen der po-stimperialen, feudalgesellschaftlich restaurierten Zeit keine peripherenEinrichtungen sind, das heißt, ihre kommerziellen Aktivitäten nicht vomäußersten Rand, von den Küsten der Territorialherrschaften her, entfal-ten müssen und letztlich auch nur entfalten können, weil sie sich ihrer-

seits nur dank einer der territorialherrschaftlichen Nachbarschaft ver-gleichbaren und aber ethnisch, soziostrukturell und kulturell von ihrhinlänglich verschiedenen eigenen territorialherrschaftlichen Grundlageals selbständiges Gebilde zu behaupten imstande sind – dass im Unter-schied dazu diese freien Kommunen dank des Unterschlupfes, Schutzesund Entfaltungsraums, den die das säkulare Territorium durchsetzendenHimmelspforten, die klerikalen Freiräume, ihnen bieten, inmitten derterritorialherrschaftlichen Sphäre auftauchen und ins Spiel kommen undsich mit den Territorialherrschaften aufgrund des mehrfachen Interesses,das diese an ihnen nehmen, nach und nach zu der beschriebenen, nicht

weniger durch die topisch-allgegenwärtige Kohabitation der komplemen-tären Elemente als durch ihre ökonomisch-durchgängige Kommunikationausgezeichneten symbiotischen Totalität verschränken.

Und der zweite, nicht minder wichtige Unterschied betrifft die ökono-mische Kommunikation selbst, die in der Antike aus ursprünglich nur

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zwischen Territorialherrschaften, die jeweils zugleich und wechselweise

als Produzenten und Konsumenten firmieren, unterhaltenen sporadisch-marginalen Handelsbeziehungen hervorgeht und die auch, nachdem es inder Konsequenz jener Handelsbeziehungen der kommerziellen Funktiongelingt, das Produzentenelement in actu der Handelsstadt zu isolierenund unvermischt zu kultivieren, doch aber an ihren Ursprungsort, dieterritorialherrschaftlichen Gesellschaften, als wesentlichen Bezugspunktund unverzichtbaren Austauschpartner gebunden bleibt und eine denreinkulturellen Produzentengruppen, wie sie sich in actu der antikenHandelsstadt aus dem territorialherrschaftlichen Kontext extrapoliertund als solche realisiert zeigen, eigentlich korrespondierende reine Kon-

sumentenschicht nur in Form von Dritten, in Gestalt nämlich von rück-ständigen Stammesgruppen, die außerhalb der territorialherrschaftlichenSphäre siedeln und ebenso sehr Mangel an Zivilisationsgütern leiden wieüber Edelmetall verfügen, ins Spiel und zur Geltung zu bringen vermag.

In der postimperialen, unter heilsperspektivischen Vorzeichen restau-riert-territorialherrschaftlichen, sprich, feudalen, Welt hingegen gelingtes dank der Tatsache, dass die handelsstädtischen Produzentengemein-schaften quasi aus der Retorte der klerikalen Freiräume hervorgehen undim wie immer beschränkten Rahmen ihrer vornehmlich handwerklichenProduktion mittels der spontan von ihnen generierten kommerziellen

Funktion einen die territorialherrschaftlichen Gebiete durchziehenden,internen, die Gemeinschaften zu einem Marktsystem miteinander ver-knüpfenden Austausch pflegen – hier also gelingt es dank dieser beson-deren Ausgangslage der ökonomischen Kommunikation, das territori-alherrschaftliche Element, das sich, was materiale Rückständigkeit undpekuniäres Vermögen, Mangel an Produktivkraft und Fülle an Kaufkraft, betrifft, durchaus den außerterritorialherrschaftlichen Stammesgruppender Antike vergleichen lässt, von vornherein auf deren Part festzulegenund einzuschränken, das heißt, es in der Rolle des reinen Konsumentenin Anspruch zu nehmen und dem Marktsystem zu integrieren, und damit

aber eben das komplette marktwirtschaftliche Modell aus kommerziellerFunktion, für den Markt produzierenden und durch ihn subsistierendenProduzenten sowie das Mehrprodukt mittels marktexternem Äquivalentin seinem Wert realisierenden Konsumenten von Anfang der kommer-ziellen Entwicklung an in Szene zu setzen, das in der Antike erst am

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sanieren strebt und an deren bitterem Ende sie doch nur selber in dem

Konkurs, in den sie die Territorialherrschaften hineintreibt, mit zugrundegeht.Weil die freien, handeltreibenden Kommunen der postimperialen Feu-

dalherrschaften gleichermaßen in topisch-allgegenwärtiger Kohabitationund in ökonomisch-durchgängiger Kommunikation mit dem feudal-herrschaftlichen Element leben, weil sie, anders als die Handelsstädteder Antike, mit dem territorialherrschaftlichen Gegenüber in ebensostreng definierter Funktionsteilung kontrahieren wie im ubiqitär asso-ziativen Verbund existieren, bieten sich ihnen keine außergewöhnlichenBereicherungschancen, wie sie den antiken Handelsstädten beziehungs-weise deren kommerzieller Funktion die amphibolische, in der topischäußerlichen Verknüpfung zweier grundverschiedener Gesellschaftsty-pen, stadtstaatlich-marktwirtschaftlicher und territorialherrschaftlich-fronwirtschaftlicher Gesellschaften, bestehende Natur des mittelmee-rischen Handelssystems eröffnet, und bleiben sie deshalb auch davor bewahrt, unter dem Druck und Diktat der mit solcher außergewöhnlichenBereicherung einhergehenden Schattenseiten und Hypotheken eine dasHandelssystem unterminierende und letztlich sprengende nichtkommer-ziell-exaktive, sprich, mit militärisch-bürokratischen Mitteln expropriati-ve Entwicklungsrichtung einzuschlagen.

Nicht, dass nicht auch die Feudalgesellschaften und die freien Kom-

munen der postimperialen Zeit grundverschiedene Gesellschaftstypenverkörperten. Aber weil das Marktsystem, zu dem sich die freien Kom-munen mittels kommerzieller Funktion organisieren, erstens ein durchdie weitgehende Beschränkung auf den Austausch handwerklicher Pro-dukte relativ homogenes und in sich geschlossenes System bildet, demzweitens die klerikalen Freiräume und klösterlichen Güter, unter derenSchutz und Schirm es seinen Anfang nimmt, eine unter- und außerhalbseiner, als Tauschhandel, funktionierende Versorgung mit agrarischenErzeugnissen sichert, weil drittens das feudalgesellschaftliche Systemausschließlich in Form der Konsumentenrolle, die die Feudalherrschaft

übernimmt, Eingang und Aufnahme in das Marktsystem findet, weil mitanderen Worten die Relevanz und der Einfluss des feudalgesellschaft-lichen Elements von vornherein streng nach Maßgabe des aus markt-abhängigen Produzenten, konsumtiven Nutznießern des Markts undkommerzieller Funktion bestehenden rein marktwirtschaftlichen Modells

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definiert und limitiert ist und weil viertens dank der auch auf ihr unmit-

telbares territoriales Umfeld sich erstreckenden Marktrechte, die ihnen bei ihrer Etablierung auf territorialherrschaftlichem Gebiet die Feudal-herrschaften einräumen, die freien Kommunen ihren aus den klerikalenFreiräumen gewohnten Tauschhandel in dem neuen Milieu praktischunverändert beibehalten können, sich hinsichtlich ihrer Versorgung mitNahrungsmitteln hier ähnlich gut gestellt finden wie dort und eine un-terhalb der Ebene ihrer eigentlichen marktwirtschaftlichen Aktivitätenpraktizierte und paradoxerweise mit Produktionskapazitäten des ande-ren Gesellschaftstyps ins Werk gesetzte Quasi-Autarkie genießen – weildies alles sich so verhält, können die freien Kommunen, ihrer struktu-rellen Fremdkörperhaftigkeit im feudalgesellschaftlichen Kontext, ihrer

sozialtypischen Verschiedenheit von ihm ungeachtet, sich mit letzteremzu einer systematischen Einheit oder symbiotischen Totalität verbinden,die stabiler und haltbarer ist als alles, was das aus seiner perpipherenPosition heraus sowohl mit Territorialherrschaften als auch mit reinenKonsumentengruppen Austausch pflegende amphibolische Marktsystemder mittelmeerischen Antike zu bieten hat.

Weder nämlich lässt die funktionell eindeutige Beziehung und po-sitionell durchgängige Verschränkung der beiden Bestandteile diesersymbiotischen Totalität, ihre allerorts praktizierte kommerzielle Arbeits-teilung, Raum für das System gefährdende oder es letztlich sprengende

Eskapaden, für auf Kosten des anderen Systemteils verfolgte Sonderwegeund Eigenentwicklungen, noch bleibt unter diesen Bedingungen den beiden Systemteilen überhaupt die Möglichkeit, außerhalb ihrer Sym- biose eigenständig zu existieren beziehungsweise eine in Kontinuitätzu ihrer Existenz innerhalb der Symbiose stehende Identität zu wahren.Würden die in die feudalen Territorien eingebetteten freien Kommunensich ihrer symbiotischen Beziehung zu den Feudalherrschaften entziehen,sie hätten, anders als die Handelsstädte der Antike, kein peripher-eigenesTerritorium, auf dem sie weiterexistieren könnten, und würden jenesfeudalgesellschaftlichen Umfeldes oder Milieus verlustig gehen, das dieihnen von der Feudalherrschaft eingeräumten lokalen Marktrechte zu

ihrem subsistenziellen Glacis werden lässt und im Tauschhandel mit demsie ihre Versorgung mit Nahrungsmitteln sicherstellen.

Und würden andererseits die Feudalherrschaften ihre symbiotischeBeziehung zu den freien Kommunen abbrechen, sie würden sich, an-ders als die Territorialherrschaften der Antike, nahezu vollständig jener

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handwerklichen Kunstfertigkeit und zivilisatorischen Fortschrittlich-

keit berauben, die sich in den freien Kommunen konzentriert findenund die den Feudalherrschaften nicht nur ein dem Stand der techni-schen Entwicklung gemäßes konsumtives Niveau und lebenspraktischesBefinden sichern, sondern ihnen darüber hinaus auch als Stütze ihrerpolitischen Stellung und Macht und als finanzielle Bereicherungsquelledienen; sie würden mit anderen Worten ohne die auf ihren Territorienetablierten freien Kommunen beziehungsweise abstrakt von der in ihnenversammelten handwerklich-technischen Produktivität in der Primitivitätund Verwahrlosung, der feudalgesellschaftlich organisierten und mehrschlecht als recht bewältigten Not- und Zwangslage verharren, in derder Zusammenbruch und Zerfall des Römischen Imperiums sie zumVorschein bringt.

Beide Systemteile sind also strikt aufeinander angewiesen und bilden jene merkwürdige symbiotische Totalität, die, je nachdem ob man sie poli-tisch oder ökonomisch ins Auge fasst, ein vexierbildlich anderes Ansehengewinnt: Während sie, politisch oder topisch-empirisch betrachtet, alsein feudalgesellschaftlich-fronwirtschaftlicher Komplex erscheint, in denzwecks Befriedigung feudalherrschaftlicher Konsum- und Geltungsbe-dürfnisse handwerklich-produzentengemeinschaftliche Dienstleistungs-zentren eingesprengt sind, stellt sie sich, ökonomisch oder dynamisch-systematisch gesehen, als stadtbürgerlich-marktwirtschaftlicher Verbund

dar, der das feudalherrschaftlich-fronwirtschaftliche Umfeld, in das ereingebettet ist, gleichermaßen als Nährboden, als für seine Versorgungmit agrarischen Erzeugnissen erforderliches Glacis braucht und als Ab-satzgebiet, als für das produzentengemeinschaftliche Mehrprodukt unddessen Realisierung als Mehrwert nötige Konsumentensphäre in An-spruch nimmt.

Während sich mit anderen Worten aus dem topisch-empirischen Blick-winkel die freien Kommunen als ein der feudalgesellschaftlichen Struk-tur eingegliedertes Funktionselement suggerieren, präsentieren sie sichumgekehrt aus dynamisch-systematischer Perspektive als ein Struktur-

zusammenhang, der das feudalgesellschaftliche Milieu, in dem er sichentfaltet, teils in genere seiner landwirtschaftlichen Produzenten als mate-riale Versorgungsbasis nutzt, teils in specie seiner herrschaftlichen Konsu-menten in ein analytisches Ferment oder, besser gesagt, ein metabolischesAgens seiner eigenen Entfaltung umfunktioniert.

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Wenn man so will, lässt sich das Verhältnis der marktwirtschaftlich-freien

Kommunen zu den fronwirtschaftlich-feudalen Gesellschaften, in diesie eingebettet sind, durchaus der Beziehung vergleichen, die vor derFeudalisierung des Klerus, vor seiner Integration in die feudalgesell-schaftliche Hierarchie, die klösterlich-klerikalen Freiräume zu den sieumgebenden herrschaftlich-säkularen Territorien unterhalten. Nicht nur,was die topische Exterritorialität und die ökonomische Eigenständigkeit betrifft, können, wie gesagt, die freien Kommunen als direkte Erben derklösterlich-klerikalen Gemeinschaften, aus deren Umkreis und Schattensie hervorgegangen sind, gelten, sondern auch, was ihr auf dieser Exterri-torialität und Eigenständigkeit basierendes lebenspraktisch-funktionelles

Verhältnis zu den sie umgebenden territorialherrschaftlichen Gesellschaf-ten angeht, knüpfen die städtisch-freien Kommunen an die Tradition derklösterlich-klerikalen Gemeinschaften an und weisen eine klar erkennba-re strukturelle Parallelität zu letzteren auf.

Wie die geistlichen Gemeinschaften in ihren Freiräumen unterhaltenauch die bürgerlichen Kommunen in ihren freien Städten eine symbioti-sche Beziehung zu den umgebenden territorialen Gesellschaften, die jenach Perspektive, je nachdem, ob man das Ganze empirisch oder syste-matisch, als realen Prospekt oder als intentionales Projekt ins Auge fasst,die klerikalen beziehungsweise kommunalen Gemeinschaften als Dienst-

leister der territorialen Gesellschaften oder umgekehrt die territorialenGesellschaften als Steigbügelhalter der klerikalen oder kommunalen Ge-meinschaften erscheinen lässt. Nur dass im einen Fall die Dienstleistun-gen, die die aparte Gemeinschaft für das gesellschaftliche Ganze, dasempirische Faktum, erbringt, spirituell-moralischer Natur sind, währendes sich im anderen Fall um kulturell-zivilisatorische Dienste handelt, unddass umgekehrt die steigbügelhalterische Hilfestellung, die das gesell-schaftliche Ganze der aparten Gemeinschaft, dem systematischen Verum,leistet, im einen Fall ideell-strategischen Charakter hat, während sie imanderen Fall von materiell-ökonomischer Beschaffenheit ist.

Während die geistlichen Gemeinschaften, abgesehen von ihrer kultisch-sakramentalen Nothelferrolle, die sie ja dann auch als den bleibendenLegitimationsgrund ihrer ständischen Existenz in ihr feudalisiertes Da-sein mit hinübernehmen – während also die geistlichen Gemeinschaf-ten den feudalen Gesellschaften moralisch-praktischen Beistand bieten

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und zensorisch-kritischen Einfluss auf sie nehmen, sprich, sie zu sozia-

lem Frieden und ziviler Gesittung anleiten, versorgen die stadtbürger-lichen Kommunen die feudalherrschaftlichen Territorien mit technisch-zivilisatorischen Hilfsmitteln und lebensartlich-kulturellen Gütern,sprich, sie versorgen sie mit herrschaftlichem Konsum und höfischemKomfort. Und während umgekehrt die feudalherrschaftlichen Territorienden geistlichen Gemeinschaften Entfaltungsraum lassen und militäri-schen Schutz gewähren, sichern sie den bürgerlichen Kommunen dieVersorgung mit Lebensmitteln und kommerziellen Absatz.

Aber so verschieden die Güter, die jeweils geliefert, und die Leistungen,die erbracht werden, auch sein, so wenig sie als einerseits spirituelle,andererseits kulturelle oder einerseits ideelle, andererseits materielle sicheinfach miteinander vergleichen lassen mögen, die symbiotische Totali-tät, die sie im einen und im anderen Fall begründen, das Zugleich vontopisch-allgegenwärtiger Kohabitation und ökonomisch-durchgängigerKommunikation der beteiligten gesellschaftlichen Formationen, worin sieso oder so resultieren, weist eine unverkennbare strukturelle Ähnlichkeitauf und präsentiert sich in beiden Fällen als ein System, das, ungeachtetder Verschiedenartigkeit seiner tragenden Elemente oder gerade wegenihrer Verschiedenartigkeit, wegen der Tatsache, dass die systematischverknüpften gesellschaftlichen Formationen Leistungen erbringen, diedie jeweils andere braucht, ohne sie im mindesten selbst erbringen zukönnen, und weil diese funktionelle Verschränkung inmitten der feudal-gesellschaftlichen Territorien selbst und an einer Vielzahl von Lokalitätenstattfindet – ein System also, das wegen dieser ebenso durchgängigen wieumfassenden wechselseitigen Abhängigkeit seiner tragenden Elementeeine Stabilität und Kontinuität besitzt, wie sie das aus fronwirtschaftli-chen Territorialstaaten und marktwirtschaftlichen Stadtstaaten ebensomarginal wie äußerlich zusammengesetzte und durch die kommerzielleFunktion mehr schlecht als recht zusammengehaltene amphibolischeSystem der mittelmeerischen Antike niemals kennt.

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Dank der kommerziellen Akkumulation ist die Stabilität der postimperialen

Gesellschaft nicht gleichbedeutend mit Stagnation. Vehikel und Erscheinungs- form der Akkumulation ist das Geld, das nicht nur die Asymmetrie überwindet,an der der kommerzielle Austausch andernfalls scheitern müsste, sondern dasauch die Einbeziehung von nicht produktiv, sondern nur konsumtiv am MarktBeteiligten und damit die Realisierung des vom Markt erzielten Mehrproduktsals Mehrwert, eine Grundvoraussetzung der Akkumulation, ermöglicht.

Gerade freilich im Zuge der säkularen Wendung, die das Gesellschafts-system in dem Maße nimmt, wie an die Stelle des sich feudalisierendenKlerus der städtische Bürger und an die Stelle der moralisch-praktischenDienste, die der Klerus der Gesellschaft leistet, die zivilisatorisch-techni-schen Leistungen treten, die das Bürgertum für die Gesellschaft erbringt,wird deutlich, dass Stabilität hier nicht etwa mit Stagnation verwechseltwerden darf und Kontinuität nicht das Geringste mit Monotonie zu tunhat, sondern dass im genauen Gegenteil die Stabilität nichts weiter ist alsdas Ergebnis ununterbrochener Störungen eines ebenso ununterbrochenwiederhergestellten Gleichgewichts, dass hier die Kontinuität einzig undallein als Funktion fortlaufenden Wandels existiert.

Auch wenn strukturelle Umbrüche, Paradigmenwechsel wie die derAntike ausgeschlossen bleiben, findet doch ein Entfaltungsprozess statt,der das, was hier Struktur heißt, als bloßen, abstrakten Grundriss eines

in seinen wirklichen Dimensionen und wahren Implikationen allererstauszuführenden und zu konkretisierenden Bauwerks erweist. Auch wennes nicht wie in der Antike zur Ersetzung beziehungsweise Umfunktionie-rung der prinzipiellen Funktionen kommt, sind doch diese prinzipiellenFunktionen anfangs nur erst generelle Dispositionen, die, um als tragendeTeile, als wirksame Mechanismen des ausgeführten Bauwerks zu taugen,eines sie wenn nicht von Grund auf entstellenden, so doch grundlegendgestaltenden Ausbildungs- und Spezifizierungsprozesses bedürfen.

Träger dieses, die symbiotische Totalität aus herrschaftlichen Territorienund freien Kommunen beherrschenden Entwicklungsdrangs, der, wenn

er auch nicht geeignet ist, das System als solches zu sprengen, so dochaber dazu taugt, es auf Trab zu halten und sich fortlaufend in die Revisionschicken und umgestalten zu lassen – Träger dieses Dranges sind, wienicht anders zu erwarten, da es hierbei ja nicht um die Totalität so, wiesie empirisch gegeben, sondern so, wie sie systematisch angelegt ist,

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mit anderen Worten um sie nicht als realen Prospekt, sondern als inten-

tionales Projekt geht, die freien Kommunen, genauer gesagt, die durchdie kommerzielle Funktion zum Marktsystem organisierten städtischenProduktionsgemeinschaften. Und hier wiederum sind es nicht eigentlichdie Gemeinschaften selbst, die den Entwicklungsdrang in sich tragen undan den Tag legen, sondern das den Drang gleichermaßen Verkörperndeund Erzeugende ist vielmehr der die Gemeinschaften zum Marktsystemorganisierende Faktor, die sie verknüpfende Kopula, die kommerzielleFunktion oder, besser gesagt, das dieser kommerziellen Funktion alsarchaisches Erbe, als im anfänglichen Kontrakt der Handeltreibendenmit der territorialen Herrschaft implizites Emanzipationsmoment einge-schriebene Akkumulationsprinzip.

Für sich genommen, sind die dem Markt arbeitsteilig zuarbeitendenProduzenten ja nur darauf aus, für ihre Beiträge zum Markt ein Äquiva-lent, ein dem Produkt, das sie dem Markt liefern, im Wert entsprechendesQuantum Subsistenzmittel zu erhalten, unbeschadet ihrer der Expansi-on des Marktes förderlichen eventuellen Bereitschaft, durch Mehrarbeit beziehungsweise Steigerung ihrer Produktivkraft, ihre Beiträge zu ver-größern, um eine entsprechende Verbesserung ihrer Subsistenz, ihresLebensstandards zu erreichen. Für die Produzenten ist also der Markt nurein Distributionsmechanismus, für den sie arbeiten, um durch ihn zu sub-sistieren; eine andere Erwartung als die, dass er zuverlässig funktioniert

und gesteigerte Arbeitsleistungen in verbesserte Lebensqualität umsetzt,verbinden sie nicht mit ihm.

Für die kommerzielle Funktion hingegen beziehungsweise für die sieausübenden Handeltreibenden ist der Markt uno actu seines Funktio-nierens als Distributionsmechanismus ein Akkumulationsinstrument,will heißen, eine Apparatur, die es ihnen erlaubt, beim Austausch mitden Produzenten, beim Austausch also zwischen den Produkten, die dieProduzenten dem Markt liefern, und den äquivalenten Gütern, die siedafür vom Markt bekommen, die Äquivalenz zu Gunsten des Marktesaußer Kraft zu setzen oder jedenfalls zu modifizieren und sich ein quasi

als Marktanteil, als in ihrer kommerziellen Vermittler- oder Maklertä-tigkeit implizierter Lohn firmierendes Mehrprodukt zu sichern. Diesesim Austausch mit den Produzenten gewonnene Mehrprodukt interes-siert dabei die Betreiber des Markts nicht etwa als eine für sie selber brauchbare Materie, als für die eigene biologisch-soziale Reproduktion in

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Anspruch zu nehmende Subsistenzmittel, sondern es interessiert sie gera-

deso wie auch die übrigen im Austausch mit den Produzenten dem Marktzugeführten Produkte ausschließlich als wiederum äquivalentes Gut,als in neue Austauschprozesse mit den Produzenten zwecks Erlangungweiteren Mehrprodukts zu investierende Ware.

Eben darin besteht ja das für allen Markt maßgebende Prinzip derAkkumulation, dass diejenigen, die den Markt betreiben, an den Pro-dukten, die sie auf ihm versammeln, nicht als an zu distribuierendenSubsistenzmitteln, sondern als an äquivalenten Gütern interessiert sind,deren einziger Sinn es aus ihrer Sicht ist, im Zuge ihrer Distributionihre eigene Funktion als Äquivalent Lügen zu strafen und im Austauschmit den Produkten der Produzenten dem Markt ein größeres Quantumvon ihresgleichen zuzuführen, und zwar zu dem einzigen, qua Akku-mulation ausgesprochenen Zweck, das dem Markt zugeführte Mehr anProdukten wiederum zu investieren, sprich, es immer wieder in dergleichen Funktion von Gütern einzusetzen, die unter der Camouflageihrer Äquivalenz materialiter weiteres Mehrprodukt in die Hände derHandeltreibenden gelangen lassen – mit der logischen Folge, dass derMarkt beziehungsweise die Sammlung von äquivalenten Gütern oderWaren, die er umfasst, ein immer größeres Volumen erreicht, das immermehr Produzenten beziehungsweise Produktivkraft zu kommandieren,sprich, zur Versorgung des Marktes mit Mehrprodukt einschließenden

Produkten zu mobilisieren vermag.Gleichermaßen Vehikel und Erscheinungsform dieser paradoxen, weil

im kritischen Augenblick, im Augenblick des Austauschs zwischen Pro-duzenten und Handeltreibenden, suspendierten oder jedenfalls modifi-zierten Äquivalenz, die die für die Betreiber des Marktes maßgebendePerspektive bildet, ist das so genannte allgemeine Äquivalent, die Münzedes Marktes, das Geld. Es verdankt sich einer durchaus praktischen undfür das Entstehen und den Bestand von Handel und Markt praktischentscheidenden Rücksicht, der Rücksicht darauf, dass asymmetrischeAustauschbeziehungen, will heißen, Beziehungen, in denen der eine

etwas besitzt, was der andere braucht, der andere hingegen nichts Ent-sprechendes, nichts, was seinem Gegenüber nützen könnte, der Normfallsind und dass es, um diese den Austausch vereitelnde Asymmetrie zuüberwinden, eines Übergangsobjektes bedarf, das, auch wenn es der- jenige, der es erwirbt, nicht eigentlich braucht, doch bei ihm und allen

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anderen hinlängliche Wertschätzung genießt, um sich jederzeit und bei

 jedermann gegen Dinge, die der Betreffende tatsächlich braucht, wiederaustauschen zu lassen und letzterem deshalb als ein ihm Zugang zu allenauf dem Markt befindlichen Gütern eröffnendes Passepartout, eben alsallgemeines Äquivalent, zur Verfügung zu stehen. Dies Übergangsobjektist das Geld, das durch die menschliche Geschichte hindurch in denverschiedensten Gestalten erscheint, die von Vieh, Salz oder Kaurimu-scheln über die in historischer Zeit maßgebenden Edelmetalle bis zu denheute herrschenden Formen des Papiergelds, des Kontoauszugs und derKreditkarte reichen. Es überbrückt und überwindet die im Normalfallgegebene Asymmetrie der Austauschbeziehungen und macht so einenennenswerte kommerzielle Aktivität überhaupt erst möglich.

Allerdings spaltet es dabei den Austauschvorgang in zwei, sich relativunabhängig voneinander gerierende Akte auf, den einen Akt, in demder Produzent die Produkte, die er liefert, mit allgemeinem Äquivalentvergütet bekommt, und den anderen Akt, in dem er dieses allgemeineÄquivalent nutzt, um die spezifischen Güter zu erwerben, die er braucht– und es ist genau diese Aufspaltung der einen Austauschhandlung inzwei, scheinbar unabhängig voneinander zu vollziehende Akte, die derkommerziellen Funktion beziehungsweise dem von ihr als eigenstän-diges Austauschsystem inszenierten oder organisierten Markt teils ingenere ihren Lebens- und Entfaltungsraum eröffnet, teils in specie den

modus procedendi, den geeigneten Funktionsmechanismus für die alsGrundmotiv allen kommerziellen Funktionierens firmierende Akkumula-tionstätigkeit erschließt.

Indem die marktförmig operierende kommerzielle Funktion in einemersten Akt den Produzenten die Produkte, die sie zu Markte tragen, mitals Passepartout für den Zugang zum Markt, als generalisierter Anspruchauf die Warensammlung des Marktes wohlverstandenem allgemeinemÄquivalent honoriert und ihnen damit ermöglicht, in einem zweitenAkt als Konsumenten dies allgemeine Äquivalent gegen die von ihnen benötigten äquivalenten Güter des Marktes einzulösen, ist diese Prozedur

die Camouflage, der Deckmantel, worunter die Betreiber des Marktsihren Anspruch auf Mehrprodukt durchsetzen. Während nämlich imzweiten Teil der Gesamtaustauschhandlung, in dem Akt, in dem er alsKonsument auftritt, der Produzent für das allgemeine Äquivalent, daser als Anspruch an den Markt geltend macht, äquivalente Güter, seinem

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Geld im Wert entsprechende Waren erhält, hat er im ersten Akt, in dem

er als Produzent firmiert, bei dem allgemeinen Äquivalent, das er für dieProdukte erhält, die er zu Markte trägt, einen Abschlag, einen Diskont,in Kauf nehmen, hat er mit anderen Worten jene den ÄquivalententauschLügen strafende Nichtäquivalenz akzeptieren müssen, kraft deren in dieHände der Betreiber des Marktes mehr materiales Gut gelangt, als demallgemeinen Äquivalent, das sie dem Produzenten dafür überlassen, imWert entspricht.

Wenn hier von Camouflage oder Deckmantel die Rede ist, so sind dieseBegriffe im vorliegenden Zusammenhang nicht etwa gleichbedeutendmit Täuschung und Betrug, sondern stehen eher für eine Art von Recht-fertigung oder Legitimierung, Vindikation oder Rationalisierung. Magauch das allgemeine Äquivalent, das Geld, durch die Aufspaltung derAustauschhandlung in zwei Akte die Nichtäquivalenz im ersten Aus-tauschakt, sprich, die Aneignung von Mehrprodukt durch die Betreiberdes Markts, kaschieren und insofern erleichtern, eine funktionslogischeBedingung oder ein Sine qua non des Aneignungsvorganges ist dieseVerschleierung nicht. Auch wenn der Produzent sich dessen bewusst ist,dass er weniger an allgemeinem Äquivalent erhält, als er an Produktwertliefert, dass also jedem Austausch mit dem Markt, den er in seiner Eigen-schaft als Produzent tätigt, ein Moment von Expropriation innewohnt,wird er im Zweifelsfall, der der Normalfall ist, den Abschlag oder Dis-

kont, mit dem der Betreiber des Markts ihm sein Produkt abnimmt, alsgerechtfertigt oder jedenfalls verständlich akzeptieren.

Er honoriert damit die durch das allgemeine Äquivalent vollbrachteÜberwindung der Asymmetrie in den Austauschverhältnissen, die ja dasAustauschgeschehen rasch wieder zum Erliegen zu bringen beziehungs-weise nie nennenswerte Dimension erreichen zu lassen droht, honoriert,dass dort, wo sein spezielles Produkt ihm höchstens ausnahmsweiseoder zufällig direkten Zugang zu einem von ihm begehrten Gut eröffnetoder ihn jedenfalls dazu zwingt, zur Erlangung des von ihm begehrtenGuts einen umständlichen Ringtausch zu durchlaufen – dass also dort

das generelle Äquivalent, das Geld, als Münze des Marktes, als auf dasgesamte Marktgebäude gemünztes Passepartout ihm im Prinzip Zu-griff auf sämtliche per Markt versammelten Güter gewährt. Dies ist dieLeistung, die das von den Betreibern des Marktes den Produzenten alsGegenwert für ihr Produkt überlassene Geld erbringt, und dafür nehmen

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die Produzenten den ihnen von den Betreibern des Marktes zugemuteten

Wertabschlag auf ihr Produkt, wenn nicht gern, so doch bereitwillig inKauf.Die für einen regelmäßigen und umfassenden Handel unabdingbare

Überwindung der Asymmetrie in den Austauschbeziehungen und diedadurch gerechtfertigte oder rationalisierte Aneignung von Mehrproduktdurch die Betreiber des Marktes sind aber nicht die einzige Leistung, diedas allgemeine Äquivalent, das Geld, erbringt. Das Geld legt außerdemden Grund für den oben genannten Entwicklungsdrang des kommerzi-ellen Systems, für den vom System verfolgten Akkumulationsprozess alssolchen, dafür mit anderen Worten, dass der kommerzielle Austauschmitsamt der in ihm implizierten Aneignung von Mehrprodukt durch denMarkt sich nicht nur in abstracto seiner Funktionalität als praktikabelerweist, sondern dass er auch in concreto seiner Intentionalität, in der vonihm betriebenen permanent erweiterten Reproduktion jener Aneignung,Wirklichkeit wird. Und diese zweite, grundlegende Leistung kommtparadoxerweise dadurch zustande, dass das Geld ein Problem zu lösendient, das es zuvor selber schafft und das ohne seine Intervention garnicht existierte.

Gemeint ist das Problem der Realisierung des Mehrprodukts als Mehr-wert. Weil das, was die Produzenten den Betreibern des Marktes liefern,materiale Güter, spezifische Bedürfnisbefriedigungsmittel sind, es sich

hingegen bei dem, was die Betreiber des Marktes den Produzenten dafürgeben, um pekuniäres Entgelt, allgemeines Äquivalent, handelt, müs-sen, damit neue Austauschprozesse in Gang kommen können, die anden Markt gelieferten Produkte erst einmal in allgemeines Äquivalentumgesetzt, konvertiert werden, das sich dann den Produzenten wiederals Entgelt für die Lieferung neuer Produkte zur Verfügung stellen lässt.Die materialen Produkte müssen mit anderen Worten in die Form desallgemeinen Anspruches an den Markt, der in ihrer besonderen Gestaltnur erst impliziert ist, überführt, müssen als das allgemeine Äquivalent,das sie an sich sind, gesetzt, als der Tauschwert, den sie nur erst haben,

der sie aber mehr noch sein müssen, um Wirksamkeit für den Markt zuerlangen, realisiert werden. Diese Realisierung des Werts der Produkte,ihre Verwandlung in die Münze des Marktes, das Geld, geschieht auf die für die Einrichtung des Marktes überhaupt konstitutive Weise, dassdie Produzenten mit dem ihnen für ihre Produkte von den Betreibern

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des Markts überlassenen Geld erneut zu Markte gehen, um es als Kon-

sumenten dem Markt zurückerstatten, sprich, es gegen auf dem Markt befindliche Güter, die sie zum Lebensunterhalt beziehungsweise zurBedürfnisbefriedigung brauchen, auszutauschen.

Hier entsteht nun allerdings das logische, in der Doppelfunktion desGeldes als zugleich einer Vermittlungsinstanz und eines Mittels zur An-eignung von Mehrprodukt angelegte Problem, dass auf Seiten der Pro-duzenten für dieses Mehrprodukt partout kein Geld vorhanden ist, dassdie Produzenten, weil sie ja für das Geld den Betreibern des Marktesihr Produkt zuzüglich des Mehrprodukts überlassen, ihnen das Mehr-produkt quasi als Zugabe, unentgeltlich, geliefert haben, außerstande

sind, dies Mehrprodukt, auch wenn sie es durchaus brauchen könnten,Bedarf an ihm hätten, in seinem Wert zu realisieren, sprich, zu kaufen. Imgeschlossenen System eines Marktes, dem Menschen ebenso sehr als Pro-duzenten zuarbeiten, wie sie als Konsumenten von ihm abhängig sind, beschwört das uno actu als katalytisches Ferment für den Güteraustauschund als Extraktionsmittel für die Aneignung von Mehrprodukt durchden Markt fungierende Geld notwendig das Problem herauf, dass dieKonsumkraft der dem Markt zuarbeitenden Produzenten, das allgemeineÄquivalent, das ihnen zur Realisierung des Werts der auf dem Marktversammelten Güter zur Verfügung steht, für die Realisierung des Werts

des von den Produzenten gelieferten Mehrprodukts und also dessenÜberführung in die allgemeine Äquivalentform, die es braucht, um neueProduktionsprozesse in Gang setzen zu können, nicht ausreicht.

Für dieses Problem aber, das es mit sich bringt, hält das Geld auchgleich die Lösung bereit. Weil dank der Dazwischenkunft des Geldes dieeine Austauschhandlung in zwei unabhängig voneinander vollzogeneAkte aufgespalten wird, kann nämlich nun der zweite, “konsumtive”Akt, der Austausch von allgemeinem Äquivalent gegen auf dem Markt befindliche besondere Güter, stattfinden, ohne dass dafür der erste, “pro-duktive” Akt, der Eintausch von besonderen Produkten gegen auf dem

Markt befindliches allgemeines Äquivalent, die unmittelbare Voraus-setzung bildete. Das heißt, es können Personen, ohne zum Markt einenproduktiven Beitrag geleistet zu haben, zu Markte gehen und sich dortals Konsumenten betätigen. Das Einzige, was sie dazu brauchen, ist all-gemeines Äquivalent, das sie, da ihnen ja mangels eigener produktiver

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Beiträge zum Markt keines aus Markthänden zugeflossen ist, aus ande-

ren, marktunabhängigen Quellen mitbringen müssen.Was das Geld mit anderen Worten ermöglicht, ist die umstandsloseEinbeziehung von nicht zur Produzentenschar gehörenden und, sofernder Markt seiner abstrakten Definition nach ein System zur Distributionarbeitsteilig erzeugter Güter an die arbeitsteiligen Erzeuger ist, außerhalbdes Marktes stehenden Gruppen in die marktspezifischen Transaktionen.Dank der Intervention des Geldes, seiner die Momente des Austauschs se-parierenden Rolle als universales Übergangsobjekt, können Gruppen, dienicht aktiv am Markt beteiligt sind, nicht zu den unmittelbar Mitwirken-den gehören, dennoch in die Zirkulation einbezogen und als Abnehmer

des Mehrprodukts, als Realisierer des im Mehrprodukt steckenden Wertesrekrutiert werden.Insofern diese Gruppen kraft des Geldes aus marktunabhängigen Quel-

len, über das sie verfügen, von den Segnungen des Marktes profitieren,ohne für ihn etwas beitragen, materiale Leistungen für ihn erbringen zumüssen, erscheinen sie als die wahren Nutznießer des Markts, scheintdieser geradezu für sie gemacht. Während der Markt den Produzenten,seinen Beiträgern, als Gegenleistung für ihre Beiträge die Subsistenzermöglicht, das heißt, sie in die Lage versetzt, in ihrer Beitragstätigkeitfortzufahren, sorgt er gleichzeitig durch die zusätzliche Leistung, die

er ihnen für die Sicherung ihrer Subsistenz unter der Camouflage ihrerpekuniären Vergütung abfordert, durch das Mehrprodukt mit anderenWorten, das er ihnen abverlangt, dafür, dass andere, nichtproduktiveGruppen an den Beiträgen der Produzenten partizipieren, von ihm, demMarkt, mitversorgt werden können. So gesehen, diente also das ganzeMarktsystem dazu, Gruppen von Menschen dazu zu bringen, durchihre arbeitsteilige Arbeit nicht bloß die eigene Subsistenz zu sichern,sondern mehr noch anderen, von der Arbeit entbundenen Gruppen ihrenLebensunterhalt zu verschaffen.

Aus Sicht der Betreiber des Marktes freilich ist dies schwerlich als der

Zweck der Veranstaltung geltend zu machen. Ihnen geht es ja einzig undnur darum, die materialen Produkte, die ihnen die Produzenten gegenallgemeines Äquivalent liefern, einschließlich des darin einbegriffenenMehrprodukts wieder in allgemeines Äquivalent zu verwandeln, um esin neue, Mehrprodukt einschließende Produkte investieren zu können.

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Ihnen geht es mit anderen Worten darum, unter Bedingungen geldver-

mittelten Austauschs Akkumulation zu betreiben, sprich, unter demDeckmantel einer permanent wiederholten Verwandlung von allgemei-nem Äquivalent in nichtäquivalente Güter, von Wert in Mehrprodukt,von Geld in mehr Ware und Rückverwandlung der nichtäquivalenten Gü-ter in allgemeines Äquivalent, des Mehrprodukts in Wert, der vermehrtenWare in Geld, dem Markt die Verfügung über eine immer größere Güter-menge zu verschaffen, was unter Akkumulationsgesichtspunkten nichtsweiter heißt als – dem Markt die durch die immer größere Gütermengeverkörperte wachsende Wertsumme als Instrument für die Ingangsetzungimmer gleichermaßen weiterer und erweiterter Produktionsprozesse fürdie Versammlung immer größerer Gütermengen auf dem Markt in die

Hände zu spielen.In diesem, wie man will, Wertakkumulations- oder Wertproduktions-

entfaltungsprozess, dem sich die Betreiber des Markts verschrieben ha- ben, erfüllen aus Sicht der letzteren die anderen, nicht für den Marktproduzierenden, sondern dank des allgemeinen Äquivalents aus marktu-nabhängigen Quellen, über das sie verfügen, ausschließlich vom Marktals Konsumenten zehrenden Gruppen nichts weiter als eine ökonomischeFunktion und ist ihre Versorgung mit dem vom Markt angeeignetenMehrprodukt, weit entfernt davon, als der Zweck der kommerziellenVeranstaltung gelten zu können, vielmehr nur ein Mittel, um die Akku-

mulation als solche ins Werk zu setzen und den ihr dienenden Prozess inGang zu halten. Indem jene anderen Gruppen ihr allgemeines Äquivalentaus anderen Quellen zu Markte tragen, um kraft seiner an den Güterndes Marktes als Konsumenten zu partizipieren, vollbringen sie, was dieProduzenten in ihrer Funktion als Konsumenten mangels ausreichendallgemeinen Äquivalents nicht zu leisten vermögen: Sie verwandeln dasauf dem Markt gesammelte Mehrprodukt in Mehrwert und verleihenihm damit jene Form und Gestalt eines Zugang zu allen Gütern desMarktes eröffnenden Passepartouts, eines generellen Anspruch auf alles,was der Markt zu bieten hat, gewährenden Generalschlüssels, die es braucht, um zusammen mit dem übrigen, von den Produzenten selbst

in ihrer Konsumentenrolle als Wert realisierten Produkt von den Betrei- bern des Markts den Produzenten als Gegenleistung für neue, durch denMehrwert erweiterte und entsprechend mehr Mehrprodukt schaffen-de Produktionsprozesse zur Verfügung gestellt und also, kurz, für denZweck der Akkumulation genutzt werden zu können.

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Die durch den Zusammenschluss von städtischen Produzentengemeinschaften

und territorialherrschaftlichen Konsumenten perfektionierte Akkumulation ver-leiht dem Marktsystem eine als unendlicher Entwicklungsdrang erscheinendeExzentrik, die freilich mit der beschriebenen Exzentrik der christlichen Heils-botschaft keine homologe Zwecksetzung, sondern nur eine analoge Einstellungteilt. Tatsächlich kann sich die Exzentrik des kommerziellen Systems nur in dem

 Maße voll zur Geltung bringen, wie sich die des klerikalen Systems im Zuge derFeudalisierung des Klerus per Ritualisierung verflüchtigt.

Die anderen, nichtproduzierenden und von den Betreibern des Marktesals reine Konsumenten in das Marktgeschehen einbezogenen Gruppenerfüllen mithin eben die ökonomische Funktion, die, wie oben darge-stellt, im historischen Fall der nachimperialen, feudalen Gesellschaftenderen Herrschaften wahrnehmen. Indem die die handwerklichen Pro-duzentengemeinschaften zuerst der klerikalen Freiräume und dann derfreien Städte zu Marktsystemen zusammenschließende kommerzielleFunktion die nicht aktiv, nicht als Produzenten am Markt mitwirkendenfeudalen Herrschaften als passiv Beteiligte, als kraft ihrer Schatzkam-mer, kraft des marktunabhängigen allgemeinen Äquivalents in ihrenHänden für den Verzehr des Mehrprodukts zuständige Konsumentenrekrutiert, gelingt ihr jene das gesamte Produkt einschließlich Mehrpro-dukt umfassende Wertrealisierung, jene Transformation der auf dem

Markt versammelten materialen Gütermenge in Geld, die Münze desMarkts, das Passepartout des kommerziellen Austauschs, mit der dieAkkumulation, die Verwirklichung des der kommerziellen Funktioneingeschriebenen Prinzips einer fortlaufenden Vergrößerung der durchden Markt repräsentierten Wertsumme ebenso sehr zwecks wie mittelseiner fortlaufend erweiterten Reproduktion, einer fortlaufenden quanti-tativen Ausdehnung beziehungsweise qualitativen Steigerung der dieseWertsumme erzeugenden Produktionsprozesse, steht und fällt.

Dank der Beteiligung der in der Rolle reiner Konsumenten das Mehr-produkt als Mehrwert realisierenden und damit als in neue Produkti-

onsprozesse investierbares Kapital verfügbar machenden feudalen Herr-schaften gelingt es den Betreibern des Markts, dem Marktsystem jenenoben erwähnten unendlichen Entwicklungsdrang einzupflanzen, derihm, dem System, bei aller bruchlosen Kontinuität und Unanfälligkeitgegen Verwerfungen und Umorientierungen, die es im Unterschied zu

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seinem antiken Vorgänger beweist, doch jeden äquilibristischen Still-

stand, jede dauerhafte Stagnation verschlägt, ihm mit anderen Wortenseine eigene dynamische Exzentrik verleiht.Wenn hier von dynamischer Exzentrik die Rede ist, so ist die Anspie-

lung auf den zuvor mit dem gleichen Terminus belegten modus proce-dendi der mit der Heilsperspektive ernst machenden mönchisch-klerika-len Nachfolge Christi durchaus beabsichtigt; allerdings soll damit nichteine inhaltliche Entsprechung oder homologe Zwecksetzung konsta-tiert, sondern bloß eine formelle Ähnlichkeit oder analoge Einstellungregistriert werden. Was den klostergemeinschaftlich-klerikalen modusprocedendi und die marktsystematisch-kommerzielle Vorgehensweise

miteinander verbindet und was beide als eine Art dynamische Exzen-trik zu charakterisieren erlaubt, ist die abstrakte Negation oder reineNegativität, mit der beide dem Status quo, dem gegebenen Dasein, dergegenwärtigen Welt begegnen. Beiden gilt die gegenwärtige Welt alsetwas unbedingt zu Transzendierendes, als Falsches, das dem Wahren imWege steht, als ein Übel, dem das Gute möglichst rasch ein Ende machensoll, zugleich aber als etwas, das, weil es der Status quo, das hier und jetztGegebene ist, zwischen dem Wahren und Guten, dem zu erreichendenZweck, und denen, die ihn raschestmöglich erreichen wollen, steht, dieletztere von ersterem trennende Mitte bildet und insofern das Mittel

darstellt, über beziehungsweise durch das der Weg zum Zweck nolensvolens führt und ohne das sei’s im negativen Sinne seiner Überwindungund Beseitigung, sei’s im positiven Verstand seiner Verwendung undBewältigung der Zweck sich schlechterdings nicht erreichen lässt.

Mit dieser den beiden Weisen von Exzentrik gemeinsamen Negativitätgegenüber dem hier und jetzt Bestehenden, dieser Entschlossenheit, letz-teres als die vom wahren Zweck trennende Mitte wahrzunehmen und eseben deshalb als das negativ oder positiv dem Zweck aufzuopfernde Mit-tel einzusetzen, endet freilich auch schon die Analogie. Allzu verschiedenist der im einen und im anderen Fall angestrebte Zweck selbst, als dass

eine inhaltliche Entsprechung oder funktionelle Übereinstimmung der beiden exzentrischen Verfahrensweisen auch nur im Entferntesten denk- bar wäre. Schließlich ist im mönchsgemeinschaftlich-klerikalen Fall derZweck nicht von dieser Welt, ein toto coelo anderes, ein die irdische Ma-terialität transzendierendes himmlisches Spirituelles, das zugleich eine

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vollständige ontologische Verkehrung impliziert, der zufolge das diessei-

tig Materielle sich zu ihm, dem jenseitig Spirituellen, verhält oder, bessergesagt, nicht verhält wie Schein zum Sein oder Illusion zur Wirklichkeit.Wie sollte wohl angesichts dieses als das alleinige Sein perennierenden

himmlischen Zwecks der als die trennende Mitte existierende irdischeSchein als ein irgend positives Mittel zum Zweck, ein in irgendeiner Hin-sicht brauchbarer Weg und Durchgang zum exzentrischen Ziel in Fragekommen? Wie sollte die irdische Immanenz mehr sein können als Mittelhöchstens und nur ex negativo, im Sinne nämlich einer Barriere undAbhaltung, die, weit entfernt davon, bei der Verfolgung des Zwecks eineRolle als konstitutives Element, als aktiver Faktor zu spielen, vielmehr

einzig und allein dadurch, dass sie ihre Selbstaufhebung betreibt, dass siesich mittels Askese, Keuschheit, Armut und Selbstlosigkeit eigenhändigzum Verschwinden zu bringen strebt, einen passiven Beitrag zur Errei-chung des Zweckes leistet beziehungsweise für letzteres eine initiativeBedeutung gewinnt?

Ganz anders bei dem die marktsystematisch-kommerzielle Exzentrik bestimmenden Procedere, bei dem an die Stelle der christlichen Heils-perspektive das kapitale Akkumulationsinteresse tritt und den Zwecknicht das Himmelreich, sondern die Wertschöpfung bildet. Hier hat dievom Zweck, vom Wert, trennende Mitte, die Totalität der irdischen Dinge

und Bewandtnisse, so sehr auch sie im Prinzip als ein zu überwindendesHemmnis, eine zu beseitigende Abhaltung, als Falsches gilt, das demWahren zu weichen hat, doch durchaus Mittelcharakter, die positiveFunktion dessen, durch das hindurch und aus dem heraus der Zweckrealisiert werden muss. Schließlich ist der Wert das, was die Dinge ih-rer exzentrischen Bestimmung nach an sich oder in Wahrheit sind, undsind umgekehrt die Dinge also Hüllen oder Erscheinungen, als derenInhalt oder Wesen der Wert perenniert und darauf dringt, als solcherzum Vorschein gebracht zu werden. Genau dies meint die Rede vonder Wertrealisierung, dass die Dinge als Träger oder Gefäße von Wert

firmieren, dass sie den Wert als ihr Potenzial beinhalten und eben deshalbin dem Sinne affirmatives Mittel zum Zweck sind, dass ihre Negation,ihre Preisgabe oder Aufopferung, die unmittelbare Kehrseite, das Revers,der als Erfüllung des Zwecks begreiflichen Aktualisierung des Potenzials,der Verwirklichung des Werts, bildet.

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Und nicht genug damit, dass die Dinge als in ihrer Preisgabe affirmatives

Mittel zum Zweck gebraucht werden, der Zweck selbst gilt ja als erfüllt,als wirklich nur dann, wenn er sich wiederum in um seinetwillen aufzu-opfernde Mittel umsetzt, wenn er sich mit dem Ziel seiner fortlaufendenBekräftigung und Verstärkung immer neu vermittelt, wenn er sich mit an-deren Worten als im Sinne seiner akkumulativen Selbstbestätigung wirk-sam erweist. Weil der Wert nichts anderes ist, als die in Verfügung übermehr von ihresgleichen umgemünzten irdischen Dinge, sind die letzterenebenso sehr der Zweck des ersteren und er das Mittel zu ihnen; das Einzi-ge was den zum exzentrischen Zirkel, zur Spirale geratenden Prozess, derdadurch entsteht, davor schützt, sich in einem sinnlosen Quidproquo zuverlaufen, ist eben seine als Selbstverwertung des Werts bestimmte Spiral-form, die in der Selbstvermittlung effektuierte ständige Zunahme und Er-weiterung des Zwecks nach Menge und Umfang.

 Jedenfalls bleiben, anders als bei dem mönchsgemeinschaftlich-klerikalen, heilsperspektivischen Procedere, in dem marktsystematisch-kommerziellen, akkumulationsbestimmten Verfahren die irdischen Dingeund Bewandtnisse ein so zu verstehendes, weil einen qua Preisgabe posi-tiven Beitrag leistendes Mittel zum Zweck, zeigen sie sich als permanenteDurchgangsstation oder wiederkehrendes Vermittlungsmoment einge- bunden in den zweckdienlichen Prozess, erweist sich mit anderen Wortenihre Negation ebenso wohl als eine Art von Affirmation, ihre Verwerfung

ebenso wohl als eine Form der Aufhebung. Die Transzendenz, die dasseinen Zweck nicht ins spirituelle Himmelreich, sondern in die transzen-dentale Wertschöpfung setzende kommerzielle Verfahren beweist, bleibt,so gesehen, eine immanente und findet ihren Ausdruck nicht in dem Ver-langen, die irdische Sphäre hinter sich zu lassen und zum Verschwindenzu bringen, sondern in dem Bemühen, sie auf die Spitze und im Sinneeines Fundaments, das sich zum Baumaterial für das, was es tragen soll,hergibt, sich ins Denkmal seiner selbst transfiguriert, über sich hinaus zutreiben. Und eben dies trennt und unterscheidet die beiden als exzentrischcharakterisierten Weisen, mit der irdischen Realität umzugehen, mag die

Exzentrik im abstrakten Prinzip auch noch so analog erscheinen.Tatsächlich trennt und unterscheidet es sie so sehr, dass sie de factoeinander geradezu ausschließen und die eine Verfahrensweise nur auf Kosten der anderen Geltung erlangen und in Kraft treten kann. Solangedas mönchsgemeinschaftlich-klerikale Streben nach dem Himmelreich

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das Erdenleben nur als ex negativo so zu verstehendes Mittel, nämlich als

einen durch Selbstverleugnung beziehungsweise Selbstzurücknahme denWeg zum Heil freimachenden und in diesem ironischen Sinne befördern-den, rein defizienten Modus festhält und solange der Klerus in Ausübungseiner Rolle als moralisch-disziplinarischer Zensor der Laienschaft diesenseinen schwindsüchtigen Begriff vom Erdenleben als für die Gesamtge-sellschaft normative Bestimmung zur Geltung bringt, bleibt dadurch dieWahrnehmung der irdischen Dinge und Bewandtnisse als in anderer Hin-sicht positiver Mittel zum Zweck oder als für anderes als das ewige Heilverwendbarer Realitäten noch grundlegend diskreditiert und deshalb diemarktsystematisch-kommerzielle Exzentrik, die auf eben jenen positi-ven Mittelcharakter baut, so sehr sie im Einzelnen, in den beschränktenKontexten der durch die Handelsfunktion miteinander verknüpften städ-tischen Produktionsgemeinschaften funktionieren mag, aufs Ganze derfeudalen Gesellschaft und ihres herrschenden Bewusstseins gesehen,noch entscheidend gehandikapt.

Es bedarf erst der geschilderten Feudalisierung des Klerus und der da-mit einhergehenden Reduktion seiner heilsperspektivisch-exzentrischenLebensform auf eine ausschließlich kultisch-sakramentale Kondition be-ziehungsweise Elimination der normativen Bedeutung oder Vorbildfunk-tion, die diese Lebensform bis dahin für alles Tun und Lassen auf Erden beansprucht, ehe jene andere, als immanentes Transzendieren charakte-

risierte und nämlich die irdische Sphäre als positives Mittel zum Zweckverwendende Art von Exzentrik, die durch den Austausch von Waren,das ständige marktvermittelte Setzen und Wiederaufheben materialerProdukte, sich vollziehende Wertbildung oder Akkumulationsbewegung,gesamtgesellschaftlich Raum greifen und sich gemäß dem ihr eigenenEntwicklungsdrang frei entfalten kann.

Und zwar sich frei entfalten kann auf dem Boden und im Rahmendes zweifachen Gesellschaftsvertrags, den die kommerzielle Funktioneingeht und unterhält: ihres Kontrakts einerseits mit den der Retorte derklerikalen Freiräume entsprungenen und auf feudalherrschaftlichem Ge-

 biet als halbwegs autonome Kommunen, stadtbürgerliche Einrichtungenetablierten handwerklich-technischen Produktionsgemeinschaften undihrer Übereinkunft andererseits mit den feudalen Herrschaften, die diehalbwegs autonome Existenz jener stadtbürgerlichen Gemeinschaften auf ihrem Territorium dulden beziehungsweise sogar tatkräftig fördern! Nur

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weil die kommerzielle Funktion auf solchen, von ihr zu einem Marktssys-

tem synthetisierten autonom-kommunalen Produktionsgemeinschaftenaufbauen kann, steht ihr ausreichende, vom Eigeninteresse getrageneökonomische Initiative und hinlängliches, von instrumenteller Vernunftgeprägtes technisches Ingenium zu Gebote, um eine Produktivität her-vorzutreiben, die den kommerziellen Aufwand lohnt und dem ihr einge-fleischten und zum unersättlichen Entwicklungsdrang ausschlagendenAkkumulationstrieb Genüge tut.

 Jenen Zustand bürgerlicher Selbstverwaltung, jene städtische Freiheitvermag die kommerzielle Funktion aber nur zu erwirken, weil ihr gelingt,sich mit den jeweiligen feudalen Herrschaften ins Benehmen zu setzenund diesen genug konsumtive Annehmlichkeiten, strategische Vorteileund finanziellen Gewinn zu bieten, um sie zur Anerkennung und Tole-rierung beziehungsweise zur Protektion und Förderung der für all dieAnnehmlichkeiten, Vorteile und Gewinnmöglichkeiten grundlegendenKommunen, die als Freiräume, als quasi exterritoriale Standorte in ihreTerritorien eingesprengt sind, zu bewegen.

Dabei besteht, wie gezeigt, der Coup der ganzen Geschichte darin,dass die kommerzielle Funktion durch diese, mit den jeweiligen feuda-len Herrschaften erzielte Übereinkunft nicht nur den sie tragenden undvon ihr zum Austauschsystem zusammengeschlossenen handwerklichenProduktionsgemeinschaften zu relativer ökonomischer Initiative und po-

litischer Autonomie verhilft, ihnen nicht nur die für ihr effektives Funk-tionieren, ihre mehrwertträchtige Produktivität unabdingbaren Rechteund Freiheiten sichert, sondern zugleich auch sich selbst den für dasMehrprodukt, das sie im Austausch mit den Produktionsgemeinschaftengewinnt, erforderlichen Absatzmarkt verschafft, sprich, für die Erfüllungder für alle kommerzielle Akkumulation grundlegenden Bedingung, dieRealisierung des Mehrwerts der von den Produktionsgemeinschaften zuMarkte getragenen Produkte sorgt. Indem der kommerziellen Funktiongelingt, mittels der konsumtiven Annehmlichkeiten, die sie zu bietenhat, die feudalen Herrschaften ihrem Marktsystem zu integrieren und

als eine auf Grund des allgemeinen Äquivalents aus anderen Quellen,über das sie verfügen, mit der Realisierung des Mehrwerts systematisch betraute Gruppe reiner Konsumenten in Dienst zu nehmen, gewinntihr Geschäft mit den städtischen Produktionsgemeinschaften, ihr markt-förmiges Kontrahieren mit letzteren jenen eskalierenden Zug, der alle

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Wertakkumulation nolens volens auszeichnet: Jedes Mal, wenn die kom-

merzielle Funktion Wert in Form von allgemeinem Äquivalent in neueProdukte investiert, sprich, Geld ausgibt, um dem Markt Waren zuzufüh-ren, tut sie das mit einer dank des vorigen Austauschprozesses und desMehrwerts, den er ihr eingetragen hat, vergrößerten Wertsumme – mitder Konsequenz, dass sie entweder bei den vorhandenen Produzentenmehr Produkte einkaufen oder neue Produzenten für den Markt rekrutie-ren oder in beidem reüssieren muss, um dem Verwertungsanspruch der betreffenden Wertsumme Genüge zu leisten und nämlich sicherzustellen,dass auch ihre Investition wieder ein ihrem vollen Potenzial entspre-chendes Mehrprodukt ergibt, das, als Mehrwert auf dem Markt realisiert,den nächsten Investitionsprozess mit einer wiederum vergrößerten unddeshalb wiederum vermehrte Beiträge der Produzenten beziehungsweisemehr Beiträger erheischenden Wertsumme durchzuführen erlaubt.

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. Handelskapital und zentrale Macht

Unter dem Druck des akkumulativen Wachstums verwandeln sich die beiden für

den Akkumulationsprozess bis dahin grundlegenden Faktoren des kommunalenProduzenten und des herrschaftlichen Konsumenten durch die stadtbürgerli-che Ordnung, die der eine schafft, beziehungsweise das territorialherrschaftli-che Regiment, das der andere führt, aus anfänglichen Beförderungsmitteln inschließliche Hemmschuhe der Entwicklung. Die Investition unverwertbaren

 Handelskapitals in die Etablierung von Patrizierschichten bringt zwischenzeitli-che Entlastung.

Dies beides also, der Lieferkontrakt mit ökonomisch weitgehend eigen-ständigen und politisch relativ selbstbestimmten kommunalen Produ-zentengruppen und die strategisch, finanziell und konsumpraktisch fun-

dierte Übereinkunft mit den feudalen Herrschaften, in deren Territoriendie Produzentengruppen eingebettet sind – dies beides macht, dass nachdem Schwinden des normativ-moralischen Einflusses der heilsperspekti-vischen Exzentrik des Klerus auf die gesamtgesellschaftliche Lebensweiseund Einstellung zur Welt die andere, mit der kommerziellen Funktionund ihrem Marktsystem einhergehende und nicht aufs transzendenteHimmelreich zielende, sondern der immanenten Transzendenz der Wert-schöpfung verpflichtete Exzentrik Raum greifen und den erwähnten, imAkkumulationsprinzip implizierten Entfaltungsdrang voll zum Tragen bringen kann.

Von den durch die Initiative und das Ingenium, die ein ökonomischebenso eigenverantwortliches wie politisch autonomes Wirtschaften ver-leiht, beflügelten städtischen Produzentengemeinschaften mit den erfor-derlichen Produkten beliefert und durch den Konsum der mit allgemei-nem Äquivalent aus anderen Quellen versehenen feudalen Herrschaften

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in die Lage versetzt, das ihnen in Erfüllung ihres konstitutiven Akkumu-

lationsanspruchs von den Produzenten gelieferte Mehrprodukt zuverläs-sig in seinem Wert sans phrase, in der Geldform, zu realisieren, könnendie Ausüber der kommerziellen Funktion, die Betreiber des Markts, je-nen Reigen von unablässig aufeinander folgenden Austauschprozessenaufführen, in deren Konsequenz die auf dem Markt versammelte Men-ge allgemeinen Äquivalents, sprich, die Wertsumme, die der Markt alsAnsprüche an ihn, an seine Warensammlung, den Produzenten für neueProduktionsleistungen zur Verfügung stellen kann, wächst und wächst.

Freilich führt nun in Bewahrheitung des Theorems, dass zunehmendeQuantität früher oder später in eine neue Qualität, ein neues mit sei-

ner eigenen Entstehung, seinen eigenen Wachstumsbedingungen nichtmehr kompatibles Maß umschlagen muss, solch unablässiges Wachstumzu einer grundlegenden Veränderung, besser gesagt, einer regelrech-ten Verkehrung des Verhältnisses der kommerziellen Funktion zu den beiden für den Akkumulationsprozess grundlegenden Faktoren des kom-munalen Produzenten und des herrschaftlichen Konsumenten. Beideverwandeln sich unter dem Eindruck oder vielmehr Druck jenes unauf-hörlichen Wachstumsprozesses aus die Akkumulation in Gang haltendenSiebenmeilenstiefeln in den Weg ihr verlegende Hemmnisse, aus Beför-derungsmitteln in Steine des Anstoßes. In dem Maße, wie eine immer

größere Wertsumme auf erneute Verwertung dringt, erweisen sich ebendie Bedingungen, die anfänglich dem Prozess förderlich waren, als viel-mehr seinem Fortgang, ihm in seinem Entwicklungsdrang, hinderlich.Nicht weniger nach innen, in ihrem Verhältnis zu ihren Geschäftspart-nern, den städtischen Produktionsgemeinschaften, als nach außen, inihrer Beziehung zu ihren Kunden, den feudalen Herrschaften, findensich die Betreiber des Markts durch genau das, was ihren kommerziellenAktivitäten anfänglich Perspektive und Spielraum eröffnete, zunehmendeingeengt und retardiert.

Weil die den kommunalen Produzentengemeinschaften verliehenen

ökonomischen Rechte und politischen Freiheiten einen bestimmten Sta-tus quo des Zusammenlebens, bestimmte Vergesellschaftungsformenfestschreiben, weil sie ihren faktischen Niederschlag und praktischenAusdruck in organisatorischen Satzungen, bürokratischen Verfassungen,zünftigen Regelwerken finden, kann die im Namen ihres wachsenden

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Handelskapitals auf eine ständige Erweiterung des marktrelativen Pro-

duzentenkreises und auf eine progressive Entfesselung marktrelevanterProduktivkräfte dringende kommerzielle Funktion gar nicht umhin, dieseihr anfänglich günstigen und genehmen ökonomischen und politischenRahmenbedingungen immer stärker als störendes Korsett, als restriktiveKonditionierung zu erfahren.

Und weil sie sich in ihrer Investitionstätigkeit und ihrem darin impli-zierten dispositionellen Einfluss auf die Produktionssphäre auf eben diesedurch ihre ökonomischen Strukturen und politischen Verfassungen ihrzunehmend beschwerlich und zum Hemmnis werdenden kommunalenProduktionsgemeinschaften und städtischen Gebilde beschränkt und von

allem übrigen, von den der unmittelbaren landesherrschaftlichen Gewaltund fronwirtschaftlichen Verfügung der feudalen Herren unterworfenenTerritorien, ferngehalten beziehungsweise in aller Form ausgeschlossenfindet, kann die kommerzielle Funktion gar nicht anders, als ihre für diesestrikte Trennung zwischen Stadt und Land, zwischen freiwirtschaftlich-kommunaler Gemeinschaft und fronwirtschaftlich-territorialer Gesell-schaft, verantwortliche Übereinkunft mit der feudalen Herrschaft, derzufolge letztere ausschließlich als Konsumentin, als für die Realisierungdes Werts des kommerziell erzielen Mehrprodukt zuständige Instanz, immarktwirtschaftlichen Geschehen eine Rolle spielt, während ihre Unterta-

nen und Hintersassen mitsamt den von ihnen bewirtschafteten Territoriendem marktwirtschaftlichen Zugriff ganz oder weitgehend entzogen blei- ben, in wachsendem Maße als dem kommerziellen Entwicklungsdrangentgegenstehende und das kommerzielle Akkumulationsinteresse beein-trächtigende Stipulation, ja, geradezu als Knebelvertrag, wahrzunehmen.

Nicht, dass ihr dadurch heraufbeschworener Zweifrontenkampf, derWiderstand, den ihrem Wachstum sowohl die stadtbürgerliche Ordnungals auch das territorialherrschaftliche Regiment entgegensetzen, die kom-merzielle Funktion zu völliger Stagnation und Bewegungslosigkeit verur-teilte! Nicht, dass nicht teils subjektiv der ihr eigene Entwicklungsdrang,

teils objektiv die Prämien und Vergünstigungen, die sie für diejenigen,die mit ihr kooperieren, bereithält, die kommerzielle Funktion in dieLage versetzten, die doppelte Fronde, die sich ihr entgegenstellt und ihrden Weg verlegt, partiell gesehen, immer wieder zu durchlöchern und,generell betrachtet, allmählich aufzuweichen!

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Wie oben bereits bemerkt, sind die konsumpraktischen, strategischen

und finanziellen Vorteile, die die städtischen Produktionsgemeinschaftenund die sie zum Marktsystem organisierende kommerzielle Funktionden feudalen Herrschaften bieten, groß genug, um die letzteren nichtnur zur Respektierung und gar Förderung der städtischen Freiräumeund systematischen Handelsaktivitäten auf ihren Territorien zu motivie-ren, sondern um sie auch zur relativen Toleranz und zum begrenztenLaissez-faire im Blick auf den Abbruch zu bewegen, den die Existenz jener Freiräume und der sie mit Leben erfüllenden kommerziellen Ak-tivitäten ihren Territorien beziehungsweise deren Personalbestand tut.Sie sind mit anderen Worten bereit, ein Auge zuzudrücken, wenn die

Stadtfreiheit fronwirtschaftliche Untertanen (zumal wenn es sich umUntertanen benachbarter Herrschaften handelt) dazu verlockt, durchÜbersiedlung in den städtischen Freiraum ihrer Untertanenschaft zuentfliehen und die Teilhabe an dem vergleichsweisen Wohlstand undGedeihen der städtischen Produktionsgemeinschaften zu suchen.

Schließlich kommt diese Vergrößerung beziehungsweise personaleZunahme der freistädtischen Produktionsgemeinschaften ihrer kommu-nalen Wirtschaftskraft und damit letztlich auch dem privaten Konsum,der politischen Macht und dem fürstlichen Steuersäckel des die jeweiligeKommune auf seinem Territorium duldenden beziehungsweise protegie-

renden Feudalherrn zugute und bietet somit hinlängliche Kompensationfür die Verletzung fronwirtschaftlicher Verfügungsgewalt und territo-rialherrschaftlicher Hoheitsrechte, die dieser zwar nicht starke, wohlaber stetige Verlust von fronwirtschaftlichen Untertanen an die freiwirt-schaftlichen Kommunen, diese Flucht aus der ländlichen Hörigkeit in diestädtische Freiheit, bedeutet.

Und gleichzeitig arbeitet dieses ebenso verstohlene wie stetige Wachs-tum der Städte dem Entwicklungsdrang der kommerziellen Funktioninsofern in die Hände, als es die fixen kommunalen Strukturen, die eta- blierten politischen Machtverhältnisse und fest gefügten Zunftordnungen

in Frage stellt und auf lange Sicht untergräbt. Als Fremde und Flücht-linge bleiben die Zugewanderten außerhalb der eigentlichen Kommune, bleibt ihnen die volle Integration in die letztere und uneingeschränktePartizipation an ihren Einrichtungen und Rechten verwehrt, was seinensinnenfälligen Ausdruck darin findet, dass sie sich an der Peripherie,

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außerhalb der die Kommune einfassenden und schützenden Stadtmau-

ern ansiedeln, sich mit der Rolle von Pfahlbürgern, von vor den Torender Stadt ihr Quartier aufschlagenden Bürgern zweiter Klasse abfindenmüssen.

 Je größer aber ihre Schar mit der Zeit wird, umso mehr wachsen dieSpannungen zwischen ihnen und der eingesessenen Produzentengemein-schaft, umso stärker wird der Druck, den ihre Existenz auf die etablier-ten kommunalen Strukturen ausübt, umso lauter und nachdrücklichererheben sie Forderungen nach uneingeschränkter Zulassung zu den städ-tischen Handwerken und Gewerben und nach voller Teilhabe an den bürgerlichen Einrichtungen und an der politischen Verwaltung der Stadt,

kurz, nach Liberalisierung und Demokratisierung des kommunalen Le- bens. Sie werden so zu natürlichen Verbündeten der kommerziellen Funk-tion, die nach Investitionsmöglichkeiten für ihr wachsendes Handelskapi-tal sucht und deren permanentem Verwertungsinteresse die kommunalenInstitutionen mittlerweile nicht weniger zuwider laufen als die territo-rialen Restriktionen, die mit anderen Worten an dem Korsett städtischerRegime und Zunftordnungen nachgerade nicht weniger Anstoß nimmtals an dem äußeren Widerstand, den die feudalgesellschaftliche Hörigkeitund herrschaftliche Privilegien dem Verwertungsprozess entgegensetzen.

Freilich verläuft der als Städtewachstum erscheinende Prozess der

Durchlöcherung beziehungsweise Aufweichung der beiden, dem Ver-wertungsdrang oder Akkumulationsdruck der kommerziellen Funkti-on Trotz bietenden oder im Wege stehenden Gesellschaftsformationendes feudalen Regiments und der kommunalen Ordnung langsamer undmühsamer, als es der Drängenden lieb ist. Das gilt zumal dort, wo einnaturgegeben oder produktivitätsbedingt massives Angebot mit einerkulturell begründet oder traditionsentsprechend massenhaften Nachfragezusammentrifft, also etwa beim Handel mit dem in verstreuten Lagerstät-ten vorkommenden und in großen Mengen für Konservierungszwecke benötigten Salz, beim Handel mit als Fleischersatz für die christlichen Fas-

tenzeiten dienendem Fisch oder beim Handel mit als Wohlstandssymbolpar excellence firmierendem und zur Bildung früher, lokal konzentrierterIndustrien Anlass gebendem Tuch, und es gilt im Übrigen auch da, woseltene Luxuswaren wie etwa für feudale und klerikale Repräsentations-zwecke begehrte kostbare Stoffe und Spezereien wegen ihrer exotischen

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Herkunft, die eine Wertschätzung nach Maßgabe der regionalen Mark-

trelationen erschweren oder verunmöglichen, es den Handeltreibendenerlauben, unverhältnismäßig hohe Gewinnspannen zu erzielen.In all diesen Fällen kommt es schon früh zu einem raschen kommerzi-

ellen Wertzuwachs, einer Ansammlung großer Handelskapitale, die nunallerdings ihre Besitzer, die Betreiber des jeweiligen Marktes, mit demProblem ihrer sinnvollen Nutzung konfrontieren. “Sinnvolle Nutzung”wäre, der inneren Logik des kommerziellen Akkumulationsprozessesfolgend, an sich gleichbedeutend mit der Weiterverwendung des ange-sammelten Handelskapitals als Kapital, seinem fortlaufenden Einsatz alsMehrwert erzielender Wert, seiner permanenten Selbstverwertung.

Dem stehen freilich in diesen frühen Fällen die allgemeinen gesell-schaftlichen Strukturen entgegen, sprich, die besagten zunftmäßig organi-sierten kommunalen Freiheiten einerseits und landesherrlich fundiertenterritorialen Privilegien andererseits, die für neue Investitionen, für einedem akkumulierten Kapital entsprechende Mobilisierung von Arbeits-kräften und sächlichen Ressourcen, weder den nötigen Raum bietennoch das erforderliche Personal zu rekrutieren erlauben. Unter diesen,den Fortgang ihrer Akkumulationstätigkeit massiv behindernden undeinschränkenden Bedingungen bleibt den kommerziellen Betreibern, dieüber solche frühen Kapitalkonzentrationen verfügen, gar nichts anderesübrig, als das akkumulierte Kapital, soweit es nicht kommerziell verwert-

 bar ist, entweder in die Schatzbildung zu stecken, es als Geld sans phrase,als Edelmetall oder Münze, zu sammeln und zu horten, oder aber es inden persönlichen Konsum beziehungsweise in die gesellschaftliche Re-präsentation zu investieren, sich mit seiner Hilfe materiellen Wohlstandund soziales Ansehen zu verschaffen.

Da ersteres nicht nur jeglicher Vorstellung von “sinnvoll” ins Gesichtschlägt, sondern mehr noch dem Gedanken der “Nutzung” als solchemHohn spricht, und da es sie außerdem der Eifersucht und Begehrlichkeitder feudalen Herrschaften aussetzt, denen jedes thesaurisch massierteEdelmetall tendenziell als Herrengut gilt, wählen sie im Zweifelsfall den

letzteren Weg und sichern sich mit ihrem überschüssigen, weil mangelsInvestitionsmöglichkeiten in ihren Händen verbleibenden HandelskapitalEinfluss und Status in ihren Kommunen, kurz, patrifizieren sich. In derTat ist die Entstehung eines städtischen Patriziertums direkte Konsequenzdieser frühen Ansammlungen von Handelskapital, das in Ermangelung

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ihn nicht los würde, die Handeltreibenden zur Schatzbildung nötigte und

so die Habgier der herrschaftlichen Umgebung wecken und die Gefahrgewaltsamer Übergriffe und Enteignungen heraufbeschwören müss-te. Mittelbar betrachtet, hat nun aber dieser, in etwas rein Negativem,im Beseitigen von Überflüssigem bestehende ökonomische Effekt einemehr noch positive Implikation, einen durchaus konstruktiven Aspekt:In dem Maße, wie Teile des akkumulierten Handelskapitals in den Kon-sum wandern und dem Gemeinwohl zugeführt werden, gewinnt dasrestliche, als solches übrig bleibende Kapital an Investitionschancen undkommerzieller Verwertbarkeit. Was nämlich durch seine konsumtive beziehungsweise liturgische Verwendung als Anspruch des Marktes andie Produzenten, sprich, als Kapital, als Wertschöpfungsinstrument ausder Zirkulation entfernt wird, kehrt dank eben dieser konsumtiven be-ziehungsweise liturgischen Verwendung als Anspruch der Produzentenan den Markt, kurz, als Wertrealisierungsmittel, als Konsumkraft in dieZirkulation segensreich und sie befördernd zurück.

Indem die Handeltreibenden sich mit Hilfe von Teilen ihres akkumu-lierten Kapitals patrizisch etablieren, schaffen sie Nachfrage nach denfür ihren neuen, aufwendigen Lebensstil und für ihre neuen, gemein-nützigen Beiträge erforderlichen Gütern und Leistungen und erzielenauf diese Weise eine Gesundschrumpfung des Marktes in dem buchstäb-lichen Sinne, dass sie den Markt nicht nur auf ein den Gegebenheiten beziehungsweise Nichtgegebenheiten der kommunalen und territoria-len Produktionssphären angemessenes Niveau reduzieren, sondern ihnauf dem reduzierten Niveau zugleich sanieren, ihm uno actu des Rück-schnitts, das sie seinem Wachstum angedeihen lassen, Belebung bringenund neuen Schwung verleihen.

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Eine Beseitigung der Hindernisse und Beschränkungen, die das feudale Regime

der Entfaltung des kommerziellen Systems in den Weg legt, scheint umso dring-licher, als unter dem Einfluss der Entwicklung des Marktsystems das feudaleRegime einer zugleich als Zerfalls- und Konzentrationsprozess wirksamen De-montage unterliegt, die dem Wirtschaftsleben abträgliche ständige Machtkämpfeund kriegerische Konfrontationen heraufbeschwört. Wie die Entwicklung des

 Marktsystems das feudale Regime demontiert, so erzwingt sie am Ende aber auchseine Reorganisation: Es bilden sich regionale Vorherrschaften und hegemoniale

 Mächte, die das von Vasallen, bevollmächtigten Repräsentanten des Oberherrn,beherrschte dezentrale Lehnssystem durch einen von Beamten, weisungsgebun-denen Funktionären des Souveräns, betriebenen zentralen Verwaltungsapparat

ersetzen.

So kommod dieser in der Etablierung von Patrizierschichten beste-hende Ausweg einer Entlastung des Markts vom Druck unverwertbarenHandelskapitals aber auch sein mag, so erfolgreich er ein, zwei Jahr-hunderte lang den doppelten Zweck erfüllt, nicht nur politisch die Stel-lung und Geltung der freien Kommunen im Rahmen feudalherrschaft-licher Verhältnisse zu festigen und zu stärken, sondern mehr noch öko-nomisch das durch die Patrifizierung retardierte Wachstum der Märkteder freien Kommunen uno actu seiner Verlangsamung auch zu sichern

und einen Beitrag zur Stabilität und Kontinuität der kommerziellen Ent-wicklung zu leisten, sprich, dem Marktsystem Raum und Zeit für denoben erwähnten Prozess einer allmählichen Durchlöcherung und Auf-weichung der der vollen Entfaltung des Systems im Wege stehendenkommunalintern-korporationsrechtlichen und feudalgesellschaftlich-territorialherrschaftlichen Hindernisse und Schranken zu verschaffen– auf lange Sicht reicht er nicht aus, um eine krisenhafte Zuspitzungund sprengkräftige Verstärkung des Konflikts zwischen den treibendenKräften des auf Akkumulation programmierten Markts und den hem-menden Faktoren des ebenso sehr von den freiwirtschaftlich-städtischen

Gemeinschaften wie von den fronwirtschaftlich-territorialen Gesellschaf-ten gleichermaßen intern und in ihrem Verhältnis zueinander gefundenenund behaupteten Äquilibriums zu verhindern.

Zu dynamisch entwickelt sich das Marktsystem, zu unerbittlich funk-tioniert sein Prinzip einer Warenzirkulation zu dem einen und einzigen

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Zwecke ihrer ad infinitum erweiterten Reproduktion und zu sehr er-

weist sich dieses Prinzip als die schlechthinnige Unruhe des Systems, zuzwangsläufig impliziert es eine unablässige Sabotage jeglichen Stillhal-teabkommens oder auf die Aufteilung von Einflusssphären und Zustän-digkeiten gerichteten Kompromisses, als dass sich ernsthaft hoffen, ge-schweige denn erwarten ließe, eine von Entlastungsveranstaltungen wieder Patrifizierung sekundierte allmähliche ökonomische Erosions- undUnterminierungsstrategie könne eine durchweg friedliche Umwandlungund evolutionäre Umgestaltung der feudal organisierten territorialenGesellschaft und ihrer kommunal verfassten städtischen Einsprengselzuwege bringen, könne mit anderen Worten ohne soziale Verwerfun-gen und politische Umwälzungen die Befriedigung des unendlichenkommerziellen Entwicklungsdrangs gewährleisten.

Von diesem Entwicklungsdrang getrieben, muss das in ständig wach-sender Proportion und auf immer breiterer Front akkumulierte Han-delskapital die in der Bildung von Patrizierschichten bestehende Lösungseines strukturellen, in der Struktur der feudalen Gesellschaft und derkommunalen Gemeinschaften begründeten Verwertungsproblems als zu-nehmend unbefriedigend beziehungsweise unwirksam erfahren und diemehr oder minder gewaltsame Aufsprengung des doppelten, strukturell bedingten politisch-ökonomischen Korsetts, in das es sich eingezwängtund von dem es sich in seinen kommerziellen Aktivitäten und Projekten

an allen Ecken und Enden beschränkt und gehemmt findet, als ein immervordringlicheres Erfordernis ansehen. Dabei liegt auf der Hand, dassvordringlicher und entscheidender als die interne, auf die Aufweichungund Demontage der städtischen Verfassungen und Zunftordnungen zie-lende Enthemmung des kommerziellen Akkumulationstriebes dessenexterne, auf die Zerschlagung und Beseitigung territorialer Verfügungs-gewalt und ständischer Privilegien gerichtete Entfesselung ist. Schließlichsind es die feudalen Herrschaften, die als sei’s parallel geordnete, sei’shierarchisch gestaffelte Landesherren die Hoheit über das feudalgesell-schaftliche Gesamtsystem beanspruchen und, wie einerseits als über ihre

fronwirtschaftlich-territorialen Untertanen verfügende Gewalthaber, soandererseits als die freiwirtschaftlich-kommunalen Gemeinschaften, diesich auf ihren Territorien etabliert haben, in ihrer relativen Eigenstän-digkeit tolerierende und als politisch-ökonomisch besondere Einheitenlegitimierende Garantiemächte firmieren.

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Wie immer vertraglich gebunden beziehungsweise durch die ökonomi-

sche Nützlichkeit und militärische Wehrhaftigkeit der städtischen Pro-duktionsgemeinschaften auf einen mehr oder minder formellen Anspruchreduziert, bezieht sich doch die Souveränität der feudalen Herrschaftenim Prinzip nicht weniger auf die in ihre Territorien eingebetteten Städteals auf die Territorien selbst und bildet insofern den hoheitlich-rechtlichenRahmen und die maßgebende Bezugsgröße für alle das Gesamtsystemstrukturierenden Ordnungen, Zuständigkeiten und Freiheiten. Gelängees der kommerziellen Funktion auch, die innerstädtischen Verfassungenund Organisationsformen auszuhebeln und eine direktere Verfügungüber die in der Stadt versammelten Arbeits- und Produktivkräfte zuerringen, sie bliebe doch mitsamt der ihr zur freien Verfügung gestelltenStadt eingebunden in jenen feudalherrschaftlich-hoheitlichen Kontextund den räumlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen Beschränkun-gen, die er ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit und Ausbreitung auferlegt,unterworfen.

Gelingt es der kommerziellen Funktion hingegen, die feudalen Macht-haber in ihrer landesherrlich-hoheitlichen Gewalt zu beschneiden odergar außer Kraft zu setzen, so bedeutet das eine Entmachtung beziehungs-weise Ausschaltung der für das Korsett des Gesamtsystems maßgeben-den Herrschaftsinstanz und Garantiemacht und eröffnet der kommer-ziellen Funktion auch und natürlich bessere Aussichten, die durch die

feudale Herrschaftsinstanz verliehenen und durch ihre Garantiemachtgestützten Ordnungen und Freiheiten der kommunalen Produktionsge-meinschaften, die den kommerziellen Aspirationen mittlerweile im Wegeund zuwider sind, anzugreifen und zu Fall zu bringen.

Neben dem strukturell-strategischen Grund, primär die territorialeHerrschaft und ihre feudale Organisation ins Visier zu fassen und zu bekämpfen, hat die kommerzielle Funktion freilich auch noch reell-prakti-schen Anlass, einer Entmachtung der feudalen Gewalthaber beziehungs-weise Befreiung von deren Fesseln Priorität vor der Sprengung bezie-hungsweise Zerschlagung der Ordnungen und Zwänge beizumessen,

die in den freien Kommunen die kommerziellen Aktivitäten korsettieren.Und angesichts der habituellen Anerkennung, die auch bei den Ver-tretern der kommerziellen Funktion, den Betreibern des Markts, dasfeudale Machtgefüge findet, angesichts der kirchlichen Reaffirmationund Sanktion, die, zumal nach der Feudalisierung des Klerus, seiner

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Amassierung durch Heiratspolitik und dynastische Bündnisse, die Gele-

genheit der an der Peripherie des Systems positionierten Feudalherren,durch die Eroberung, Annexion und Besiedlung heidnischen und deshalbals herrenlos geltenden Territoriums zu expandieren, schließlich auch die besondere Stellung des als Verwalter des Heils und sakramentaler Mittlerhochgehaltenen Klerus, der es den kirchlichen Feudalherrschaften, denAbteien und Bistümern, ermöglicht, sich gleichermaßen durch die ma-terialen Spenden der säkularen Gläubigen zu bereichern und durch ihreterritorialen Stiftungen und Hinterlassenschaften zu vergrößern.

Mögen all diese Gründe aber auch mit dazu beitragen, dass sich derfeudale Herrschaftszusammenhang immer stärker zersetzt und desor-ganisiert, maßgebend für die wachsende Diskontinuität und Hetero-genität des Systems und seine daraus resultierende Verspannung undKonfliktträchtigkeit sind eben die kommerzielle Funktion und die vonihr geschaffenen und von ihr betriebenen Märkte selbst. Dank der ge-nannten machtstrategischen, finanzpolitischen und konsumpraktischenVorteile, die das Wirken der kommerziellen Funktion und ihrer Basen,der in die feudalherrschaftlichen Territorien eingesprengten städtischenProduktionsgemeinschaften und Markteinrichtungen, für die jeweiligeFeudalherrschaft mit sich bringt, kommt es zwangsläufig zu einer Art Ge-rinnungsprozess im feudalgesellschaftlichen Fluidum, einer punktuellenVerdichtung und korrespondierenden Ausdünnung, kurz, Ungleichver-

teilung von Macht und Einfluss.Überall da, wo geographische, demographische, verkehrstechnische,

kulturtraditionelle, herrschaftspolitische oder sonstige Gegebenheiten dieEntstehung und das Wachstum städtischer Produktionszentren und diedamit einhergehende marktbildnerische Entfaltung der kommerziellenFunktion begünstigen, zieht nolens volens auch die für die jeweiligeRegion zuständige Feudalherrschaft finanzpolitischen und machtstrate-gischen Vorteil aus der kommerziellen Entwicklung, und es kommt nachund nach zu einer an den Schwerpunkten, Kraftlinien und Verkehrs-wegen des Marktsystems orientierten Neuordnung der herrschaftssys-

tematischen Relationen, die, weil sie sich weitgehend unabhängig vonder durch lehnsrechtliche Beziehungen und dynastische Verbindungen bestimmten Hierarchie und Organisation der Herrschaft vollzieht, imZweifelsfall quer dazu verläuft oder gar im offenen Widerspruch dazusteht. Es kommt zur Bildung regionaler Machtzentren, die wenig oder

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einander immer stärker das Wasser abzugraben und die Existenz zu

 bestreiten suchen. Die Konsequenz dieser diversen Frontstellungen teilszwischen dem alten und dem neuen Organisationsmodell von Herrschaft,teils im Rahmen der neuen, kommerziell begründeten herrschaftlichenVerhältnisse selbst sind ständige Streitigkeiten, handgreifliche Fehdenund kriegerische Auseinandersetzungen, kurz, eine allgemeine Destabi-lisierung der Machtverhältnisse und Zerrüttung des Landfriedens in derFeudalgesellschaft als ganzer.

Für die kommerzielle Funktion und die von ihr marktförmig organi-sierten städtischen Produktionsgemeinschaften sind diese permanentenherrschaftlichen Machtkämpfe und kriegerischen Konfrontationen vom

Übel. Selbst wenn die mit Waffengewalt ausgetragenen Balgereien undKonflikte, in die das Emanzipations- und Expansionsstreben der vomkommerziellen Glück begünstigten Herrschaften die feudale Gesellschaftzunehmend verstrickt, die Handeltreibenden und die ihnen zuarbeiten-den Kommunen außen vorlassen und nicht direkt tangieren, sind sie dochden kommerziellen Aktivitäten abträglich, indem sie den Handelsverkehrstören oder gar unterbrechen und durch die Expropriation oder gar Elimi-nation feudaler Kunden den Absatz beeinträchtigen. Dass sie auch neueNachfrage, speziell nach Rüstungsgütern erzeugen, kann diese in der Stö-rung der Handelswege und dem Verlust von Absatzmärkten bestehenden

Schädigungen des kommerziellen Betriebes mitnichten wettmachen.Mehr noch haben die städtischen Produktionsgemeinschaften und diesie zum Marktsystem organisierenden Handeltreibenden im Normal-fall auch deswegen indirekt unter den macht- und territorialpolitischenStreitereien und kriegerischen Auseinandersetzungen zu leiden, weil diekombattierenden Herrschaften sie zur Finanzierung ihrer Fehden undWaffengänge heranziehen, indem sie sie mit Sonderabgaben und Kriegs-steuern belasten. Die streitenden politischen Machthaber rekurrieren mitanderen Worten unter Ausnutzung ihrer herrschaftlichen Machtstellungauf ihre stille Teilhaberschaft am kommerziellen Geschehen, erhöhen, um

ihre militärischen Ausgaben zu decken, die Rate ihrer steuerlichen undtributären Beteiligung an den Erträgen der städtischen Produzenten undden Gewinnen der auf Basis der städtischen Produzentengemeinschaf-ten Handeltreibenden und erweisen sich in dem Maß, wie sie dadurchden kommunalen Produktionsanreiz mindern und die kommerzielle

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Kaufleuten auf, um sie mit aus der Luft gegriffenen Abgaben und Wege-

zöllen zu belegen, ihnen Tribute abzupressen oder sie kurz und bündigauszuplündern.Im wie immer auch unklaren Bewusstsein, dass die Wurzel ihres Übels,

der Grund für ihre ökonomische Notlage und ihren politischen Nie-dergang, in der Zersetzungs- beziehungsweise Scheidekunst liegt, mitder der kommerzielle Reichtum das feudale Herrschaftssystem traktiert,rücken die Verlierer bei jenem Prozess dem kommerziellen Reichtum mitGewalt zu Leibe, wobei in hoffnungsloser Ambivalenz die vage und zurGewalttat treibende Absicht, das Unheil wirkende kommerzielle Sys-tem zu zerstören, mit dem dringenden und einer geheimen Affirmation

des Systems entspringenden Bedürfnis im Streit liegt, sich in den Besitzvon kommerziellem Reichtum zu bringen und an seinen Segnungen zupartizipieren.

Der feudale Herrschaftszusammenhang gerät also in vielfacher Hinsichtaus den Fugen und gewährleistet immer weniger, was er doch eigentlichim Rahmen seines Sozialkontrakts mit dem kommerziellen Marktsystemdiesem verspricht: Landfrieden, Bewegungsfreiheit und Entfaltungs-raum oder Schutz, Förderung und Absatzchancen. Stattdessen sorgt erin zunehmendem Maße direkt und indirekt für die Unterbrechung derHandelsbeziehungen, die Beeinträchtigung des Akkumulationsprozesses,

die Störung der dafür erforderlichen städtischen Produktion, die Lebenund Habe umfassende Gefährdung des das kommerzielle Marktsystemtragenden produktiven und zirkulativen Personals. So gesehen, gibt erden freien Städten und den Handeltreibenden reichlich Anlass, ihn zumTeufel zu wünschen und eine Gesellschaft ohne ihn herbeizusehnen.

Das Wünschenswerte ist indes nicht immer machbar oder auch nurdenkbar. Nicht genug damit, dass die oben angeführte habituelle Aner-kennung, die, unterstützt noch durch die Bürgschaft des Klerus, seinereligiöse Sanktionsmacht, der feudale Herrschaftszusammenhang bei denstadtbürgerlichen Handwerkern und Handeltreibenden findet, es diesen

geradezu unmöglich werden lässt, sich eine Gesellschaft ohne ihn über-haupt vorzustellen, die realen Machtverhältnisse sind auch von der Art,dass den Städten und ihren Kaufleuten der Versuch, sich tatkräftig gegenihn aufzulehnen und mit Gewalt seine Abschaffung zu betreiben, garnicht erst oder höchstens in Situationen äußerster Not und Verzweiflung

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in den Sinn kommt. Auch wenn die freien Städte durchaus genug mili-

tärisches Potenzial und Wehrhaftigkeit besitzen, um sich im Zweifelsfallgegen die feudalen Herrschaften zu behaupten und allein oder im Bundemit anderen deren Übergriffe abzuwehren, ganz zu schweigen von ihrerFähigkeit, das Raubrittertum der kleinen, in die Enge getriebenen undhalbwegs verkommenen Feudalherren zu bekämpfen und im Einzelfallabzustellen – aufs Ganze des feudalgesellschaftlichen Systems gesehen, bleiben sie definitiv unterlegen und in ihrer wie auch immer durch Rechteund Freiheiten beschränkten Untertänigkeit arretiert.

Hinzu kommt aber noch, dass durch ihre Integration in das kommer-zielle Geschehen, durch die ihnen zugewiesene Konsumentenrolle, ihreFunktion als Realisierer des von den städtischen Produktionsgemein-schaften geschaffenen Mehrwerts, die den feudalen Zusammenhang bil-denden Herrschaften ja ein unentbehrliches Element im Marktsystemsind, ohne das letzteres seinen Geist aufgeben, sprich, sein Akkumula-tionsprinzip und seinen darin beschlossenen, als Lebenstrieb erschei-nenden Entfaltungsdrang an den Nagel hängen müsste, und dass vondaher nicht nur politisch-empirisch ebenso wie militärisch-faktisch, son-dern auch und gerade ökonomisch-systematisch für die Betreiber desMarktsystems und die ihnen zuarbeitenden städtischen Produktionsge-meinschaften die Vorstellung von einer herrenlosen Gesellschaft, einemGemeinwesen ohne fronwirtschaftlich-feudale Nutznießer in der Tat ein

Unding bleibt. Wer sollte den Betreibern des Marktes ihr Mehrproduktabnehmen, wer es in wiederum im Austausch mit den städtischen Pro-duzenten Mehrprodukt erwirtschaftenden Mehrwert, in kommerziellesKapital, ummünzen, wenn nicht die dank der Fronarbeit und des Kriegs-dienstes ihrer Knechte, dank Tributleistungen und vor allem dank derAusbeute ihrer Bergwerke über Münze, über thesaurisches Edelmetallverfügenden herrschaftlichen Konsumenten?

Was den fronenden Knechten der Herrschaft selbst, wenn ihre Knecht-schaft allzu hart und ihr Elend allzu groß wird, noch in den Sinn kommenmag, die in die christliche Glaubens- und Gütergemeinschaft gewendete

und zwischen subsistenzieller Bescheidung und natürlichem Überflusschangierende, dionysische Vision einer jeglicher Herrschaft ledigen frei-en, gleichen und brüderlichen Assoziation, das bleibt den in das Markt-system eingebundenen städtischen Kommunen und zumal den sie insMarktsystem einbindenden Handeltreibenden ein unvorstellbarer, weil

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das ökonomische System, in und aus dem sie leben, aus den Angeln

hebender und ihre Subsistenz beziehungsweise ihren Existenzgrundihnen verschlagender Prospekt.So vielfältigen Anlass also das städtische Marktsystem im Allgemeinen

und seine kommerziellen Betreiber im Besonderen auch haben mögen,ökonomischen Anstoß an dem sich zunehmend zersetzenden und chaoti-sierenden politischen System des feudalen Herrschaftszusammenhangeszu nehmen – sie kommen von ihm nicht los, sind auf Gedeih und Ver-derb mit ihm zusammengeschirrt, sind deshalb ohnmächtig ihm undseinem Zerfallsprozess beziehungsweise seinem Konfrontations- undKonfliktkurs ausgeliefert. Seien wir indes nicht zu rasch mit dem reinvernichtenden Fazit bei der Hand! Setzen wir uns nicht leichtfertig überden Widerspruch oder Zirkel, der hier lauert, hinweg! Ausgeliefert mö-gen sie ja sein! Aber auch ohnmächtig? Sind es nicht das Marktsystemund seine Betreiber, die, wie eben konstatiert, durch ihre machtstrategi-sche, finanzpolitische und konsumpraktische Scheidekunst den feudalenHerrschaftszusammenhang in jenen Zersetzungsprozess hineintreiben?Sind sie es nicht, die durch die Ungleichverteilung ihrer ökonomischenSegnungen das die hierarchisch gegliederte und ständisch geordneteStruktur kippende Ungleichgewicht zwischen den Feudalherren, diezunehmenden Unterschiede in Größe, Vermögen und Macht, schaffen beziehungsweise entfalten und so die das politische Herrschaftsgebäude

aus den Fugen geraten lassende Reibungsenergie und Konfliktträchtigkeiterzeugen? Sind sie nicht die treibende Kraft hinter der herrschaftlichenFassade, die objektive Macht, die das Tun der herrschaftlichen Subjektelenkt oder jedenfalls motiviert und den letzteren, ohne dass sie wissen,wie ihnen geschieht, einen neuen, durch die alte hierarchisch-ständischeOrdnung immer weniger determinierten und immer stärker mit ihr kolli-dierenden Handlungsrahmen oktroyiert?

Und hört diese geheime Wirksamkeit, dieser hintergründige Einfluss,den das Marktsystem und seine Betreiber auf die historische Entwick-lung ausüben, mit der Unterminierung der – allen privaten Fehden und

dynastischen Konkurrenzen zum Trotz – relativ stabilen Statik eines auf verwandtschaftlich-persönliche Beziehungen gegründeten Herrschafts-corpus und dessen Überführung in den eine ebenso konfliktträchtige wieunbändige Dynamik hervorkehrenden Mechanismus von auf wirtschaft-lich-sächlicher Basis konkurrierenden Machtzentren etwa auf, schwächt

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sich dieser marktsystematische Faktor in der feudalgesellschaftlichen Ge-

schichte etwa ab und verliert sich, seine treibende Kraft, im heillosen po-litischen Durch- und Gegeneinander, das er anrichtet, im systemwidrig- bürgerkriegsähnlichen Chaos, das er provoziert? Zeigt sich der kommer-zielle Wirkfaktor nicht ebenso gewiss, wie er das alte Herrschaftsgefügezersetzt und nach Maßgabe der neuen Schwerpunkte, Kraftlinien undVerkehrswege, die er schafft, um den Preis vielfacher politischer Rei- bungen und militärischer Konflikte rearrangiert, immer noch am Werkund unverändert triebmächtig? Dreht sich nicht bei den herrschaftlichenMachtkämpfen nach wie vor und mehr denn je insgeheim alles darum,wer über die Territorien mit den blühendsten Städten, den attraktivs-ten Märkten, den ausgedehntesten kommerziellen Aktivitäten herrscht,wer am Reichtum des durch diese Faktoren gebildeten Marktsystems inForm der als Gegenleistung für den Schutz und die Förderung, die erdem System angedeihen lässt, ihm als Landesherrn zufließenden Steuernund Abgaben am stärksten profitiert, wer den größten Nutzen aus denzivilisatorisch-kulturellen Errungenschaften, den technisch-militärischenNeuerungen, den politisch-strategischen Verbindungen und Einfluss-möglichkeiten, den konsumtiv-demonstrativ avancierten Lebensformenzu ziehen vermag, die das System zur Verfügung stellt?

Und sorgt nicht genau dieses ebenso unverminderte wie kontinuierli-che Weiterwirken des städtisch-kommerziellen Faktors und seiner han-

delskapitalen Triebkraft dafür, dass das politische System, der feudaleHerrschaftszusammenhang, keineswegs im Chaos versinkt, dass der kraftMarktsystem betriebene politisch-militärische Zersetzungsprozess, so ge-wiss er in der Bildung neuer, quer zum alten Herrschaftszusammenhangstehender regionaler Machtzentren, partikularer Interessenverbände,hegemonialer Einflussgebiete resultiert, mitnichten in eine allgemeineDekomposition und Konfrontation der territorialen Elemente einmündetund darin gewissermaßen seine eigene Auflösung findet? Bietet jener fort-wirkende städtisch-kommerzielle Faktor nicht die Garantie dafür, dasssich der politische Zersetzungsprozess in der quasi logischen Konsequenz

seiner zweideutigen Intention oder janusköpfigen Bedeutung in sein Ge-genteil verkehrt, dass er sich in einer Art Reflexion in sich als ebenso wohlein Setzungsvorgang herausstellt, indem die partikularen Machtzentren,in die das alte, feudale Corpus zerfällt, zu Kristallisationspunkten oderOrganisationskernen einer neuen, aus regionalen Wirtschaftsräumen,

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die sich als nationale Hoheitsgebiete politisch verfassen, komponierten

Totalität werden?Schließlich geht die durch die kommerzielle Zersetzungs- oder Schei-dekunst erwirkte Partikularisierung des feudalen Herrschaftszusammen-hangs ja von Anfang an Hand in Hand mit einem gegenläufigen Vorgang,der Konzentration der von den partikularistischen Machtzentren jeweilsumspannten beziehungsweise sie jeweils umgebenden herrschaftlichenTerritorien. So gewiss sich im Allgemeinen oder im Blick auf die hier-archische Spitze, sprich, gegenüber dem feudalen Oberherrn, die dermarktwirtschaftlichen Scheidekunst entspringende Bildung jener regio-nalen politischen Machtzentren partikularisierend auswirkt, das heißt, in

einer Aufkündigung der lehnsrechtlichen Abhängigkeit und Befreiungaus aller persönlichen Botmäßigkeit und Verselbständigung des jeweili-gen Lehens zur Landesherrschaft, seiner Aufhebung in den Status einerden feudalen Rahmen sprengenden und nurmehr Gott und sich selbstverpflichteten Souveränität, resultiert, so gewiss sind ihre Konsequenzenim Einzelnen oder in Bezug auf die ständische Basis, sprich, gegenüberden gleich- und untergeordneten Standesgenossen, integrierender Natur,das heißt, sie führt den durch die städtisch-kommerzielle Potenz auf seinem Territorium Ermächtigten zu einem wachsenden Einfluss auf undeiner zunehmenden Verfügung über die seinem Territorium eingelagerten

 beziehungsweise es umgebenden Territorien anderer, weniger begüns-tigter und mangels Größe, Vermögen oder beidem schwächerer feudalerHerrschaften.

Wirkt sich dies anfangs im Sinne einer hegemonialen Vorherrschaftaus, eines politischen und militärische Machtungleichgewichts, das demMachthaber erlaubt, den Schwächeren seinen Willen aufzuzwingen undsie als unfreiwillige Bundesgenossen oder Gefolgsleute in seine politi-schen Pläne einzuspannen und für seine eigensüchtigen Emanzipations-und Expansionsbestrebungen zu instrumentalisieren, so kommt es früheroder später, da ja das ganze Emanzipationsstreben des Mächtigen auf 

eine Aufkündigung der traditionellen, für das feudale Herrschaftssystemcharakteristischen lehnsrechtlich-föderalen Beziehungen hinausläuft unddiese also für das Verhältnis des Hegemonen zu seinen Gefolgsleuten alsOrdnungsprinzipien nicht mehr in Betracht kommen, zu einer Neugestal-tung der Beziehungen, in deren Ergebnis sich höchstens noch ironisch

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von Beziehung überhaupt reden lässt, da sich das hegemoniale Macht-

verhältnis in ein schieres Selbstverhältnis aufhebt oder vielmehr auflöst,kurz, aus dem Hegemon ein Despot wird.Früher oder später nutzt also der Mächtige seine wesentlich durch die

städtisch-kommerziellen Aktivitäten auf seinem Territorium bedingte Do-minanz, um sein feudal strukturiertes, durch lehnsrechtliche Beziehungenoder dynastische Bindungen moderiertes Verhältnis zu den in seinemMachtbereich ihre Herrschaft übenden Standesgenossen zu beenden undseine hegemoniale Vorherrschaft in eine regionale Despotie einmündenzu lassen. Egal, ob er die Standesgenossen mit militärischer Gewalt ver-treibt und enteignet, durch familiäre Verbindungen beerbt und ablöst,

durch pekuniäre Verlockungen auskauft und als bloße Würdenträger anseinen Hof fesselt, auf die eine oder andere Weise verleibt er sich derenTerritorien ein, gliedert sie seinem eigenen Hoheitsgebiet an und lässt diedurch das regionale Machtzentrum, über das er Herr ist, initiierte unddas feudale Umfeld erfassende Konzentrationsbewegung, die oben alsdie Kehrseite des dem regionalen Machtzentrum eigenen Partikularismusvorgestellt wurde, in einem regelrechten territorialen Integrationsprozesskulminieren.

Und dieser Integrationsprozess, der in der Ausbildung einer begrenztenAnzahl von weitgehend souveränen, weil vom feudalen Oberherrn und

dem durch ihn repräsentierten Herrschaftssystem praktisch unabhängi-gen und einander annähernd ebenbürtigen Landesherrschaften resultiert,zieht nun aber auf Basis der das feudale Herrschaftssystem faktisch er-setzenden landesherrlichen Gewaltübung eine neue, im Feudalsystemnur erst ausnahmsweise und nämlich höchstens und nur auf die eigenenKerngüter angewandte, jetzt aber zum Regelfall erhobene Herrschafts-form nach sich, die direkte politische, ökonomische, fiskalische, juris-tische, diplomatische Verwaltung des Landes durch vom Landesherrn bestallte und ebenso sehr in ihrer Amtsführung ihm verantwortliche wiein ihrer Amtsinhaberschaft von ihm vollständig abhängige Funktionäre.

An die Stelle der Standesgenossen, Vögte und Offizialen, die in ihrerAbhängigkeit vom hierarchisch höher angesiedelten und quasi als Vor-gesetzter firmierenden Amtseinsetzer oder Lehnsherr in allen genanntenHinsichten ein gerüttelt Maß Eigenständigkeit beziehungsweise Eigen-mächtigkeit behaupten, treten Bestallte oder Beamte, die von Gnaden des

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Landesherrn ihr Amt versehen und als bürokratische Organe nichts als

den Willen und die Weisungen ihres Hauptes zur Ausführung bringen.Kurz, das organisatorische Pendant des von den wirtschaftsräumlich-regionalen Machtzentren seinen Ausgang nehmenden und in der Bildungetlicher, vom Feudalsystem unabhängiger Landesherrschaften resultie-renden politischen Integrationsprozesses ist die Zentralisierung, die denGrund legt für eine ebenso verbindliche wie einheitliche politische Aus-richtung, ökonomische Konditionierung, gesetzliche Verfassung undfiskalische Behandlung des betreffenden Landes. Indem der eine, durchden Machtzuwachs, den ihm die städtischen Produktionsgemeinschaftenauf seinem Territorium und deren kommerzielles System verschaffen,

eine Hegemonialstellung in seiner wirtschaftsräumlich definierten Regionerringende Feudalherr seine Standesgenossen, soweit er sie nicht über-haupt vertreibt und von der Bildfläche verschwinden lässt, doch jeden-falls territorial enteignet und mit Pfründen, Würden und zeremoniellenAufgaben abspeist, bringt er überhaupt das feudale Herrschaftssysteman sein Ende und verwandelt die politische Herrschaft aus einer persön-lichen, durch bevollmächtigte Repräsentanten des Oberherrn geübtenVertretung, die den das territoriale Corpus umschließenden Staatsor-ganismus ebenso realiter zerfällt und auseinanderhält wie formaliter bildet und zusammenfügt, in eine sachliche, durch weisungsgebunde-ne Funktionäre exekutierte Verwaltung, die einen ausschließlich vomWillen des einen Souveräns bestimmten und den territorialen Raumüberspannenden Staatsapparat schafft und zur Geltung bringt.

Unter dem Antrieb der kommerziellen Funktion sorgt der feudalherrschaftlicheZusammenhang durch seine Auflösung in souveräne Staaten für seine eigene

 Abschaffung und für die Lösung beider Probleme, des reell-praktischen ebensowie des strukturell-systematischen, die der Marktentwicklung im Wege stehen.Der Gewinn für die kommerzielle Funktion ist umso größer, als der absoluteFürst ja nicht nur die ständischen Privilegien und territorialen Schranken be-

seitigt, sondern auch der Machtentfaltung nicht weniger hinderliche zünftigeOrdnungen und städtische Freiheiten aufhebt.

Den kommerziellen Betreibern und den von ihnen zum Marktsystemsynthetisierten städtischen Produktionsgemeinschaften kommt der Über-

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gang von einer föderalistisch-repräsentativen Regierung im reichsum-

fänglich-territorialen Rahmen zu einer zentralistisch-absoluten Verwal-tung auf wirtschaftsräumlich-regionaler Grundlage, kurz, vom einen,ständisch-feudalen Reich zu mehreren bürokratisch-zentralen Staatenoder, noch kürzer gefasst, vom singulären Feudalismus zum pluralenAbsolutismus nur allzu sehr zupass. Dieser letztlich dem Wirken derkommerziellen Funktion geschuldete und in der Tat von dessen gehei-mer Macht zeugende Übergang bietet mit einem Schlage eine Lösungnicht nur für die oben erwähnten reell-praktischen Schwierigkeiten, mitdenen sich die kommerzielle Funktion in der Konsequenz ihres Wirkenszunehmend konfrontiert sieht, sondern auch und mehr noch für dasdort ebenfalls genannte strukturell-strategische Problem, das für dender kommerziellen Funktion wesentlich eigenen Expansions- und Akku-mulationstrieb die Grundpfeiler der feudalgesellschaftlichen Ordnung,die territorialherrschaftlichen Hoheitsrechte und Privilegien einerseitsund die stadtbürgerlichen Verfassungen und Freiheiten andererseits, inwachsendem Maße darstellen.

Die reell-praktischen Schwierigkeiten ergeben sich, wie gezeigt, ausder Konfliktträchtigkeit und Konkurrenz innerhalb des feudalen Herr-schaftssystems, die das Marktsystem und die mit ihm einhergehendeBildung von Zentren kommerziellen Reichtums heraufbeschwören, unddem Versuch der durch die Entwicklung des Marktsystems begünstigten

Herrschaften, ihre ökonomisch fundierte neue Macht zur Vergrößerungund hegemonialen Entfaltung zu nutzen, beziehungsweise dem Bemühender durch die Entwicklung benachteiligten Herren, sich mittels Besteue-rung und Wegezoll eine Teilhabe an den Früchten des Marktsystemszu sichern oder sich notfalls auch mit Gewalt beim Marktsystem fürdie missliche Lage, in die sie sich demnach versetzt finden, schadlos zuhalten. Die Lösung dieser Schwierigkeiten geht quasi automatisch ausdem Übel selbst hervor und besteht in einer konsequenten Austragungder politischen Konkurrenzkämpfe und militärischen Konflikte bis an denPunkt, an dem einer über alle anderen triumphiert und den regionalen

Wirtschaftsraum in ein integrales Hoheitsgebiet überführt.Indem die durch die kommunale Industrie und den kommerziellen Be-trieb in ihrem Machtbereich begünstigten und gestärkten feudalen Macht-haber die politischen Konkurrenzkämpfe und militärischen Konflikte zuihren Gunsten entscheiden, ihre ständischen Konkurrenten entmachten

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oder vertreiben und sich zu absolutistischen Landesherrn oder zentra-

listischen Alleinherrschern aufschwingen, befreien sie die kommerzielleFunktion und ihr Marktsystem von den Beeinträchtigungen und Stö-rungen, die der ständige Machtkampf mit sich bringt, entlasten sie vomDruck der vielen teils fiskalisch-bürokratisch, teils militärisch-exaktivgeltend gemachten finanziellen Forderungen und Beteiligungsansprüche,die sich zu einer das Wirtschaftsleben lähmenden Hypothek auszuwach-sen tendieren, und reduzieren die Belastung auf die bei aller Beschwer-lichkeit, die sie bedeutet, doch aber mit den eigenen kommerziellen Ziel-setzungen im Zweifelsfall vereinbare strategische Unterstützung undlogistische Hilfestellung, die der Landesherr zur Verwirklichung seinermilitärischen Pläne und politischen Ambitionen von ihnen erwartet, undauf die bei aller Widrigkeit, die sie darstellen, doch aber verkraftbarenfiskalischen Zuwendungen und konsumpraktischen Versorgungsleistun-gen, die er ihnen zur Finanzierung seines verschwenderischen Lebensstilsund zur Ausgleichung seiner entsprechend defizitären Haushaltsführungabverlangt.

Und der gleiche Vorgang einer durch Austragung der herrschaftlichenKonkurrenzkämpfe und Konflikte herbeigeführten Verdrängung der vie-len territorialen Herren durch den einen regionalen Souverän, sprich,Ersetzung des lehnssystematisch entfalteten Feudalismus durch einenwirtschaftsräumlich definierten Zentralismus, der die reell-praktischen

Schwierigkeiten beseitigt, mit denen die kommerzielle Funktion und ihrMarktsystem zu kämpfen haben, löst nun aber darüber hinaus auch diestrukturell-strategischen Probleme, die das Feudalsystem als solches mitseinem grundlegenden Prinzip der vielfältigen und ebenso sehr hier-archisch gegliederten wie terrestrisch zersplitterten Souveränität derkommerziellen Funktion in zunehmendem Maße bereitet.

So gewiss der neue, absolute Souverän der kraft wirtschaftsräumlicherBedeutung zum eigenständigen Hoheitsgebiet zentralisierten Regionseine feudalen Standesgenossen aus dem Feld schlägt und ihre lokalenZuständigkeiten und sozialen Privilegien aus der Welt schafft und so

gewiss er an die Stelle der dynastischen Rücksichten, sozialen Vorbehalte,politischen Eigenmächtigkeiten, ökonomischen Pfründen, rechtlichenVerfügungen und fiskalischen Privilegien der ebenso vielfältigen wiezahlreichen Herrschaften den einen, auf das gesamte Territorium sicherstreckenden und über alle Besonderheit triumphierenden Willen und

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Ratschluss treten lässt, den seine von ständischen Bindungen und Ver-

pflichtungen, die der Botmäßigkeit ihm gegenüber Eintrag tun könnten,im Prinzip freie Bürokratie in die Tat umsetzt, so gewiss beseitigt er damitviele der Hürden und Hemmnisse, die einer Ausdehnung des kommerzi-ellen Prinzips und seines Marktgeschehens in die Breite beziehungsweiseTiefe des bis dahin feudalrechtlich verbarrikadierten Territoriums undauf weite Teile der fronwirtschaftlich abgeschotteten Gesellschaft imWege stehen, und erschließt dem Marktsystem eben die Entfaltungsper-spektive, die es braucht, um aus einer rein auf die freien Kommunen beschränkten Veranstaltung zu einem auf die ganze Feudalgesellschaftausgreifenden und sie in sein akkumulationssystematisches Kalkül einbe-ziehenden Unternehmen zu avancieren.

Wenn man so will, sorgt also der feudalherrschaftliche Zusammenhangunter dem heimlichen Antrieb der kommerziellen Funktion und ihrermarktsystematischen Dynamik für seine eigene Abschaffung und erledigtdamit eben das Geschäft, das nach der obigen Darlegung für die kommer-zielle Funktion selbst als gesellschaftlich manifesten Akteur und politischhandelndes Subjekt, für die Betreiber des Marktes mit anderen Worten,aus mehreren einsichtigen Gründen undurchführbar erschien.

Dass der feudalgesellschaftliche Zusammenhang dem Marktsystemund seinen Betreibern die Arbeit seiner Abschaffung abnimmt, dass erstellvertretend fürs Marktsystem jene territorialen Schranken und sozia-

len Hemmnisse zu beseitigen unternimmt, die dessen Entfaltung undintendierte Totalisierung als Korsett zu behindern oder gar als Zwangs- jacke zu durchkreuzen drohen, hat freilich seinen Preis. Weil der feudaleHerrschaftszusammenhang selbst es ist, der seine Abschaffung besor-gen muss, weil er das handelnde Subjekt ist, das, stellvertretend für diekommerzielle Funktion, sich zum leidenden Objekt macht und eliminiert,gerät die Elimination nolens volens zur Transformation, die Abschaffungwohl oder übel zur Aufhebung. Die feudale Herrschaft überlebt mitanderen Worten ihren eigenen Untergang, feiert aus dem Tode der vielenrelativen Herren ihre Auferstehung in dem einen, absoluten Fürsten, der

 jene zur Strecke bringt.So gesehen, hat die Befreiung von den Fesseln der feudalen Herrschaftdurchaus ihre tiefe Ironie, um nicht zu sagen, ihren abgründigen Wider-sinn, und erweist sich für die kommerzielle Funktion in der Tat als teuererkauft. Erkauft nämlich durch eine Machtfülle und Konzentration des

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Gewaltmonopols, die alles übertrifft, was feudalherrschaftliche Verhält-

nisse zustande bringen, und die ebenso gewiss, wie sie groß genug ist,die Unabhängigkeits- und Souveränitätsansprüche der Standesgenossenund vormaligen territorialen Konkurrenten zu übertrumpfen und zu ver-nichten, auch die kommerzielle Funktion und ihre Betreiber selbst jenerFreiheiten und Exemtionen beraubt, die sie unter feudalherrschaftlichenVerhältnissen noch besaßen, um sie stattdessen in die unmittelbare Bot-mäßigkeit und Untertänigkeit zu versetzen, die nunmehr begriffsgemäßdefinierendes Merkmal aller das Hoheitsgebiet des absoluten Souveräns bevölkernden Subjekte ist.

Und erkauft zweitens durch das zur Prunk- und Verschwendungssuchtausartende Repräsentations- oder Selbstbestätigungsbedürfnis, das immanischen Vollgefühl seiner absoluten Regierung der Fürst mit seinenzum höfischen Gefolge entmachteten und in ein bloßes Schauspiel derHerrschaft, ein Leben als Traum, gebannten Standesgenossen entwickeltund für dessen Befriedigung die Betreiber des Marktes als Gegenleistungdafür, dass der Fürst ihnen sein Hoheitsgebiet als freien Entfaltungsraumerschließt, finanziell aufkommen, sprich, durch Steuern und Sonderab-gaben die Mittel zur Verfügung stellen müssen. Der Willkür ihres alsabsoluter Souverän firmierenden regionalen Fürsten unterworfen unddie Zeche für seine Verschwendungssucht zahlend, erfahren die Betreiberdes Marktes die Befreiung von der Arroganz, Schikane und Beutelschnei-

derei der als relative Gewalthaber agierenden vielen lokalen Herren, die jener ihnen bringt, also keineswegs als durchschlagende Emanzipationvom feudalherrschaftlichen Zusammenhang, sondern höchstens und nurals eine durchgreifende Umgestaltung des letzteren und Anpassung andie durch die kommerzielle Funktion und ihr Marktsystem mittlerweilegeschaffenen Verhältnisse und die diesen Verhältnissen nach Maßgabedes Prinzips permanenter kommerzieller Akkumulation entspringendenErfordernisse.

Als diese Anpassungsleistung aber gewahren sie die Aufhebung desfeudalen Herrschaftssystems durch den absolutistischen Herrn in der

Tat, und eben deshalb sind sie nur zu bereit, den Preis politischer Ent-rechtung zu zahlen und die zuzeiten exorbitante Rechnung, die der inseiner Hofhaltung über die Stränge schlagende Fürst ihnen aufmacht,zu begleichen. All seiner Selbstüberhebungs- und Verschwendungsnei-gung, seiner Herrsch- und Prunksucht zum Trotz erscheint ihnen der

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absolutistische Fürst als ihr natürlicher Verbündeter – und das zu Recht!

Mögen sie nämlich auch, was die Natürlichkeit des Bündnisses angeht,dem üblichen, durch die distanzlose Fixierung auf die Gegenwart be-dingten Irrtum unterliegen, die historisch gewordene Konstellation füreine zeitlos gegebene Struktur zu nehmen, hinsichtlich des Faktums desBündnisses als solchen irren sie nicht. Schließlich ist die Substanz oderobjektive Basis, auf die der regionale Herrscher baut und die seinen Auf-stieg zuerst zum hegemonialen Oberherrn und schließlich zum absolutenSouverän begründet, die unter seinem Schutz und Schirm operierendeund von den städtischen Produktionsgemeinschaften seines Territoriumsaus beziehungsweise auf diese hin ihr Marktsystem organisierende kom-merzielle Funktion – und sie muss er gelten und gewähren, ihr muss erRaum geben und Förderung angedeihen lassen, ihr darf er nicht in dieQuere kommen und Widerstand leisten, will er nicht seiner politischenHerrschaft selber den Boden entziehen, eigenhändig den Ast absägen, auf dem er thront.

Die kommerzielle Funktion mit ihren marktsystematischen Elementen,den städtischen Produktionsgemeinschaften, ist der stille ökonomischeTeilhaber seiner eklatanten politischen Macht, sie ist die materialiter un-abweisliche Beschränkung und Abhängigkeit, in der seine formalitergrenzenlose Souveränität sich allemal verhalten findet. Auch wenn ihmim Einzelfall, beim einzelnen Marktbetreiber, gestattet sein mag, die Sau

seiner Willkür herauszulassen und ein Exempel seiner im Prinzip absolu-ten Macht zu statuieren, aufs Ganze des Marktes, in dem seine Herrschaftihre ökonomische Substanz hat, betrachtet, muss er dessen Betreibernwenn nicht persönlich zu Willen, so jedenfalls sächlich zu Diensten seinund ihre kommerziellen Interessen und akkumulativen Kalküle als seineMachtausübung ebenso sehr dirigierende wie strukturierende politischeGrundanliegen beziehungsweise Staatsziele gelten lassen.

Mag sich der absolutistische Fürst auch noch so absolut gebärden, esist die seine Absolutheit als Absolutismus, als bloße Prätention ihrerselbst dekuvrierende Paradoxie, dass er sich als absolut, als allem poli-

tischen Gesetz überhoben, nur abhängig von dem, was seine Herrschaftökonomisch setzt und begründet, zu behaupten vermag – nur in Rela-tion mit anderen Worten zu dem Marktsystem, dem er seinen Aufstiegverdankt und das ihm die Mittel für solche von den Fesseln feudalerMachtausübung entbundene Herrschaft beschafft, damit er seinerseits in

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einem zur Spirale dynamisierten Zirkel das Marktsystem von jenen es in

seiner Mittelbeschaffung, seiner Akkumulationstätigkeit störenden und behindernden feudalen Fesseln befreit.Wenn man so will, lässt sich seine höfische Prunk- und verschwende-

rische Repräsentationssucht als unwillkürlicher Ausdruck und Offen- barungseid der Paradoxie des Absolutismus, als zwanghafte Reaktionauf das Faktum der unentrinnbar ökonomischen Relativität der politi-schen Absolutheit verstehen. Indem der absolute Fürst das städtischeMarktsystem und seine bürgerlichen Betreiber energisch zur Kasse bit-tet und mittels Steuern und Abgaben zu Trägern und Finanziers einesvon ihm und seinen Standesgenossen, die er im goldenen Käfig des Ho-

fes versammelt hat, gepflegten aufwendigen Lebensstiles macht, ist er bestrebt, den Beweis der Absolutheit seiner Herrschaft zu führen, denBeweis, dass er allein Herr im Haus, er die Staatsmacht in Person ist unddass das Staatswesen in genere und die die städtischen Produktionsge-meinschaften zum Marktsystem organisierende kommerzielle Funktionin specie ausschließlich zu seinem luxurierenden Nutz und überhebli-chen Frommen existiert und funktioniert. Aber weil es ja vornehmlichdie Steuern und Abgaben des Marktsystems und seiner kommerziellenBetreiber sind, die ihm solch höfische Prachtentfaltung und Zurschaustel-lung schrankenloser Verfügungsgewalt ermöglichen, gerät der Vorweis

seiner politischen Absolutheit nolens volens zum Nachweis seiner öko-nomischen Abhängigkeit, zur Bestätigung nämlich der Tatsache, dasssein eigenes Wohlergehen und das seines Hofes mit dem Gedeihen undWohlstand des den Etat finanzierenden, also ihn, den Staat in Person,alimentierenden Marktsystems steht und fällt, und das heißt, er gerätihm zur impliziten Aufforderung, im eigensten Interesse alles in seinerMacht Stehende zu tun, um dem Marktsystem den Weg zu ebnen undEntfaltungsraum zu verschaffen.

 Jeder zum Beweis seiner absoluten Herrschaft vom Souverän geübtedemonstrative Konsum bindet ihn durch Anspruch und Gewohnheit

fester an die Hauptquelle der dafür erforderlichen Mittel, den kommer-ziellen Betrieb der als Marktsystem organisierten städtischen Produk-tionsgemeinschaften, und zwingt ihn bei Strafe des Verlusts dieser fürdie Demonstration seiner Absolutheit erforderlichen Mittel sich um dasWohlergehen jenes kommerziellen Betriebes Sorgen zu machen und nach

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des sozialen Lebens in den freien Städten, jener demokratischen oder

patrizischen Rechte und Pflichten der Bürger und jener die Bürger bin-denden Zunftordnungen und Gewerbezwänge, die, wie oben erwähnt,als innerstädtisch-ziviles Gegenstück zu den fronwirtschaftlich-feudalenVerhältnissen auf dem Land dem expansiven Drang und akkumulati-ven Ehrgeiz der kommerziellen Funktion mittlerweile kaum wenigerhinderlich und beschwerlich sind als diese.

So gewiss dem absoluten Fürsten seine neu errungene übermächtigeStellung ermöglicht, die Standesgenossen in seinem Umfeld zu Paaren zutreiben und ihre apart beherrschten Territorien seinem zentral verwalte-ten Hoheitsgebiet einzuverleiben und damit der kommerziellen Funktionund ihrem Marktsystem einen durchweg zugänglichen und einheitlichkonditionierten Entfaltungsraum zu eröffnen, so gewiss erlaubt sie ihmauch, die Städte in seinem Machtbereich aller ihren Bürgern Mitbestim-mung und institutionelle Unabhängigkeit garantierenden politischenVerfassungen und sämtlicher ihnen Arbeitsschutz und subsistenzielleSicherheit bietenden ökonomischen Organisationen zu berauben und besagte Bürger immer unmittelbarer und immer schutzloser einem immerstärker und immer ausschließlicher durch den Markt und seinen handels-kapitalen Akkumulationsanspruch bestimmten Bedarf an ebenso billigenwie zahlreichen Arbeitskräften auszuliefern und Regimen von ebensoeffektiven wie gleichförmigen Produktionsbedingungen zu unterwerfen.

Und zu diesem zweifachen Dienst zum einen einer Zentralisierung undkonditionellen Vereinheitlichung des Herrschaftsgebiets und zum ande-ren einer Demontage der kommunalen Selbstverwaltung und personellenAtomisierung der städtischen Bürgerschaft, den der absolute Fürst derkommerziellen Funktion und ihren Repräsentanten, den mittlerweile alsKaufmannschaft eine eigene, vom bürgerlichen Dasein der städtischenProduktionsgemeinschaften großbürgerlich abgesonderte soziale Präsenz behauptenden Betreibern des Marktsystems, leistet – zu diesem zweifa-chen Dienst kommt noch als Drittes seine Bereitschaft beziehungsweiseseine durch die neue Macht, die er besitzt, und den neuen Reichtum,

über den er verfügt, genährte Neigung hinzu, mit kriegerischen MittelnGebietserweiterungen anzustreben und auf Kosten der benachbartenRegionen seinen Machtbereich zu arrondieren. Indem er, durch die öko-nomische Kausalität seines Aufstiegs zu absolutistischer Macht gewitzt,seinen begehrlichen Blick vorzugsweise auf wirtschaftlich interessante

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und Gewinn versprechende Territorien wirft und sie, notfalls mit mili-

tärischer Gewalt, seinem Hoheitsgebiet einzugliedern versucht, setzt erdas Zentralisierungswerk fort und eröffnet dem unter seiner Herrschaftflorierenden Marktsystem neue Entfaltungsräume und Absatzmärkte.

Zwar scheint, aufs Ganze gesehen und nämlich aus der Perspektiveder das ehemals feudale Herrschaftssystem in eine Reihe von zentral be-herrschten Wirtschaftsregionen aufspaltenden absolutistisch-souveränenStaaten als eines europäischen Gesamtkomplexes, einer Gesellschafts-formation sui generis, betrachtet, diese militärische Annexionsstrategieein zweischneidiges Schwert und in der Tat eine zweifelhafte Methodezur Fortsetzung einer dem Markt zuträglichen Zentralisierungspolitik,da ja im geschlossenen System der anstelle des feudalen Herrschaftszu-sammenhangs nunmehr entstandenen Konstellation regionaler Mächteder Gewinn, den die eine Macht erzielt, nolens volens einen entspre-chenden Verlust impliziert, den eine andere Macht erleidet, und scheintsich der Effekt jener die absolutistischen Fürsten einander ins Gehegekommen lassenden Kriege also letztlich in bloßen, mit den Verheerungenund Verwüstungen, die das Kampfgeschehen anrichtet, teuer erkauftenGrenzverschiebungen zu erschöpfen.

Indes, der Kaufmannschaft und ihrem vom Akkumulationsprinzipgetriebenen Markt sind die im geschlossenen System absolutistischerStaaten wiederkehrenden Kriege um die Erweiterung des einen Herr-

schaftsgebiets auf Kosten der anderen dennoch förderlich – und zwar,wie ihre Geschichte bis hin zu den exzessiven Vernichtungsorgien der jüngsten Zeit belegt, aus drei Gründen beziehungsweise dem einen oderanderen dieser drei Gründe: Erstens tendieren die absolutistischen Krie-ge dazu, die Kaufmannschaft selbst und ihre Märkte, die ja quasi denKampfpreis darstellen, zu schonen und, indem sie sie nicht durch Zerstö-rungen, sondern höchstens durch Requisitionen heimsuchen, als erhal-tenswerte Einrichtungen zu respektieren. Zweitens fällt den jeweiligenKaufmannschaften und ihren Märkten die Aufgabe zu, die Kombat-tierenden und ihre Streitkräfte mit den erforderlichen Rüstungs- und

Versorgungsgütern zu beliefern, und nicht nur kehrt auf diesem Wege einTeil der steuerlichen Abgaben und finanziellen Aufwendungen, die derabsolute Fürst seinem Marktsystem abfordert, wieder in die Hände derKaufmannschaft zurück, die Kriege erweisen sich mehr noch auf dieseWeise als ein ständiger marktbelebender Faktor, der im Spin-off, in seinen

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Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben als ganzes, sowohl die Produk-

tivität und Intensität der Produktion im Allgemeinen voranzutreibenals auch die Vielfalt und Qualität der marktgängigen Produktpalette zuerweitern geeignet ist.

Und schließlich haben die Kriege selbst dort, wo ihre Verheerungenund Verwüstungen, wie im Zuge einer mit dem industriellen Fortschrittwachsenden technischen Vernichtungskapazität unvermeidlich, ein schierungeheures Ausmaß erreichen und auch vor den Einrichtungen undGütersammlungen des Marktes nicht mehr Halt machen, doch allemalden willkommenen Nebeneffekt, durch eben jene Verheerungen undVernichtungen vorhandenen materialen Reichtum aus der Welt und neu-

en Bedarf an ihm zu schaffen und somit dem kapitalen Reichtum, derim kommerziellen Mechanismus als solchem, im per Markt etablier-ten Produktionsverhältnis zwischen Güter Produzierenden und GüterVerwertenden besteht und fortbesteht, neue Betätigungsfelder und Ent-faltungsräume zu eröffnen, was sich zumal in Zeiten, in denen, wie dannim Zeitalter industrieller Massenproduktion, die ständige Gefahr einerÜbersättigung und Verstopfung des Marktes droht, als eine in all ihrerMonstrosität hilfreiche staatliche Intervention erweist.

So sehr das Handelskapital die ökonomische Substanz und treibende Kraft der

Entwicklung ist, so sehr agiert es doch im Rahmen einer dichotomischen Ge-sellschaftsstruktur, in der sich ökonomische Macht und politische Ordnung,Kommerz und Herrschaft, wie kommunizierende Röhren verhalten.

Das dank Akkumulationsprinzip unaufhörlich wachsende Marktsystemund seine Betreiber, die Kaufmannschaft, haben also reichlich Gründe,den Übergang vom dynastischen Partikularismus feudaler Herrschaftzum bürokratischen Zentralismus absolutistischer Staaten gutzuheißenund zu unterstützen. Auch wenn so die strukturell-strategischen Fesseln,in das der feudale Herrschaftszusammenhang das expandierende Markt-

system schlägt, und die reell-praktischen Stolpersteine, die er ihm in denWeg legt, nicht etwa durch eine radikale Absetzung und Beseitigungder feudalen Herrschaft und der sie tragenden Stände des Adels undder Geistlichkeit gesprengt und aus der Welt geschafft werden, sondernvielmehr dadurch, dass sich die feudale Herrschaft im gut hegelschen

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Sinne aufhebt und transformiert und nämlich aus einem umfassenden,

sein Herrschaftsgebiet föderalistisch-personal verwesenden allgemeinenReich in eine Reihe von beschränkten, ihr Hoheitsgebiet bürokratisch-zentral verwaltenden besonderen Staaten gleichermaßen zersetzt undzusammennimmt – die Probleme, die das alte Herrschaftssystem demexpandierenden und auf eine Durchdringung der feudalen Gesellschaftüber die Grenzen der städtischen Produktionsgemeinschaften hinauserpichten Markt bereitet, werden dadurch jedenfalls gelöst, und dessenBetreiber haben allen Grund, mit den neuen, die feudale Herrschaft beer- benden absolutistischen Souveränen zu paktieren und ihnen nach Kräftenden Steigbügel zu halten oder, etwas weniger kriegerisch und der Zeitgemäßer ausgedrückt, den Thronsessel zu polstern.

Und sie haben umso mehr Grund dazu, als es ja, wie eine kurze Rekapi-tulation der Entwicklung in Erinnerung rufen mag, ihr eigenes Tun undHandeln oder vielmehr das Wirken der ihrem Tun und Handeln zugrun-de liegenden ökonomischen Substanz, des per medium des Marktsystemsauf seine immer neue Verwertung dringenden kommerziellen Kapitals,ist, was jenem Übergang vom feudalen Herrschaftszusammenhang zumabsolutistischen Staatenensemble zugrunde liegt und seine Dynamikund Zwangsläufigkeit verleiht. Ihren Ausgang von den handwerklichenProduktionsgemeinschaften nehmend, denen die der heilsperspektivi-schen Orientierung der christlichen Religion geschuldeten mönchisch-

klerikalen Freiräume gegen die mit solchen Gemeinschaften eigentlichunverträglichen territorialherrschaftlichen Gesellschaften, die auf denTrümmern des untergegangenen Imperiums neu entstehen, den Boden bereiten und den Existenzgrund sichern, folgt die kommerzielle Funktionmit dem sie treibenden Akkumulationsprinzip, dem Verwertungsdrangdes Produkte menschlicher Arbeit wesentlich nicht als Subsistenz- undBefriedigungsmittel wahrnehmenden, sondern als Vehikel zur Vermeh-rung seiner selbst begreifenden Werts, nur der Logik ihres kapitalenPrinzips, wenn sie jene Produktionsgemeinschaften durch ein Netz vonHandelsbeziehungen miteinander verknüpft und zur Basis eines terri-

toriumübergreifenden oder, besser gesagt, territoriumdurchziehendenflorierenden Marktsystems macht.Und der gleichen Logik gehorcht sie, wenn sie auf eine topische Entfal-

tung und numerische Zunahme jener den Produktionsgemeinschaften re-lativen Schutz gewährenden und sie von der Norm feudalherrschaftlicher

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Verhältnisse halbwegs dispensierenden Freiräume aus ist, wenn sie mit

anderen Worten die Freiräume aus ihrer klerikal fundierten Sonderstel-lung herausführt und zu einem den Sonderstatus auch unter unmittelbarfeudalherrschaftlicher Ägide und auf unbestritten territorialherrschaftli-chem Gebiet behauptenden Topos und Regelfall, kurz, einem im Rahmender säkularen Feudalgesellschaft ebenso anerkannten wie verbreitetenPhänomen werden lässt. Dies gelingt ihr durch die vielfältigen, kon-sumpraktischen, machtstrategischen und finanzpolitischen Vorteile, dieder Feudalherrschaft jene städtischen Produktionsgemeinschaften samtdem sie verknüpfenden Marktsystem bringen und die es ebenso sehrder kommerziellen Funktion ermöglichen, die feudale Herrschaft als

ein gleichermaßen begrenztes und klar definiertes ökonomisches Funk-tionselement, nämlich als Mehrwertrealisierer vom Dienst, sprich, alsKonsument, in das Marktsystem zu integrieren, wie sie die feudale Herr-schaft vermögen, sich in die ihr zugedachte Rolle des Schutzpatronsund Förderers der städtischen Produktionsgemeinschaften und ihresMarktsystems und der beiden Einrichtungen eingeräumten politischenFreiheiten und ökonomischen Rechte einzufinden.

Auf diese Weise entsteht eine Vielzahl bürgerlicher, halbwegs freierKommunen, die, wiewohl eingebettet in die fronwirtschaftlich-feudaleGesellschaft und von ihr nicht nur politisch toleriert, sondern, was die

agrarische Versorgung angeht, mehr noch getragen oder jedenfalls mitge-tragen, zugleich relativ apart von ihr bleiben und eine Art von Eigenlebenführen und als ein Staat im Staat, besser gesagt, ein halbwegs autonomesGlied im Sozialcorpus, um nicht zu sagen, ein Halbparasit im Organismusoder ein Inkubus im Leib, imstande sind, jenes durch die kommerzielleFunktion organisierte und vermittelte umfassende Marktsystem auf-zubauen, das seine von den Reproduktionsmechanismen der feudalenGesellschaft weitgehend unabhängigen, besonderen Zirkulationsbahnenund Stoffwechselprozesse besitzt und kraft dieser Stoffwechselprozesseein unaufhaltsames und geradezu krebsartiges Wachstum durchläuft.

Solches Wachstum aber bringt das Marktsystem in Konflikt mit seinerfronwirtschaftlichen Wirtsgesellschaft, die ihm zunehmend zum einen-genden Korsett, seiner Entfaltung zum Hemmnis wird. Und umgekehrtwird es seiner feudalherrschaftlich verfassten Wirtsgesellschaft zuneh-mend zur Belastungs- und Zerreißprobe. Es wirkt auf die letztere wie

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ein Kraftfeld ein, das sie nach Maßgabe seiner Kraftlinien und Knoten-

punkte verbiegt und verzerrt, verformt und entstellt. Es destabilisiertund zersetzt den ursprünglichen territorialen Herrschaftszusammenhangzugunsten der Bildung regionaler Machtzentren, deren Gewalthaber indem Maße, wie sie sich der Kontinuität der feudalen Hierarchie entziehenund zu diskreten Größen werden, Machtkämpfe und kriegerische Kon-flikte sowohl mit ihrem Oberherrn und ihresgleichen als auch mit ihrerdurch ihre Verselbständigung in Unordnung und Aufruhr versetztenterritorialen Umgebung heraufbeschwören.

Insofern ist in der ersten, langdauernden, weil quasi erst den Auf- undAusbau des Marktsystems beinhaltenden Phase des kommerziellen Wir-kens die politische Partikularisierung Trumpf, und scheint das Ergebnisder Entwicklung nichts weiter als eine Fragmentierung und Diskreti-sierung des ursprünglich kontinuierlichen, hierarchisch-dynastisch ge-ordneten feudalherrschaftlichen Zusammenhangs in – die Souveränitätvon Staatswesen eigenen Rechts beanspruchende – Wirtschaftsräume, inMachtsphären, die sich bei allen verwandtschaftlichen und standesgenos-senschaftlichen Beziehungen, die ihre Herrscher aus der Vergangenheitmitbringen mögen, einander nicht mehr lehnsrechtlich verpflichtet oderföderal verbunden, sondern nurmehr auf die mit dem Wachstum undGedeihen der kommerziellen Einrichtungen auf ihrem Gebiet synonymeEtablierung und Expansion ihrer selbst konzentriert zeigen.

In der einfachen Konsequenz der Entstehung dieser neuen, eigenstän-digen Hoheitsgebiete, die in der Förderung der von ihnen kontrolliertenTeile des kommerziellen Systems, die die Basis beziehungsweise denFundus ihrer Macht bilden, ihren letzten, wie immer hinter Pomp undRepräsentationsmanie versteckten Zweck finden, vollzieht sich aber, wiegesehen, eine diametrale Richtungsänderung, oder schlägt – um derBruchlosigkeit der Richtungsänderung terminologisch Rechnung zu tra-gen! – die Entwicklung um und wird aus einem bis dahin wesentlich auf die Partikularisierung und Entfeudalisierung der politischen Herrschafts-verhältnisse hinauslaufenden Vorgang zu einem ebenso wesentlich auf 

die Zentralisierung und Bürokratisierung der politischen Machtsphäregerichteten Prozess.Leistete die die städtischen Produktionsgemeinschaften zum Marktsys-

tem organisierende kommerzielle Funktion vorher der Vielgestaltigkeitder politischen Landschaft, einem die Zentralmacht schwächenden und

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zum bloßen Schemen degradierenden Regionalismus Vorschub, so be-

treibt sie jetzt umgekehrt die Einförmigkeit der Machtausübung, einenden regionalen Hegemon als absoluten Fürsten, besser gesagt, absolutis-tischen Souverän, realisierenden Zentralismus, und schafft es auf dieseWeise, die äußeren und inneren Hemmnisse zu beseitigen, die die zuvorihrem Werdegang nützliche Zersetzung und Auflösung des feudalenHerrschaftszusammenhangs ihrem weiteren Fortkommen mittlerweilein den Weg legen. Indem das, was vorher Basis ihres erfolgreichen öko-nomischen Wirkens war, nämlich der politische Partikularismus, jetzt zueinem ihre weitere Wirksamkeit zunehmend einengenden und behin-dernden Korsett wird, sorgt sie einfach dadurch, dass sie den politischenPartikularismus sich konsequent zu Ende führen und im bürokratischenAbsolutismus gipfeln lässt, für eine Sprengung des Korsetts und dieMöglichkeit, ihre Karriere nach Maßgabe der ihr eigenen ökonomischenLogik fortzusetzen.

Freilich bedeutet, dass sie ihrer eigenen Logik folgen kann, nicht, dasssie es nicht sub conditione und in den Grenzen des herrschaftlichen Sys-tems tun muss, wie es sich nunmehr, zwar unter ihrem unwiderstehlichenEinfluss, aber dennoch selbsttätig, in quasi eigener Regie, herausgebildethat. Weit entfernt davon, dass es der kommerziellen Funktion und ihrenBetreibern, wie sie abstrakt wohl gern möchten, gegeben wäre, den ihnenmittlerweile zur Zwangsjacke gewordenen feudalen Herrschaftszusam-

menhang mit seiner Vielzahl ebenso real eigenmächtiger wie föderalgebundener Territorien kurzerhand abzuschaffen und durch einen allerherrschaftlichen Befugnisse und Privilegien ledigen gesellschaftlichenEntfaltungsraum, ein rein durch den Markt assoziiertes bürgerlichesKollektiv zu ersetzen, vermögen sie vielmehr nichts weiter, als durch ihrökonomisches Wirken jenen feudalherrschaftlichen Zusammenhang demKraftfeld ihres Systems und seiner Knotenpunkte zu exponieren, unterdessen Einfluss er sich verformt und in regionale Machtzentren auseinan-derbricht, die, wie sie – sub specie seines ursprünglichen Bestands odernegativ betrachtet – seine von Gewalt und Agonie begleitete Zersetzung

und Auflösung herbeiführen, so – im Gewahrsam ihrer eigenen Selbst- behauptung oder positiv gesehen – seinen konvulsivisch zerfallendenOrganismus als Steinbruch und Baumaterial für ihre neuen, als absolu-tistische Staatswesen dem ökonomischen Kalkül, das sie hervorgetriebenhat, gemäßeren Herrschaftsgebiete nutzen.

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Die kommerzielle Funktion mit ihrem Marktsystem versetzt mit ande-

ren Worten den herrschaftlichen Zusammenhang in einen Zustand, indem ihm, wenn er als solcher überleben und nicht in Chaos und Streitversinken will, gar nichts anderes übrig bleibt, als sich im Sinne der An-passung an die Erfordernisse der ihm mittlerweile als kriterieller Faktor,als ebenso sehr Neuordnungs- wie Scheidemacht eingeschriebenen öko-nomischen Struktur selber zuzurichten und jenen Wandel zu vollziehen,durch den sich das Corpus der zum lehnsrechtlich-föderalistischen Reichorganisierten Mannigfaltigkeit relativ eigenständiger Herrschaften in ein begrenztes Ensemble amtspflichtig-zentralistisch verwalteter Hoheitsge- biete, sprich, absolutistisch souveräner Staaten gleichermaßen aufspaltet

und zusammennimmt, dividiert und konzentriert.In der Tat illustriert das so erscheinende Verhältnis zwischen Marktsys-tem und Herrschaftszusammenhang, ökonomisch-kommerzieller Funkti-on und politisch-sozialer Aktion mit wünschenswerter Deutlichkeit dasoben den Betreibern des Marktsystems, den Kaufleuten, attestierte Zu-gleich von Macht und Ausgeliefertsein. Insofern letztere die ökonomischeSubstanz der historischen Epoche betätigen und verhandeln, sind sie allesandere als ohnmächtig, sind vielmehr sie es, die der feudalherrschaftli-chen Gesellschaft Beine machen und sie aus ihrem Ist-Zustand heraus-treiben, ihren Übergang in den Soll-Zustand ebenso sehr nach außen

diskretisierter wie nach innen zentralisierter absolutistischer Staatswesenerzwingen. Aber die Beine selbst, sprich, die Akteure des Übergangs,seine handelnden Subjekte sind nicht sie. Sie verfügen über die ökonomi-sche Triebkraft, aber nicht über die politische Handlungsvollmacht. Dieliegt vielmehr nach wie vor bei der traditionellen Herrschaft, die sich,wie sehr auch unter ihrem Einfluss und mit ihrer Hilfestellung, doch aberwesentlich selbsttätig ermächtigt, vereinzelt und zum Souverän verab-solutiert, indem sie ihresgleichen enteignet, dezimiert und zur höfischenGesellschaft tableauisiert.

Es ist, als hätte die ökonomische Substanz der ganzen Entwicklung,

das heimliche Telos des kommerziellen Austauschs, das um seine Selbst-verwertung beziehungsweise um die Requirierung der dafür nötigenProduktionsprozesse kreisende Handelskapital die, wie man will, grund-legenden Elemente oder bestimmenden Faktoren in zwei verschiedeneHände gegeben oder auf zwei verschiedene Schultern verteilt, kurz, zwei

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verschiedenen gesellschaftlichen Subjekten anvertraut. Während die hier-

 bei zur Kaufmannschaft sich mausernden kommerziellen Funktionäre dieökonomischen Institutionen im Allgemeinen und das aus den städtischenProduktionsgemeinschaften synthetisierte Marktsystem im Besonderenin Gang setzen und entfalten, sorgen die hierbei als souveräne Landes-fürsten sich etablierenden feudalen Herrschaften, die sich durch dasMarktsystem begünstigt finden, für die Schaffung von den Anforderun-gen der Ökonomie entsprechenden sozialen Strukturen im Allgemeinenund auf ihren Hoheitsgebieten jeweils zentralistisch homogenisiertenProduktions- und Zirkulationsbedingungen im Besonderen.

Indes, die der Hypostasierung verdächtige Formulierung von der zwei-gleisig wirkmächtigen ökonomischen Substanz trifft zwar den Punkt,dass ohne die letztere gesellschaftliche Entwicklung gar nicht erst oder jedenfalls nicht in dem für die europäische Szene typischen eklatan-ten Maß stattfände, verschleiert aber im Zweifelsfall die nicht minderwichtige Tatsache, dass diese Entwicklung in einem Strukturrahmen vorsich geht, der sich durch originäre, in der Ambivalenz der Gesellschaft,ihrem Zugleich von weltflüchtiger Perspektive und irdischem Beharren, begründete Zwieschlächtigkeit auszeichnet und dass also das Wirkenzweier ebenso sehr syntaktisch aufeinander bezogener wie systematischvoneinander verschiedener Willen nicht Folge eines unerforschlichen sub-stanziellen Ratschlusses, sondern einer unausweichlichen strukturellen

Konstitution ist.Wie gezeigt, entsteht ja das von der kommerziellen Funktion zum inter-

territorialen Markt herausprozessierte ökonomische System in den durchdie mönchisch-klerikale Okkupation in das dichte Corpus der feudalherr-schaftlichen Gesellschaft hineingesprengten Poren oder Freiräumen undkann sich in diesen Freiräumen nur erhalten und entfalten beziehungs-weise kann diese Freiräume nur zu einem den feudalherrschaftlichenGebieten als Komplement eingeschriebenen festen und allgemein an-erkannten Gegenstück werden lassen, weil und in dem Maße, wie esihm gelingt, die feudale Herrschaft, die politische Macht der Territorien,

denen es sich inkorporiert findet, in mehrerer Funktion, als Konsumen-tin, als machtstrategisch Bevorteilte und als finanziell Begünstigte, ansich zu binden beziehungsweise sich zu integrieren und so mit ihr einedurch die dramatische Einheit des Orts, der Zeit und der Handlung aufsEngste verknüpfte Interessengemeinschaft zu bilden. Dass für diese, der

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Zwieschlächtigkeit einer ursprünglich heilsgeschichtlichen Orientierung

und einer durchgängig feudalherrschaftlichen Fixierung entsprunge-ne Interessengemeinschaft nicht nur die Simultaneität der Zeit und dieKontinuität der Handlung, sondern auch und mehr noch die Unität desRaums erforderlich ist, unterscheidet sie von ihren antiken Vorgängerin-nen und begründet zugleich ihre spezifisch neue Dramatik.

Dass das städtische Marktsystem als beileibe zwar nicht im praktisch-reellen, wohl aber im technisch-funktionellen Sinne so zu nennenderSchmarotzer seiner ländlichen Wirtsgesellschaft unmittelbar eingepflanztist, dass er sich mit dem umfassend territorialen Corpus oder Organismusals durchgängig kommunaler Fremdkörper oder Inkubus spatial ver-

schränkt und ein- und denselben, wie immer in marktwirtschaftliche Frei-räume und fronwirtschaftliche Herrschaftsgebiete sektionierten Raumund Kontext teilt, bedeutet nämlich, dass anders als in der Antike die beiden kohabitierenden Systeme zu keiner unabhängigen Bewegung odereigenständigen Entwicklung mehr imstande sind und deshalb einanderauch nicht mehr wie in der Antike zur fremden Gewalt, zum Schicksal,sprich, zur Ursache einer von außen bewirkten Richtungsänderung oderUmwälzung werden können. In dem Augenblick, wo einer von beidenin irgendeiner Hinsicht für sich zu bleiben und eigene Wege zu gehensuchte, würde das wegen ihres räumlichen Miteinander oder vielmehr to-

pischen Ineinander für den jeweils anderen unmittelbar durchschlagendeund im Zweifelsfall verheerende Folgen haben, die ebenso unmittel- bar auf den Verursacher zurückschlügen und auch ihn im Zweifelsfallzugrunde richteten.

So gewiss sie – anders als die beiden das antike Gesamtsystem aus-machenden und ebenso gesellschaftlich eigenständigen wie räumlichgetrennten Sozialformationen der Handelsstadt und des Territorialstaats– einander nicht zum Schicksal werden können, so gewiss bilden sie aberihrerseits, wenn man so will, eine Schicksalsgemeinschaft, will heißen,eine Totalität, die, solange nicht äußere Gewalten auf sie einwirken – was

zwar in Gestalt hunnischer, mongolischer, arabischer oder osmanischerExpansionsversuche wiederholt geschieht, aber doch ebenso marginalwie ephemer bleibt –, ihr Schicksal in sich selber trägt oder deren Schick-sal, besser gesagt, in dem Wechsel-, Wider- und Zusammenspiel beschlos-sen liegt, das den in der ständigen Kontiguität oder vielmehr Komplexität

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ihres topischen Ineinander operierenden beiden Systemen ihre je eigenen

Lebensprinzipien und Funktionsmechanismen aufzwingen.Politisch-systematisch heißt das, dass sich die beiden kohabitieren-den Systeme wie kommunizierende Röhren verhalten, dass jede noch sogeringfügige Bewegung, die das eine System macht, oder jede noch soangedeutete Entwicklung, die es nimmt, beim anderen augenblicklicheine Reaktion im vollen Sinne des Wortes hervorruft und nämlich dieBewegung oder Entwicklung des anderen uno actu inspiriert, das heißt,positiv befördert, determiniert, das heißt, durch die Spezifik des auf sieeinwirkenden Impulses fremdbestimmt, und retaliativ disponiert, dasheißt, dazu führt, dass letztere kraft der Spezifik ihres eigenen Impulses

negativ, sprich, verändernd, auf erstere zurückschlägt.Und das wiederum bedeutet, historisch-strategisch betrachtet, dassdie Entwicklung, die beide gemeinsam beschreiben, eine ausgemachteKontinuität aufweist und, unbeschadet ständig auftretender Krisen undBrüche, eher evolutionären Charakters ist, als revolutionäre Beschaf-fenheit besitzt. Dass die beiden Systeme einander nicht zum äußerenSchicksal werden können, sondern ihr Schicksal in den eigenen, einan-der uno actu befördernden, fremdbestimmenden und als Quelle eigenerReorientierung erfahrenden Prinzipien und Mechanismen finden, hat ja– weniger metaphorisch geredet und das Schicksal in seiner empirischen

Gestalt und Wirkungsweise gefasst! – seinen wesentlichen Grund darin,dass dank ihrer topischen Komplexität und dank der daraus resultieren-den, im Bild der kommunizierenden Röhren gefassten Unmittelbarkeitihrer Reaktionen, ihrer durch Veränderungen beim jeweils anderen pro-vozierten Adaptionen, die beiden Systeme gar nicht mehr die Gelegenheitfinden, sich hinlänglich auseinander zu entwickeln und unabhängig von-einander zu werden, um diskontinuierlich auf einander einwirken undsich destabilisieren, einander umstürzlerisch zusetzen zu können, dasssie sich vielmehr ständig gegenseitig in Schach halten, jedem drohendenKonflikt und Zerwürfnis durch unverzügliche wechselseitige Anpas-

sung zuvorkommen und die Spitze abbrechen und in Gestalt solchen,ihre Entwicklung als ein unauflösliches Amalgam aus Autonomie undHeteronomie erscheinen lassenden ständigen Anpassungsprozesses überSicherungen verfügen, die eben dieser ihrer Entwicklung eine außer-ordentliche Stabilität und Kontinuität verleihen – eine Stetigkeit, die

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eigentlich erst und nur dann in Gefahr geraten und der Perspektive um-

wälzender Veränderungen weichen kann, wenn aufgrund der durch dieDynamik der eigenen Prinzipien aufgenommenen Geschwindigkeit undgesammelten Stoßkraft in der Entwicklung das eine System in seinen An-sprüchen und Zumutungen das andere so entschieden überfordert, dassletzteres nicht mehr angemessen reagieren, sich nicht mehr darauf ein-stellen und dadurch ersteres zu entsprechenden Anpassungsleistungennötigen kann.

Dabei darf diese strukturalisierende, ein Parallelogramm der Kräfte, einspannungsreich-reaktives Miteinander postulierende Darstellung freilichnicht vergessen machen, dass es sich um eine gewichtete Struktur, einenFall von prozessförmig-arbeitsteiligem Zusammenwirken handelt. In die-ser Arbeitsteilung fällt der kommerziellen Funktion mit dem durch sie ge-stifteten und organisierten Marktsystem die Initiative zu: Sie ist die öko-nomisch treibende Kraft beziehungsweise verkörpert in Gestalt des sie be-stimmenden Akkumulationsprinzips diese treibende Kraft, die für histo-rische Bewegung sorgt, sprich, die Gesellschaft zur permanenten und im-mer mehr an Impetus gewinnenden Veränderung zwingt.

Der politischen Macht und ihrem Herrschaftssystem hingegen, derfeudalen Ordnung und dann dem absolutistischen Staat, fällt im Wesent-lichen die Aufgabe zu, aus dem ökonomischen Antrieb soziale Konse-quenzen zu ziehen, sprich, nach Maßgabe des eigenen Anspruchs auf 

Erhaltung und im Rahmen der durch diesen Anspruch diktierten Logikeben jene von der kommerziellen Funktion im Interesse des expansivenMarkts und des akkumulativen Handelskapitals geforderten Verände-rungen in der institutionellen Verfassung und korporativen Organisationder Gesellschaft durchzusetzen. Aber wohlgemerkt, nach Maßgabe undim Rahmen ihrer bestehenden und auf ihrem wie auch immer revidier-ten Fortbestand bestehenden Herrschaftsordnung und Institutionslogiksetzt die politische Macht die vom ökonomischen Movens erheischtenVeränderungen durch und wirkt damit nolens volens auf die Bewegungund Entwicklung des Movens selbst zurück, schreibt wiederum ihm die

Richtung seines Impetus und die Bedingungen seiner Entfaltung vor!Das heißt, das gewichtete Verhältnis, dem zufolge das ökonomischeSystem, der Markt, den Motor der Entwicklung und die politische Ord-nung, die Herrschaft, das Getriebe bildet, begründet nicht etwa einenkompetenzspezifischen Vorrang des ersteren über die letztere, eine von

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ersterem über letztere ausgeübte Planungshoheit oder Weisungsbefugnis,

geschweige denn eine epistemische Selbstmächtigkeit und überlegeneEinsicht des ersteren, die, wie sie ihm erlaubte, einen quasi teleologischenDurchmarsch ins Werk zu setzen und den historischen Entwicklungspro-zess frei zu gestalten, so letztere zwänge, sich dabei als rein abhängigeFunktion, als bloßes Faktotum, als fügsam ausführendes Organ zu ver-halten. Vielmehr stiftet das Verhältnis nichts weiter als die im Bild derkommunizierenden Röhren gefasste und wie sehr auch prozessdyna-misch ausgerichtete strukturalistische Äquilibristik, die beiden in topi-scher Komplexität verhaltenen Systemen ihre oben mit den Begriffen derökonomischen Antriebskraft und der politischen Handlungsvollmacht beschriebenen Rollen zuweist beziehungsweise belässt und beide dem-selben in der Wahrnehmung ihrer jeweiligen Rolle komplexitätsbedingt beschlossenen Zugleich von Autonomie und Heteronomie, Initiative undKonsequenzzieherei, aktiver Intentionalität und reaktiver Funktionalitätausliefert.

Weit entfernt davon also, dass die Betreiber der ökonomischen Sub-stanz, die Kaufleute, sich als die Drahtzieher der Entwicklung gerierenkönnten, sind sie vor dem Hintergrund der von Grund auf dichotomi-schen Gesellschaftsstruktur, in der die Substanz sich bewegt und ent-faltet, ebenso blinde und auf ihre wirtschaftlich-technische Funktion beschränkte und ausschließlich mittels ihrer die Entwicklung vorantrei- bende Akteure, wie die Herren es in Wahrnehmung ihrer gesellschaftlich-politischen Aufgabe sind. Jeweils nur mit der eigenen Erhaltung undEntfaltung befasst, wirken sie dank ihres dem topischen Ineinander ge-schuldeten und im Bild der kommunizierenden Röhren gefassten Reak-tionsmechanismus zusammen und bilden jene die Entwicklung tragen-de und in wechselseitiger Beförderung, gegenseitiger Behinderung undinteraktiver Bestimmung resultierende symbiotische Interessengemein-schaft, die umso reibungsloser und effektiver funktioniert, je weniger dieInvolvierten über ihren funktionellen Tellerrand schauen, je mehr sie sichin die Rolle von nach Maßgabe ihrer Arbeitsteilung uno actu agierenden

und reagierenden bornierten Interessengruppen hineinfinden.

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Der Weg vom Feudalismus zum Absolutismus fällt bei den Staaten, die ihn

beschreiten, England, Frankreich, Spanien, Schweden, je nach historischen Aus- gangsbedingungen und geopolitischen Umständen verschieden aus, wobei seinim Dreißigjährigen Krieg kulminierendes Scheitern im Zentrum Europas eine fürdie erfolgreiche Entwicklung an der Peripherie wichtige Voraussetzung bildet.

Ein Musterbeispiel für diese Korrelation zwischen Rollenblindheit undEffektivität bietet die britische Insel mit der Art und Weise, wie sie denÜbergang vom traditionellen feudalen Herrschaftssystem zur aktuellen,absolutistischen Machtausübung vollzieht; sie avanciert dadurch zumVorreiter der kommerziellen Entwicklung und der ihr korrespondieren-den sozialen Neuordnung. Katalytisches Ferment des Übergangs ist hierein auf den ersten Blick ganz und gar herkömmlichen feudalherrschaft-lichen Ambitionen entspringender und in der ganz und gar gewohntenForm von Ritterheeren und chevaleresken Schlachten ausgetragener Kon-flikt, ausgelöst durch eine dynastische Bestrebung, den Anspruch desenglischen Königshauses auf die französische Krone. Schaut man genauerhin, entdeckt man freilich für diesen scheinbar bloß dynastischen Konfliktsubstanziellere und mit der für die Zeit typischen Neubegründung poli-tischer Herrschaft durch Zentren kommerziellen Reichtums und ökono-mischer Macht besser vereinbare Gründe, die zugleich erklären, warumer mit solcher Beharrlichkeit, nämlich mehr als ein Jahrhundert lang,

ausgetragen wird: Der langdauernde Konflikt wäre nicht möglich ohnedie finanzielle Unterstützung des blühenden Handelszentrums London,und er ergäbe keinen Sinn ohne die Aussicht auf den Erwerb Flandernsund der dort angesiedelten städtischen Produktionsgemeinschaften mitihrer in der damaligen Zeit führenden Industrie, der Tuchherstellung,ganz zu schweigen von der weiterreichenden Hoffnung auf die Einnahmeder Hauptstadt des französischen Königreichs, des HandelszentrumsParis. Insoweit lässt sich dieser Krieg als ein hegemonialer Kampf imoben als Übergangsphänomen beschriebenen Sinne einer angestrebtenstrategischen, politischen und fiskalischen Verfügung über ökonomische

Machtzentren zum Zwecke der Vorherrschaft über die Standesgenossen,die feudalen Konkurrenten, verstehen.Dass dabei aus Sicht der handelnden Feudalherrschaft die ökonomi-

sche Verfügung nur das Mittel und der eigentliche Zweck der politischeTriumph über die Konkurrenten und dass also die Feudalherrschaft weit

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entfernt davon ist, sich als Handlanger kommerzieller Interessen zu gerie-

ren, dafür scheint im vorliegenden Fall ein sonnenklarer Beweis die Tat-sache, dass die Kriegführenden gegebenenfalls, wenn es die militärischeLage erfordert, durchaus nicht davor zurückschrecken, den Hauptkampf-preis, die flandrischen Städte und ihre Wirtschaftskraft, zu schädigen undaufs Spiel zu setzen, und dass also etwa England den florierenden Handelmit Flandern unterbindet und das Land einer Blockade unterwirft, um esfür sein zwischenzeitliches Bündnis mit Frankreich zu bestrafen.

Indes, der scheinbare Beweis für die Ökonomieunabhängigkeit desdynastischen Konflikts erweist sich tatsächlich als in ihren Folgen öko-nomisch entscheidende Aktion. Die Blockadepolitik schädigt nämlichzwar die flandrische Wirtschaft, aber sie provoziert auch eine Auswande-rungswelle flandrischer Weber nach England, in das Land, aus dem ihrRohstoff, die Wolle, kommt, und führt damit dem Handelszentrum Lon-don Produktionskapazitäten zu, die es zum ersten wirklichen politisch-ökonomischen Machtzentrum der neuzeitlichen Geschichte und nämlichzum Ausgangspunkt oder zur Keimzelle eines selbsttragenden, weilauf einer Produktionsbasis sui generis aufbauenden, umfassenden undam Ende weltweiten Handelssystems werden lässt, als dessen frühesterinstitutioneller Ausdruck beziehungsweise repräsentativer Agent die umdie Wende vom vierzehnten zum fünfzehnten Jahrhundert gegründeteHandelskompanie der Merchant Adventurers gelten kann.

Mit diesem ebenso unabsichtlich wie zielstrebig verfolgten und beilei- be nicht im Auftrag, wohl aber im Interesse der heimischen Ökonomiedurchgesetzten komplettierenden Ausbau des Handelszentrums Londonist, post festum betrachtet, der wahre Zweck oder, weniger teleologischgefasst, der eigentliche Effekt des Krieges erreicht, und wenn der letzteredennoch eine ganze Zeit lang weitergeführt wird und in den Kampfhand-lungen sogar eskaliert und seinen Gipfelpunkt erreicht, dann vielleichtaus einem Grund, der erst am Ende, im unmittelbaren Anschluss anden Hundertjährigen Krieg, in den so genannten Rosenkriegen, in den jener bruchlos übergeht, manifest wird – um nämlich im Sinne quasi

eines Abnutzungskrieges die herrschende Feudalschicht, den dynastischmaßgebenden Adel, sich so aufreiben und dezimieren zu lassen, dassder anfängliche, ebenso sehr auf Basis ökonomischer Machtzentren wieum ihretwillen ausgetragene Streit zwischen territorialen Machthabern,regional mächtigen Baronen, um die hegemoniale Vorherrschaft sich

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gleichermaßen konzentrieren und generalisieren und – parallel bezie-

hungsweise korrespondierend zur Herausbildung Londons zum alleökonomischen Konkurrenten überstrahlenden einen, entscheidendenHandels- und dann auch Produktionszentrum der Insel – aus einempluralen landesweiten Streit um die territoriale Vorherrschaft in einendualen, gezielten Kampf um die städtische Machtbasis übergehen kann,um in der auf dieser Machtbasis errichteten absolutistischen Alleinherr-schaft seinen krönenden Abschluss zu finden.

Als eine Art Beweis für diese, zumindest in der Spätphase der krie-gerischen Auseinandersetzungen erkennbare bewusstlose Tendenz derfeudalen Oberschicht, sich nach Maßgabe einer die ökonomische Ver-einheitlichung vorantreibenden politischen Zentralisierung des Landesselber in die Pfanne zu hauen und aus dem Weg zu räumen, eigenhändigzurückzunehmen und zuzurichten, mag die zunehmende Abstraktheitder herrschaftsinternen beziehungsweise herrschaftseigenen Auseinan-dersetzungen, ihre immer stärkere Beschränkung auf die eigenen Reihengelten. Während in der Frühphase der durch die kommerzielle Entwick-lung provozierten hegemonialen Übergangszeit die Kämpfe noch dasganze Land und alle Schichten unterschiedslos in Mitleidenschaft ziehenund deshalb auch von massiven sozialen Unruhen und religiös artikulier-ten revolutionären Umtrieben begleitet sind, bleiben sie im Hundertjäh-rigen Krieg, zumal nachdem dessen oben vermerkter, eigentlicher Effekt

erzielt ist, weitgehend das jenseits der anderen Schichten, außerhalbder Insel, betriebene Geschäft der feudalen Schicht selbst, die, einemHirngespinst, einer ins kontinentale Europa verlagerten Projektion deskommerziellen Reichtums im eigenen Land nachjagend, sich an demWiderstand, auf den sie in Verfolgung ihrer Projektion trifft, aufreibt.

Als sich dann die dank ihrer projektiven Eskapaden bereits arg dezi-mierte Feudalschicht vom kontinentalen Widerstand auf die Insel zu-rückgeworfen findet, sieht sie sich dort dem Realobjekt ihrer Projektion,der großen Siegprämie London, konfrontiert und verfällt in die Rasereider Rosenkriege, aus deren ganz und gar auf ihre eigenen Reihen be-

schränktem Gemetzel wie Phönix aus der Asche der erste absolutistischeHerrscher, der Begründer des Hauses Tudor, hervorgeht.Weniger paradox beziehungsweise dialektisch verläuft die Entwick-

lung zur absolutistischen Königsherrschaft im benachbarten Frankreich,weil es dort nicht so sehr wie in England um die politische Vereinigung

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und Zentralisierung eines hegemonialherrschaftlich zerstrittenen Landes

im heimlichen Interesse oder pro domo secreto des einen übermächtigenökonomischen Zentrums geht, sondern weil hier leitendes politisches Zieldie territoriale Expansion eines von starken Nachbarn und Regionalher-ren eingezwängten und bis Ende des zwölften Jahrhunderts praktischauf die Krondomänen im Umkreis des Seinebeckens zurückgedrängtenKönigtums ist, die auch und zugleich im Interesse des im Seinebeckenangesiedelten Handelszentrums Paris liegt.

Aus ganz unterschiedlichen und erst spät bewusst in Zusammenhangmiteinander gebrachten und koordinierten Interessen ziehen hier Feu-dalherrschaft und kommerzielles System an einem Strang: Währenddie Betreiber des ökonomischen Machtzentrums Paris durch ihre fis-kalischen Beiträge und ihre strategische Unterstützung dem Königtumseinen territorialen Expansionsdrang zu alimentieren und zu befriedi-gen helfen, bietet das Königtum wiederum dadurch, dass es mangelsfunktionierendem lehnsherrschaftlichem System, auf das es zurückgrei-fen könnte, die zurückgewonnenen beziehungsweise neu eroberten Ge- biete einer unmittelbaren königlichen und zunehmend von Vertreterndes marktabhängigen bürgerlichen Standes wahrgenommenen Verwal-tung unterwirft, den Marktbetreibern idealen Entfaltungsraum und besteWachstumsbedingungen.

Allerdings bleiben damit – anders als in England, wo das hauptstäd-

tisch-kommerzielle Machtzentrum einen vom feudalherrschaftlichen Tunund Beginnen unabhängigen und teils eigener Dynamik entspringenden,teils unabsichtlicher herrschaftlicher Hilfestellung geschuldeten Aufstiegerlebt – die kommerzielle Funktion und ihr Marktsystem angewiesenauf den Erfolg der königlichen Expansionsstrategie und entwickeln sichgleichermaßen im Schlepptau und im Schatten der königlichen Macht.Das heißt, das hauptstädtisch-kommerzielle Geschehen steht, ungeachtetder tragenden Rolle, die es für den Entfaltungsprozess der Königsherr-schaft spielt, von Anfang an in einem Verhältnis direkter Abhängigkeit zuletzterer und funktioneller Bindung an sie, oder, anders ausgedrückt, das

neue, marktwirtschaftliche System unterliegt von Anbeginn an in hohemMaße der politischen Aufsicht oder Staatsregie.Wirkt in England die Königsherrschaft eher wie die an unsichtbaren

Fäden gezogene Marionette einer ebenso tatkräftigen wie bewusstlosenPuppenspielerin, so macht sie in Frankreich eher den Eindruck eines

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Gutsherrn, der zwar durchaus nach der Pfeife seiner Prokuristin tanzt,

aber nur, wenn sie die Melodie spielt, die der Befriedigung seiner beidengroßen Passionen, der Mehrung seiner Güter und der Finanzierung seinesLebensstils, förderlich ist.

Diesen dem Ökonomischen widerfahrenden Zwang, sich dem Poli-tischen unterzuordnen, den die Abhängigkeit der Marktentwicklungvon der herrschaftlichen Expansion mit sich bringt, erfährt die sozialeKlientel des Marktsystems, das Bürgertum, durchaus als solchen undwäre ihn gern los. Und unter dem Deckmantel eines religiösen Konflikts,der Auseinandersetzung des bürgerlich reformierten Glaubens mit dervom König qua Staatskirche vereinnahmten katholischen Religion, machtdas Bürgertum auch Anstalten, der Königsherrschaft die Stirn zu bieten

und notfalls unter Aufkündigung seiner staatsbürgerlichen Loyalität,seiner Untertänigkeit, auf größeren politischen Freiheiten, auf mehr Un-abhängigkeit von einer zunehmend absolutistischen Bevormundungzu bestehen. Indes, die Crux dieses bürgerlichen Aufbegehrens bestehtdarin, dass es Hand in Hand mit ständischen Ansprüchen geht, dass sichihm unter dem gleichen religiösen Deckmantel Teile des Adels, Reprä-sentanten der alten feudalen Schicht, anschließen und im Interesse derBehauptung regionaler Machtpositionen und partikularer Selbständigkeitgemeinsame Sache mit dem Bürgertum machen.

Auf diese Weise wird das bürgerliche Aufbegehren gegen die allzu

straffe königliche Lenkung und staatliche Regie unverhofft zu einem Sam-melbecken des Widerstandes gegen die Vereinheitlichung und Zentrali-sierung des Landes, die doch im ureigensten Interesse des das Bürgertumökonomisch tragenden und ins politische Leben rufenden Marktsystemsund seiner handelskapitalen Substanz liegt. In dieser dilemmatischenSituation, in die sein heteronomisierter Widerstand es bringt, entscheidetsich das Bürgertum im Sinne seiner ökonomischen Substanz für den Paktmit der – wenngleich für den bürgerlichen Geschmack politisch allzudominanten – Königsherrschaft und gegen das Insistieren auf einem –allzu sehr dem Regionalismus und der Partikularisierung in die Händespielenden – weitestgehenden Liberalismus des Marktes, eine Entschei-

dung, die in der Person des den religiösen Deckmantel abwerfendenund vor der Staatskirche den Kotau machenden “bürgerlichen” KönigsHeinrich, des ersten absolutistischen, politische Souveränität mit öko-nomischer Botmäßigkeit verbindenden Herrschers Frankreichs, ihrenredenden Ausdruck findet.

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Verbindlichkeit des einen, katholischen Glaubens und einer kraft seiner

gewährleisteten vollständigen kulturellen Homogenität beziehungsweisesozialen Uniformität. Auch wenn diese mit dem machtvollen Mittel einerineins kirchlichen und staatlichen Einrichtung, der Inquisition, zur Gel-tung gebrachte Forderung auf den ersten Blick mehr als ein Surrogat undtatsächlich ein Vehikel zur Schaffung einer generalisierten, nicht mehrdurch ethnische Schranken und soziales Gruppendenken beeinträchtigtenAustauschsituation scheinen könnte, erweist sie sich doch in der Praxisals in höchstem Maße kontraproduktiv, weil ihre mit ebenso viel Gewaltwie Glaubenseifer betriebene Durchsetzung eher auf die Vertreibung derkommerziell aktiven Gruppen beziehungsweise auf die Zertrümmerungihres Sozialgefüges und die Zerstörung ihrer kulturellen Identität als auf ihre gesellschaftliche Vermittlung und ihre kulturelle Anpassung oder garethnische Integration zielt.

Weit entfernt davon, dass der als Surrogat einspringende Antrieb fürden politischen Einigungsprozess dazu beitrüge, eine Assimilierung undHomogenisierung der für das Marktsystem relevanten Gruppen ins Werkzu setzen, vertreibt beziehungsweise dezimiert er diese nur und schwächt beziehungsweise vernichtet so die ökonomischen Potenziale, auf derenMobilisierung und Kräftigung der auf den Absolutismus hinauslaufendeEinigungs- und Zentralisierungsprozess doch ebenso sehr angewiesenwie gerichtet ist.

Wenn in diesem Fall der Weg zum politischen Absolutismus einersouveränen Königsherrschaft dennoch erfolgreich zurückgelegt werdenkann, statt mangels marktsystematisch-ökonomischer Basis im Treibsandpermanenter hegemonialer Machtkämpfe zu enden, dann dank einerunverhofften historischen Wendung, die zwar angesichts der expansi-ven, in den frühen Erkundungsfahrten und Kompaniegründungen überden europäischen Raum hinausweisenden Tendenzen des Marktsys-tems beileibe nicht als kontingentes Ereignis gelten kann, aber doch,was den Ort und Kontext ihres Eintritts betrifft, durchaus den Eindruckeiner Laune der Geschichte macht: der Entdeckung und Kolonialisierung

Amerikas von spanischem Boden aus. Die Reichtümer, die die spani-sche Königsherrschaft in diesen Kolonien erbeutet, insbesondere dieEdelmetallmengen, die aus den dort unterworfenen und zerschlagenenHäuptlingsherrschaften und Theokratien beziehungsweise aus den vonletzteren genutzten Schürfstellen und Bergwerken nach Spanien fließen,

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reichen aus, die mangelnde Unterstützung der politischen Machtzentrale

durch das schwache beziehungsweise infolge des Katholisierungswahnszusätzlich geschwächte Marktsystem zu kompensieren.Und sie reichen nicht nur zur Kompensation der fehlenden kommerzi-

ellen Zuwendungen aus, sie fließen sogar so reichlich, dass die finanzielleAusstattung des spanischen Königreichs die Haushalte aller andereneuropäischen Königsherrschaften in den Schatten stellt und jenem zueiner absolutistischen Frühblüte verhilft. Dank ihrer kolonialen Schätzekann das Katholische Königtum Spaniens ein halbes Jahrhundert langeine Macht- und Prachtentfaltung betreiben, die es nicht nur zum ab-solutistisch unangefochtenen Herrn im eigenen Haus werden, sonderndie es mehr noch die Rolle eines für den kommerziellen Aufschwung

Gesamteuropas entscheidend wichtigen Geldgebers und Großkonsumen-ten übernehmen lässt. Die spanische Doublone wird zum wesentlichenVehikel jener europaweit erweiterten Mehrwertrealisierung, die als ur-sprüngliche Akkumulation wiederum zur Grundlage der das kommerzi-elle Kapital in Kapital sans phrase überführenden manufakturellen undindustriellen Entwicklung wird.

Allerdings bleibt die auf das Silber und Gold Amerikas gegründeteabsolutistische Frühblüte der spanischen Monarchie, wenn auch nichtgeradezu eine Scheinblüte, so doch jedenfalls ein ephemeres Glanzstück.Als nicht zuletzt dank des spanischen Konsums die ursprüngliche Ak-

kumulation in den Nachbarstaaten vollzogen ist und die dortigen kom-merziellen Systeme mit den ihnen zuarbeitenden Produktionskapazitätengestärkt genug sind, um die anschließende manufakturelle und indus-trielle Entwicklung selbsttragend durchlaufen zu können, findet sichdas spanische Staatswesen wegen der strukturellen Schwäche seineskommerziellen Systems rasch ins Hintertreffen geraten und abgehängtund erweist sich der eigene koloniale Schatz als bloßer Initialzünder fürdas Fortkommen der anderen – und dies nicht nur und nicht einmalprimär deshalb, weil die anderen ihre wachsende, mit der Expansionihrer Handelssysteme Hand in Hand gehende militärische Stärke imAllgemeinen und maritime Überlegenheit im Besonderen zunehmend

dazu nutzen, den spanischen Galeonen den Schatz beim Transport ausden Kolonien ins spanische Mutterland abzujagen.

Bietet Spanien ein gutes Beispiel dafür, wie sich eine politische Herr-schaft trotz defizienter ökonomischer Basis, sprich, minimaler marktwirt-schaftlicher Konditionierung dennoch absolutistisch entwickeln kann, so

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 bildet Schweden das genaue Gegenstück hierzu und exemplifiziert, wie

eine starke ökonomische Basis, sprich, marktwirtschaftliche Konditio-nierung, eine absolutistische politische Herrschaft quasi aus dem Bodenstampfen kann. Durch seine in den mittleren Landesteilen konzentrierteExportgüterindustrie (Holz, Kupfer, Eisen) motiviert, befreit sich Schwe-den unter der Führung des aufständischen Adligen Gustav Wasa undmit hanseatischem Beistand endgültig aus dem schon lange als beengenderfahrenen Korsett der von Dänemark dominierten Kalmarer Union underringt, nachdem es sich wiederum im Bund mit den dänischen undnorwegischen Nachbarn der hanseatischen Vormundschaft und der öko-nomischen Gängelung durch die Hanse entledigt hat, eine hegemoniale

Stellung und auf dem Gipfelpunkt seiner Karriere schließlich sogar dieterritoriale Vorherrschaft über den Ostseeraum.Dabei dient diese Expansionspolitik, die im Innern Hand in Hand mit

dem Aufstieg des Königshauses zu absolutistischer Macht geht, zwar imPrinzip durchaus den marktsystematischen Export- und Handelsinter-essen, auf denen sie aufbaut; im Fortgang aber kehrt sie zunehmend dieEigengesetzlichkeit oder vielmehr Eigenwilligkeit eines ökonomischerRationalität sich entziehenden absolutistischen Großmachtstrebens her-aus und erlebt in der militärischen Niederlage des Abenteurers Karl XII.den unvermeidlichen Rückschlag und Einbruch, in dessen Konsequenz

die Stände im Allgemeinen und das Bürgertum im Besonderen, demökonomischen Machtverhältnis gemäß, politisch erstarken und Schwedenseinen allen genannten Staaten vorgeschriebenen, aber in unterschiedli-chem Tempo und in verschiedener Form zurückgelegten Übergang vomköniglichen Absolutismus zum bürgerlichen Nationalismus antritt.

Allen bisher genannten Beispielfällen für den Übergang von der Feu-dalherrschaft zum absolutistischen Regime ist gemeinsam das im Bildvon den kommunizierenden Röhren mehr schlecht als recht gefassteZugleich von Autonomie und Heteronomie, das die beiden für den Über-gang entscheidenden Faktoren, Kommerz und Herrschaft, ökonomisch

treibende Substanz und politisch handelndes Subjekt charakterisiert, dassalso die Beiden in ihrer eigengesetzlichen Entwicklung eher aufeinanderreagieren und durch ihre Reaktion einander bewusstlos bestimmen, alsdass sie bewusst aufeinander Einfluss zu nehmen und einander aktivzu instrumentalisieren suchten – und dies unbeschadet dessen, dass der

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Kommerz, die ökonomisch treibende Substanz, eben das treibende Ele-

ment ist, ohne das gar kein Übergang erforderlich würde und stattfände,während die Herrschaft, das politisch handelnde Subjekt, durch diestreibende Element immer neu in Gang gesetzt und auf Trab gebrachtwerden muss, um dann freilich als Exekutive, als in der Ausführungseine Eigengesetzlichkeit zum Tragen bringendes Organ, dem treiben-den Element wiederum eine revidierte Bestimmtheit und modifizierteOrientierung zu verpassen.

Anders liegt der Fall in Deutschland. Hier ist tatsächlich der Versuchder ökonomisch treibenden Substanz beziehungsweise ihrer Repräsen-tanten, der Betreiber des Marktes, zu erkennen, direkt und bewusst daspolitisch handelnde Subjekt in ihrem Sinne zu lenken, es als Werkzeug beziehungsweise Vehikel zur Durchsetzung ihres handelskapitalen Ak-kumulations- und Expansionsinteresses zu machen. Und das Ergebnisdieses vom Marktsystem unternommenen Versuchs, die gesellschaftlicheHerrschaft gezielt zu beeinflussen und zu steuern, scheint denn aberauch zu bestätigen, dass der Erfolg der Kollaboration der beiden für denFortschritt zum Absolutismus entscheidenden Faktoren wesentlich an derBewusstlosigkeit und reaktiven Unmittelbarkeit ihres Zusammenwirkenshängt.

Durch seine Schlüsselstellung im kontinentalen Nord-Süd-Handelzu Reichtum gelangt, setzt der süddeutsche Kommerz auf die in Süd-

deutschland dominierende Territorialherrschaft, die Habsburger Dynas-tie, die als quasi Erbin der Staufer im Südwesten und dann vor allemim Südosten des Reichs durch militärische Erfolge und dynastische Ver- bindungen in den Besitz umfänglicher Territorien gelangt ist. Ihr bieteter Unterstützung und stellt sich ihr als Geldgeber zur Verfügung underwartet von ihr als Gegenleistung die Gewährung von Handelsprivilegi-en und Nutzungsrechten sowie strategische und politische Hilfestellung beim Ausbau des Handelsnetzes und beim Abbau ständischer und zunft-rechtlicher Hemmnisse und Schranken. Die Rechnung geht zu Teilenauf: Während die Herrschaft mit der handelskapitalen Unterstützung

Kriege finanzieren und ihre territoriale Expansion vorantreiben kann,verschafft dem beteiligten Kommerz seine Allianz mit der hegemonialenFürstenmacht die Möglichkeit, auf der Basis herrschaftlicher Patente undPrivilegien in den Bergbau zu investieren, Monopolstellungen im Metall-handel zu erringen, Kolonialhandelsunternehmen zu betreiben, sich im

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Bankengeschäft und Geldhandel zu betätigen, kurz, die zur damaligen

Zeit lukrativsten Erwerbszweige zur Anhäufung gewaltiger Kapitalienzu nutzen.Wenn dennoch in der Hauptsache, nämlich in puncto des Abbaus

ständischer Hemmnisse und zunftrechtlicher Schranken, sprich, in punc-to einer absolutistischen Unifizierung und zentralistischen Homogeni-sierung des betreffenden Wirtschaftsraumes der Erfolg weitgehend aus- bleibt, dann deshalb, weil die maßgebenden Marktbetreiber aufs falschePferd gesetzt und sich bei ihrem zielstrebigen Versuch, die gesellschaft-liche Entwicklung den Marktbedürfnissen gemäß voranzutreiben, eineFürstenmacht als Bündnispartner ausgesucht haben, die intentional zu-tiefst gespalten und deshalb außerstande ist, die ihr zugedachte Rolle desabsolutistischen Einheitsstifters wahrzunehmen. Was die vom Handelerwählte Herrschaft für die ihr zugedachte Rolle des Vereinheitlichersund Zentralisierers untauglich macht, ist die Doppelrolle, die sie spielt,ist dies, dass sie einerseits zwar als hegemonialer Territorialherr der Stel-lenanforderung durchaus entspricht, andererseits aber als imperialerOberherr, als deutscher König beziehungsweise Kaiser des Heiligen Rö-mischen Reiches deutscher Nation, das feudale Ganze zu repräsentierenund zu garantieren gehalten ist. Eben den traditionellen feudalen Zusam-menhang, den sie als übermächtiger Territorialherr oder Regionalfürstim kommerziellen Interesse und Sinne des Marktsystems umzugestalten

und einer einheitlichen Rechtsordnung beziehungsweise zentralistischenVerwaltung zu unterwerfen berufen wäre, hat sie als imperialer Oberherr,als deutscher König und römischer Kaiser, im genauen Gegenteil dieAufgabe, in seinem Bestand zu gewährleisten und nach Möglichkeitunversehrt zu erhalten.

Und nicht genug damit, dass sie durch ihre imperiale Stellung undFunktion gegenüber den deutschen Kernlanden, den Reichsgebieten imengeren Sinne, die eigenen Territorien eingeschlossen, in eine tiefe Am- bivalenz verstrickt ist, die eben die feudalen Zersplitterungen, eben dieständischen Privilegien und städtischen Freiheiten, die der eine Teil ih-

rer Persönlichkeit, der durch die kommerziellen Aktivitäten auf seinemGebiet ermächtigte Territorialfürst, im Interesse jener kommerziellenAktivitäten zentralistisch zu beseitigen und bürokratisch einzuebnenstrebt, den anderen Teil ihrer Persönlichkeit, den kaiserlichen Oberherrn,im Interesse der feudalen Reichsordnung zu achten und zu schützen

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verpflichtet, ihr kaiserlicher Status treibt diese Herrschaft mehr noch

dazu an, eine große Politik zu verfolgen, die sich auch und sogar auf die peripheren, schon lange höchstens formell als Vasallenterritorienfirmierenden und mittlerweile in voller Entwicklung zu absolutistischerSouveränität begriffenen Königreiche erstreckt, um, soweit die Gelegen-heit sich bietet und die Macht ausreicht, der imperialen Idee praktischeGeltung zu verschaffen und mittels dynastischer Verbindungen und mili-tärischer Operationen das Reich in seiner seit jeher eher ideellen Totalitätund formellen Existenz am Ende doch noch aktuell werden zu lassen undzu realisieren.

So durch seine Rolle als imperialer Herr sowohl nach innen, gegen-über dem deutschen Reich im engeren, halbwegs reellen Verstand, derfeudalen Ordnung verpflichtet und deshalb seinen hegemonialen be-ziehungsweise absolutistischen Aspirationen selber im Wege stehendund die Spitze abbrechend als auch nach außen, gegenüber dem Rö-mischen Reich im umfassenderen, eher ideellen Sinne, zu expansivenAbenteuern und integrativen Kraftakten geneigt und deshalb von seinerhegemonialen Bahn abgelenkt und in eine europäische Großmachts-politik sich verirrend, kann der in Deutschland von der kommerziel-len Funktion und ihrem Marktsystem als Patron und Förderer erwählteund finanzierte habsburgische König den Marktbetreibern zwar weitgespannte internationale Handelsbeziehungen eröffnen und zu großem

Reichtum verhelfen, aber auf dem heimischen Terrain dauerhaft für siedie Produktions- und Zirkulationsbedingungen verändern und mit demEffekt einer Beseitigung ständisch-territorialer Schranken und zünftig-kommunaler Ordnungen umgestalten – das kann er nicht! Insofern er-weisen sich die Gelder, die der Handel in die Karriere seines erwähltenfürstlichen Schutzherrn steckt, ebenso gewiss als eine Fehlinvestition, wiesich der Traum von einer reellen Wiederherstellung eines christlichen Rö-mischen Reichs, das doch niemals anders als höchstens ideell bestandenhat, als Illusion enthüllt.

Nachdem der Traum geplatzt ist und die habsburgische Königsherr-

schaft sich ihrer europaweiten Aspirationen und Verpflichtungen imWesentlichen ledig und an ihre deutschen Territorien zurückverwiesenfindet, ändert sich freilich die Lage insofern, als ihre in Süddeutschlandaugenscheinliche politisch-militärische Übermacht und starke hegemo-niale Stellung nun nolens volens in dem ihr neu gesteckten beschränkten

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Rahmen zum Tragen kommen, sprich, sich ihre Aspirationen auf den

Ausbau ihrer Machtstellung im deutschen Reich und die Ausdehnungihrer Herrschaft auch auf dessen nördliche Regionen konzentrieren. Nachwie vor aber bleiben diese expansiven und durchaus als postfeudaleHegemonialbestrebungen interpretierbaren Expansions- und Unifizie-rungstendenzen liiert mit und überlagert von der imperialen Rolle, diehier das Königtum spielt, seiner Eigenschaft als Oberherr des Reichsund Garant des als dessen Ordnung kodifizierten traditionellen feudalenZusammenhangs. Und nach wie vor steht er damit sich selbst im Weg,unterläuft seine eigene, an sich auf absolutistische Vereinheitlichung und bürokratische Zentralisierung zielende Disposition.

Seinen redenden Ausdruck findet dieses in der Doppelrolle des Kö-nigs als territorialer Machthaber und imperiales Oberhaupt angelegteMoment von Selbstvereitelung darin, dass sich das hegemoniale Stre- ben beziehungsweise die absolutistische Intention auf ein Ersatzmotivgründet, durch ein Verschiebungsprodukt rechtfertigt: nämlich durch dieForderung nach der doktrinellen Verbindlichkeit des katholischen Glau- bens und das Bestehen auf der institutionellen Einheit der katholischenKirche. Dass es sich dabei um keinen bloßen Vorwand handelt, sondernum ein ihm durch die imperiale Rolle diktiertes echtes Anliegen desMöchtegern-Hegemons oder gespaltenen Souveräns – eben dies macht

sein Handikap aus. Nicht nämlich, dass er nicht mit seinem Insistierenauf der Unantastbarkeit des katholischen Glaubens und der Unversehrt-heit der katholischen Kirche eine Angriffsfläche oder wunde Stelle beiseinen territorialherrschaftlichen Standesgenossen, den Regionalfürstenim Norden des Reiches, träfe, die, ihrerseits gestützt auf regionale wirt-schaftliche Machtzentren und motiviert durch hegemoniale Aspirationen,aus der feudalherrschaftlichen Ordnung ausbrechen und sich seinemterritorialherrschaftlichen Hegemoniestreben ebenso gewiss widersetzen,wie sie sich seinem feudalherrschaftlichen Anspruch auf die Stellung deskaiserlichen Oberherrn entziehen.

Schließlich ist wesentliches Element der neuen Machtstellung undreichsindifferenten Souveränität, die jene Regionalfürsten genießen oder jedenfalls zu behaupten suchen, ihr Bekenntnis zur lutherischen Reforma-tion des katholischen Glaubens und die auf dieser Grundlage ermöglichteSäkularisierung und Einziehung kirchlicher Territorien und Besitzungen.

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Gerade für jene mit kommerziell-marktsystematischen Zentren auf ih-

ren Gebieten nicht unbedingt ausnehmend gesegneten Regionalfürstenstellt der Machtzuwachs, der ihnen aus dem Heimfall der kirchlichenLändereien und Privilegien erwächst, einen substanziellen Faktor darund einen ganz unentbehrlichen Schritt auf dem Weg zur angestrebtenhegemonialen Ermächtigung oder gar absolutistischen Erhöhung.

De facto aber bildet die Säkularisierung des Kirchenguts und die dafürnötige Vertreibung des Klerus aus seiner der Stellung des weltlichenAdels parallelen weltlichen Position um des Prinzips ausschließlicher ter-ritorialer Souveränität willen, mit dem der Anspruch auf absolutistischeHerrschaft steht und fällt, überall eine conditio sine qua non des Fort-schreitens zum staatlichen Absolutismus, und von daher gesehen verlegtsich der deutsche König, wenn er in seiner Funktion als kaiserlicher Wah-rer des allein seligmachenden Glaubens und des kirchlichen Besitzstandesdie Enteignung der Kirche, die auf Basis ihrer reformierten Konfessionseine innerdeutschen Konkurrenten und Widersacher vollziehen, zumStein des Anstoßes und casus belli erklärt und sich damit nolens volenseine vergleichbare Reform- und Enteignungspraxis verbietet, eigenhändigden Weg zur Durchsetzung seiner hegemonialen Machtansprüche undzu einer irgend absolutistisch zu nennenden Herrschaft. Was er unterdiesen Einschränkungen der eigenen Bewegungsfreiheit äußerstenfallserreichen kann, ist eine mehr schlechte als rechte Wiederherstellung des

alten Reichsgebildes, des traditionellen feudalherrschaftlichen Zusam-menhangs mit seinen vielfältigen ständischen Schranken und territorialenGrenzen, das Ganze aber unter seiner durchgängig anerkannten oberherr-lichen Führung und höchstinstanzlichen Kontrolle.

Freilich wäre selbst ein solch bescheidenes und mehr noch anachronis-tisches, dem Zeitgeist ganz und gar zuwiderlaufendes Resultat des vonkommerzieller Seite lancierten oder jedenfalls zielstrebig unterstütztenhabsburgischen Machtstrebens im Kerngebiet Europas den fürstlichenNachbarn, den auf dem Weg zur absolutistischen Souveränität muntervoranschreitenden Anrainerstaaten, alles andere als willkommen. Zu um-

fänglich, zu volkreich und ihrem ökonomischen Gesamtpotenzial nachzu stark wären die unter die kaiserliche Botmäßigkeit zurückgebrachten,sprich, als Reichseinheit, als politisch handlungsfähiges Gesamtsubjektwiederhergestellten Gebiete, als dass sie nicht jenen Nachbarstaaten be-ziehungsweise ihren Souveränen politisch beschwerlich werden und

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deren Streben nach Selbsterhöhung und Anspruch auf unbeschränkte

oder jedenfalls nur unsichtbar durch die eigene ökonomische Basis ein-geschränkte Souveränität in die Quere kommen müssten. Dank seinerschieren Größe und Gewichtigkeit stellte solch ein traditioneller und ausSicht der historischen Entwicklungsrichtung reaktionärer, feudalistischerReichskomplex in der Mitte des Kontinents einen Klotz am Bein derdie neue zentralistische Form politischer Organisation realisierendenperipheren Territorien dar, der gar nicht umhin könnte, die letzteren beider Realisierung ihrer neuen Organisationsform sei’s passiv-diplomatischzu behindern, sei’s ihnen aktiv-militärisch auf die Füße zu fallen.

Und dabei wäre nicht einmal sicher, ob nicht ein solches unter der

Fahne einer Wahrung der Einheit des katholischen Glaubens und der Inte-grität der katholischen Kirche in vergleichsweise traditionell-feudalherr-schaftlicher Form wiederhergestelltes Reichssubjekt im Zentrum Euro-pas nun dem Beispiel der Nachbarn folgte und seinerseits eine abso-lutistische Entwicklung nähme, ob also nicht der kaiserliche Oberherr,nachdem er seine aufsässigen Vasallen und Regionalfürsten in die Kniegezwungen und unter seine föderale Botmäßigkeit zurückgezwungenhätte, angesichts der allenthalben zu beobachtenden Entwicklung zumAbsolutismus Lust bekäme, die auf ihre reichsständischen Positionenals territoriale Vasallen Reduzierten mehr noch dieser Positionen zu be-

rauben und durch dem Oberherrn unmittelbar verantwortliche Vögteund Präfekten zu ersetzen, sprich, nach nachbarschaftlichem Vorbild dieTerritorien der Vasallen der direkten kaiserlichen Herrschaft zu subsu-mieren, die Vasallen selbst als höfisches Gefolge unter Kuratel zu stellenund mit repräsentativen Aufgaben und lukrativen Pfründen abzuspeisenund am Ende gar mittels der Selbstinszenierung als Wahrer der katholi-schen Religion und einer unter diesem Deckmantel vollzogenen und denGlauben formell promovierenden beziehungsweise den Klerus offiziellhofierenden Verwandlung der Kirche aus einer ständischen Organisationin eine Institution des Staates sich auch und allen früheren Schwüren

zum Trotz in den Besitz der kirchlichen Territorien zu bringen und diesedem zentralistisch entfalteten und vereinheitlichten Herrschaftsgebieteinzuverleiben.

Geschähe das aber, so würde der politische Grund für eine ökono-mische Entwicklung, die Entfaltung eines umfassenden Marktsystems,

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gelegt, die eben wegen der territorialen Dimensionen, wegen der Bevöl-

kerungsdichte der betroffenen Gebiete und wegen des nicht mehr durchständische Privilegien und städtische Freiheiten, durch feudale Grenzenund zünftige Schranken dem Zugriff entzogenen Reichtums an dort ver-sammelten kommerziell nutzbaren Ressourcen kaum umhin könnte, dieEntwicklung in den absolutistisch gewendeten Staaten an der Peripherieauszustechen beziehungsweise zu dominieren, mit dem Ergebnis, dassderen Marktsysteme entweder durch das der nunmehr zentralen Territo-rialmacht niederkonkurriert und verdrängt würden oder sich jedenfallsihrer Eigenständigkeit beraubt und durch das übermächtige Zentrumfremdbestimmt und in ein Verhältnis permanenter Abhängigkeit gebrachtfänden.

So oder so, politisch oder ökonomisch, durch ein als politisches Sub- jekt wiederhergestelltes Kaiserreich oder durch ein zum einheitlichenWirtschaftsraum zentralisiertes habsburgisches Königreich, haben alsodie Nachbarn allen Grund, sich bedroht zu fühlen, und deshalb allenAnlass, sich in den unter der Camouflage eines Religionskriegs zwischendem Kaiser und den deutschen Regionalfürsten entbrannten Kampf umdie imperiale Vorherrschaft beziehungsweise die territoriale Souverä-nität einzumischen und auf der Seite der auf ihre Unabhängigkeit undSouveränität dringenden deutschen Regionalfürsten den möglichen Tri-umph der Habsburger Dynastie zu verhindern. Die Konsequenz dieser

Konstellation ist eine durch immer neue Allianzen initiierte Abfolgevon mörderischen Feldzügen, ein ebenso umfängliches wie anhaltendeserbittertes Ringen, ein auf dem Schlachtfeld des deutschen Reiches aus-getragener europäischer, dreißig Jahre währender Krieg, der dadurchnoch unüberschaubarer, unkontrollierbarer und verbissener wird, dassdie intervenierenden europäischen Staaten die Gelegenheit nutzen, auf dem Reichsgebiet territoriale Gewinne zu machen und periphere Teiledes Reichs dem eigenen Hoheitsgebiet zu annektieren und darüber hin-aus auch noch Rivalitäten untereinander auszutragen und durch ihre jeweilige Parteinahme quasi auf einem Ersatzschauplatz gegeneinander

Stellung zu beziehen.Wie kaum anders möglich, geht der Krieg aus wie das HornbergerSchießen – das heißt, er führt, abgesehen von ein paar kleineren Grenzver-schiebungen, zu eben der Machtkonstellation und politischen Szenerie,von der er auch seinen Ausgang genommen hat, endet in eben dem Status

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quo, den er zu verändern dienen sollte. Vom langen Krieg erschöpft und

zermürbt, konzedieren sich die Parteien die Ansprüche, die sie einanderzuvor bestritten, lassen sich in den Positionen gelten, aus denen sie sichmittels Krieg vertreiben wollten: Der Kaiser belässt den Regionalfürstenihre faktische Souveränität und ihre ihnen um der Säkularisierungs-politik willen, die sie möglich macht, teure Religionsfreiheit, währendsie wiederum ihn als formelles Oberhaupt, als Lehnsherrn anerkennenund sich selbst als ständischen Teil des wenn auch nicht als politisch-ökonomische Wirklichkeit, als lebendiges Subjekt, so jedenfalls doch als juristisch-institutionelle Erscheinung, als Rechtsperson, fortbestehendenquasifeudalen Reichscorpus akzeptieren. Und die involvierten Nachbar-

staaten geben sich mit ihren Geländegewinnen zufrieden, ziehen sich ausdem Reichsgebiet zurück und überlassen das Reich in seiner traurigenLage, seiner aus Zerstörung und Entvölkerung resultierenden Betäubungund Demoralisierung, Niedergeschlagenheit und Initiativlosigkeit sichselbst.

Eben diese Apathie und Indifferenz, in die der lange Krieg die euro-päische Zentralmacht, das Reich, gestürzt hat, ist nun aber, historisch undaus der Perspektive nämlich der in den Nachbarstaaten vor sich gehen-den wegweisenden Entwicklungen betrachtet, das positive Ergebnis, derErfolg der Operation. Zwar hat sich faktisch im Zentrum Europas wenig

oder nichts verändert, ist der Status quo oder die Fortsetzung des Gehab-ten für ein weiteres Jahrhundert gesichert, bis die zugrunde gerichtetenund ausgepowerten Reichsregionen sich einigermaßen erholt haben, ,aber eben diese anhaltende Schwäche des Zentrums bewahrt die Staa-ten an der Peripherie vor der ihnen von dorther andernfalls drohendenpolitisch unabwendbaren Abhängigkeit beziehungsweise ökonomischübermächtigen Konkurrenz und erlaubt ihnen, ihren Regimewechselzum Absolutismus in aller Ruhe oder jedenfalls mit aller Zielstrebigkeitzu vollziehen und ihre jeweiligen Marktsysteme in den Genuss ihrerihnen durch den Regimewechsel eröffneten neuen Entfaltungsräume

gelangen und jenen als ursprüngliche Akkumulation apostrophiertenBereicherungsprozess durchlaufen zu lassen, dessen Name festhält, dasser, teleologisch gefasst, den Gründungsakt, fatalistisch begriffen, denUrsprung der hiernach in die Welt tretenden kapitalistischen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung bildet.

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Der Übergang von der ständisch-feudalen Herrschaftsordnung zur absolutistisch-

zentralen Staatsverfassung eröffnet aktuell, durch die finanzielle Unterstützung,die die Marktbetreiber den nach Hegemonie strebenden Fürsten zuteil werdenund die sie sich von ihnen vergüten lassen, und prospektiv, durch die gesellschaft-liche Förderung, die die an die Macht gelangten Fürsten den Marktbetreibern zu-teil werden lassen, neue Entfaltungsräume und Investitionschancen. Es kommtzu einer wachsenden Wert- und Mehrwertschöpfung, der die herrschaftlichenKonsumenten mit ihrem herkömmlichen Fundus an allgemeinem Äquivalentimmer weniger gewachsen sind.

Unbehindert durch die, wie man will, kaltgestellte oder in Ohnmacht

gefallene Zentralmacht und deren entweder reaktionäre Einflussnahmeoder übermächtige Konkurrenz, können die peripheren Staaten ihrenim Sinne des Marktsystems fortschrittlichen Kurs fortsetzen, können siedurch die Beseitigung territorialherrschaftlicher Grenzen, ständischerPrivilegien, städtischer Freiheiten und zünftiger Schranken der kom-merziellen Funktion den bis dahin fehlenden Bewegungsspielraum ver-schaffen und ihr in einem noch nie dagewesenen Umfang die Produk-tionskapazitäten des Landes zugänglich und sein ökonomisches Ent-wicklungspotenzial verfügbar machen. Dementsprechend findet das imausgehenden Mittelalter so gravierende Problem eines durch das Korsett

der feudalgesellschaftlichen Ordnung, ihre vielen territorialen, sozialenund institutionellen Einschränkungen bedingten wachsenden Mangelsan dem Volumen des akkumulierten Handelskapitals angemessenenInvestitionsmöglichkeiten seine Lösung, und es kommt zu einer rasantenVergrößerung der städtischen Produktionsgemeinschaften, Vermehrungder marktbezogenen Güterproduktion und Ausdehnung der Handelsbe-ziehungen.

Die vom Souverän unterstützte beziehungsweise betriebene Beseiti-gung der städtischen Berufsbeschränkungen und Zunftrestriktionen ha- ben im Verein mit der Auflösung der traditionellen lokalen Herrschaftss-

trukturen in den Regionen und der Aussicht beziehungsweise Hoffnungauf mehr persönliche und berufliche Freiheit in den Städten eine Land-flucht zur Folge, die wiederum zu einem unter Konkurrenzdruck ste-henden Arbeitsmarkt in den Städten, sprich, zu dort massierten billigenArbeitskräften führt, die mit Hilfestellung des auf gesetzlichem Wege

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Arbeitszwang verhängenden und Lohndrückerei praktizierenden Souve-

räns den Betreibern des Markts ermöglichen, gegenüber den Produzentenhohe Mehrwertraten durchzusetzen, sprich, beim Erwerb der Güter fürden Markt, ihrer Verwandlung in Waren, hohe Gewinnspannen zu erzie-len.

Dieser funktionelle Erfolg der kommerziellen Funktion, die Tatsachealso, dass die von ihr bewusst oder unbewusst unterstützte absolutis-tische Transformation der Gesellschaft ihr nicht nur erlaubt, neue, ihr bislang entzogene oder versperrte Produktionskapazitäten zu erschließenund also ihr akkumuliertes Handelskapital voll in weitere Produkti-onsprozesse zu investieren, sondern ihr mehr noch gestattet, diese Ka-pazitäten zu besonders günstigen Konditionen zu nutzen, sprich, dieMehrwertschöpfung durch die erweiterten Produktionsprozesse zu ma-ximieren und ihre handelskapitalen Investitionen mehr denn je sich ren-tieren zu lassen – dieser durchschlagende funktionelle Erfolg schafftnun aber ein gravierendes strukturelles Problem, das Problem des Ab-satzes der vermehrt auf den Markt gelangenden Güter, systematischgenauer ausgedrückt, der Realisierung des in diese Güter von der kom-merziellen Funktion investierten Werts, und noch punktgenauer gefasst,der Realisierung des außerordentlich hohen Mehrwertanteils, den diedank der absolutistischen Transformation der Gesellschaft nicht minderverbilligte als vermehrte Arbeitskraft der ihre Produkte vermarktenden

kommerziellen Funktion verschafft.Herkömmlicher- und für den feudalen Zusammenhang typischer-

weise sind es die feudalen Herrschaften, die dem Markt das auf ihmversammelte Mehrprodukt abnehmen und mittels des ihnen aus anderenals kommerziellen Quellen verfügbaren und als allgemeines Äquiva-lent firmierenden Edelmetalls den in dem Mehrprodukt verkörpertenMehrwert realisieren, sprich, für das zur Erfüllung des Akkumulations-erfordernisses nötige Mehr an Edelmetall in kommerzieller Hand, Mehran Handelskapital sans phrase, sorgen. In dieser ihnen herkömmlicher-weise zugewiesenen Rolle als Konsumenten des vom Markt akquirierten

Mehrprodukts und Realisierer des darin steckenden Mehrwerts aber sinddie feudalen Herrschaften nachgerade arg überfordert. Zu umfänglichist mittlerweile das Volumen der durch das Marktsystem organisiertenund distribuierten Warensammlung und zu groß entsprechend das inder Warensammlung enthaltene Mehrprodukt beziehungsweise der im

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Mehrprodukt verkörperte Mehrwert, als dass nicht die feudal etablierten

oder dann hegemonial arrivierten beziehungsweise gar absolutistischdisponierten Herrschaften bei der Erfüllung der ihnen traditionell zuge-wiesenen konsumtiven Mehrwertrealisierungsrolle in Schwierigkeitenund in Verzug geraten müssten. Auch wenn den Herrschaften aus Kriegs-und Beutezügen und vor allem aus den auf ihren Territorien gelegenenBergwerken und Schürfstellen immer wieder Edelmetall zufließt, zuunzuverlässig und unregelmäßig fließt die erstgenannte Einnahmequelleund zu wenig intensiv und technisch versiert wird unter der Regie eineran Produktionsprozessen desinteressierten Herrschaft der Abbau natürli-cher Edelmetallvorkommen betrieben, um nicht diesen unsystematischenherrschaftlichen Edelmetallerwerb hinter dem stetigen Wachstum der perMarktsystem organisierten und distribuierten Gütermenge zurückbleibenund die Diskrepanz zwischen der in Waren verkörperter Mehrwertmengeund dem für deren Realisierung verfügbaren allgemeinen Äquivalent inherrschaftlicher Hand immer größer werden zu lassen.

Und die Steuern, Abgaben und Tribute, mittels deren die Herrschaftenan den Gewinnen der Marktbetreiber indirekt beteiligt sind – sie tau-gen zwar dazu, das materiale Wachstum des Marktes zu verlangsamenund die Diskrepanz zu mildern, indem sie uno actu den HerrschaftenKonsumkraft zuführen und dem Markt Investitionskraft rauben, dienenalso einer Verlangsamung des Akkumulationsprozesses und insofern

einer gewissen Stabilisierung der Lage, aber weil trotz dieses Aderlas-ses dennoch ein ebenso dauerhaftes wie erhebliches Wachstum statt-findet und nicht zuletzt dank der tatkräftigen politisch-sozialen Hilfe-stellung der sich verabsolutierenden Herrschaft der Produktwert, dendas in den Händen der Marktbetreiber als Investitionssumme verblei- bende allgemeine Äquivalent zu schaffen dient, den Gesamtwert derfür Investitionen in Arbeitsprozesse und für Abgaben an die Herrschaftaufgewandten Summe jedenfalls übersteigt, sind diese fiskalischen undsonstigen Abgaben außerstande zu verhindern, dass die Kluft zwischendem produzierten Mehrwert und dem für die Realisierung des Mehr-

werts verfügbaren allgemeinen Äquivalent, dem in herrschaftlicher Hand befindlichen Edelmetall aus anderen Quellen, immer weiter wächst.Sicheres Zeichen dieser für das Marktsystem krisenträchtigen Ent-

wicklung ist die Tatsache, dass in der Übergangszeit von der Feudalherr-schaft zum Absolutismus die Marktbetreiber die fürstlichen Herrschaften

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in einem weit über die herkömmlichen fiskalischen Abgaben und tri-

 butären Zuwendungen hinausgehenden Maße finanziell unterstützenund dass die ersteren in der Tat zu den Hauptgeldgebern der letzte-ren, zu den tragenden Finanziers ihres Aufstiegs zur Macht und ihrersystemsprengenden Veränderung und Neuordnung der Prinzipien terri-torialer Herrschaft werden. Eben das ist ja wesentlicher Bestandteil derzwischen den Betreibern des Marktsystems und den politischen Herrenüber die kommerziellen Machtzentren geschlossenen stillschweigen-den und zu großen Teilen sogar bewusstlosen, von der ökonomischenSubstanz triebmäßig diktierten Allianz, jener Allianz, die im Absolutis-mus resultiert, dass die Handeltreibenden den Herrschaftübenden, dieökonomischen Drahtzieher den politischen Machthabern akkumuliertesHandelskapital zur Verfügung stellen, damit diese die für die Ausdeh-nung ihrer Macht und für den Triumph über feudale Konkurrenten undstädtische Korporationen erforderliche militärischen Aufrüstung betrei- ben, damit sie Landkäufe tätigen und Abfindungen für die Abtretungvon Herrschaftsrechten zahlen und damit sie schließlich auch die fürrepräsentative Zwecke, für rituelle Machtdemonstrationen, dynastischeVerbindungen und diplomatische Kampagnen nötigen Mittel aufbringenkönnen.

Freilich unterscheiden sich diese erweiterten finanziellen Beiträge zumherrschaftlichen Etat von den traditionellen fiskalischen Abgaben und

tributären Zuwendungen dadurch, dass sie nicht unentgeltlich gewährt,nicht ökonomisch kompensationslos geleistet, sondern den kommer-ziellen Geldgebern durch Gegenwerte vergolten, ihnen mit Zins undZinseszins zurückgezahlt werden. Dafür, dass die Marktbetreiber denfürstlichen Herrschaften finanziell unter die Arme greifen, verpfänden,verpachten oder verkaufen die letzteren ihnen Schürf- und Bergbau-rechte, koloniale Handelspatente und andere, in herrschaftlicher Hand befindliche Liegenschaften, Monopole und Nutzungsprivilegien, auf Grund deren sie sich nicht nur schadlos halten, sondern in der Tat hoheGewinne machen, mit dem Geld, das sie dem Fürsten zur Verfügung

gestellt haben, hohe Renditen erzielen können.Der Grund für diese neue Vertragsbeziehung, die da macht, dass dieMarktbetreiber den Fürsten ihre finanziellen Beiträge zum herrschaftli-chen Etat nicht mehr nur als Abgaben und Tribute überlassen müssen,sondern des Weiteren auch als Kredite und Darlehen in Rechnung stellen

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können, ist das zwischen den beiden Parteien veränderte Kräfte- und

Machtverhältnis. Genauer gesagt hat die veränderte Beziehung darinihren Grund, dass die Marktbetreiber den Herrschaften jetzt ja nicht mehrnur dabei behilflich sind, ihren auf marktunabhängigen gesellschaftli-chen Grundlagen ruhenden herrschaftlichen Status quo als solchen zustützen, nach außen zu sichern und im Innern auszustaffieren, sprich,fronwirtschaftlich fundierten feudalen Herrschaften zusätzliche finanzi-elle Mittel zur Verfügung zu stellen, strategisch-außenpolitische Vorteilezu verschaffen und einen repräsentativ-konsumtiven Lebensstil zu bie-ten, sondern dass die Herrschaften jetzt vielmehr in ihrer unmittelbarengesellschaftlichen Machtstellung und in ihren eigensten machtpolitischen

Aspirationen auf die Unterstützung und Mitwirkung der Marktbetreiberangewiesen sind.Was auch immer die den traditionellen feudalen Zusammenhang

sprengenden und zu hegemonialer Selbstherrlichkeit fortschreitenden beziehungsweise nach absolutistischer Souveränität strebenden Herr-schaften anfangen und ins Werk setzen mögen, sie tun es auf der Basisder vom Marktsystem auf ihrem Territorium geschaffenen neuen ökono-mischen Machtzentren und sind gleichermaßen in ihrem gegenwärtigenStatus und in ihren weiteren Aussichten konstitutiv davon abhängig, dassdie Betreiber des Marktsystems mittels ihres akkumulierten Reichtums

ihnen den Steigbügel halten oder, profaner und zeitgemäßer ausgedrückt,den Haushalt finanzieren. Sie sind konstitutiv abhängig von ihrer Kauf-mannschaft und müssen sich eben deshalb aber auch bequemen, derenso unverzichtbare kommerzielle Leistungen durch kommerziell relevanteGegenleistungen zu honorieren, ökonomisch zu vergüten, müssen mitanderen Worten als nunmehr quasi Geschäftspartner oder Kontrahentender Marktbetreiber auf deren eigenem Terrain und nach deren eigenenGeschäftsprinzipien mit ihnen verkehren, müssen zulassen, dass die-se, wenn sie mit ihnen Geschäfte machen, kommerzielle Transaktionentätigen – und die Gewährung von Darlehen oder die Einräumung von

Krediten sind ohne Frage solche Transaktionen –, sich im rein ökonomi-schen Sinne schadlos zu halten beanspruchen.Nicht, dass die konsumpraktischen, strategischen und fiskalischen

Leistungen, die in früheren Zeiten die Betreiber der kommerziellen Funk-tion für die politische Herrschaft erbringen, kompensationslos blieben,

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nicht, dass nicht auch da schon das Sich-schadlos-halten ein Grundprin-

zip der Beziehungen zwischen Marktökonomie und politischer Machtwäre! Schließlich kehren, wie gezeigt, die tributären Zuwendungen undfiskalischen Abgaben der Marktbetreiber an die feudalen Herrschaftendort ja via herrschaftlichen Konsum wieder in die Hände der Marktbetrei- ber zurück, und ist also Schadlosigkeit in dem strengen Sinne gegeben,dass die Marktbetreiber zwar aus dem allgemeinen Äquivalent, das sieden Herrschaften überlassen, keinen Gewinn ziehen können, es aberauch nicht als Verlust verbuchen müssen. Und schließlich und vor allemhalten sie sich ja in dem nichtkommerziellen, aber für ihre kommerziellenAktivitäten grundlegenden Sinne schadlos, dass sie sich mit ihren Zuwen-dungen und Abgaben Schutz und Sicherheit erkaufen beziehungsweisedie Herrschaft dazu bringen, ihnen Handelsprivilegien und Marktrechtezu konzedieren.

Mögen also auch im streng ökonomischen Sinne, sprich, sub specieihrer Akkumulationsstrategie, ihre Abgaben und Tribute an die feudalenHerrschaften den Marktbetreibern nichts einbringen, als geschäftsdien-liche Aufwendungen, quasi als ebenso nötige wie nützliche Betriebs-ausgaben lassen sie sich dennoch verbuchen, weil sie, ohne den Markt- betreibern letztlich als verfügbare Wertsumme verloren zu gehen, ohnevon ihnen als einsetzbares allgemeines Äquivalent ein für allemal ab-geschrieben werden zu müssen, zugleich doch dazu dienen, die für das

kommerzielle Geschäft erforderlichen politischen Rahmenbedingungenund sozialkontraktiv-rechtlichen Voraussetzungen zu erwirken.

Daran ändert sich auch nichts in der neuen, den Übergang von derfeudalen zur absolutistischen Gesellschaft markierenden Situation, in dernun in Gestalt jener Darlehen und Kredite zu den traditionellen Tribut-und Abgabenformen weitere und vermehrte Zuwendungen der Markt- betreiber an die Herrschaften und Unterstützungsmaßnahmen für siehinzukommen. Auch die als Darlehen und Kredite den Herrschaftengewährten Mittel gelangen ja letztlich auf konsumtivem Weg, will heißen,via Ausgaben für Rüstung, Repräsentation und Konsum sans phrase,

wieder in die Hände der sie gewährenden Marktbetreiber zurück undgehen insofern den letzteren nicht ein- für allemal verloren, sind keinreines Verlustgeschäft für sie. Und auch den gleichen politischen Effektwie die traditionellen Abgaben und Tribute erzielen die neuen Leih-und Hilfsgelder, insofern sie dafür sorgen, dass die Herrschaften den

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Marktbetreibern gewogen und bereit bleiben, ihnen militärischen Schutz,

rechtliche Sicherheit und politische Förderung angedeihen zu lassen.Nur dass jetzt, wie gesagt, die Hilfsgelder der Marktbetreiber denin einem Wechsel des Herrschaftsparadigmas begriffenen und nämlichnach Sprengung des feudalen Zusammenhangs und nach absolutistischerMacht strebenden Herrschaften mehr bedeuten und bringen als bloß eineBestätigung oder Bekräftigung ihres Status quo, bloß eine Untermaue-rung, Befestigung und Ausschmückung ihrer auf eigenen Fundamentenruhenden politisch-ökonomischen Funktion und sozialhierarchischenPosition, dass die Hilfsgelder jetzt vielmehr konstitutiv und grundlegendsind für die Etablierung der Herrschaft in ihrem neuen absolutistischenStatus, für die Realisierung der von ihr angestrebten neuen sozialen Kom-mandogewalt und politischen Machtfülle, dass dementsprechend auchdas Verhältnis der Marktbetreiber zur Herrschaft sich ändert, sie diesernicht mehr wie Klienten ihrem Patron gegenüberstehen, sondern wieGeschäftsleute ihrem Kontrahenten oder Teilhaber begegnen, und dassauf Basis dieser neuen, ökonomisch definierten Beziehung sie aber nunauch erwarten und verlangen können, dass alles nach ökonomischenPrinzipien abläuft und materielle Leistungen, die sie erbringen, ihnenauch in materieller Form honoriert werden, sprich, dass die Hilfsgelder,die sie der nach hegemonialer Macht beziehungsweise absolutistischerSouveränität strebenden Herrschaft zur Verfügung stellen, ausschließlich

als zinstragende Darlehen und Kredite, kurz, nur unter der Bedingunggewährt werden, dass die Herrschaft sie ihnen durch Mehrwert einschlie-ßende Gegenwerte, durch gewinnbringende Sicherheiten, Nießrechteoder Tilgungen vergütet.

Dabei setzen sie freilich im Überschwang oder, vielleicht besser gesagt,kompromisslosen Eifer ihres ökonomischen Vergütungsdenkens aktuelloder gegenwärtig etwas durch, was ihnen prospektiv oder im Weiterenohnehin winkt. Schließlich versetzen sie ja durch ihre Hilfsgelder undfinanziellen Unterstützungsmaßnahmen die Herrschaft in die Lage, jenenParadigmenwechsel in der politischen Machtausübung zu vollziehen,

in dessen Konsequenz letztere ihre Beschränkung durch den feudalenZusammenhang und seine Gliederungen sprengt und sich zum absolutis-tischen Souverän von Territorien aufschwingt, die sie durch die Liegen-schaften ausgebooteter beziehungsweise untergebutterter Nachbarn undStandesgenossen zu selbsttragenden Einheiten, eigenständigen Staaten,

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wenn er nur jenem Zweck zu dienen verspricht. Weil die Herrschaft in

ihrem politischen Machtstreben so völlig abhängig ist von der ökono-mischen Leistungskraft ihrer Kaufmannschaft, von deren Bereitschaft,sie finanziell zu unterstützen, ist ihr alles, was diese Leistungskraft undUnterstützungsbereitschaft stärkt, im Zweifelsfall recht – mag es auchnoch so sehr ökonomisch auf ihre oder vielmehr ihrer Untertanen Kostengehen.

Und was die Kaufmannschaft, die Marktbetreiber, selbst angeht, so istauch ihr Verhalten erklärlich und in dem Sinne exkulpiert, dass es sichnicht einfach der Beutelschneiderei und betrügerischen Machenschaftenzeihen lässt – erklärlich nämlich durch ihre Fixierung auf eben jenes Äqui-valenzprinzip, das sie, subjektiv gesehen, bei ihrer kaufmännischen Ehreund, objektiv betrachtet, bei Strafe eines kommerziellen Systembruchsheißt, finanzielle Leistungen, die sie ihrer Herrschaft erbringen, nachMöglichkeit als kommerzielle Austauschakte zu realisieren und sich imunmittelbaren Gegenzug durch entsprechende finanzielle oder materielleGegenleistungen vergüten zu lassen.

Auch wenn die Marktbetreiber als Agenten des qua kapitale Substanztreibenden Motivs ahnen oder spüren, dass die politischen Bestrebungender Herrschaft, die sie durch ihre Kredite und Darlehen unterstützen,ihnen nicht nur ad hoc der kurzfristigen Vergütung der letzteren, sondernebenso sehr à la longue der durch den politischen Erfolg der Herrschaft

herbeigeführten gesellschaftlichen Veränderungen ökonomisch von Nut-zen sind und Gewinn bringen, und auch wenn sie eben deshalb ja mit dernach hegemonialer beziehungsweise absolutistischer Macht strebendenHerrschaft nicht nur kommerziell kontrahieren, sondern sich auch inten-tional verbünden, nicht nur praktisch Geschäfte, sondern auch strategischgemeinsame Sache machen – erstens vollzieht sich das Bündnis zwischenMarkt und Thron im Zweifelsfall zu bewusstlos, bleibt als substanziellesGeschehen dem Dafürhalten der Subjekte zu sehr entzogen, und zweitensist die Dynamik der durch das Bündnis ausgelösten ökonomischen Ent-wicklung zu gewaltig und unvorhersehbar, als dass die Marktbetreiber

überhaupt imstande wären, die ihnen langfristig ins Haus stehendenökonomischen Vorteile und Gewinnaussichten ins gegenwärtige Buch-haltungskalkül einzubeziehen und mit den kurzfristigen Forderungenan die Herrschaft, die ihre Kredite und Darlehen ihnen sichern, quasi zuverrechnen, und als dass sie nicht vielmehr geneigt sein müssten, den

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Spatz in der Hand als einen im Verhältnis zur Taube auf dem Dach völlig

anderen Fall und Vogel wahrzunehmen, sprich, den aus der Förderungder politischen Entwicklung gezogenen aktuellen als mit dem aus derEntwicklung selbst zu ziehenden konsequenziellen ökonomischen Ge-winn gänzlich unvergleichbar und deshalb ohne weiteres vereinbar zuerachten.

 Jedenfalls führt dieser doppelte Gewinn aus den Krediten und Darle-hen, mit denen die Marktbetreiber der Herrschaft unter die Arme greifenund deren quasirevolutionäre Umgestaltung des Herrschaftsapparatsund Neuorganisation des Gesellschaftsgefüges unterstützen, dies näm-lich, dass ihnen die Herrschaft einerseits ad hoc für ihre Kredite undDarlehen Zins zahlt beziehungsweise, weil es ihr an Finanzmitteln jagerade fehlt, Sicherheiten leistet und Güter, Handelsprivilegien oderProduktionsstätten verpfändet, verpachtet oder gar verkauft und dass sieandererseits durch die mit Hilfe jener Kredite und Darlehen vorangetrie- bene politische Entwicklung den Marktbetreibern aber des Weiteren auchganz neue Entfaltungsräume und Investitionsmöglichkeiten eröffnet –dieses unverhofft oder zumindest ungeplant doppelte Resultat führt je-denfalls zu einer exorbitanten Steigerung der kommerziellen Aktivitätenund sprunghaften Expansion des Marktsystems, sprich, einer ebenso mar-kanten Zunahme der dem Markt verfügbaren Warenmenge wie rasantenBeschleunigung des vom Markt abgewickelten Warenverkehrs.

Und das allerdings führt uns nun geradewegs zurück zu dem obenangesprochenen Problem einer zunehmenden Überforderung der Herr-schaft bei der Aufgabe, ihren konsumtiven Verpflichtungen nachzukom-men und jenen Teil des in der Warenmenge verkörperten Werts zu erlö-sen, den als von ihnen geschöpften Mehrwert die Warenproduzenten perdefinitionem der vom Marktsystem verfolgten Akkumulationsstrategieschlechterdings nicht erlösen können. Schließlich ist ja, dass die einehegemoniale Stellung oder gar absolutistische Souveränität anstrebendeHerrschaft ihre machtpolitischen Ambitionen und Projekte nicht auseigener Kraft finanzieren kann und hierfür auf die Kredite und Darlehen

ihrer Kaufmannschaft angewiesen ist, bereits klarer Ausdruck des klam-men Haushalts der Herrschaft, ihrer angespannten Finanzlage und ihrerdementsprechend beschränkten konsumtiven Kapazität.Wenn nun die Kredite und Darlehen diesen doppelten Effekt haben, denMarktbetreibern ad hoc neue Produktionskapazitäten und marktgängige

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Produkte in die Hände zu spielen und ihnen des Weiteren neue Investi-

tionsmöglichkeiten und Produzentengruppen zu erschließen, kurz, ihreWarensammlung in specie zu vergrößern und ihr Marktvolumen in ge-nere zu erweitern – wie sollten da wohl die herrschaftlichen Abnehmerund Konsumenten mit ihren klammen Kassen, ihren ja nur auf den Borgder Handeltreibenden selbst halbwegs im Lot zu haltenden Haushaltenimstande sein, ihrer traditionellen Rolle als Mehrwertrealisierer gerechtzu werden und die rasch wachsende Warenmenge in klingende Münze,in dem Akkumulationserfordernis gemäß immer neu vermehrtes allge-meines Äquivalent, in für stets erweiterte Investitionen bereitstehendesHandelskapital zu verwandeln?

Zwar, im Zuge ihres Aufstiegs zu hegemonialer Macht beziehungswei-se absolutistischer Souveränität expandiert und arrondiert die Herrschaftihr Territorium und bringt nicht nur kraft ihrer Annexionspolitik dieRessourcen der hinzugewonnenen Gebiete in ihre Hand, sondern ge-winnt auch dank ihrer neuen, zentralistischen Verwaltung eine direktereund umfassendere fiskalische Verfügungsgewalt über den auf ihrem ge-samten Hoheitsgebiet erzeugten landwirtschaftlichen und gewerblichenReichtum. Sie füllt mit anderen Worten ihre Kassen, vergrößert ihrenEtat, steigert ihren mittels Etat bestrittenen und Ausgaben für Rüstung,Bürokratie und Repräsentation umfassenden Konsum und wird für diemit ihr kollaborierenden Marktbetreiber zu einem immer potenteren und

immer wichtigeren Abnehmer. Indes, was sie an Konsumkraft gewinnt,das raubt oder entzieht sie ja denen, deren Territorien sie annektiert undderen ständische Privilegien sie kassiert beziehungsweise deren loka-le oder regionale Machtpositionen sie eliminiert und deren mit diesenMachtpositionen verknüpfte Einnahmequellen sie appropriiert, sprich,ihren säkularen und vor allem auch klerikalen Standesgenossen, die sieuno actu ihrer Entmachtung enteignet.

Die erhöhte Konsumkraft des zur Alleinherrschaft aufsteigenden fürst-lichen Hegemons beziehungsweise königlichen Souveräns ist mithinnicht sowohl Ausdruck eines absoluten Wachstums der konsumtiven

Kapazität der Herrschaft, sondern bloß Folge einer relativen Verlage-rung jener Kapazität, ihrer Zusammenfassung aus feudalherrschaftlicherPluralität und Zersplitterung und ihrer Konzentration in einer Hand,ihrer Reduktion auf den Singular absolutistischer Verfügung. Summasummarum oder aufs Ganze der Finanzmittel in herrschaftlicher Hand

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gesehen, ändert sich also durch den Übergang vom feudalen Pluralismus

zum zentralen Absolutismus nichts am Gesamtumfang herrschaftlicherKonsumkraft, und bleibt es demnach auch bei dem besagten Problem,dass wegen des mit jenem Übergang einhergehenden und gleich doppeltin ihm begründeten raschen Marktwachstums die Schere zwischen demdurch den Markt angebotenen Mehrprodukt und dem zur Realisierungdes Mehrprodukts verfügbaren allgemeinen Äquivalent in der Handherrschaftlicher Konsumenten sich immer weiter öffnet.

In der Distributionskrise, die durch ein wachsendes Ungleichgewicht zwischenWarenangebot und verfügbarem Wertrealisierungsmittel droht, kommt dem

 Markt die – wie man will – glückliche oder unglückliche Fügung des kolonialenSchatzes zu Hilfe. Durch die Hände der neuen absolutistischen Souveräne, dieihn nutzen, um ihre Macht zu stärken und sich politisch durchzusetzen, gelangtder Schatz in die Hände der traditionell als Mehrwertrealisierer fungierendenadligen und geistlichen Oberschicht und steht damit als allgemeines Äquivalent

 für die Einlösung des wachsenden Güterangebots zur Verfügung.

Was zuerst ein kommoder Ausweg aus dem im späten Mittelaltervirulent werdenden gravierenden Problem einer zunehmenden struktu-rellen Diskrepanz zwischen akkumuliertem Handelskapital und den fürletzteres vorhandenen oder vielmehr nicht vorhandenen, weil durch dasKorsett des feudalgesellschaftlichen Zusammenhangs, seine territorialenund institutionellen Privilegien und Freiheiten eingeschränkten Investiti-onsmöglichkeiten schien, führt somit geradewegs in das gegenteilige undnicht minder strukturelle Problem einer noch geschwinder sich öffnendenSchere zwischen der Masse der auf dem Markt versammelten Wertverkör-perungen und dem zur Realisierung des Werts dieser Verkörperungen zurVerfügung stehenden Geld. Indem den Marktbetreibern der durch ihreökonomische Macht angestachelte politische Ehrgeiz ihrer Herrschaft,deren Streben mit anderen Worten nach hegemonialer Vorherrschaft be-ziehungsweise absolutistischer Souveränität, die Möglichkeit eröffnet, in

eben dieses Streben, diese die Schranken, die der feudalgesellschaftlicheZusammenhang ihrem ökonomischen Treiben steckt, zu durchbrechengeeignete politische Perspektive ihr akkumuliertes Handelskapital zuinvestieren, und indem nun aber diese Investition ein geradezu atembe-raubendes, weil aus zweifacher Quelle gespeistes Marktwachstum, eine

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förmliche Hypertrophie der im Rahmen des Marktsystems angebotenen

Warensammlung nach sich zieht, kehrt sich das Dilemma einfach nur um,und die Marktbetreiber müssen feststellen, dass sie den Teufel fehlenderGelegenheit zur investiven Wertschöpfung mit dem Beelzebub mangeln-der Aussicht auf die konsumtive Realisierung des geschöpften Wertsausgetrieben haben.

Am Ende scheint sich so das katalytische Ferment, mittels dessen dieMarktbetreiber die Distribution der Güter und die mit ihr untrennbarverknüpfte Wertakkumulation abwickeln, das allgemeine Äquivalent, dasGeld, als ein böser Stolperstein für das Marktsystem oder Klotz an seinemBein zu erweisen. Indem die Marktbetreiber die in ihren kommerziellenAustauschaktivitäten mittels allgemeinen Äquivalents verfolgte Verwer-tungs- oder Akkumulationsstrategie an einen Punkt treiben, an demder feudalherrschaftliche Zusammenhang der weiteren akkumulativenVerwendung des allgemeinen Äquivalents, seinem weiteren Einsatz alssich mehrendes Handelskapital massive soziale und politische Schrankensetzt, und indem nun aber die Marktbetreiber darauf verfallen, dies inseiner ökonomischen Entwicklung gehemmte Handelskapital politischeinzusetzen, sprich, mit ihm das Machtstreben, den politischen Ehrgeizder Herrschaft zu finanzieren und ihm selbst auf diesem politischenUmweg empirisch neue Betätigungsfelder und systematisch neue Ent-faltungsräume zu erschließen, sprich, über jene seine ökonomische Wei-

terentwicklung hemmenden sozialen und politischen Schranken effektivhinwegzuhelfen, erweist sich der Erfolg dieses der ins Stocken geratenenökonomischen Akkumulationsstrategie unter die Arme greifenden undgleich zweifach, unmittelbar wie mittelbar, auf die Sprünge helfendenpolitischen Neuordnungsverfahrens als derart durchschlagend, dass im jähen Umschlag das, was vorher in seinem Funktionieren gehemmt war,das zur mehrwertigen Investition in marktgängige Güter bestimmte all-gemeine Äquivalent, nun seinerseits zum Hemmschuh wird und nämlichder Menge der mittlerweile auf dem Markt versammelten Güter nichtmehr Herr wird, sprich seiner anderen Aufgabe, den mehrwertigen Wert

dieser Güter einzulösen, ihn in seiner Gestalt zu realisieren, nicht mehrgewachsen ist.Das Problem, das hier entsteht, ist kein substanzielles, keines, das etwas

mit der praktischen Fähigkeit der Menschen, die vorhandene Gütermengekonsumtiv zu bewältigen, zu tun hätte, sondern bloß ein strukturelles,

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eines, das den Funktionsmodus der Distribution der vorhandenen Gü-

termenge betrifft. Aber weil dank der marktsystematischen Akkumu-lationsstrategie, die sich per medium des allgemeinen Äquivalents, inihm als katalytischem Ferment vollzieht, das eine, die Konsumpraxis,mit dem anderen, dem Distributionsmodus, untrennbar verknüpft undin der Tat an ihn als seine conditio sine qua non gebunden ist, drohtdie Distributionskrise, die der Erfolg der auf soziale Umwälzungen set-zenden und zu diesem Behuf in die Politik investierenden Ökonomieheraufbeschwört, das ganze Marktsystem vor den Fall seines Scheiternszu bringen und die gesellschaftliche Reproduktion insgesamt sich amHaken jener dem allgemeinen Äquivalent zugewiesenen Rolle des Mehr-wertrealisierers, mit dessen Wirksamkeit alle weitere Wertschöpfung und jeder der Wertschöpfung dienende materiale Produktionsprozess stehtund fällt, aufhängen zu lassen.

Die Distributionskrise droht, aber sie macht ihre Drohung nicht wahr,sondern räumt, wie bekannt, im Gegenteil einem neuen kommerziellenAufschwung, einer weiteren rasanten Entfaltung des Marktgeschehensdas Feld. Und dass dies so ist, verdankt sich nun aber dem – wenn manso will – historischen Zufall, der Entdeckung nämlich und kommerzi-ellen Erschließung beziehungsweise kolonialen Eroberung der anderenWeltteile im Allgemeinen und der Neuen Welt im Besonderen.

“Wenn man so will” mag dabei als eine die Beschwörung des Zufalls

als Problem markierende Verlegenheitsfloskel durchgehen, denn bei ge-nauerem Hinsehen scheint, ob hier die Rede vom Zufall am Platze istoder nicht, weniger eine Frage des Willens oder Beliebens als eine Sacheder Wahrnehmung oder Perspektive. Systematisch-intentional gesehen,liegt es ja durchaus in der Logik des auf handelskapitale Akkumulationgeeichten Marktsystems und kann geradezu als sein Animus, die Unruheoder Seele seines Funktionsmechanismus gelten, dass es nach immerneuen Produzenten und Konsumenten, nach immer weiteren Investiti-ons- und Absatzchancen Ausschau hält und beides, wenn es sich ihmim gewohnten Umfeld nicht zeigt beziehungsweise zur Verfügung stellt,

außerhalb sucht und notfalls in weiter Ferne aufzuspüren bereit ist. Vondaher kommt es schwerlich als blindes Ungefähr, lässt es sich kaum alszufällig im Sinne eines relationslosen Akzidens verstehen, dass in einerSituation, in der ein solcher Notfall gleich in beiderlei Hinsicht vorliegtund in der, wie gezeigt, das akkumulierte Handelskapital einerseits um

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seine Reinvestition, seine Weiterverwertung in der Produktionssphäre

 bangen muss und andererseits in dem Maße, wie es ihm gelingt, auf poli-tischem Wege diese ökonomische Scylla, an der es zu scheitern droht, zuumschiffen, sich der Charybdis einer um die Einlösung ihres Wertes in derZirkulationssphäre, ihre Realisierung als Kapital, verlegenen übergroßenWarenmenge ausgesetzt findet – dass in einer solchen Situation der Drangnach draußen sich mit Macht regt und die noch weitgehend unbekannteWelt außerhalb Europas die Rolle einer bloß imaginativen Projektionsflä-che, auf die sie bislang weitgehend abonniert war, verliert, und zum inpraxi wahrgenommenen Projektgegenstand und Entfaltungsraum wird.

Mögen es anfänglich auch vorzugsweise erratische Glücksritter und

Projektemacher sein, die diesem Drang bewusstlos nachgeben und sichauf den Weg nach draußen begeben, und mögen die Reichtümer, hinterdenen sie her sind, auch noch so mythologisch unbestimmt und mitden konkreten Marktbedürfnissen ihrer Herkunftsgesellschaften auchnoch so wenig vermittelt sein – dass das neue Abenteurer- und Entde-ckertum sich derart massenhaft und verbreitet Bahn bricht und dass es bei den staatlichen Instanzen und in den kommerziellen Kreisen der inder Transformation zu absolutistischen Staaten begriffenen Herkunfts-länder so nachdrücklich Unterstützung und Förderung findet, zeugthinlänglich davon, dass dahinter bereits die um die Artikulation ihrer

Desiderate noch halbwegs verlegene handelskapitale Substanz des glei-chermaßen nach Investitionsmöglichkeiten und nach Absatzchancengierenden Marktsystems steckt – ganz abgesehen davon, dass die rascheinsetzende Lenkung und Regulierung des anfänglichen Abenteurertumsdurch staatliche Regiemaßnahmen und seine fast unverzügliche Über-führung in beziehungsweise Ersetzung durch ein explizit kommerziellesKompaniewesen den sonnenklaren Beweis für diese im Wesentlichenmarktsystematische Begründung des westeuropäischen Ausgreifens auf und Vordringens in die übrigen Weltteile erbringt.

Aber so wenig also, systematisch-intentional gesehen, die beginnende

europäische Kolonialisierung der restlichen Welt als akzidentiell, willheißen, als zur innereuropäischen Entwicklung kontingent, gelten darf,so sehr bleibt es doch, empirisch-realgeschichtlich betrachtet, ein Zufallim Sinne von unverhoffter Koinzidenz oder – wie man es nimmt – glück-licher oder unglücklicher Fügung, dass nun bei diesem ihrem massierten

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und zunehmend organisierten beziehungsweise staatlich gelenkten Vor-

dringen in fremde Weltgegenden und Erdteile die Kolonisatoren gleichanfangs auf große Mengen Edelmetall, die von den Hochkulturen derNeuen Welt zu herrschaftlich-repräsentativen beziehungsweise kultisch-rituellen Zwecken gesammelten Schätze, und in der Folge dann auf diediese Thesauri speisenden ergiebigen Fund- und Schürfstellen stoßenund dass ihnen damit in großer Menge eben jenes allgemeine Äquiva-lent aus anderen als kommerziellen Quellen unter die Finger kommtund in die Hände fällt, dessen Fehlen beziehungsweise mengenmäßigesUngenügen, wie oben gezeigt, im europäischen Marktsystem selbst diefür den Akkumulationsprozess unabdingbaren herrschaftlichen Konsu-menten außer Stande setzt, der ihnen zugemessenen Aufgabe als Abneh-

mer des auf dem Markt zirkulierenden Mehrprodukts beziehungsweiseRealisierer des darin verkörperten Mehrwerts angemessen nachzukom-men, und damit denn aber die nicht substanziell, sondern strukturell bedingte, nicht sowohl der Absorptionskapazität des Bedürfnissystemsals vielmehr dem Distributionsmodus der Befriedigungsmittel geschul-dete Absatzkrise heraufbeschwört, die den von der Transformation derständisch-feudalen Herrschaftsordnung in die absolutistisch-zentraleStaatsverwaltung gleich doppelt profitierenden Markt heimsucht und zulähmen droht.

Gelingt es, die in der Neuen Welt vorgefundenen und zuerst den dor-

tigen Gesellschaften durch Plünderung ihrer Thesauri geraubten und desWeiteren dann durch Ausbeutung der natürlichen Vorkommen gewon-nenen Mengen Edelmetall in die richtigen Hände gelangen und näm-lich jenen verhinderten beziehungsweise überforderten herrschaftlichenKonsumenten des europäischen Marktsystems zukommen zu lassen,dann lässt sich dessen durch ein Überangebot an Waren hervorgerufeneObstipation beheben und dank eines deutlich erhöhten Konsumniveausder europäischen Oberschicht, des im europäischen Marktsystem alsKonsumenten vom Dienst fungierenden Adels, der akkumulative Ver-wertungsprozess des Handelskapitals auch in seinem durch die neuenBereicherungs- und Investitionschancen, die die absolutistische Karriere

der Herrschaft den Marktbetreibern eröffnet, massiv erweiterten Umfangaufrecht erhalten beziehungsweise fortsetzen.

Und dass eben dieser Transfer des Edelmetalls der Neuen Welt in dieHände der es als allgemeines Äquivalent in das Marktsystem einzuspei-sen berufenen Oberschicht der Alten Welt gelingt, dafür sorgen nun zum

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einen die Tatsache, dass kraft der vom Staat übernommenen Regiefüh-

rung, kraft mit anderen Worten des mit dem absolutistischen Souve-ränitätsstreben des Fürsten einhergehenden Anspruchs auf Verfügungüber die Reichtümer der eroberten und kolonialisierten Territorien, derGroßteil des erbeuteten beziehungsweise ausgebeuteten Edelmetalls sichin den Händen des Souveräns wiederfindet und sammelt, und zum an-deren der Umstand, dass der Souverän diesen ihm unverhofft in dieHände beziehungsweise in den Schoß fallenden Schatz vornehmlich zupolitischen Zwecken einsetzt und nämlich dazu nutzt, eben sein Strebennach zentralistischer Alleinherrschaft, nach absolutistischer Souveränitätzu untermauern und voranzutreiben.

Dabei wird das eine, die staatliche Regie über das Edelmetall der NeuenWelt, nicht etwa oder nur unwesentlich dadurch in seinem Wert beein-trächtigt und in seiner Wirkung gemindert, dass es ja erst einmal, demGang der kolonialen Expansion entsprechend, nur einer der den feudalenZusammenhang transzendierenden europäischen Fürsten, der spanische,ist, dem das Edelmetall zufließt und der es zur Beförderung seiner poli-tischen Karriere, sprich, zum Zwecke seiner absolutistischen Etablierungnutzen kann. Erstens nämlich ist dieses eine Fürstenhaus mit anderenauf dem europäischen Kontinent so eng dynastisch verknüpft und ist esin die kontinentaleuropäischen Interessenkonflikte und machtpolitischenAuseinandersetzungen so tief verstrickt, dass es gar nicht verfehlen kann,

seinen unverhofften Reichtum mit den anderen zu teilen und zwecksDurchsetzung seiner territorialen Ansprüche beziehungsweise Erfüllungseiner bundesgenossenschaftlichen Verpflichtungen sich in die oben be-reits erwähnte Rolle eines für den kommerziellen Aufschwung Europasentscheidend wichtigen Geldgebers oder Schatzmeisters zu fügen. Undzweitens sind die westeuropäischen Konkurrenten der spanischen Mon-archie weit entfernt davon, ihr diesen Glückstreffer zu gönnen, und setzenvielmehr alles daran, ihr einen Teil der amerikanischen Beute abzujagen,indem sie die Flotte ihres Landes durch direkte Order oder durch Kaper- briefe ermächtigen, die spanischen Silber- und Goldtransporte auf ihrem

langen Weg zum Mutterland zu überfallen und auszurauben.Ist dergestalt aber zum einen dafür gesorgt, dass das silbern-goldeneFüllhorn der Neuen Welt sich relativ gleichmäßig in die Thesauri dereuropäischen Fürstenhäuser ergießt und alle relevanten Mächte mehroder weniger davon profitieren, so gewährleistet nun zum anderen der

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politische Gebrauch, den die nach absolutistischer Souveränität streben-

den Fürsten von dem unverhofften Segen machen, dass dieser auf breiterFront der adligen Oberschicht, den durch die absolutistische Karriereder Fürsten um ihre territoriale Eigenständigkeit gebrachten und ausVasallen in Hofleute, aus Machthabern in Würdenträger überführtenfeudalen Standesgenossen zuteil wird beziehungsweise zugute kommtund so aber die Oberschicht gleichermaßen in die Lage versetzt und dazuverführt, eine dem gestiegenen Angebot des Marktes gemäß gesteigerteNachfrage zu entwickeln und durch die effektive Wahrnehmung jenerihr vom Marktsystem zugedachten Konsumentenrolle, in der sie man-gels eigenen, als allgemeines Äquivalent einsetzbaren Edelmetalls aus

nichtkommerziellen Quellen zu versagen Miene machte, dem Markt ausseiner drohenden Obstipation herauszuhelfen und die Fortsetzung seinesakkumulativen Wertschöpfungsprozesses zu ermöglichen.

Tatsächlich verwenden die zuerst nach hegemonialer Vormacht unddann nach absolutistischer Souveränität strebenden Fürsten das ihnenaus der kolonialen Sphäre zufließende Edelmetall zu dem gleichen Zweckeiner Förderung ihrer politischen Karriere durch Vertreibung oder Un-terwerfung, Enteignung oder Abfindung ihrer feudalen Standesgenossenund Konkurrenten um die Macht, zu dem sie auch die ihnen von denMarktbetreibern, den Steigbügelhaltern ihres Aufstiegs, gewährten Kredi-

te und Darlehen verwenden: Entweder sie stecken es, wie in den Anfän-gen ihrer Karriere vorwiegend der Fall, in Rüstung und Kriegsführung,um ihre Standesgenossen und Konkurrenten mit Gewalt niederzuringenund gefügig zu machen, oder aber, wie im Fortgang und nach Maßgabedes von ihnen erlangten Übergewichts und errungenen machtpolitischenErfolgs zunehmend die Regel, sie setzen es ein, um ihre Konkurren-ten auszukaufen und die um ihre territoriale Machtstellung und ihrenregionalen Rückhalt Gebrachten an den Hof zu ziehen und dort unterKontrolle zu halten, sie mittels reeller Ämter oder zeremonieller Würdenzu okkupieren und durch Pfründen oder regelmäßige Zuwendungen

friedlich zu stimmen und zur Kollaboration zu bewegen. Sie bindenihre vormals relativ eigenständigen Standesgenossen als Gefolge in ihreHofhaltung ein, lassen sie an dem höfischen Aufwand und Luxus, densie, wie erwähnt, selber treiben, teilhaben und statten sie mit den nötigenMitteln aus, um auch privatim einem dem Leben am Hofe gemäßen

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demonstrativen Konsum zu frönen und sich durch den Gewinn an for-

mellem Status und materiellem Luxus für den Verlust an sozialer Geltungund realer Macht zu entschädigen beziehungsweise das eine durch dasandere zu eskamotieren.

Auf diese Weise avanciert das Edelmetall aus der Neuen Welt, deramerikanische Schatz, zu einem wesentlichen und, was die Dauer undEndgültigkeit des Paradigmenwechsels von der reichsständischen Feu-dalherrschaft zum staatlichen Absolutismus betrifft, sogar entscheiden-den Instrument zur Durchsetzung fürstlichen Souveränitätsanspruchsoder monarchischen Staatsbewusstseins. Nur dank der aus der könig-lichen Schatulle finanzierten Pfründen und Apanagen, Abfindungenund Zuwendungen gelingt es letztlich den neuen Souveränen, sich ihreStandesgenossen als Konkurrenten ein für allemal vom Halse zu schaffenund diese nämlich zu einer nachdrücklichen Änderung ihrer politischenAspirationen und einem grundlegenden Wandel in ihrem Sozialverhal-ten und kulturellen Lebensstil zu bewegen, sie dazu zu bringen, ihretraditionellen Ansprüche auf territoriale Herrschaft und soziale Machtaufzugeben und sich mit der sozialen Geltung und materiellen Verfü-gung, die der Monarch ihnen einräumt oder verschafft, zufrieden zugeben, kurz, sich aus Vasallen in Courtiers, aus Lehnsmännern in Ge-folgsleute, aus adligen Mitbeherrschern des Landes in Mitglieder desköniglichen Hofes zu verwandeln.

Und indem das Edelmetall primär und in specie aus der Neuen Weltund sodann und in genere aus der weltweit wachsenden kolonialen Sphä-re diesem politischen Zweck dient, als Schmiermittel, Abfindungssummeund Kaufpreis die ständischen Konkurrenten des nach absolutistischerSouveränität strebenden Fürsten als solche auszuschalten und in höfischeKonsumenten zu überführen, sie aus selbsttragenden Pfeilern der feuda-len Ordnung in weniger tragende oder konstituierende als schmückendeoder repräsentierende Säulen des zentralen Staats zu verwandeln, erfülltes eben durch diese seine politische Verwendung, seine Austeilung andie Oberschicht, die ökonomische Aufgabe, der durch die absolutistische

Karriere der Herrschaft deren Geldgeberin und Steigbügelhalterin, derkommerziellen Funktion, ermöglichten räumlichen Expansion und sächli-chen Aggregation ihres Marktsystems die nötige Konsumkraft korrespon-dieren zu lassen und also zu gewährleisten, dass das rasant zunehmendeWarensortiment, das wachsende Angebot des Marktes, auch und gerade

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zu dem Teil, der nicht schon in dem zuvor für den Erwerb der Waren

ausgegebenen markteigenen allgemeinen Äquivalent sein wertmäßigesPendant hat, Abnehmer finden kann und dass mit anderen Worten dasdem Akkumulationsprozess der Marktbetreiber entspringende Mehrpro-dukt seine für den Fortgang des Akkumulationsprozesses unabdingbareRealisierung als Mehrwert erfährt.

Uno actu seines politischen Zwecks, die Durchsetzung der dem Markt-system neue Investitionsfelder und Investitionsformen eröffnenden abso-lutistischen Herrschaft zu befördern, erfüllt mithin der koloniale Schatzdie ökonomische Funktion, den Konsumentenkreis des Marktes zu do-tieren und seine Kaufkraft zu stärken und so der dank jener neuen In-

vestitionschancen wachsenden Wertschöpfung des Marktes durch einsteigendes Wertrealisierungsvermögen seiner Kundschaft die Waage zuhalten. Dies also ist der als Koinzidenz oder Fügung wohlverstandeneZufall, mit dem die, rebus sic stantibus, durchaus in der Logik des Markt-systems gelegene koloniale Expansion dem letzteren zu Hilfe kommt undder nichts Geringeres erlaubt als die Lösung des im Marktsystem mitt-lerweile eingetretenen strukturellen Ungleichgewichts, der Diskrepanzzwischen investitionskraftbedingtem Angebot und kaufkraftbedingterNachfrage, und der dadurch dem kommerziellen Akkumulationspro-zess seine dem vergrößerten Marktvolumen und dem beschleunigten

Umschlagstempo trotzende Kontinuität sichert.Nicht, dass die koloniale Sphäre nicht auch ohne diese Fügung, dieseBesonderheit des gleich anfangs in ihr vorgefundenen Reichtums anEdelmetall, geeignet ist, einen Beitrag zur Lösung der im europäischenMarktsystem eingetretenen Probleme beziehungsweise Korrektur derSchieflage, in die es geraten ist, zu leisten. Schließlich bietet die Entde-ckung und Eroberung großer neuer, von Menschen besiedelter Territorienin Übersee die Gelegenheit zu einer Expansion des Marktes, die Mög-lichkeit, neue Handelsbeziehungen zu knüpfen und neue Abnehmer zufinden und mithin der übergroßen Warenmenge auf den Märkten der

die feudale Ordnung sprengenden und sich absolutistisch reorganisie-renden Staaten, die das strukturelle Ungleichgewicht verschuldet, einVentil, einen Abfluss zu schaffen. Indes, normale Handelsbeziehungen bedeuten, dass die Handeltreibenden für die Warenmenge, die sie an-dernorts absetzen, einen um den Mehrwert, den sie nach Maßgabe ihrer

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Akkumulationsstrategie beanspruchen, wertmäßig vergrößerte Waren-

menge einkaufen und auf ihren heimischen Markt zurückbringen, undso kann bei aller kurzfristigen Linderung und Entlastung, die solcherAußenhandel dem heimischen Markt bringt, die bloße, mittels Knüpfungnormaler Handelsbeziehungen vollzogene Erschließung neuer Absatz-möglichkeiten in Übersee dem letzteren keine Lösung seines Wertrealisie-rungsproblems bringen, weil dadurch die in Warenform auf dem Marktzirkulierende Wertmenge am Ende nur immer weiter vergrößert wird.

Das Besondere an der mit den kolonialen Entdeckungen und Erobe-rungen der frühen Neuzeit gegebenen Situation ist nun aber, dass sieunmittelbar und primär nicht zur Knüpfung neuer, normaler Handelsbe-ziehungen führt, dass sie nicht einfach dazu dient, im Austausch gegenheimische Waren fremde Waren für den heimischen Markt zu gewin-nen, sondern dass sie – ob auf dem Weg kommerziellen Austauschsoder auf andere Weise, bleibe für einen Augenblick dahingestellt! – da-zu genutzt wird, als allgemeines Äquivalent brauchbares Edelmetall,den für die Realisierung des in Waren verkörperten Wertes nötigen Ge-gen- oder Geldwert nach Europa zu schaffen und auf dem Wege des be-schriebenen, politisch motivierten, sprich, in den Dienst des Strebens derHerrschaft nach absolutistischer Macht gestellten Verteilungsmechanis-mus in die Hände der adligen Oberschicht und durch deren Konsum insMarktsystem gelangen zu lassen – in ein Marktsystem, das eben wegenseines wachsenden Warenangebots und wegen der knappen finanziel-len Ressourcen seiner etablierten Konsumenten, der traditionell mit derMehrwertrealisierung betrauten adligen Oberschicht, diesen vermehrtenZufluss von Edelmetall aus anderen Quellen dringend benötigt.

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 Anders als in der Antike, wo das Edelmetall auf kommerziellem Weg aus den

westlichen Stammesgebieten des Mittelmeers ins östliche Marktsystem gelangt, gelangt der koloniale Schatz in der beginnenden Neuzeit als herrschaftliche Beuteund durch herrschaftliche Ausbeutung aus der Neuen in die Alte Welt, wo ihndie aus der Oberschicht bestehenden traditionellen Konsumenten ins kommerziel-le System einspeisen. Dadurch wird verhindert, dass es in den Gesellschaften derbeginnenden Neuzeit zu ökonomischen Verwerfungen und politischen Konfliktenkommt. Gelangte der koloniale Schatz nämlich auf kommerziellem Weg ins

 Marktsystem, würde er ausschließlich der Entfaltung des Handels der städti-schen Wirtschaftszentren mit den kolonialen Gebieten zugute kommen und dietraditionellen Konsumenten, die herrschaftlichen Austauschpartner, außen vorlassen und zum ökonomischen Abstieg verurteilen.

Auf den ersten Blick spielt so der Schatz aus den überseeischen Ko-lonien für das europäische Marktsystem die gleiche Rolle, wie es in derAntike das Edelmetall aus den westlichen Gebieten des Mittelmeers fürdas im östlichen Mittelmeerraum entstandene Handelssystem tut. Auchin der Antike ist Ausgangslage für die Expansion nach Westen ein alsÜberangebot an kommerziellen Gütern erscheinendes Ungleichgewichtim östlichen Handelssystem, hervorgerufen durch die dem Austauschzwischen Territorialherrschaften dank seines Akkumulationserfolgs ent-springenden eigenständigen handelsstädtischen Produktionsgemein-

schaften mit den von ihnen ausgebildeten neuartigen Marktstrukturenund der ökonomischen Initiative und Produktivität, die sie im Rahmen jener Marktstrukturen entfalten. Auch in der Antike will es der je nachBlickwinkel als glückliche oder unglückliche Fügung erscheinende Zu-fall, dass sich in den Händen der den westlichen Teil des Mittelmeers besiedelnden Stammesgruppen beziehungsweise auf ihren Gebieten be-deutende Vorräte beziehungsweise Vorkommen an Edelmetall befinden.Und auch in der Antike hilft dieses im Westen reichlich vorgefundeneEdelmetall, das östliche Handelssystem seiner Absatzprobleme zu ent-ledigen, seine drohende Verstopfung durch ein Überangebot an Waren

abzuwenden und so den kommerziellen Akkumulationsprozess in Gangzu halten oder gar auf Touren zu bringen. Hier allerdings endet auchschon die Parallele und macht einer unschwer erkennbaren Divergenz deszur Einschleusung des als allgemeines Äquivalent tauglichen Edelmetallsin das Marktsystem jeweils angewandten Verfahrens Platz.

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Während nämlich in der Antike das westliche Edelmetall im Wesentlichen

durch kommerziellen Austausch erworben wird und so auf direktemWeg in die Hände der Betreiber des östlichen Handelssystems gelangt,wird in der beginnenden Neuzeit das amerikanische Edelmetall ebensowesentlich durch Raub und Ausbeutung beschafft, um auf die beschrie- bene Weise als politisches Instrument in die Hände der als Konsumentenvom Dienst funktionierenden europäischen Oberschicht zu gelangen underst auf diesem Umweg dem Marktsystem und seinen Betreibern zuzu-fließen und sich als ökonomischer Faktor zur Geltung zu bringen. Zwarsind auch in der Antike die zu den westlichen Stammesgemeinschaftenunterhaltenen Austauschbeziehungen keine normalen Beziehungen indem Sinne, dass bei ihnen der volle Zyklus eines Austauschs von mate-riellen Gütern gegen allgemeines Äquivalent und wiederum Eintauschsmaterieller Güter für das allgemeine Äquivalent durchlaufen würde unddie Handeltreibenden also mit einem zweifach mehrwertigen Kontingentan materiellen Gütern auf den heimischen Markt zurückgekehrten, umdiesen doppelt vermehrten Wert dort zu realisieren. Wäre das der Fall,dann hätte dies ja den oben geschilderten kontraproduktiven Effekt, dassder als Entlastung des Markts von einem Überangebot an Waren gedachtekoloniale Absatz letztlich nur zu einer weiteren Belastung des Markts mitnoch mehr Waren führte.

Dank der besonderen Situation der Stammesgemeinschaften im west-

lichen Mittelmeerraum, bei denen sich reichlich Edelmetall, sprich, hoheKaufkraft, mit ökonomischer Rückständigkeit, sprich, geringer Produk-tivkraft paart, können vielmehr hier die kommerziellen Beziehungen jene anomale Form, jene im Austausch von materialen Gütern gegenallgemeines Äquivalent sich erschöpfende Einseitigkeit annehmen, die inder Tat das westliche Mittelmeer zu einem reinen Absatzmarkt werdenlässt, dessen Beitrag zum östlichen Handelssystem sich auf die Lieferungvon als allgemeines Äquivalent brauchbarem Edelmetall beschränkt.Eben dies, dass sie als quasi bloße Konsumenten am kommerziellen Aus-tausch teilnehmen und ihre Rolle sich darauf reduziert, den Wert von

im östlichen Handelssystem produzierten Waren zu realisieren, sprich,in die Form von allgemeinem Äquivalent zu überführen und so für diekommerzielle Selbstverwertung, für seine Investition in weitere Wert-verkörperungen oder Waren tauglich zu machen – eben dies macht diewestlichen Stammespopulationen so nützlich für das antike, zwischen

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Handelsstädten und Territorialherrschaften etablierte Handelssystem

und lässt sie zu Garanten seines Wachsens und Gedeihens, will heißen,seines Bestehens und Funktionierens werden.Aber so wenig normal die Handelsbeziehungen des antiken östlichen

Handelssystems zu den westlichen Gebieten auch sein mögen, sie bleibendoch jedenfalls Handelsbeziehungen, und die Frucht, die sie vornehmlichabwerfen, das als allgemeines Äquivalent brauchbare Edelmetall, er-reicht deshalb das östliche Handelssystem auf direktem Weg, will heißen,durch die Hände der Handeltreibenden selbst. Ganz anders im Europader beginnenden Neuzeit. Hier sind es, wenn auch mit Sicherheit durchdas zur Expansion drängende Marktsystem angeregt, zuerst Abenteurerund Glücksritter, die die Beziehungen zur neuen Welt knüpfen und mitgeraubten Schätzen von dort zurückkehren. Und es sind, eben weil diesefrühen Konquistadoren mit Schätzen, mit traditionellem Herrengut zu-rückkehren, das sie auf traditionell herrschaftliche Weise, durch Raub, ansich gebracht haben, sodann die Herren sans phrase, die sich als absolutis-tische Monarchen etablierenden Fürsten, die sich direkt, durch staatlicheRegie, oder indirekt, durch königliche Patente, in den Besitz jener Schätze bringen, um sie in den Dienst ihrer politischen Karriere zu stellen undsie anfangs dazu zu verwenden, ihre Standesgenossen mit kriegerischenMitteln niederzuringen, und, nachdem dies halbwegs gelungen ist, siedazu zu nutzen, jene Standesgenossen und ehemaligen Konkurrenten

durch Apanagen, Zuwendungen und Pfründen zu befrieden und alsköniglichen Hof an sich zu binden.

Es ist also nicht die Appropriation durch friedlichen Austausch, son-dern die Expropriation durch nichtkommerzielle Gewalt, was das Edel-metall aus der Neuen Welt in das Marktsystem der Alten Welt schafft,und dementsprechend gelangt es dorthin auch nicht durch die Händeder Marktbetreiber, sondern wird auf dem Umweg über die europäischeOberschicht, die herrschaftlichen Konsumenten, in das Marktsystem ein-gespeist. Dieser Unterschied in der Aneignungsform drückt sich übrigensauch klar und deutlich in der Vorgehensweise, im Aneignungsprozess

selbst aus, denn während in der Antike die nach Westen gerichtete Kolo-nisierungsbewegung sich darauf beschränkt, punktuelle Handelsnieder-lassungen an den Küsten zu errichten, um von dort aus die kommerzi-ellen Geschäfte mit den an ihnen interessierten Stammesbevölkerungenabzuwickeln, ist der Kolonialismus der Neuzeit, weil er auf gewaltsame

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Ausbeutung abzielt, genötigt, von der ganzen auszubeutenden Sphäre

Besitz zu ergreifen und die dort siedelnden Bevölkerungen zu unter-werfen, um sie, die an dem Vorhaben der Eindringlinge ja partout keinInteresse haben, gefügig zu machen.

Für diese Differenz in der Form der im einen und im anderen Fall vomMarktsystem angestoßenen kolonialen Expansion und in der Art undWeise, wie sich der durchaus vergleichbare Zufall der im einen und imanderen Fall angetroffenen großen Edelmetallmengen auf das Markt-system auswirkt und in ihm zur Geltung bringt, ließen sich diverse em-pirische Gründe anführen, wie etwa die Tatsache, dass der Atlantik imVergleich mit dem Mittelmeer eine weit größere Barriere darstellt, die mit

all ihren geographischen Fährnissen und mythologischen Schrecken zuüberwinden und überhaupt in Angriff zu nehmen, es mehr als bloße kauf-männische Gewinnsucht, eben schatzsucherische Abenteuerlust braucht,oder der Umstand, dass die Stammesbevölkerungen des westlichen Mit-telmeers bei aller Rückständigkeit, die sie gegenüber der Zivilisation imöstlichen Mittelmeer aufweisen mögen, doch in einer kommerziell ohneweiteres zu überbrückenden kulturellen Kontinuität mit ihr stehen, inein und derselben Welt mit ihr leben, wohingegen, wie die Rede vonder Neuen und der Alten Welt signalisiert, die auf dem amerikanischenKontinent heimischen Bevölkerungen durch eine veritable historische

Ungleichzeitigkeit, einen zivilisatorischen Hiatus von den europäischenEindringlingen getrennt sind und deshalb für eine unmittelbare Aufnah-me kommerziell geregelter Austauschbeziehungen die nötigen materialenund sozialen Voraussetzungen fehlen.

Welch plausible oder zweifelhafte empirische Gründe für den Unter-schied in der Form der Expansion und im Modus der Akquisition desEdelmetalls aber auch immer ins Feld zu führen sein mögen – syste-matisch oder aus Sicht der die Expansion anstoßenden Marktsysteme betrachtet, sind grundlegend für den Unterschied die Probleme, die denletzteren zu schaffen machen, und die Problemlösungen, die durch die

unterschiedliche Expansionsform und Akquisitionsweise jeweils ermög-licht beziehungsweise befördert werden. Zwar ist es abstrakt es das obenqua Überangebot an Marktgütern angegebene identische Problem, das bewältigt werden muss, reell aber verbergen sich hinter dieser abstraktenIdentität ganz verschiedene Konstellationen.

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In der Antike entsteht das Überangebot an Waren aus der wachsenden

Produktivkraft der handelsstädtischen Gemeinschaften und daraus, dassdiese Produktivität die kommerziellen Austauschpartner der Handels-städte, die umliegenden Territorialherrschaften überfordert. Und zwardeshalb überfordert, weil diese territorialherrschaftlichen Austauschpart-ner ja nicht nur Konsumenten, sondern ebenso sehr Produzenten sind,weil sie dank ihrer in den handwerklichen Bereichen nicht weniger als auf landwirtschaftlichem Gebiet fronenden Untertanen über weitgehend aut-arke Volkswirtschaften verfügen und weil das im Hinblick auf den han-delsstädtischen Markt und dessen vornehmlich handwerkliche Produkteihren Bedarf und ihre Aufnahmekapazität grundlegend einschränkt. Indieser Situation brauchen die handelsstädtischen Marktbetreiber einenAbsatzmarkt für ihr produktivitätsbedingtes Überangebot an Waren, undden finden sie bei den westlichen Stammesgemeinschaften, die dank desZugleich von ökonomischer Rückständigkeit und Reichtum an Edelme-tall der Stellenanforderung perfekt entsprechen und nämlich als Käuferoder Konsumenten voll zur Verfügung stehen, während sie als Liefe-ranten oder Produzenten kaum ins Gewicht fallen. Indem sich diesekonsumtiven Nothelfer damit begnügen, dem östlichen Handelssystemsein Zuviel an handelsstädtischen Waren abzunehmen und diese in dieForm von allgemeinem Äquivalent zu überführen, sprich, in ihrem Wertzu realisieren, schützen sie das Handelssystem vor der ihm drohenden

Verstopfung und stellen den Fortgang des systematischen Akkumulati-onsprozesses sicher, kurz, sorgen dafür, dass das östliche Handelssystem,um ein Outlet, einen ebenso unmittelbaren wie reinen Absatzmarkt er-weitert und ergänzt, in der gewohnten Weise weiter funktioniert.

Und das heißt, auch weiter floriert, weiter wächst und gedeiht! Schließ-lich bedeutet die ökonomische Rückständigkeit in den westlichen Re-gionen des Mittelmeeres ja, dass die dortigen Populationen Bedarf aneiner breiten Palette von Allerweltsgütern nicht nur handwerklicher Art,sondern auch agrarischer Provenienz haben. Die Marktbetreiber der Han-delsstädte können dort also nicht nur die Produktionsüberschüsse ihrer

heimischen Märkte losschlagen, sondern sie finden auch einen Absatz-markt für die landwirtschaftlichen Produkte ihrer traditionellen Han-delspartner, der als zugleich Konsumenten und Produzenten firmieren-den Territorialherrschaften. Den realisierten, in die Form allgemeinenÄquivalents überführten Wert ihrer Waren, den sie aus den westlichen

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Regionen zurückbringen, können sie erneut gewinnbringend einsetzen,

indem sie ihn nicht nur in die Produktion neuer, im Westen absetzbarerÜberschüsse der städtischen Produktionsgemeinschaften investieren,sondern ihn mehr noch nutzen, um als Zwischenhändler agrarische Pro-duktionsüberschüsse ihrer territorialherrschaftlichen Handelspartner inden Westen zu vertreiben.

Auf diese Weise wirkt sich die einseitig konsumtive Mitwirkung dernichtterritorialherrschaftlichen Populationen im westlichen Mittelmeerdurchaus auch belebend auf das traditionelle Handelssystem im östli-chen Mittelmeer aus, wobei der belebende Effekt natürlich noch dadurchgesteigert wird, dass auch das in die Hände der städtischen Produkti-onsgemeinschaften fließende Mehr an allgemeinem Äquivalent zu einergesteigerten Nachfrage nach Agrarprodukten der territorialherrschaft-lichen Nachbarn führt und also indirekt den Handelsbeziehungen zuletzteren zugute kommt.

Und zu allem Überfluss veranlasst die auf direktem und indirektemWeg gesteigerte Nachfrage nach agrarischen Produkten die Territorial-herrschaften zu einer Verlagerung ihrer exportorientierten ökonomischenAktivitäten vom – zumindest was die Massenproduktion betrifft – ohne-hin kaum konkurrenzfähigen handwerklichen auf den Gewinn verhei-ßenden landwirtschaftlichen Bereich und sorgt so für eine zunehmendeArbeitsteilung zwischen handwerklich zentrierter handelsstädtischer

und landwirtschaftlich fundierter territorialherrschaftlicher Produkti-on, was wiederum zu neuen handelsstädtischen Absatzchancen in denterritorialherrschaftlichen Gebieten und zu einer Verstärkung des han-delssysteminternen Austausches führt.

Kurz, dass das Edelmetall der als quasi reine Konsumenten dem öst-lichen Handelssystem integrierten oder vielmehr angeschlossenen west-lichen Stammespopulationen in die Hände der Handeltreibenden unddurch sie hindurch in das Handelssystem gelangt, hat hier den gewünsch-ten Effekt und impliziert nämlich nicht nur eine Entlastung des Marktesvon dem Überangebot an Waren, das ihn zu lähmen droht, bedeutet also

nicht nur eine Stabilisierung des Marktes, sondern wirkt sich mehr nochim Sinne seiner Belebung aus, weil dank des Anschlusses jener kolonialenSphäre ans System die territorialherrschaftlichen Austauschpartner in ih-rer Eigenschaft als Produzenten den handelsstädtischen Marktbetreibernweitere beziehungsweise neue Investitionschancen bieten, sprich, die

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Möglichkeit eröffnen, mit dem Edelmetall den systeminternen kommerzi-

ellen Austausch anzukurbeln.Ganz anders die Situation in der beginnenden europäischen Neuzeit!Das Marktsystem, wie es sich ausbildet und im Laufe des Mittelaltersentfaltet, ist ja, wie gezeigt, wesentlich eines zwischen handwerklich-städtischen Produktionsgemeinschaften und auf den Austausch zwischenihnen beschränkt; es integriert sich die Territorialherren ausschließlichals Konsumenten. Als Produzenten fallen die letzteren für das Systempraktisch nicht ins Gewicht. Als quasi dem System eingeborene, ihmals konstitutives Element innewohnende reine Konsumenten spielensie dank ihres als Herrengut gehorteten Edelmetalls, ihres allgemeinen

Äquivalents aus marktexternen Quellen, die Rolle von Abnehmern deskommerziellen Mehrprodukts und Realisierern des darin steckendenMehrwerts und übernehmen so von Anfang an die Funktion, die imganz anders gearteten – und nämlich aus Handelsstädten, in denen sichmarktwirtschaftliche Produktionsgemeinschaften und fronwirtschaftlicheTerritorialherren ein Stelldichein geben, und aus Territorialherrschaften,die zugleich Konsumenten und Produzenten sind, konfigurierten – Han-delssystem der Antike die erst sekundär, aus Anlass des produktivitätsbe-dingten Überangebots handelsstädtischer Waren und also gewissermaßenals Hilfsfunktion vom System rekrutierten Stammespopulationen der

Kolonialsphäre des westlichen Mittelmeers erfüllen.Zu diesem produktivitätsbedingten Überangebot an Waren und der da-durch drohenden Verstopfung und Lähmung des Marktes kommt es zwarauch hier, im Marktsystem des ausgehenden Mittelalters und der begin-nenden Neuzeit, aber gemäß der verschiedenartigen Zusammensetzungder beiden Systeme lassen sich die Ursachen für das als Überangeboterscheinende Missverhältnis oder Ungleichgewicht zwischen kommer-ziellem Angebot und konsumtiver Nachfrage klärlich unterscheiden. Imspätmittelalterlichen europäischen Marktsystem sind Ursache für dasMissverhältnis der Schub, den die auf Basis kommerzieller Machtzentren

sich vollziehende absolutistische Umwälzung des feudalen Herrschafts-gefüges der kommerziell vermittelten Güterproduktion verleiht, und dasin der Beschränktheit der herrschaftlichen Thesauri begründete Unver-mögen der als Konsumenten vom Dienst firmierenden Oberschicht, demwachsenden Warenstrom pekuniär gerecht zu werden; weil es sich dabei

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um eine bloß den Austauschprozess selbst betreffende, den marktsyste-

matischen Funktionsmechanismus als solchen tangierende Dysfunktionhandelt, wurde oben von einem strukturellen Ungleichgewicht gespro-chen.

Im antiken mittelmeerischen Handelssystem hingegen sind Ursache fürdas Missverhältnis die wachsende handelsstädtische Produktivität undder in der relativen Autarkie der territorialherrschaftlichen Austausch-partner, in ihrer Stellung als zugleich Konsumenten und Produzenten begründete mangelnde Bedarf der letzteren, ihre fehlende Bereitschaft,den Marktbetreibern der Handelsstädte den wachsenden Warenstromabzunehmen; weil das Problem demnach die dem Austauschvorgangzugrunde liegende, dem Marktsystem vorausgesetzte Bedürfnislage, diemateriale Nachfrage der im kommerziellen Austausch Involvierten be-trifft, lässt sich hier von einem substanziellen Ungleichgewicht reden. Be-seitigt wird dies substanzielle Ungleichgewicht durch eine Verbesserungder Bedürfnislage, dadurch mit anderen Worten, dass die Handeltreiben-den die Nachfrage erhöhen, indem sie Konsumenten ins System einbe-ziehen, die Konsumenten in dem exklusiven Sinne sind, dass sie überallgemeines Äquivalent verfügen, ohne den Markt mit eigenen Produktenzu befrachten, und die sich mit ihrem Zugleich von äquivalentgestützterNachfrage und fehlendem materialem Angebot im kommerziellen Sys-tem so nachdrücklich zur Geltung bringen, dass dieses in toto, das heißt,

unter Einschluss aller traditionell an ihm Beteiligten, nicht nur stabilisiert,sondern mehr noch reanimiert, nicht nur wieder ins Lot, sondern sogarneu in Schwung gebracht wird.

Einmal angenommen, dieses antike Rezept einer Beseitigung des ma-terialen Überangebots durch eine Erweiterung des Konsumentenkreisesund dadurch erwirkte Steigerung nur und ausschließlich der pekuniär ge-stützten Nachfrage käme auch im Falle der kolonialen Expansion zu An-fang der Neuzeit zur Anwendung! Angenommen mithin, die oben gegeneine Anwendbarkeit des gleichen Rezepts geltend gemachten Faktoren,wie etwa die große räumliche Entfernung, die einer rein kommerziellen

Expansion entgegensteht, oder die zivilisatorische Diskrepanz zwischenKolonisatoren und Kolonisierten, die einer umstandslosen Aufnahmekommerzieller Austauschbeziehungen welcher Art auch immer zuwi-derläuft, wären nicht vorhanden oder fielen jedenfalls nicht ins Gewicht!Wie sähe das Ergebnis in diesem Falle aus? Die Agenten der Expansion,

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die Handeltreibenden, schlügen in den neu entdeckten Gebieten ihre Wa-

renkontingente los, kehrten mit dem erlösten mehrwertigen allgemeinenÄquivalent, dem Edelmetall, auf ihre heimischen Märkte zurück, umletzteres dort in neue, von den städtischen Produktionsgemeinschaftengelieferte Waren zu investieren und mit diesen zwecks Realisierung desin ihnen steckenden Werts und Mehrwerts zu einer neuen Handelsfahrtin die koloniale Sphäre aufzubrechen. Alles liefe bestens für sie, die Han-deltreibenden: Solange in der kolonialen Sphäre Bedarf an den von ihnenvertriebenen Gütern bestünde, kämen sie auf ihre akkumulationsprozes-sualen Kosten und blieben mit den europäischen Handelsstädten im für beide Seiten, vor allem aber für sie selbst lukrativen Geschäft.

Die aus der territorialherrschaftlichen Oberschicht bestehenden tra-ditionellen Konsumenten und Mehrwertrealisierer des Marktsystemsfreilich hätten das Nachsehen; sie blieben bei dem durch den Handel mitder kolonialen Sphäre ermöglichten Wirtschaftswachstum, der durch daskoloniale Edelmetall bewirkten Belebung des Marktes, außen vor. Da sienur nach Maßgabe ihres Thesaurus vom Markt zehrende Konsumenten,keine kraft eigener fronwirtschaftlicher Produktion zum Markt beitra-gende Lieferanten wären, könnten sie von den in Übersee aufgetanenneuen Absatzchancen, anders als die Territorialherrschaften der Antike,nicht profitieren: Weder könnten sie dort eigene marktgängige Güter in

den Austausch bringen lassen und so an dem in den Markt einfließendenallgemeinen Äquivalent aus kolonialen Quellen direkt partizipieren, nochkönnten sie wenigstens indirekt durch verstärkte Lieferungen an dievom Handel mit der kolonialen Sphäre profitierenden städtischen Pro-duktionsgemeinschaften an deren Gewinnen teilhaben. Bestenfalls, willheißen, wenn ihre marktunabhängigen Edelmetallreserven beziehungs-weise Bezugsquellen für Edelmetall es erlaubten, wäre ihnen gegeben,ihre gewohnte Position gegenüber dem Markt zu behaupten, ihr gehabtesKonsumniveau zu halten.

Selbst wenn ihnen das aber gelänge, erwiese sich angesichts des dank

Kolonialhandels wachsenden Reichtums in kommerzieller Hand undzunehmenden Wohlstands in den städtischen Produktionsgemeinschaf-ten diese bloße Bewahrung ihres konsumtiven Status quo doch allemalals ein ökonomischer Abstieg und dementsprechender Verlust an so-zialem Prestige, ganz zu schweigen vom materialen Komfort. Während

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ihre städtischen Untertanen, die Marktbetreiber und die dem Markt zu-

arbeitenden Gewerke, ökonomisch florierten, dümpelten sie vor sichhin beziehungsweise fänden sich allmählich von der gesellschaftlichenEntwicklung überholt und abgehängt und hätten immer größere Schwie-rigkeiten, einen ihrem Stand entsprechenden repräsentativen Konsum zutreiben, einen den zivilisatorischen Errungenschaften gemäßen Lebensstilzu finanzieren. Um mit dem zivilisatorischen Fortschritt einigermaßenmithalten und halbwegs standesgemäß auftreten zu können, müssten siesich immer weiter bei den Betreibern des an ihnen vorbei florierendenMarktes verschulden und gerieten in immer größere Abhängigkeit von jenen, die als Geldadel, als ökonomisch entscheidende Machthaber, ihrepolitische Herrschaft, ihre Fürstenmacht, unaufhaltsam untergrüben undsie zu bloßen Galionsfiguren oder Pappkameraden degradierten, hinterdenen sich die tatsächlichen gesellschaftlichen Machtverhältnisse bequemkaschieren ließen.

Eben aber, weil sie ja die politisch Herrschenden sind, könnten sieeine solche Entwicklung unmöglich akzeptieren. Sie würden deshalbmit Sicherheit ihre politische Macht einsetzen, um sich einen größerenAnteil am kommerziellen Reichtum und am Wohlstand der städtischenProduktionsgemeinschaften zu sichern, würden sich entweder mittelsmilitärischer Gewalt oder bürokratischem Zwang, mittels Kontributionenoder Steuern, schadlos und bei Kasse zu halten suchen. Kämen sie damit

durch, würden sie dem Markt Kapital entziehen, würden seine Dyna-mik bremsen, würden das kommerziell organisierte Wirtschaftslebenihrer Gesellschaften demotivieren und lähmen und schlimmstenfallszum Erliegen bringen. Stießen sie hingegen auf Gegenwehr und würdendie durch ihren wirtschaftlichen Erfolg und ihre wie immer auch ver-deckte politische Kollaboration mit der fürstlichen Territorialherrschaftselbstbewusst gewordenen Marktbetreiber im Verein mit den dem Marktzuarbeitenden städtischen Gemeinschaften Widerstand leisten und dieihnen abverlangten zusätzlichen Zuwendungen an die Herrschaft ver-weigern, es käme zu politischen Konflikten und sozialen Unruhen, aus

denen die Fürsten zwar dank ihres Gewaltmonopols vielleicht noch alsSieger hervorgingen, die aber allemal dazu angetan wären, das Marktsys-tem aus den Fugen geraten zu lassen, den ihm geschuldeten Wohlstandaufzuzehren und die mittlerweile auf es angewiesenen Gesellschaften inden Ruin zu treiben.

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So oder so erwiese sich unter den im nachimperialen Europa gegebenen

Bedingungen eine dem antiken Vorbild folgende Sanierung des Marktesdurch die kommerzielle Erschließung einer kolonialen Sphäre und dieAufnahme atypischer, weil erst einmal auf den Austausch europäischerWaren und kolonialen Edelmetalls beschränkter Handelsbeziehungen,dadurch mit anderen Worten, dass die Handeltreibenden den auf demeuropäischen Markt bestehenden Überfluss an Waren in der kolonialenSphäre absetzten und ausschließlich allgemeines Äquivalent von dort auf den Markt zurückbrächten – so oder so erwiese sich dieses antike Sanie-rungsrezept, wie ökonomisch profitabel es für die Handeltreibenden unddie ihnen zuarbeitenden Produzentengruppen auch immer wäre, als poli-

tisch fatal. Weil es in nichts weiter resultierte als in einer fortschreitendenVerlagerung der Absatzmöglichkeiten nach draußen, einer zunehmendenExzentrik der Konsumentenfunktion, sprich, Ersetzung der traditionel-len, territorialherrschaftlichen Konsumenten durch marktferne, kolonialeHandelspartner, und auf die Beziehung zu ersteren keinerlei positiveoder belebende Rückwirkung hätte, diese vielmehr außen vor oder, bes-ser gesagt, drinnen zurück und als nach Maßgabe ihrer relativ immergeringeren Finanzmittel mitversorgte Randgruppe im kommerziellenSpektrum immer mehr an ökonomischer Bedeutung verlieren und insHintertreffen geraten ließe, sorgte es nolens volens für hinlänglich po-litischen Konfliktstoff, um so oder so, durch Raub und Repression vonoben oder Widerstand und Aufruhr von unten, das ganze Marktsystemdurcheinanderzubringen und ins Unglück zu stürzen.

Dass der als allgemeines Äquivalent brauchbare koloniale Schatz direkt in Kon-sumentenhand und zwar in die Hände der traditionellen Konsumenten des

 Marktsystems gelangt, zwingt dessen Betreiber zu einer Änderung ihrer Absatz-strategie. Statt wie in der Antike nach neuen Kunden für alte Bedürfnisse suchenzu können, müssen sie jetzt neue Bedürfnisse für die alten Kunden auftun. Beidiesem Wechsel von einer extensiven zu einer intensiven Absatzstrategie fällt der

Kolonialsphäre und ihren exotischen Produkten eine wichtige Rolle zu.

Tatsächlich aber macht ja die neuzeitliche koloniale Expansion auchkeinen Gebrauch von jenem antiken Sanierungsrezept. Tatsächlich sindes ja, wie gesagt, wegen der abenteuerlich großen Entfernung und der

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nicht minder großen zivilisatorischen Diskrepanz, die die kolonialen Ge-

sellschaften vom europäischen Marktsystem trennen, oder aus welchenweiteren Gründen auch immer nicht die Handeltreibenden, die den Kon-takt herstellen und mit den Transaktionen beginnen, sondern Seefahrerund Kriegsleute, Glücksritter und Eroberer. Und tatsächlich gelangt auf diese Weise, was die koloniale Sphäre unmittelbar und vordringlich demeuropäischen Marktsystem zu bieten hat, das als allgemeines Äquivalent brauchbare Edelmetall, nicht durch die Hände der Handeltreibenden auf die europäischen Märkte, sondern auf dem Umweg über die den nacktenRaub und die gewaltsame Ausbeutung in den Kolonien rasch zu ihrerSache machende oder jedenfalls ihrer Regie unterwerfende politischeHerrschaft, die Fürstenmacht, und über die Oberschicht, unter der, umsie für ihre politische Entmachtung zu entschädigen und an den Hof zu binden, die Fürstenmacht das Geraubte austeilt.

Eben dieser andere, nichtkommerzielle Weg, dieser Umweg, auf demdas koloniale Edelmetall auf die europäischen Märkte gelangt, erweistsich nun aber unter den geschilderten, durch das Marktsystem des nach-imperialen Europa gegebenen Bedingungen als wenn auch vielleichtnicht ein Segen (das Wort möchte an dieser Stelle grundsätzlich deplat-ziert erscheinen), so jedenfalls doch ein die glückliche Fügung des in derkolonialen Sphäre unmittelbar vorfindlichen Edelmetalls erst komplettmachender Glückstreffer. Auf diese Weise nämlich steht zwar die kolo-

niale Sphäre nicht primär und vordringlich als Absatzmarkt für die auf den europäischen Märkten zirkulierenden überschüssigen Warenmengenzur Verfügung, wohl indes dient sie dazu, die Kaufkraft im europäischenMarktsystem selbst zu stärken und so die überschüssigen Warenmengeneben dort ihren Absatz finden zu lassen.

Statt durch Ausdehnung des Konsumentenkreises und durch Auslage-rung des Absatzes sich und ihren kommerziellen Austausch sanieren zumüssen, sehen sich die Marktbetreiber einer systeminternen Steigerungder Nachfrage konfrontiert und können im Rahmen des vorhandenenAbsatzmarktes ihre Waren los werden und einen unverändert profitablen

Austausch pflegen. Und damit bleibt das europäische Marktsystem alssolches im Lot: Statt es durch eine Hinausverlagerung des Absatzes,eine Erweiterung der Konsumsphäre zwar ökonomisch im Gange undfunktionstüchtig zu erhalten, diese Gewichtsverlagerung von den sys-teminternen auf systemexterne Konsumenten aber, weil die ersteren ja

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die politisch Herrschenden und dem Marktsystem wesentlich nur durch

ihre Konsumentenrolle verbunden und verpflichtet sind, mit gesellschaft-lichen Konflikten und politischen Repressalien zu bezahlen, sind dieMarktbetreiber dank jenes nichtkommerziellen Umwegs in der Lage, das bestehende Gleichgewicht zwischen Produzenten, Konsumenten undihnen selbst zu wahren und alle Beteiligten nicht nur am Fortbestand,sondern mehr noch am Wachsen und Gedeihen des Systems ihr Interessefinden zu lassen.

Freilich impliziert diese nicht mit kommerziellen Mitteln erreichte,sondern mit herrschaftlicher Gewalt durchgesetzte Sanierung des Markt-systems, diese – mit anderen Worten – nicht durch die Handeltreiben-den, sondern über die Konsumenten erfolgte Dotierung des Marktes

mit dem angesichts des Überangebots an Waren fehlenden allgemei-nen Äquivalent in Gestalt kolonialen Edelmetalls eine, verglichen mitdem antiken Vorbild, völlige Neuorientierung in der Art und Weise derkommerziellen Entwicklung, sprich, einen veritablen Paradigmenwech-sel im Entfaltungsmodus des Marktes. Während dort, in der Antike,das Übersättigungsproblem des Marktes extensiv, durch Erweiterungdes Konsumentenkreises, gelöst wird, findet es hier, in der beginnendenNeuzeit, eine intensive, in der Erhöhung der Konsumkraft bestehendeLösung.

Dort werden durch die Handeltreibenden neue Konsumenten rekru-

tiert, die durch ihre spezielle, in ihrem eigenen Beitrag zum Markt auf die Lieferung von allgemeinem Äquivalent beschränkte Partizipationdas bestehende Marktsystem wieder in Schwung bringen, indem sienicht nur das vorhandene Absatzproblem aus der Welt schaffen, sonderndamit außerdem für eine Neubelebung der stagnierenden Handelsbezie-hungen zu den alten, zugleich als Produzenten am Markt teilhabendenKonsumenten, den territorialherrschaftlichen Austauschpartnern, sor-gen. Hier hingegen werden die alten, von Anfang an ausschließlich inihrer konsumtiven Funktion am Marktsystem beteiligten Konsumenten,die vormals feudale und jetzt höfische Oberschicht, durch die Abfin-dungen und Zuwendungen der absolutistischen Herrschaft in die Lage

versetzt, sich in verstärktem Maße als Konsumenten einzubringen und zu betätigen.

Dieses verstärkte konsumtive Engagement indes setzt zwingend vor-aus, dass es gelingt, die dem Konsum zugrunde liegende Naturbedin-gung, die menschliche Bedürfnisstruktur, zu verändern und ebenso wohl

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qualitativ wie quantitativ zu entfalten. Weil es im Wesentlichen der alte

Konsumentenkreis, die an Zahl und Umfang weitgehend unveränderteherrschaftliche Oberschicht ist, die das Überangebot an Waren in seinemWert realisieren soll und dank des vornehmlich ihr in die Hände fallendenEdelmetalls aus der kolonialen Sphäre, rein technisch oder systematischgesehen, ja auch kann, ist es, damit die technische oder systematischeMöglichkeit praktische oder empirische Wirklichkeit wird, unbedingterforderlich, dass die Oberschicht ihre Konsumgewohnheiten umfas-send verändert und nämlich ebenso sehr quantitativ ihren konsumtivenAppetit verstärkt wie qualitativ die Palette ihrer Bedürfnisse erweitert.

Das antike Handelssystem, das das Absatzproblem durch eine Erwei-terung des Kundenkreises und also extensiv löst, braucht diese Umge-staltung und Entfaltung der als natürliche Voraussetzung oder faktischeGrundlage allen kommerziellen Austauschs firmierenden Bedürfnisstruk-tur nicht oder nur in geringem Maße; seine Wachstumsansprüche durchgeographische beziehungsweise demographische Ausdehnung befriedi-gend, kann das System die gegebene Bedürfnisstruktur im Großen undGanzen unangetastet lassen und unverändert nutzen. Dem Marktsystemder Neuzeit hingegen, dem diese Möglichkeit einer simplen geographi-schen oder demographischen Ausdehnung, für den Anfang jedenfalls,verschlossen bleibt und das sich unmittelbar, statt auf neue, kaufkräftigeKonsumenten zugreifen zu können, mit den alten Kunden abfinden muss,

die freilich über neue Kaufkraft verfügen, bleibt gar nichts anderes übrig,als sich für die andere, intensive Lösung des Problems zu entscheiden undnämlich den Weg einer Verstärkung und Vermehrung der zum Konsumantreibenden Bedürfnisse einzuschlagen.

Nicht, dass dieser in seinem intensiven Charakter zum weitgehendextensiven Procedere der Antike alternative Weg etwas völlig Unerhörtes,noch nie Dagewesenes wäre! Nicht, dass nicht auch der antike Kom-merz sich diesen Intensivierungsmodus des Konsums zunutze mach-te und reichlich Nutzen aus ihm zöge! Schließlich ist, wenn hier voneiner gegebenen Bedürfnisstruktur als der natürlichen Voraussetzung

oder faktischen Grundlage des kommerziellen Austauschs gesprochenwird, damit nicht etwa gemeint, dass es sich bei ihr um etwas durchdie menschliche Geschichte hindurch fix und fertig Gegebenes, eine biszum Anbruch der Neuzeit unveränderliche anthropologische Konstantehandelt. Seit Anbeginn der Geschichte ist vielmehr die Bedürfnisstruktur

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der Menschen, korrespondierend zur wachsenden Produktivität und Di-

versität ihres kooperativ-arbeitsteilig organisierten Stoffwechsels mit derNatur, in ständiger quantitativer Fluktuation und qualitativer Entfaltung begriffen. Der menschliche Appetit kommt mit dem Essen oder, bessergesagt, die Begehrlichkeit wächst mit den Reizen der durch menschlicheProduktivkraft vermehrten und durch menschlichen Erfindungsreich-tum vervielfältigten Befriedigungsmittel. So sehr die Bedürfnisse in ab-stracto von Natur gegeben und in der Biologie verankert sind, so sehrweisen sie doch eine schier unendliche Flexibilität und Variabilität auf und sind in concreto wesentlich abhängig vom historischen Stand derfortschreitenden Naturbeherrschung durch Arbeit und von den fakti-

schen Bedingungen der gleichermaßen als Resultat und als Prinzip derArbeit, als finale Zweckbestimmung und initialer Bestimmungsrahmender Naturbeherrschung firmierenden Kultur der jeweiligen Gesellschaft.

Und diese, paradox ausgedrückt, natürliche Kultürlichkeit der mensch-lichen Bedürfnisse macht sich nun auch die auf den Plan der frühenGesellschaften tretende kommerzielle Funktion durchaus zunutze und befördert sie zugleich, indem sie sie nutzt. So gewiss sie in dem für siekonstitutiven Akkumulations- und Expansionsinteresse stets bestrebt ist,ihre Austauschaktivitäten auf neue Personengruppen und Siedlungsge- biete auszudehnen, sprich, den Kunden- oder Abnehmerkreis für die

Güter, die sie habituell austauscht oder vermarktet, zu erweitern, so ge-wiss nimmt sie aber auch im gleichen Interesse von Anfang an und schonin ihren frühesten Erscheinungsformen jede Gelegenheit wahr, den bereitsvorhandenen Kundenkreis mit neuen Produkten zu beliefern, die sich alsgeeignet erweisen, modifiziert alte oder überhaupt neue Bedürfnisse beiden Kunden zu wecken und zu befriedigen.

Als konsumtive Sachwalter, als antizipatorische Prokuristen der Be-dürfnisse ihrer Abnehmer fungierend, stehen die Handeltreibenden be-ziehungsweise Marktbetreiber allzeit bereit, in der Palette der ebensosehr im Zuge der Entwicklung menschlichen Ingeniums und menschli-

cher Arbeitskraft wie in der Konsequenz der geographischen Entfaltungkommerzieller Tätigkeit allmählich zunehmenden Menge und Vielfalt anProdukten Absatz- oder Marktchancen zu entdecken, will heißen, dieseProdukte mit einem aktuellen oder potenziellen, vorhandenen oder zuweckenden Bedarf auf Seiten der Abnehmer zu assoziieren. Von dem der

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kommerziellen Funktion eingeschriebenen Akkumulations- und Expansi-

onsinteresse angetrieben, machen sich die Handeltreibenden beziehungs-weise Marktbetreiber die natürlichen, sprich, kultürlichen Innovationenund Fortschritte der gesellschaftlichen Arbeit zunutze, um die menschli-che Bedürfnisstruktur zu entfalten.

Freilich verharren hierbei die Handeltreibenden noch in einer weit-gehend passiven Rolle, verhalten sich nur erst rezeptiv: Sie greifen auf,was sich ergibt, nehmen, was sich ihnen bietet, ohne auf die innovato-rische Tendenz der gesellschaftlichen Arbeit aktiv einzuwirken, ihrerFortschrittlichkeit gezielt Vorschub zu leisten. Die Strategie einer Erhö-hung des Absatzes und Steigerung des Konsums mittels Verstärkung undVervielfältigung der Bedürfnisse bleibt deshalb auch ein bloß marginalesMoment, ein beispielender Faktor in einem relativ trägen und stabilenSystem der kommerziellen Befriedigung eines in quantitativer ebensowie in qualitativer Hinsicht habituell beschränkten Bedarfs. Seinem Ak-kumulations- und Expansionsanspruch sucht das System unter diesenBedingungen eher durch die geographische und demographische Aus-weitung seiner kommerziellen Beziehungen als durch eine Intensivierung jener Strategie gerecht zu werden.

Genau das ändert sich jetzt, in der europäischen Neuzeit! Unter denspezifischen Bedingungen einerseits einer absolutistischen Entschrän-kung der feudalen Gesellschaft und politischen Entmachtung der alten

Herrenschicht durch die Fürstenmacht und andererseits einer finanziellenSanierung der alten Herrenschicht und ihrer mit dem kolonialen Schatzin Gang gebrachten Verwandlung in eine kaufkräftige, ihre konsumti-ve Rolle effektiver denn je wahrzunehmen befähigte neue Oberschichtentsteht eine Konstellation, in der den Marktbetreibern, wollen sie, demihrem Tun und Handeln eingeschriebenen Wachstumsimpuls gemäß, diedurch die absolutistische Entschränkung ihnen eröffneten Investitions-chancen und die durch den kolonialen Schatz in Oberschichthand ihnenentgegenkommende Kaufkraft nutzen, gar nichts anderes übrig bleibt,als ihr Verhältnis zu jener Strategie einer Erhöhung des Absatzes und

Steigerung des Konsums mittels Verstärkung und Vervielfältigung derBedürfnisse neu zu bestimmen und sie nämlich in den Mittelpunkt ihrerunternehmerischen Aktivitäten und expansiven Bemühungen zu rücken.

Einerseits konfrontiert mit einer Produktionssphäre, die dank der In-tervention und Kollaboration ihres Bündnispartners, des absolutistischen

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Fürsten, ihnen nunmehr gestattet, ihr im engen Korsett der feudalen Ge-

sellschaft aufgestautes Handelskapital voll und ganz einzusetzen und ge-winnbringend zu verwenden, und andererseits verwiesen an eine Kund-schaft, die im Wesentlichen die unverändert alte, aber nun versehen mitneuem, in den Markt konsumtiv einzubringendem allgemeinem Äqui-valent ist – so also, fürs erste zumindest, geographisch beziehungsweisedemographisch auf das bestehende Marktsystem beschränkt, das ih-nen indes in produktiver wie in konsumtiver Hinsicht neu konditioniertentgegentritt, haben die Marktbetreiber gar keine andere Wahl, als ihreopportunistisch-passive Haltung in Bezug auf die in der Entfaltung dermenschlichen Bedürfnisstruktur liegenden kommerziellen Entwicklungs-chancen aufzugeben und sich in diesem Bereich inventorisch-aktiv zuengagieren.

Statt passiv abzuwarten, ob ihnen der Fortschritt der menschlichenArbeit und Naturbeherrschung etwas Neues, ein Bedürfnis anders oderein anderes Bedürfnis Ansprechendes und deshalb auf dem Markt Ver-wend- und Verwertbares in die Hände spielt, müssen sie aktiv darauf aussein, dem Arbeits- und Naturbeherrschungsprozess alles zu entnehmenund abzugewinnen, was irgend neue Bedürfnisse zu wecken oder alteBedürfnisse neu zu erregen geeignet und deshalb zu kommerziellenZwecken einsetzbar ist.

An die Stelle des bis dahin von den Marktbetreibern gepflegten in-

teressierten Beobachtens und geduldigen Wahrnehmens der Verwer-tungschancen, die menschliche Arbeit und Naturbeherrschung ihnenim Zuge ihres natürlich-kultürlichen Fortschritts von sich aus dadurcheröffnen, dass sie andere oder modifizierte Befriedigungsmittel zutagefördern, tritt ein fieberhaftes Durchforsten und enragiertes Durchmus-tern der Produktionssphäre und des Naturzusammenhangs nach ebensolchen, Verwertungschancen eröffnenden, anderen oder modifiziertenBefriedigungsmitteln. Unter dem doppelten Druck des eigenen, akku-mulierten und auf seine Reinvestition dringenden Handelskapitals undder die Reinvestition vielversprechend erscheinen lassenden und zu ihr

drängenden neuen herrschaftlichen Kaufkraft entwickeln die Marktbe-treiber eine bis dahin unbekannte Initiative, verfallen einem noch niedagewesenen Aktivismus und verschreiben sich einem unablässigenAufspüren anderer oder variierter, neuer oder intensivierter Reize undObjekte der eben dadurch ausgeweiteten und vervielfältigten Begierde,

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verlegen sich auf der Suche nach marktgängigen Befriedigungsmitteln

auf ein unermüdliches Prospektieren der natürlichen und kultürlichenWelt, und zwar nicht nur im gewohnten geographischen und demo-graphischen Rahmen, auf dem europäischen Kontinent, den ihnen dieabsolutistische Transformation der Gesellschaft neu erschließt und fürihre kommerziellen Zwecke zu Füßen legt, sondern auch und durch-aus in der umfassenderen Dimension, der kolonialen Sphäre, die ihnendie im Prinzip von der Marktentwicklung motivierte und aber in derAusführung von Seefahrern und Abenteurern, Glücksrittern und Projek-temachern vorangetriebene europäische Expansionsbewegung öffnet undzugänglich werden lässt.

In der Tat spielt die koloniale Sphäre, sowenig sie fürs erste als Ab-

satzmarkt für den das europäische Marktsystem bedrängenden Überflussan Waren in Betracht kommt, im Blick auf den besagten grundlegendenStrategiewechsel der Marktbetreiber, zu dem sie selber durch die ihr ge-raubten Schätze an Edelmetallen den Beweggrund beisteuert beziehungs-weise die Notwendigkeit liefert, im Blick nämlich auf den Übergang derMarktbetreiber von der vorwiegenden Suche nach neuen Kunden füralte Bedürfnisse zur vordringlichen Fahndung nach neuen Bedürfnissenfür die alten Kunden, eine umso wichtigere Rolle. Dank der ihr eigenenExotik, dank des vielen Neuen und Ungewohnten, das sie zu bieten hat,dank der vielen, die Sinne und den Geist erregenden Attraktionen und

Reize, mit denen sie als fremde, unbekannte Welt aufwartet, ist sie wie ge-schaffen, den jetzt von den Marktbetreibern zur Erhöhung des Konsumsund Steigerung des Absatzes eingeschlagenen Weg einer Entfaltung undDiversifizierung des Bedürfnissystems zu bekräftigen und zu befördern.

Der im Sinne nicht einer Erschließung neuer Absatzmärkte in fernenRegionen, sondern einer Nutzung dieser fernen Regionen als Quelle exo-tischer Erzeugnisse zur Belebung des alten Absatzmarktes und Erhöhungseiner Attraktivität wohlverstandene Kolonialhandel wird so zu einemwesentlichen Movens jener als Strategiewechsel verständlichen Umorien-tierung, in deren Konsequenz aus der von den Marktbetreibern bis dahinkultivierten und nach Maßgabe der natürlich-kultürlichen Entwicklung

menschlicher Leistungskraft und Erfindungsgabe beziehungsweise inderen Gangart fortschreitenden Bedarfsfindung eine das kommerzielleVerwertungsinteresse zum Maßstab und Taktgeber eben jener natürlich-kultürlichen Entwicklung, die damit nolens volens eine Forcierung undAlteration erfährt, machende Bedarfsschöpfung wird.

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Die günstigen Produktionsbedingungen, für die die mit Hilfe des Souveräns

 geschaffene Konkurrenzsituation bei den Produzenten einerseits und die koloniale Ausbeutung andererseits sorgen, ermöglichen jene exorbitanten Gewinnspan-nen, deren Resultat die von Marx als ursprüngliche Akkumulation bezeichnete

 Anhäufung großer Mengen von Handelskapital ist. Die Investitionskrise, diedadurch heraufbeschworen wird, ist nur scheinbar eine Wiederholung der zu

 Ausgang des Mittelalters statthabenden Krise, aus der die Überführung derständisch-feudalen Herrschaftsordnung in die absolutistisch-zentrale Staatsver-

 fassung heraushilft: War jene Krise politisch-konstitutioneller Natur, so hat dieneue Krise rein ökonomisch-strukturellen Charakter.

Der Glückstreffer der im Zuge der kolonialen Expansion angetroffenengroßen Mengen von als allgemeines Äquivalent einsetzbarem Edelmetall,die nicht per Austausch, durch Händlershand, sondern per Raub, durchanfangs eigenmächtige und bald schon amtliche Statthalter der Fürsten-macht und durch die von der Fürstenmacht mittels der Schätze bei Fußgehaltene Oberschicht, in das europäische Marktsystem geschleust wer-den – dieser Glückstreffer also rettet die im Zuge der spätmittelalterlichenpolitischen Entwicklung, des Übergangs vom feudalherrschaftlichen Kor-poratismus zum absolutistischen Zentralismus eingetretene ökonomischeSituation, indem er den beschriebenen Strategiewechsel des Marktes, den

Wechsel von einer extensiven zu einer intensiven Absatzstrategie, voneiner Ausweitung und Vergrößerung des Kreises der Bedürftigen zu einerEntfaltung und Diversifizierung des Systems der Bedürfnisse, wie manwill, ermöglicht oder erzwingt.

Statt mit den ihnen durch die absolutistische Fürstenmacht eröffnetenneuen Entfaltungsräumen und Investitionschancen, die sie vom beengen-den Korsett ständischer und zünftiger Beschränkungen befreit und ihremakkumulierten Handelskapital ermöglicht, sich ebenso vollständig wiegewinnträchtig in Güter und Leistungen umzusetzen – statt mit dieserneuen Perspektive, diesem markanten Aufschwung in der Rekrutierung

von Arbeitsleistungen und Güterproduktion an einem strukturellen Un-gleichgewicht, einer simultan zutage tretenden Diskrepanz zwischeninvestitionskraftbedingtem Angebot und kaufkraftbedingter Nachfragezu scheitern, sprich, in der Sackgasse eines wegen Geldmangels stocken-den Absatzes, wegen fehlenden allgemeinen Äquivalents stagnierenden

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Konsums zu landen, finden sich die Marktbetreiber auf Seiten ihrer tra-

ditionellen Konsumenten, der säkularen und klerikalen Oberschicht, mitallgemeinem Äquivalent im Überfluss, mit jeder Menge Kaufkraft kon-frontiert und brauchen, sofern es ihnen gelingt, durch ein gleichermaßenvermehrtes und diversifiziertes, mittels technischer Finessen und exoti-scher Reize erweitertes und detailliertes Angebot neue beziehungsweisemodifizierte Bedürfnisse ebenso sehr zu wecken wie zu befriedigen, umihren Absatz, um die konsumtive Realisierung des Werts ihrer wachsen-den Investitionen nicht zu fürchten.

Die dem spätmittelalterlichen Markt drohende Stagnation verkehrtsich dank der die Neuzeit einläutenden absolutistischen Entschränkung

und Öffnung der Produktionssphäre und dank einer Kolonialsphäre, diezwar nicht als Absatzmarkt, wohl aber als Lieferantin von allgemeinemÄquivalent und exotischen Befriedigungsmitteln ins Gewicht fällt, un-mittelbar in Stimulation, in einen im Sinne sowohl einer quantitativenZunahme als auch einer zirkulativen Beschleunigung der kommerziel-len Aktivitäten wirksamen Aufschwung, der dem letzten Zweck allerkommerziellen Aktivität, der von den Marktbetreibern als Selbstzweck betriebenen Akkumulation, der Anhäufung von Wert in Gestalt allge-meinen Äquivalents, das einzig und allein als Mittel zur Anhäufungvon noch mehr seinesgleichen dient und eingesetzt wird, eine beispiel-

lose Durchschlagskraft verleiht und einen noch nie dagewesenen Erfolgsichert.In ebenso atemberaubendem Tempo wie exorbitantem Umfang schrei-

tet der kommerzielle Akkumulationsprozess, der wegen der Enge undBeschränktheit der feudalherrschaftlich verfassten Gesellschaft an seinEnde gekommen oder jedenfalls an seine Grenzen zu stoßen schien, dankder von der kommerziellen Funktion direkt motivierten und unterstütz-ten absolutistisch-zentralistischen Umwälzung der Gesellschaft und dankder indirekt von ihr angeregten und vorangetriebenen kolonialistischenEroberung und Ausbeutung der außereuropäischen Welt weiter voran

und ermöglicht es den Marktbetreibern, auf der Grundlage einerseitseiner sich rasch erweiternden und vervielfältigenden innereuropäischenhandwerklichen Güterproduktion und außereuropäischen Akquisitionkolonialer Naturerzeugnisse und andererseits eines aufgrund der politi-schen Verwendung, die das der kolonialen Sphäre entrissene Edelmetall

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findet, bei den europäischen Konsumenten reichlich vorhandenen allge-

meinen Äquivalents oder Gegenwerts für jene Güter und Erzeugnisse inkürzester Frist große Gewinne einzustreichen und entsprechend großeHandelskapitalien anzuhäufen, will heißen, große Mengen allgemeinenÄquivalents zu akkumulieren, das für die Investition in neue innereuro-päische Produkte und die Akquisition neuer kolonialer Erzeugnisse nichtminder systematisch bestimmt ist als faktisch zur Verfügung steht.

Dabei gewinnt der Akkumulationsprozess noch dadurch an Schwungund Durchschlagskraft, dass sich die europäische nicht minder als diekoloniale Produktionssphäre dem Markt äußerst entgegenkommend undseinen Interessen willfährig zeigen und günstigste Einkaufsbedingungenden Marktbetreibern außerordentlich hohe Gewinnspannen verschaf-fen. Verantwortlich für diese an Wehrlosigkeit gegenüber kommerziellerAusbeutung grenzende Willfährigkeit der Produktionssphäre und fürdie aus dem Rahmen fallenden Profitraten, die sie ermöglicht, ist imeuropäischen Fall die Abschaffung der städtischen Freiheiten durch dieabsolutistische Fürstenmacht, die Zerschlagung jener politischen undökonomischen Selbstverwaltungsstrukturen, die den freien Städten ihrerelative Unabhängigkeit und ihren vergleichsweisen Wohlstand sicher-ten und, wie einerseits der städtischen Produktionsgemeinschaft Schutzvor der politischen Willkür und räuberischen Habsucht der feudalenHerrschaft boten, so sie andererseits gegen ihre fronwirtschaftliche Um-

gebung abschirmten und vor einer Unterminierung ihrer wirtschaftlichenExistenz durch unkontrollierten Zuzug von draußen und einen dadurchausgelösten ruinösen Konkurrenzkampf um Arbeit und Brot bewahrten.

Indem die Fürsten nicht zwar im erklärten Auftrag der Kaufmann-schaft, wohl aber im geheimen Bunde mit ihr die Hemmnisse beseitigen,die in Gestalt von politischen Freiheiten, ökonomischen Rechten undkorporativen Satzungen der weiteren Entfaltung des Marktes nachge-rade entgegenstehen, weil sie der städtischen Produktionsgemeinschaftim Allgemeinen und ihren jeweiligen Körperschaften im Besonderenerlauben, gegen die generellen Gesetzmäßigkeiten und objektiven Me-

chanismen kommerziellen Austauschs ihre partikularen Interessen undsubjektiven Vorbehalte zur Geltung zu bringen, will heißen, jenen Ge-setzmäßigkeiten und Mechanismen quasi an den Toren der Stadt Einhaltzu gebieten und sie nur in modifizierter, dem Anspruch der stadtbürger-lichen Produzenten auf Gewährleistung ihres personalen Bestands und

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realen Lebensstandards angepasster Form zuzulassen – indem also die

Fürsten jene Hemmnisse beseitigen, öffnen sie die Städte als Zentren deswirtschaftlichen Wohlstandes und der bürgerlichen Lebensart, mithinals attraktive Orte, anziehungskräftige Lokalitäten einem ungehemmtenZuzug von draußen und provozieren eine Landflucht, die den Städtenzu einem aus dem Rahmen fallenden und mit den innerstädtischen öko-nomischen Gegebenheiten nicht ohne weiteres kompatiblen, sprich, dentraditionellen Rahmen der kommunalen Satzung und zünftigen Ordnungder Produktionsgemeinschaft vollends sprengenden demographischenWachstum verhilft, das zuvörderst und vor allem die das Arbeits- undErwerbsleben personell regulierenden und subsistenziell standardisie-

renden Schutz- und Kontrollmechanismen aushebelt und zwischen dengewerklich und gewerblich Tätigen einen ihrer Vielzahl und Bedürftigkeitgeschuldeten Konkurrenzkampf entfacht.

Dank der durch keine kommunalen Zuzugs- und zünftigen Berufs- beschränkungen mehr aufgehaltenen und überhaupt aufzuhaltendenschieren Vermehrung der Arbeitskräfte in der Stadt verwandelt sich diestädtische Produktionsgemeinschaft aus einem korporativen Verbundvon handwerklich Tätigen und Gewerbetreibenden in ein relativ unver- bundenes Produzenten- und Dienstleistungskorps, das sich im Kampf umArbeit und Brot als gesellschaftliche Korporation entmischt und auflöst

und in ein den Waren, die es produziert, und den Arbeitsleistungen,die es erbringt, zum Verwechseln ähnliches Ensemble, ein dem, was esproduziert und leistet, schutzlos ausgeliefertes und darin quasi sich selberzu Markte tragendes menschliches Kontingent, ein im Verhältnis zu denBetreibern des Marktes ebenso heteronomisiertes und objektvermittel-tes wie in seinen internen Beziehungen atomisiertes und verdinglichtesKollektiv verwandelt.

Die Konsequenz dieser, der absolutistischen Zerschlagung der kor-porativ-kommunalen Strukturen der Stadt und dem massiven Wachstumder städtischen Bevölkerung, das damit Hand in Hand geht, geschuldeten

Verwandlung der städtischen Produktionsgemeinschaft in ein nolensvolens von Konkurrenzdenken beherrschtes, statt von wohlberatenemKorporationsgeist bestimmtes Produzentenkollektiv ist dessen Unterwer-fung unter die Gesetze des Marktes, vornehmlich das Gesetz von Angebotund Nachfrage, dem zufolge in dem Maße, wie die Zahl der Anbieter,

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in diesem Fall der Belieferer des Marktes, wächst und ihr organisatori-

scher Zusammenhalt beziehungsweise die korporative Geschlossenheitihres Auftretens schwindet, die Gruppe der Nachfrager, in diesem Fallder Betreiber des Marktes, die Möglichkeit erhält, die Anbieter gegen-einander auszuspielen, sie unter Konkurrenzdruck zu setzen und zuPreisnachlässen zu zwingen, die die Vergütung für die zu Markte ge-tragenen Waren unter den Wert drücken, den sie aufgrund der an siegewendeten durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeitszeit tatsächlichverkörpern.

Und während so die zu Markte getragenen Produkte wohlfeiler wer-den, sprich, der Einkaufspreis, der Gegenwert, den der Marktbetreiberfür sie zahlt, sinkt oder jedenfalls stagniert, tendiert dank des auf derKonsumentenseite im Überfluss vorhandenen und deshalb bedenkenlosausgegebenen allgemeinen Äquivalents der Verkaufspreis, der Gegen-wert, den die Marktbetreiber für die als Waren feilgebotenen Produkteerzielen können, im Zweifelsfall in die entgegengesetzte Richtung, ten-diert er mit anderen Worten dazu, den tatsächlichen Wert der Warenzu übersteigen – mit dem Ergebnis, dass die Differenz zwischen Ein-kaufspreis und Verkaufspreis über das gewohnte und in diesem Sinnenormale Maß des vom Markt für seine Austauschtätigkeit in Anspruchgenommenen Diskonts hinauswächst, dass, kurz gesagt, die Marktbetrei- ber in den Genuss exorbitanter, den Rahmen habitueller kommerzieller

Gewinnerwartungen sprengender Profitspannen kommen.Dass die Marktbetreiber dank des Konkurrenzdrucks, unter den sie

die Produzenten, die Lieferanten der marktgängigen Güter, setzen kön-nen, imstande sind, außergewöhnlich hohe Profitraten einzustreichen, bedeutet dabei nicht, dass sich die ökonomische Lage der Produzentendurchgängig verschlechtert, diese einer pauschalen Pauperisierung unter-worfen sind. Dank der in den Handwerken und Gewerben vorhandenenhierarchischen Strukturen, der unterschiedlichen technischen, organi-satorischen und finanziellen Ausgangslage der jeweiligen Produzentenund der Kontingenz der wirtschaftsgeographischen und wirtschafts-

politischen Bedingungen, unter denen produziert wird, wirkt sich derKonkurrenzdruck, unter den die Marktbetreiber die Produktionssphäresetzen, vielmehr im Sinne eines Selektions- und Konzentrationsprozessesaus, in dessen Konsequenz sich die Produktionssphäre als ganze dirimiertund einige Produzenten zusammen mit den Marktbetreibern Vorteil aus

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der Preisdrückerei und Profitmaximierung ziehen, die der entfesselte

Markt den letzteren ermöglicht.Meister oder initiative Handwerker und Gewerbetreibende, denen ihrehierarchische Stellung, ihre finanzielle Lage oder sonstige, ihrem sozialenMilieu, ihrem technischen Stand, ihrem Organisationstalent oder auchihrer günstigen geographischen Ansiedlung im Marktsystem geschuldeteUmstände erlauben, den Preisdruck, den der Markt ausübt, an andere,von ihnen in Dienst Genommene weiterzugeben beziehungsweise Markt-lücken zu finden oder monopolähnliche Positionen zu erringen, die siezu außerordentlich nützlichen oder gar unentbehrlichen Geschäftspart-nern der Marktbetreiber machen, können durchaus von deren durch dieabsolutistische Entschränkung der traditionellen Produktionssphäre undEntfesselung des Arbeitsmarktes ermöglichter Ausbeutungsstrategie pro-fitieren und durch eine Ausweitung ihrer Werkstätten zu umfangreichenhandwerklichen Betrieben sowie die Ausbeutung der ihnen im Übermaßzur Verfügung stehenden und deshalb der Lohndrückerei ausgeliefer-ten Arbeitskräfte eine dem rein kommerziellen Akkumulationsprozessvergleichbare Entwicklung durchlaufen.

Aber dieser Erfolg Weniger wird nolens volens auf Kosten der Vielen beziehungsweise auf ihrem Rücken erzielt und ändert nichts an der mitder Entstrukturierung der Produktionssphäre, euphemistisch gesagt,ihrer Liberalisierung einhergehenden grundlegenden Verschiebung des

Kräfteverhältnisses zwischen Marktbetreibern und Produzenten. Alsein in die Produktionssphäre selbst hineingetragenes Abbild, eine in ihrselbst wirksam werdende Spiegelung der durch das Überangebot anArbeitskräften und deren korporative Wehrlosigkeit bedingten wachsen-den Kluft zwischen dem Einkommen, das den Produzenten ihre Arbeitverschafft, und dem Gewinn, den die Kaufleute aus ihr ziehen, bestätigtder Erfolg der Wenigen unter den Produzenten nur jene grundlegendeKräfteverschiebung zwischen Arbeit und Markt und ist zugleich einVorgriff auf die weitere Entwicklung, in deren Verlauf sich die vorma-ligen Grenzen zwischen Großproduzent und Kaufherr verwischen und

 beide in der Figur des Unternehmers oder Kapitalisten zum Agenten desgesamten, vom bürgerlichen Markt mittels der gesellschaftlichen Arbeit betriebenen industriellen Verwertungsprozesses verschmelzen.

Verstärkt und beschleunigt wird jener Prozess der ökonomischenMachtverschiebung zwischen Produzenten und Marktbetreibern, der

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den letzteren die Möglichkeit eröffnet, günstige Einkaufspreise zu er-

zwingen und entsprechend hohe Profitraten zu erzielen, noch durchdie flankierenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen, mit denen die mitden Marktbetreibern im kaum mehr geheimen Bunde stehende, weilüber Steuern, Abgaben, Darlehen und Kredite am kommerziellen Er-folg beteiligte Fürstenmacht die Profitmaximierungsbemühungen ihrerBündnispartner unterstützt. Die staatliche Einrichtung von Arbeitshäu-sern für Arbeitsunwillige, Arbeitszwangsverordnungen und gesetzlichverfügte Lohnbeschränkungen sollen dafür sorgen, dass die allgemeineStrategie einer Entschränkung der Produktionssphäre und Entfesselungdes Arbeitsmarktes im ganzen Umfange greift und das in die städtischen

Wirtschaftszentren strömende Arbeitskräftepotenzial so umfänglich wiemöglich zur Produktion wohlfeiler Güter für den Markt genutzt undausgeschöpft werden kann.

Ähnlich günstig, wenn auch aus anderen Gründen, stellt sich die Lageden Marktbetreibern in der kolonialen Sphäre dar, die zwar, wie ge-sagt, noch nicht als Absatzmarkt, wohl aber als Bezugsquelle für Güter,die umgekehrt auf den europäischen Märkten leicht und gewinnbrin-gend Absatz finden, ins Gewicht fällt. Was den Marktbetreibern erlaubt,die exotischen und vornehmlich für den Luxus der europäischen Kon-sumentenschichten bestimmten Erzeugnisse der Kolonien, die aus ihr

 bezogenen Gewürze, Genussmittel, kostbaren Stoffe, seltenen Gewächse,Pretiosen und Rohstoffe für die heimische Produktion von Luxusartikeln,wohlfeil zu erstehen, ist das noch weitgehende Fehlen eines Marktzusam-menhangs in der kolonialen Sphäre.

Kommerziell ausgetauscht wird dort entweder gar nicht oder nachTauschhandelsbedingungen, die in keinem angemessenen Verhältnis zuden auf den europäischen Märkten geltenden Wertrelationen stehen. Dasheißt, die Kolonialwaren werden entweder durch Raub an den kolonia-len Bevölkerungen oder durch ihre Versklavung und ihnen auferlegteZwangsarbeit erworben, oder aber es werden Austauschbeziehungen

geknüpft, die jedem Äquivalententausch Hohn sprechen und bei denendie sprichwörtlichen Glasperlen mit Gold aufgewogen oder Eisenwa-ren mit Elfenbein vergütet werden. Selbst wenn man die relativ großenGefahren und hohen Risiken bei Beschaffung und Transport der Koloni-alwaren in Rechnung stellt, lassen sich unter solch exorbitant günstigen

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Einkaufsbedingungen, die von Einkauf eigentlich nur euphemistisch be-

ziehungsweise ironisch zu reden erlauben, gewaltige Profitraten erzielen.Es wirkt also im heimischen Raum und in der kolonialen Sphäre alleszusammen, um den Betreibern der avancierten europäischen Märkteeine nach Umfang und Tempo beispiellose Akkumulation, eine ebensomassive wie rasche Anhäufung großer Handelskapitalien, großer, fürweitere Akkumulationsprozesse, für neue gewinnträchtige kommerziel-le Investitionsvorhaben zur Verfügung stehender Mengen allgemeinenÄquivalents zu ermöglichen, sie mit anderen Worten jene ebenso un-aufhaltsame wie stürmische Entwicklung durchlaufen zu lassen, dieKarl Marx als ursprüngliche Akkumulation bezeichnet. Das Attributursprünglich verdankt sich dabei der retrospektiven Wahrnehmung und bringt die post festum der folgenden ökonomischen Entwicklung, imNachhinein des weiteren, im eigentlichen Sinne kapitalistischen Gesche-hens gewonnene Einsicht zum Ausdruck, dass jener Akkumulations-prozess diesem weiteren Geschehen unabdingbar vorausgesetzt, bessergesagt, von grundlegender Bedeutung für es ist.

Das heißt, der Akkumulationsprozess wird im Rückblick als ursprüng-lich in dem buchstäblichen, vom Sprachgebrauch aber gemeinhin unter-schlagenen Sinne erkannt, dass er nicht einfach nur chronologisch-topischden Anfang der nachfolgenden Entwicklung bildet, dieser nicht einfachnur zugrunde liegt, sprich, passiv als der Grund, ohne den nichts Weiteres

folgen kann, vorausgesetzt ist, sondern dass er vielmehr funktionslo-gisch-dynamisch die Initiative zum weiteren Geschehen entfaltet, aktivden Grund für die folgende Entwicklung legt, ihr aus eigenem Antriebund Vermögen den Boden bereitet.

Als initiativ und grundlegend, kurz, ursprünglich erweist sich derAkkumulationsprozess, weil er in Konsequenz seines eigenen Procedereeine Hemmung in seinem Fortgang, eine Krise heraufbeschwört, die erüberwinden beziehungsweise lösen muss, will er nicht in sich zusam-menbrechen, an sich selbst zugrunde gehen. Und die Lösung der Krise besteht eben in einem als Grundlegung, als ineins reaktive Selbstbehaup-

tung und projektive Neubegründung wirksamen Ur-Sprung, in einergroßen Absetzbewegung, einer gewaltigen Zäsur mit anderen Worten,durch die sich der Prozess beziehungsweise das ihn durchlaufende han-delskapitale Subjekt von seiner bisherigen Grundlage, der traditionellenProduktionssphäre ablöst, nur um als verselbständigtes Resultat in sie

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zurückzukehren, als eigenständiger Faktor auf sie zurückzuschlagen und

sie als einen nach seinem Bilde umgestalteten Grund neu zu setzen, ausihr als einer ihm und seinen Bedürfnissen gemäßeren, weil durch sein Re-sultieren zu seiner ausdrücklichen Bedingung gemachten Voraussetzungquasi von vorne anzuheben.

Dabei ist die Krise, die jener Prozess einer ursprünglichen Akkumula-tion heraufbeschwört, auf den ersten Blick nichts weiter als eine aktuelleWiederholung des potenziellen Zustands, eine reale Reproduktion desnur erst strukturell implizierten Missverhältnisses, in dem sich anderthalb Jahrhunderte zuvor das handelskapitale Subjekt befindet und aus demihm dort die absolutistische Sprengung des feudalherrschaftlichen Kor-setts im Verein mit dem Glückstreffer des kolonialen Schatzes heraushilft

oder vor dem es, besser gesagt, diese Kombination aus absolutistischerEntschränkung und kolonialistischer Expansion bewahrt. Die potenzielleKrise oder das strukturelle Missverhältnis besteht ja dort, im Ausgang derals Mittelalter bezeichneten postimperialen tausendjährigen Ära, darin,dass das akkumulierte kommerzielle Kapital mittlerweile eine Größen-ordnung und Entfaltungsdynamik erreicht hat, der weder die städtischenProduktionsgemeinschaften mit ihren Freiheiten und Ordnungen nochdie territorialen Herrschaftsverhältnisse mit ihren Privilegien und Ge-rechtsamen mehr gerecht zu werden und Genüge zu leisten vermögen,und dass deshalb beide Einrichtungen zu ernsthaften Hemmnissen für

die kommerzielle Investitionstätigkeit, zu gravierenden Hindernissenfür die weitere Entfaltung des Marktes werden und den Akkumulati-onsprozess zu beeinträchtigen, wo nicht gar zum Erliegen zu bringendrohen.

Aus jener Verlegenheit hilft den Marktbetreibern einerseits der auf Basis der ökonomischen Machtzentren, die sie ins Leben gerufen haben,angestrengte absolutistische Zentralisierungsprozess mit der durch ihnerzwungenen Öffnung der städtisch-gewerklichen Produktionssphä-re und Erschließung neuer kommerzieller Entfaltungsräume, währendandererseits die koloniale Expansion mit dem Glückstreffer der gleichzu Anfang aufgespürten und von der Fürstenmacht beziehungsweise

ihrer politischen Klientel, der adligen Oberschicht, angeeigneten großenMengen Edelmetall dafür sorgt, dass auf den europäischen Märkten dienötige Kaufkraft vorhanden ist, um der von den Marktbetreibern ange-kurbelten Produktionstätigkeit und entfalteten kommerziellen Aktivitätdie erforderliche Gewinnträchtigkeit zu sichern.

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Diese Bewältigung der Krise aber, die Lösung des strukturellen Pro-

 blems eines wegen Mangels gleichermaßen an Investitionsmöglichkei-ten und Kaufkraft stockenden kommerziellen Akkumulationsprozessesdurch Öffnung der Produktionssphäre und Beschaffung großer Mengenmarktexternen allgemeinen Äquivalents – sie scheint nun anderthalb Jahrhunderte später in genau diese Krise zurückzuführen, scheint genaudieses strukturelle Problem, neu heraufzubeschwören. Ihre durch dieneuen politischen Rahmenbedingungen und die neue Konsumkraft derOberschicht ausgelösten fieberhaften kommerziellen Aktivitäten lassendie Marktbetreiber nach dieser relativ kurzen Zeit abermals und entschie-den an die Grenzen der Leistungskraft und Lieferkapazität der ihnenzuarbeitenden Produktionssphäre stoßen und setzen ihnen in paradoxerGegenläufigkeit eben die Schranken, die nicht zu kennen, das Credo oderZeichen ist, unter dem sie ihren Siegeszug antreten.

Indem die Marktbetreiber den geschilderten Strategiewechsel, denWechsel von einer herkömmlich extensiven zu einer vornehmlich in-tensiven Absatzstrategie, einer Steigerung des Absatzes nicht mehr nurund primär durch eine empirische Erweiterung des Abnehmerkreises,sondern mehr noch und wesentlich durch die systematische Entfaltungdes Bedürfnissystems der Abnehmer vollziehen, stellen sie ihre Lieferan-ten, die handwerklich-städtischen Produzenten, vor Herausforderungen,denen diese nicht gewachsen sind, muten sie ihnen eine Verstetigung

und Intensivierung ihrer Arbeitsleistungen und eine Diversifizierung undVervollkommnung ihrer Fertigungstechniken, kurz, eine gleichermaßenquantitative und qualitative Steigerung ihrer Produktivität zu, die sie,die noch in ihren traditionellen Arbeitsgewohnheiten und Produktions-weisen Befangenen und ungeachtet aller organisatorischen Umgestaltungund betrieblichen Konzentration noch weitgehend als EinzelpersonenAgierenden, mit ihren eigenen Werkzeugen ihrer Hände Arbeit Verrich-tenden und ihre individuelle Leistung Erbringenden hoffnungslos über-fordern.

Die bloße Aufstockung des Personalbestands, die durch die Landflucht

und die Abschaffung der Zunftordnungen beziehungsweise die Aufhe- bung der gewerklichen Berufsbeschränkungen bewirkte Vermehrung derhandwerklichen Arbeitskräfte, kann diese zunehmende Überforderungder Produktionssphäre durch die quantitativen und qualitativen Ansprü-che des Marktes nicht verhindern, weil sich durch solche Vermehrung des

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Personals ja unmittelbar nichts an den Arbeitsmethoden und Produkti-

onstechniken und den darauf abgestellten Lebensgewohnheiten ändert –zumal die beschriebene Preisdrückerei und Profitmaximierungsstrategie,die der Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt den Marktbetreiberneingibt, nicht eben dazu angetan ist, die Produzenten anzuspornen und besonderes Engagement beweisen zu lassen, sprich, ihre Initiative undihren Einfallsreichtum im Blick auf eine Steigerung der Produktivitätihrer Arbeit und eine Beförderung der Diversität ihrer Produktion zuwecken.

Weil, wie gesagt, der unter dem Druck der konsumtiven Nachfra-ge von den Marktbetreibern vollzogene Strategiewechsel, der an die

Stelle des traditionellen interessierten Beobachtens und geduldigen Wahr-nehmens der Verwertungschancen, die die Produktionssphäre im Zugeihres natürlich-kultürlichen Fortschritts von sich aus eröffnet, ein fie- berhaftes Durchforsten und enragiertes Durchmustern der Produkti-onssphäre nach eben solchen Verwertungschancen treten lässt, der dasgewissenhafte Inspizieren und zuverlässige Aufgreifen des kommer-ziell Nutzbaren, das die Produzenten aktuell zu bieten haben, durchein unermüdliches Prospektieren und unablässiges Aufspüren dessen,was an kommerziell Nutzbarem die Produzenten möglicherweise zu bieten hätten, ersetzt – weil dieser Strategiewechsel der Marktbetrei-

 ber auf einen gesellschaftlichen Produktionszusammenhang trifft, der,abgesehen von seiner personalen Auffüllung und seinen betrieblichenKonzentrationstendenzen, noch immer der alte ist und noch immer imWesentlichen auf der Arbeit und den Leistungen einzelner, mit einerWerkzeugtechnik, die auf die individuelle Handhabung zugeschnittenist, eigeninitiativ und selbstbestimmt produzierender Werktätiger beruht,kann es gar nicht ausbleiben, dass die Ansprüche des florierenden Mark-tes diesen zwar ökonomisch oder systematisch durchaus auf letzteren bezogenen, aber weder technisch noch organisatorisch durch ihn vermit-telten, auf seine neuen Chancen und Perspektiven eingestellten, an seinen

gleichermaßen qualitativen und quantitativen Mehrbedarf angepasstenProduktionszusammenhang überfordern und es zu einem kommerziellenInvestitionsstau kommt, vergleichbar dem, der anderthalb Jahrhundertezuvor die Marktentwicklung zu durchkreuzen und zum Stillstand zu bringen drohte.

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Dank der ökonomischen Entfaltungsräume, die der aufkommende Ab-

solutismus eröffnet, und der neuen Konsumkraft, die der frühe Kolo-nialismus mit seinen zur Beförderung der Fürstenmacht eingesetztenBeuteschätzen ermöglicht, findet eine grundsätzliche Veränderung desKräfteverhältnisses beziehungsweise Kausalnexus zwischen Markt undProduktionssphäre statt: Der Markt ist nun nicht mehr ein die Produk-tionssphäre als von ihm unabhängige Ursache seiner Existenz voraus-setzendes Organ, das seine Funktion erfüllt, sprich, seine Dienlichkeit beweist, indem es die Überschüsse, die erstere ihm aus eigenem Antriebliefert, vertreibt, sondern er hat sich zu einem die Produktionssphäreals seine existenzielle Bedingung setzenden Organismus gemausert, derseine Bestimmung erfüllt, sprich, nur sich selbst verwirklicht, indem er

erstere zur Überschussproduktion antreibt, sie als Lieferantin dessen, wasihn wachsen und gedeihen lässt, im vollstmöglichen Umfang in Dienstnimmt.

Dieser Veränderung des Marktes aber leistet die Produktionssphärenicht ohne weiteres durch eine Veränderung ihrer selbst, eine sich nachder Decke seiner Ansprüche streckende Neueinstellung Genüge. Geprägtdurch die traditionellen Strukturen der verschiedenen, einen relativ ge-ringen Grad an Technisierung und interner Arbeitsteilung aufweisendenund in eine Vielzahl eigenständiger Werkstätten auseinanderfallendenHandwerke und befangen in den habituellen Bahnen einer im Wesent-

lichen vom Ingenium, vom Instrumentarium, von der Arbeitsdisziplinund vom Gewinnstreben des Einzelnen beziehungsweise seines kleinen,privaten Betriebes abhängigen Produktivität, ist die Produktionssphärezu schlecht organisiert oder koordiniert, erweist sie sich als zu wenig beeinfluss- und steuerbar, ist sie mit anderen Worten ein zu eigenwilligerund unzuverlässiger Lieferant, ein zu idiosynkratischer und unbere-chenbarer Kontraktor, um den Anforderungen des Marktes auf Dauerentsprechen und seine ebenso sehr qualitativ vervielfältigte wie quantita-tiv wachsende Nachfrage befriedigen zu können. Die Produktionssphärestellt sich in ihren traditionellen Strukturen und in der Unbeweglichkeitund geringen Beeinflussbarkeit, die diese ihr verleihen, mehr und mehr

als Hemmschuh für die Marktentwicklung heraus und reproduziert sodie gerade einmal anderthalb Jahrhunderte zurückliegende Stagnationzum Ausgang des Mittelalters, die dort die absolutistische Transforma-tion der westeuropäischen Gesellschaften und die damit einhergehendekolonialistische Öffnung Europas zu überwinden halfen.

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Freilich unterscheiden sich die beiden Situationen bei aller oberflächli-

chen Ähnlichkeit, die sie miteinander verbindet, in einem ebenso tief-greifenden wie wesentlichen Punkt voneinander. Der kommerzielle In-vestitionsstau und das marktspezifische Entfaltungsproblem, die denMarktbetreibern im Ausgang des Mittelalters zu schaffen machen, sindin der Hauptsache politisch-konstitutioneller Natur; das heißt, sie habenihren Grund in den gesellschaftlichen Organisationsformen, die einer-seits die agrarischen Feudalherrschaften und andererseits die städti-schen Produktionsgemeinschaften ausgebildet haben und die sich nunals äußerer Widerstand oder beengendes Korsett gegen das Investitions-und Expansionsbedürfnis des gewachsenen Marktes geltend machen.

Was einmal Basis der Marktentwicklung war, die weitgehende politischeTrennung zwischen agrarisch-fronwirtschaftlich verfassten Territorial-herrschaften und städtisch-marktwirtschaftlich organisierten Produkti-onsgemeinschaften, die den letzteren eine relative Eigenständigkeit undSelbstverwaltung einräumt und die de jure oder formell über die letzterenherrschenden Ersteren de facto oder in der Realität auf ihre territorialeMachtausübung beschränkt und dafür mit einer sie zur Achtung undzum Schutz der kommunalen Freiheit motivierenden konsumtiven Nutz-nießerrolle entschädigt – diese vormalige Basis der Marktentwicklungverkehrt sich in den Formen eines prärogativen Feudalsystems einerseits

und eines prohibitiven Zunftwesens andererseits, die sie ausbildet, in einHemmnis für die Entwicklung.Und gemäß seiner politisch-konstitutionellen Beschaffenheit wird jenes

dem weiteren Akkumulationsprozess entgegenstehende Hemmnis nunauch auf politischem Wege, durch eine grundlegende Transformation derterritorialen und kommunalen Sozialordnungen, aus der Welt geschafft,nämlich mittels einer auf der Grundlage der wirtschaftlichen Machtzen-tren, die ihr Territorium beherbergt, sich vollziehenden absolutistischenKarriere regionaler Fürstenhäuser, die ihre neue Zentralstellung undSouveränität nutzen, um mit Macht aufzuheben oder auch mit Gewalt

zu beseitigen, was ihren Steigbügelhaltern, dem kommerziellen Systemund seinen Betreibern, im Wege steht und das auch für sie, die Fürsten,profitable Wirtschaften erschwert.

Die Anlagemöglichkeiten, die das absolutistische Regime dem Markterschließt, und der Entfaltungsraum, den es ihm eröffnet, führen nun

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zwar dank jenes post festum als ursprüngliche Akkumulation apostro-

phierten exorbitanten handelskapitalen Wachstums, das ihnen entspringt,in relativ kurzer Frist zu einem dem Markt abermals drohenden Investi-tionsstau und Expansionsproblem und scheinen insofern, oberflächlich betrachtet, die Gefahr der Stagnation und Beschränkung, aus der sie dasMarktsystem retteten, nur auf höherer Stufe reproduzieren beziehungs-weise im umfassenderen Maßstab neu heraufbeschwören zu können.Indes, die Stagnationsgefahr, der sich jetzt der Markt konfrontiert sieht,das neue Korsett, das ihn einzuschnüren und in seiner Entfaltung zu behindern droht, ist – und dies ist der entscheidende Unterschied! – nichtmehr politisch-konstitutioneller Natur, sondern hat rein ökonomisch-

strukturellen Charakter. Nicht gesellschaftliche Rahmenbedingungen,die konstitutionellen Formen der territorialen Fron und der kommu-nalen Freiheit, des prärogativen Feudalsystems und des prohibitivenZunftwesens, sind es, die jetzt den ungehinderten Zugriff auf und diefreie Verfügung über das gesellschaftliche Produktionspotenzial, überdie Ressourcen an Arbeitskraft und Erfindungsgeist vereiteln, sondernes ist die Produktionssphäre selbst, sind die strukturellen Eigenschaftender aktuellen Gestalt, die die städtischen Produktionsgemeinschaftendem gesellschaftlichen Produktionspotenzial verliehen haben, was demhandelskapitalen Elan zuwiderläuft und den weiteren Akkumulations-

prozess zu durchkreuzen droht.Die politisch-konstitutionellen Hemmnisse sind ja kraft der sich abso-lutistisch etablierenden Fürstenmacht und dank ihrer heimlichen oderauch offenen Komplizenschaft mit den Betreibern des Marktsystems undder eigennützigen Willfährigkeit, mit der sie durch politische Maßnah-men und bürokratischen Zwang den handelskapitalen Investitionsbe-dürfnissen und Expansionsansprüchen der letzteren Vorschub leisten,weitgehend aus dem Weg geräumt. Aber was bleibt beziehungsweise wasdurch den das politisch-konstitutionelle Korsett sprengenden Vorschub,den die Fürstenmacht der kommerziellen Investitionstätigkeit und dem

Entfaltungsdrang des Marktes leistet, überhaupt erst als solches zutagetritt und virulent wird, ist das Hindernis, das die überkommenen ökono-mischen Strukturen selbst für das handelskapitale Investitionsbedürfnisdarstellen, ist der Widerstand mit anderen Worten, den eine beileibe zwarnicht vom Markt unabhängige, aber doch in relativer Eigenständigkeit

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ihm gegenüber sich behauptende und in ihrer traditionellen Kleinbetrieb-

lichkeit und Autarkie, was die Verfügung über die Betriebsmittel betrifft,verharrende Produktionssphäre dem kommerziellen Entfaltungsdrangentgegensetzt.

Noch weitgehend abgestellt auf die Befriedigung der subsistenziellenBedürfnisse der einzelnen handwerklich Arbeitenden selbst und ihrerFamilien beziehungsweise ihrer kleinen Schar von Gesellen und Ge-hilfen und in ihrer qualitativen und quantitativen Produktionsleistungabhängig von der Fertigkeit, der Initiative, dem Erfindungsgeist und demEhrgeiz dieser Einzelnen, ohne dass der Markt über objektive Mecha-nismen verfügte, die Fertigkeit technisch zu untermauern, die Initiativepraktisch zu erzwingen, den Erfindungsgeist systematisch zu befördernund den Ehrgeiz als Überlebensstrategie kategorisch werden zu lassen– solchermaßen also dem Markt in relativer Eigenwilligkeit und Un- beeinflussbarkeit zugrunde liegend, ist die Produktionssphäre schlechtdisponiert, dem Höhenflug des Marktes stattzugeben, geschweige dennzu folgen, und erweist sich mehr und mehr als ein das handelskapitaleInvestitionstempo hemmender Klotz am Bein, ein den kommerziellenEntfaltungsprozess störendes versandetes Getriebe.

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. Kapitales Subjekt und Lohnarbeitskraft

Der Nachfragedruck, der von der Kaufkraft der Oberschicht ausgeht, verhindert

eine patrizische Lösung der Investitionskrise. Aber wie sollen die nunmehr nichtsowohl politisch-gesellschaftlichen als ökonomisch-betrieblichen Schranken, dieverantwortlich für die Investitionskrise sind, überwunden werden? Die Lösungbesteht in der Investition von Handelskapital in sächliche Produktionsfaktoren,die ihr Vorbild in der beim Übergang vom Feudalismus zum Absolutismusvom Handelskapital praktizierten Aneignung von Produktionspotenzialen derFürstenmacht findet, nur dass die Aneignungspraxis sich jetzt auf die Produkti-onsmittel des handwerklichen Produzentenkorpus kapriziert.

Den handwerklichen Produktionsbereich den Bedürfnissen des Mark-tes anzupassen und im oben erwähnten Sinne aus einer eigenständig

existierenden Voraussetzung in eine selbstverständlich integrierendeBedingung des Marktes zu verwandeln, wird so zu einem imperativenErfordernis, soll der handelskapitale Akkumulationsprozess keine Unter- brechung erleiden oder gar vollständig ins Stocken geraten und sollensich die dank ursprünglicher Akkumulation in Händlerhand angehäuftengroßen Mengen allgemeinen Äquivalents nicht jäh aus einem belebendenElixier in ein lähmendes Gift verwandeln, sollen also, weniger blumigausgedrückt, jene großen Geldmengen in Händlerhand nicht – weil siekeine ihrer Wertsumme gemäße Verzinsung mehr finden, keine ihremGesamtvolumen entsprechende Rendite mehr abwerfen – ihre an sol-

che Verwertung geknüpfte kommerzielle Vermittlungsfunktion, ihrenmit dieser Gewinnaussicht untrennbar verbundenen Impetus, Güter zuvermarkten, Austausch zu betreiben, ebenso umfänglich einbüßen unddamit das kommunale Marktgeschehen in specie und das bereits weit-gehend von ihm abhängige gesellschaftliche Wirtschaftsleben in genere

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in die Krise stürzen. Das Erfordernis ist umso zwingender, der Impe-

rativ umso unabweislicher, als sich der traditionelle Ausweg aus solchkrisenträchtiger Situation, die übliche Lösung, mit der die kommerzielleFunktion auf Stockungen in der Versorgung des Marktes mit verwert- baren Produkten und daraus folgende Ansammlungen akkumuliertenund nicht reinvestierbaren Handelskapitals reagiert, als nicht gangbar beziehungsweise außer Kraft gesetzt zeigt.

Traditionell besteht die Lösung der Krisensituation darin, Teile desakkumulierten Handelskapitals in den Konsum der Handeltreibendenoder Marktbetreiber selbst umzuleiten und, kompensatorisch für diefehlende kommerzielle Investitionsmöglichkeit, ins Streben nach gesell-schaftlichem Status zu investieren, die Handeltreibenden also einen Pro-zess der Patrifizierung oder gar Gentrifizierung durchlaufen, sie mitanderen Worten im Rahmen ihrer städtischen Produktionsgemeinschaf-ten eine quasiherrschaftlich-repräsentative Lebensführung und Stellungerringen oder gar kurzerhand die Seite wechseln und sich durch denErwerb von Grundbesitz und Landgütern dem territorialherrschaftlichenStand und Adelscorpus beigesellen zu lassen. Was indes diese Lösungverhindert, diesen Ausweg versperrt, ist der ungeheure Verwertungs-druck, der im speziellen Fall der neuzeitlichen Marktentwicklung auf dasnicht reinvestierbare, vom Brachliegen bedrohte Handelskapital einwirkt.In den traditionellen Fällen entsprechen den handwerklichen Produ-

zenten, die den Investitionsansprüchen des Marktes, seinem Bedarf anmarktgängigen Gütern nicht mehr zu genügen beziehungsweise nachzu-kommen vermögen, territorialherrschaftliche Konsumenten, denen diefronwirtschaftliche Ökonomie, über die sie Herr sind, eine die konsum-tiven Bedürfnisse, die sie über den Markt befriedigen, beschränkendeoder ihnen jedenfalls die Dringlichkeit nehmende Autarkie verleiht unddie im übrigen mit dem allgemeinen Äquivalent, über das sie verfügen,dem Edelmetall in ihren Schatzkammern, noch anderes anfangen können,als es zu Markte zu tragen, indem sie etwa Schatzbildung treiben, esals das Herrengut par excellence, das es ist, horten oder es kultischen,

ornamentalen und repräsentativen Zwecken zuführen. Jetzt hingegen hat es der Markt mit herrschaftlichen Konsumenten zutun, die ihrer territorialen Macht weitgehend entkleidet und ihrer daringründenden relativen politischen Eigenständigkeit und ökonomischenAutarkie beraubt sind, die im wie immer glänzenden Schatten, im wie

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immer vergoldeten Käfig des absolutistischen Hofes ihren Unterhalt mit

dem allgemeinen Äquivalent bestreiten, das ihnen ihre fernen Landgüterper Grundrente einbringen oder mit dem sie der absolutistische Souveränin Form von Apanagen, Gehältern, Pfründen und sonstigen Zuwendun-gen dotiert, und die Konsumenten sans phrase sind, insofern sie mitdiesem für ihren gesamten Lebensunterhalt einstehenden allgemeinenÄquivalent mangels eigener kultischer oder repräsentativer Verpflichtun-gen partout nichts anderes mehr anzufangen wissen, als ihre durch denMarkt zielstrebig angestachelten und diversifizierten leiblichen und kul-türlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Die konsumtive Anspruchshaltung,mit der diese reinen, gut dotierten Konsumenten dem Markt begegnen,der zirkulative Erwartungsdruck, den sie auf ihn ausüben – er verhindert,dass die Marktbetreiber ihr akkumuliertes Vermögen, ihr Handelskapi-tal, in den eigenen Konsum beziehungsweise den persönlichen Statusstecken, kurz, dass sie sich patrifizieren oder gentrifizieren, und macht,dass sie – aufs Ganze des Marktes gesehen zumindest – ihrer kaufmän-nischen Profession uneingeschränkt treu bleiben und alles daransetzen,dem handelskapitalen Verwertungsinteresse gegen alle Widerstände derProduktionssphäre, gegen deren Trägheit und Rückständigkeit die Stangezu halten und Geltung zu verschaffen.

Von Seiten ebenso solventer wie kauflustiger Konsumenten gestärktund bekräftigt, insistiert das Handelskapital auf der seiner innersten

Logik gemäßen akkumulativen Perspektive oder Selbstverwertungsin-tention und verschlägt seinen Agenten jede Neigung, vor dem Hinderniseiner mit der Nachfrage des Marktes nicht Schritt haltenden Produkti-on zurückzuweichen und die Flucht in eine Zweckentfremdung ihrerkapitalen Ressourcen, deren Verwendung nämlich für das eigene leiblich-kultürliche Wohl beziehungsweise den persönlich-gesellschaftlichen Sta-tus, sprich, für Zwecke eines patrizischen Aufstiegs oder gar gentrizi-schen Ebenenwechsels, anzutreten.

Auch in diesem Punkte ähnelt auf den ersten Blick die kritische Si-tuation, die jetzt, mitten in der absolutistischen Ära, ein allzu rasanter

handelskapitaler Akkumulationsprozess heraufbeschwört, indem er dieLeistungskraft der traditionellen Produktionssphäre überfordert unddadurch die Entwicklungsdynamik des Marktes jäh ins Stocken odergar zum Stillstand zu bringen droht, dem Krisenzustand, in dem sichanderthalb Jahrhunderte zuvor, zu Beginn der absolutistischen Ära, das

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akkumulierte Handelskapital befindet, weil die gesellschaftlichen Rah-

menbedingungen der weiteren Entwicklung des Marktes im Wege stehenund ihn mit Hemmung seines Wachstums und Störung seiner Entfaltung bedrohen. Auch hier finden sich die Marktbetreiber daran gehindert,einen nichtkommerziellen Ausweg aus der drohenden Krise zu wählenund die patrizische beziehungsweise gentrizische Karte zu ziehen, sprich,das mangels Investitionschancen und Entfaltungsräumen überflüssigeHandelskapital ins private Wohlleben und in persönliche Ambitionenzu stecken, es für Luxus und Status einzusetzen. Auch hier findet sichdas dem Handelskapital eingeschriebene Akkumulationsprinzip oderVerwertungsstreben, allen objektiven Widrigkeiten und Widerständen

zum Trotz, doch zugleich aus eben dieser widrigen Objektivität heraushinlänglich bekräftigt und ermutigt, um den handelskapitalen Agenten,den Marktbetreibern, jeden Gedanken an Desertion zu verschlagen undsie bei der Fahne der kapitalen Verwertungslogik zu halten.

Freilich ist, was dort das Handelskapital als solches reaffirmiert und auf dem akkumulationsprozessual rechten Wege bleiben lässt, nicht wie hierein ökonomischer Faktor, die neue Kaufkraft der traditionellen Konsu-mentenschicht und die Absatzchancen, die sie eröffnet, vorausgesetzt, esgelingt, die Produktion entsprechend zu steigern und zu vervielfältigen,sondern vielmehr ein politischer Umstand, nämlich der absolutistische

Ehrgeiz, den auf Basis der in ihrem Herrschaftsgebiet entstandenen wirt-schaftlichen Machtzentren die Fürstenmacht entwickelt und dessen Be-friedigung dem Markt und seinen Betreibern im Sinne einer allgemeinenHomogenisierung und Zentralisierung der gesellschaftlichen Lebens-und Arbeitsverhältnisse, sprich, einer Beseitigung ständisch-territorialerPrivilegien und Verfügungsrechte und zünftig-kommunaler Freiheitenund Gewerbeordnungen zugute kommt und Vorschub leistet. Angesichtsdieser in Aussicht stehenden ökonomischen Begleiterscheinung der poli-tischen Karriere der Fürstenmacht kommen die Marktbetreiber gar nichterst auf den Gedanken, ihr mangels Anlage- und Ausdehnungsmög-

lichkeiten überschüssiges Handelskapital für nichtkommerzielle Aspi-rationen und Vorhaben zu verwenden, sondern investieren es in dieFürstenmacht und in deren der Marktentwicklung förderliche politischeAmbitionen und gewinnen auf diesem Wege in der Tat neue kommerziel-le Betätigungsfelder und ökonomische Entfaltungsräume.

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Der durchschlagende Erfolg dieser ihrer den politischen Prozess, den die

Marktentwicklung ausgelöst hat, nun wiederum als Antriebskraft undHebel für den ökonomischen Fortgang, die weitere Marktentwicklungnutzenden Investitionsstrategie führt nun aber, wie gesagt, die Marktbe-treiber binnen kurzer Frist, im Laufe von anderthalb Jahrhunderten, ineben die Situation eines Investitionsstaus und Verwertungsproblems fürdas mittlerweile von ihnen angehäufte Kapital zurück, aus der jene poli-tische Investitionsstrategie ihnen einen Ausweg wies. Eben dies, dass dieMarktbetreiber dank ihrer Investition in die Karriere der sich verabsolu-tierenden Fürstenmacht die generellen, politisch-sozialordnungsbeding-ten Hemmnisse und Beschränkungen ihrer kommerziellen Aktivitäten

loswerden und relativ ungehinderten Zugriff auf die Produktionssphäreerhalten, fördert aufgrund der im Rückblick als Ursprungsereignis oderGründungsakt wahrgenommenen exorbitanten Akkumulation, die dar-aus resultiert, rasch die speziellen, ökonomisch-arbeitsorganisatorischenWiderstände und Barrieren zutage, die die Produktionssphäre selbst derEntwicklung des Marktes entgegensetzt und die es ihr in ihrer traditio-nellen Form verwehren, seinen Produktionsanforderungen und Lieferbe-dingungen nachzukommen.

Und gleichzeitig macht aber der – hier nur im opportunistischen, nichtim wertenden Sinne als solcher bezeichnete – Glückstreffer der kolonialen

Expansion und der Beuteschätze, die ihr entspringen, beziehungsweisemacht deren politisch-herrschaftlich motivierte Distribution an die tradi-tionellen Konsumentenschichten, dass auch jetzt die Marktbetreiber garnicht erst auf die Idee einer patrizisch-gentrizischen Zweckentfremdungihres angehäuften Kapitals verfallen, sondern angesichts der Absatz-chancen, die die gestärkte gesellschaftliche Kaufkraft ihnen unveränderteröffnet, ihr ganzes Sinnen und Trachten darauf richten, die stockendeProduktion anzutreiben und die arbeitsorganisatorischen Widerständeund betriebsbedingten Barrieren, die die traditionelle Produktionssphäredem entgegensetzt, zu überwinden.

Aber mag auch die neue Kaufkraft die Marktbetreiber ebenso sehr bei der Stange des kommerziellen Akkumulationsstrebens halten, wiedas vorher die durch die absolutistischen Ambitionen der Fürstenmachteröffneten neuen Investitions- und Expansionsaussichten taten, die Frageist, wo sie den Hebel ansetzen sollen, um die jetzt die Marktentwicklung

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hemmenden und nicht sowohl politisch-gesellschaftlichen als ökono-

misch-betrieblichen Schranken aus dem Weg zu räumen. Mit neuerlichenpolitischen Investitionen, sprich, mit weiteren Abgaben, Darlehen undKrediten an die Fürstenmacht ist hier nichts mehr zu erreichen, da derMarkt die Fürstenmacht gesellschafts- und ordnungspolitisch ja ohne-hin schon auf seiner Seite und zum heimlichen oder auch gar nicht soheimlichen Verbündeten hat und die Fürstenmacht über die gesellschafts-politische, die kommunalen Freiheiten und territorialen beziehungsweiseklerikalen Privilegien betreffende, und die ordnungspolitische, das Zunft-und Arbeitsrecht angehende Hilfestellung, die sie dem Markt leistet, hin-aus keine ökonomisch wirksame Handhabe besitzt und es ihr hinsichtlichder erforderlichen arbeitsorganisatorischen und betriebstechnischen Um-gestaltung der Produktionssphäre zum Zwecke ihrer Anpassung an dieMarktbedürfnisse sowohl die Kompetenz als auch die Handlungsbefug-nis fehlt, da ja ein wesentlicher Artikel des Pakts zwischen Fürstenmachtund Markt die Nichteinmischung ist.

Wo also sollen die Marktbetreiber, wenn sie mit keiner weiteren Hilfevon politischer Seite rechnen können und das vormals probate Mitteleiner Erschließung des Wirtschaftsraums auf dem Umweg einer Investi-tion in den politischen Wandel nicht mehr greift beziehungsweise nichtmehr relevant ist, den Hebel zur marktgerechten Veränderung der Pro-duktionssphäre ansetzen? Indes, ganz ohne Relevanz ist, recht besehen,

 jene frühere Investition des überschüssigen Handelskapitals in den politi-schen Wandel, jene Strategie also einer Förderung der ihrer ökonomischenBasis, dem Markt, wiederum Chancen und Räume eröffnenden abso-lutistischen Fürstenmacht, für das jetzt entstandene rein ökonomischeProblem einer Anpassung der traditionellen Produktionssphäre an dieneuen Marktbedürfnisse am Ende doch nicht!

Auch jene frühere, im Kern politische Investitionsstrategie hat ja, wiegezeigt, durchaus ihre unmittelbar kommerzielle Seite, ihren ausgemachtökonomischen Effekt. Was die Handeltreibenden dort dem Fürsten, mitdem sie kollaborieren und dessen politische Ambitionen sie nach Kräften

fördern, neben den Steuern und Abgaben, die sie ihm entrichten, sonstnoch zahlen, um seinen Aufstieg zu finanzieren, was sie ihm mit anderenWorten an Darlehen bewilligen oder an Krediten einräumen, das erhält ervon ihnen ja nicht unentgeltlich, nicht als reine Spende, sondern, wie dieBegriffe Darlehen und Kredit schon implizieren, im Austausch gegen von

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ihm seinerseits zu erbringende ökonomische Gegenleistungen, kurz, als

zinstragendes Kapital. Weil seine Karriere sich auf der Basis und sub con-ditione ihres entwickelten Marktsystems vollzieht, er in seinen politischenAmbitionen mit ihrem Tun und Treiben steht und fällt, können es sichdie Marktbetreiber erlauben, den Fürsten ihren Geschäftsbedingungenzu unterwerfen und ökonomische Leistung nicht bloß an politischesWohlverhalten oder Versprechen, sondern stets auch an ökonomischeGegenleistung zu knüpfen.

Weit entfernt davon, dass sie das Kapital, das sie dem Fürsten in Formvon allgemeinem Äquivalent beziehungsweise in Gestalt von rüstungs-oder repräsentationsrelevanten Gütern zur Verfügung stellen, bereit wä-

ren, als Betriebsausgaben zu verbuchen oder gar als bloße Werbungs-kosten abzuschreiben, mithin ausschließlich für die Aussicht auf dengedeihlichen Fortbestand des Marktes beziehungsweise auf dem Marktin Zukunft sich eröffnende neue Investitions- und Expansionschancenhinzugeben, bestehen sie vielmehr darauf, dass ihr fürstlicher Kontrahentihnen hier und jetzt Werte überlässt oder Garantien bietet, aufgrund de-ren sie sich schadlos halten können, sprich, das ihm nur geliehene, nichtetwa geschenkte Kapital um mindestens den üblichen Zinssatz vermehrtam Ende wieder in Händen halten. Dafür, dass sie ihm bei der Verfolgungseiner politischen Ambitionen finanziell unter die Arme greifen, verkauft,

verpachtet oder verpfändet er ihnen Aktiva oder Sicherheiten, die siead hoc beziehungsweise im Falle, dass der Fürst ihnen das Gelieheneschuldig bleibt, nutzen können, um sich ihr Geld einschließlich Rendite,sprich, ihr Kapital im vollen Sinne des Wortes, zurückzuholen.

Die Marktbetreiber gelangen auf diese Weise in den Besitz von bezie-hungsweise erwerben die Nießrechte an Bergwerken und Bodenschät-zen, Landgütern, landesherrlichen Handelsmonopolen und kolonialenHandelsprivilegien, die sie als ihnen zugefallene Reichtumsquellen aus- beuten und aus denen sie bei entsprechendem technischem Ingenium,organisatorischem Geschick und unternehmerischem Engagement große

Profite schlagen können – weit größere, als der in traditionellen Bah-nen befangene und ohnehin durch seine politischen und militärischenAktivitäten und durch Verwaltungs- und Repräsentationsaufgaben inAnspruch genommene Fürst zu ziehen vermag. Sie bringen, wenn manso will, einen Teil des fürstlichen Produktionspotenzials in ihre Hand, um

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es ebenso sehr zum eigenen Vorteil wie auf eigene Rechnung zu aktua-

lisieren und zu nutzen, sich nach Maßgabe ihres vom Verwertungstriebdes Akkumulationsprinzips beflügelten Erfindungs-, Organisations- undUnternehmungsgeistes mittels seiner zu bereichern.

Genau diese vormalige Methode, sich für ihre Zuwendungen an dieFürstenmacht schadlos zu halten, weist den Marktbetreibern nun denWeg zu einer marktgerechten Reorganisation und Umrüstung der durchihre traditionellen Strukturen und ihre relative Selbständigkeit die weitereEntfaltung des Marktes zu behindern oder gar zu durchkreuzen drohen-den handwerklichen Produktionssphäre. Was vorher willkommene Ne- benerscheinung einer mit dem überschüssigen Handelskapital mangelskommerzieller Verwendungsmöglichkeiten verfolgten und auf eine Ver- besserung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Aktivitätendes Marktes zielenden politischen Strategie war, wird jetzt zur erklärtenHauptsache einer zwar ebenfalls nicht unmittelbar kommerziellen, aberdennoch rein ökonomisch motivierten und nämlich ausschließlich auf eine Verbesserung der sächlichen Versorgungssituation des Marktes,seiner Belieferung mit Handelsgütern abgestellten Vorgehensweise.

Geradeso, wie dort die Marktbetreiber im Nebenhinein ihrer mit demüberschüssigen Handelskapital verfolgten politischen Strategie Produkti-onspotenziale der Fürstenmacht in ihren Besitz bringen, die sie in eigenerRegie nutzen, eignen sie sich hier im Kernpunkt ihrer mit dem über-

schüssigen Handelskapital bestrittenen ökonomischen VorgehensweiseProduktionsmittel des handwerklichen Produzentenkorps an, um sie auf eigene Rechnung zu bewirtschaften. Was sie dort in einer Art Spin-off ihrer mit finanziellen Mitteln verfolgten politischen Strategie an Produk-tionskraft- und Produktionskompetenz erworben haben, das wendensie jetzt im Zuge einer rein ökonomischen und nämlich nicht mehr viaobliqua der gesellschaftlichen Herrschaft operierenden, sondern direktauf die Basis des Marktes, die handwerkliche Gütererzeugung selbstgerichteten Investitionsstrategie an, um Einfluss auf jene Gütererzeugungund Verfügung über ihre organisatorischen Strukturen und technischen

Mechanismen zu gewinnen.Dabei darf die oberflächliche Ähnlichkeit der beiden Vorgehensweisen,dies, dass hier wie dort überschüssiges, weil unter den gegebenen Bedin-gungen nicht in neue Handelsgüter zu investierendes Kapital in Produk-tionsmittel gesteckt wird, die dann die Handeltreibenden in eigener Regie

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 beziehungsweise auf eigene Rechnung zu bewirtschaften unternehmen,

nicht über die tiefgreifenden und in der Tat entscheidenden Unterschiedehinwegtäuschen, die zwischen der dort als ökonomische Nebenwirkungpolitischer Zielsetzungen und der hier als ökonomisches Hauptanliegenpraktizierten Vorgehensweise bestehen. Übertragen auf die handwerk-liche Produktionssphäre, beweist die an fürstlichen Vermögenswertenausgebildete Methode einer Investition in sächliche Produktionsfaktorenin mehrfacher Hinsicht eine völlig neue Qualität.

Erstens spielt sich, rein quantitativ gesehen, aufgrund der als ursprüng-liche Akkumulation apostrophierten Anhäufung von Handelskapital, diedank der fürstlichen Hilfestellung, der absolutistischen Anpassung der

allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen an die Anforderungen desMarktes mittlerweile stattgefunden hat, jene neue Art von “produkti-ver” Investition, jene Aneignung von Produktionspotenzialen durch denMarkt, hier in ganz anderen Dimensionen ab als dort. Dort bezieht siesich auf den von den Marktbetreibern zum Bundesgenossen erkoreneneinzelnen Fürsten beziehungsweise seine Aktiva; hier hingegen erstrecktsie sich auf die gesamte handwerkliche Produktionssphäre, auf die Viel-zahl einzelner Handwerker und kleiner Betriebe beziehungsweise auf deren Arbeitsmittel.

Zweitens hat, objektiv betrachtet, die neue Investitionsmethode hier

völlig andere Implikationen als dort. Dort entwendet sie dem Fürstenein Stück seines Besitzes, das der Markt in eigene Regie übernimmt; aberweil es ja nur ein Stück seines Besitzes ist, bleibt der Fürst ökonomischfundiert, bleibt in seiner Existenzgrundlage unbeeinträchtigt, zumal erdank seiner gesellschaftlichen Stellung und seiner politisch-militärischenMacht ja die Möglichkeit behält, auf kriegerischem oder diplomatischemWeg oder mittels der ihm zufließenden Abgaben und Steuern neuenBesitz zu erwerben. Hier hingegen entzieht die auf die Aneignung vonProduktionspotenzialen gerichtete Investitionsmethode der Marktbe-treiber dem Handwerker beziehungsweise seinem kleinen Betrieb die

Subsistenzgrundlage. Weil der Handwerker seine Subsistenz, seinen Le- bensunterhalt, ja auf nichts anderes gründet als auf die Arbeits- oderProduktionsmittel, mittels deren er seine Arbeit verrichtet, seine Pro-dukte schafft, steht er in dem Maße, wie es den Marktbetreibern gelingt,mit ihrem überschüssigen Handelskapital sich diese Produktionsmittel

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anzueignen, sie in eigene Regie zu übernehmen, ohne Lebensunterhalt

da.Getrennt von seinen Arbeitsmitteln und auf sich gestellt, ist der hand-werkliche Produzent überlebensunfähig, so gut wie vernichtet. Vernichtetaber ist er, weil er, auf sich gestellt, eben nicht mehr auf sich gestelltist, weil er sein “sich”, seinen Status als ein Selbst, sein reflexives fun-damentum in re, seine praktische Sichselbstgleichheit in eben jenen Ar- beitsmitteln hat. Auf sich gestellt ist er nur, wo er arbeiten, mit seinenProduktionsmitteln produzieren kann. Will er überleben, der Vernichtungentgehen, so muss er deshalb sein reflexives Selbst wiedergewinnen, musser mit anderen Worten den Arbeitsmitteln, die sich die Marktbetreiberangeeignet und die sie ihm entwendet haben, hinterherlaufen, muss siesich von den Marktbetreibern wiedergeben, sich mit ihnen, seinem Status,von den letzteren wieder zusammenbringen und vereinigen lassen.

Resultativ genommen, hat drittens also die neue Investitionsmethodeder Marktbetreiber hier absolut andere Auswirkungen als dort. Der Fürst,weil ihm die von den Marktbetreibern in eigene Regie übernommenenProduktionspotenziale nur de jure oder formell gehören, weil er nichtihr Betätiger, nur ihr Besitzer ist, bleibt bei der Transaktion außen vor,lässt das Entäußerte fahren und zieht sich, in seiner Habe zwar vielleichtgeschmälert, aber doch nach wie vor im Besitz einer soliden Existenz-grundlage, auf diese zurück beziehungsweise beharrt sichselbstgleichauf ihr. Der handwerkliche Produzent hingegen findet sich, weil er defacto oder reell auf seine Arbeitsmittel angewiesen ist, weil er sie wesent-lich nur in Form ihrer Betätigung, der Arbeit mit ihnen, besitzt, durch jene Transaktion der Handeltreibenden gewissermaßen mit in den Kauf genommen und sich selbst entzogen: Weit entfernt davon, das von denMarktbetreibern Angeeignete fahren lassen und sich auf eine Grundlagezurückziehen zu können, die ihm bliebe, muss er, um nicht ins Bodenlosezu stürzen, hinterhereilen und sich von den Markbetreibern in Gestalt derentäußerten Arbeitsmittel seine Sichselbstgleichheit revindizieren, sichvon ihnen das, was ihm die Subsistenz verschafft, ihn am Leben erhält,

kurz, Arbeit geben lassen.

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Die neue Methode einer Investition von Handelskapital in die sächlichen Bedin-

 gungen der Produktion vollendet den Übergang von der bloßen Bedarfsfindungzur Bedarfsschöpfung, indem sie letztere aus einer ideell-verhaltenspraktischenzu einer reell-verfahrenstechnischen Vorgehensweise werden lässt. Zugleichimpliziert die neue Methode einen Subjektwechsel: Nicht mehr das empirisch ar-beitende Individuum mit seinem endlichen Subsistenzbedürfnis, sondern das sys-tematisch investierte Kapital mit seinem unendlichen Verwertungsdrang ist jetztdas handelnde Subjekt. Ausdruck dieses Subjektwechsels ist das Lohnverhältnis,das den empirischen Produzenten zu einem systematischen Produktionsfaktormacht.

Und genau dieser resultative Effekt ihrer neuen Investitionsmethodeliegt ja auch in der Absicht der Marktbetreiber, ist ihr ganzes Kalkül.Sie wollen dem handwerklichen Produzenten die Arbeitsmittel keines-wegs ein für allemal entreißen, wollen ihn mitnichten aus der Produk-tionssphäre vertreiben, ihn von ihr ausschließen. Was hätten sie auchdavon, da ihnen dann ja der Betätiger der Arbeitsmittel, der mit ihnenArbeitende fehlte, sie durch die Investition in die Produktionsmittel dieVerfügung über totes Kapital errungen hätten, dem die lebendige Energie,die produktive Hand abhanden gekommen wäre? Was die Marktbetreibervielmehr wollen, ist, Macht und Direktive über den handwerklichenProduzenten zu gewinnen, ihn in Art, Modus und Umfang seiner Tä-

tigkeit auf den kommerziellen Verwertungsanspruch einzustellen, dieErzeugnisse seiner Arbeit und seine Arbeitsleistung den ebenso sehrqualitativ sich wandelnden wie quantitativ wachsenden Anforderungendes Marktes anzupassen.

Und das erreichen sie auch! So gewiss die Marktbetreiber ihr unterden herrschenden Produktionsbedingungen überschüssiges Handelska-pital in die Arbeitsmittel der handwerklichen Produktionssphäre werfenund diese in zunehmendem Maße in ihren Besitz bringen, um dann dievon dem Produzenten getrennten Produktionsmittel unter eigener Regiewieder mit dem für seine Subsistenz auf sie angewiesenen ersteren zu-

sammenzufügen, Produzent und Produktionsmittel nach eigenem, vomkommerziellen Akkumulationsprinzip diktiertem Plan quasi künstlichzu synthetisieren, so gewiss gelingt es ihnen, nicht nur den Produzentenzu einer an den Ansprüchen des Marktes, statt an den eigenen Subsis-tenzbedürfnissen orientierten Arbeitsleistung zu zwingen, ihn bei Strafe

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eines Entzugs der Arbeitsmittel auf Trab zu bringen, sondern mehr noch

direkten Einfluss auf die Art und Weise seines Arbeitens, seine Produkti-onsbedingungen zu gewinnen.Aus dem selbständig Arbeitenden, dem im Auftrag des Marktes pro-

duzierenden, ebenso eigenständigen wie kleinen Unternehmer, wird einim unmittelbaren Dienste des Marktes Schaffender, ein von den Markt- betreibern als Arbeitskraft unter Kontrakt genommener Lohnarbeiter.Statt wie bislang dem Markt die Erzeugnisse zu liefern und zu verkaufen,die er mit eigenen Arbeitsmitteln und auf eigenem Grund und Bodenhergestellt hat, verkauft und überlässt der handwerklich Arbeitende denMarktbetreibern in dem Maße, wie es ihnen gelingt, ihn von seinem

produktiven Fundament, den materialen Bedingungen seiner Arbeit, zutrennen und diese in ihren Besitz und unter ihre Verfügung zu bringen,das, was ihm allein noch geblieben ist, seine abstrakte Arbeitskraft, damitdie Marktbetreiber sie den in ihrem Besitz befindlichen und zunehmendnach ihren marktspezifischen Vorgaben arrangierten und gestaltetenBedingungen unterwerfen, anpassen und integrieren.

Tatsächlich findet hier überhaupt erst jener für die Neuzeit grundtypi-sche Wechsel der von den Marktbetreibern gegenüber den Produzenten,den Lieferanten des Marktes, verfolgten Strategie seine Vollendung, deroben als Übergang von der passiven Bedarfsfindung zur aktiven Be-

darfsschöpfung apostrophiert wurde. Angetrieben von der doppeltenMotivation der ihnen auf politischem Weg, durch den Absolutismus, er-öffneten neuen Investitionschancen und kommerziellen Entfaltungsräu-me und der ihnen dank des ökonomischen Glückstreffers des kolonialenBeuteschatzes bei ihren alten Abnehmern und Konsumenten entgegen-kommenden neuen Kaufkraft oder Nachfragekapazität – angetriebenvon diesem doppelten Beweggrund wechseln, wie dargestellt, die Markt- betreiber ihre Wachstumsstrategie und verlagern das Schwergewichtihrer kommerziellen Bemühungen vom traditionellen Verfahren einerErweiterung des Kundenkreises, einer Rekrutierung neuer Konsumenten,

auf die alternative Methode einer intensiveren Inanspruchnahme derKonsumenten durch die Vermehrung und Verstärkung der ihnen gebote-nen konsumtiven Anreize, kurz, einer Entfaltung der Bedürfnisstrukturdes vorhandenen Kundenkreises. Das aber hat nicht weniger zur Grund-lage als zur Voraussetzung eine veränderte Einstellung des Marktes zur

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Sphäre der Produktion, einen veränderten Umgang der Marktbetreiber

mit denen, die marktgängige Güter herstellen und liefern.Die Marktbetreiber dürfen sich, wie bereits ausgeführt, nicht mehrauf ein bloßes Aufmerken und gewissenhaftes Beobachten der Verwer-tungschancen beschränken, die ihnen die Produktionssphäre von sichaus bietet und die sie dann beim Schopf ergreifen können, sondern siemüssen vielmehr die Produktionssphäre eifrig durchforsten und tatkräf-tig durchmustern, um solche Verwertungschancen aufzuspüren und sie,von denen die Produktionssphäre gar nichts weiß beziehungsweise in derSelbstzufriedenheit ihrer bewährten Gangart, ihrer Routine, nichts wissenwill, nicht sowohl nur beim Schopf zu ergreifen, als vielmehr in toto zuihrer Sache zu machen und aus dem Sumpf eben jener produktiven Rou-tine zu extrahieren. Oder, um es noch einmal mit einer oben verwendetenFormulierung zusammenzufassen: Statt passiv abzuwarten, ob ihnender Fortschritt der menschlichen Arbeit und Naturbeherrschung etwasNeues, ein Bedürfnis anders oder ein anderes Bedürfnis Ansprechendesund deshalb auf dem Markt Verwend- und Verwertbares in die Händespielt, müssen sie aktiv darauf aus sein, dem Arbeits- und Naturbeherr-schungsprozess alles zu entnehmen und abzugewinnen, was irgend neueBedürfnisse zu wecken oder alte Bedürfnisse neu zu erregen geeignet unddeshalb zu kommerziellen Zwecken einsetzbar ist.

Indes lässt sich der behauptete Wechsel von der Bedarfsfindung zur

Bedarfsschöpfung insoweit nur erst im wenn auch nicht bloß metapho-rischen, so jedenfalls doch rein verhaltenspraktischen Sinne und nichtschon in einem dem Schöpfungsbegriff adäquaten verfahrenstechnischenVerstand, in der Bedeutung also nur erst einer ideellen Verhaltens- undnicht schon einer reellen Vorgehensweise, konstatieren. Mögen die Markt- betreiber noch so sehr ein aktives Prospektieren und Aufspüren potenzi-eller Verwertungschancen an die Stelle des bloß passiven Kaufens undVerkaufens aktueller Handelswerte treten lassen, mögen sie noch so sehr,statt bloß nach Maßgabe aktueller Bedürfnisse die zu deren Befriedigungtauglichen Mittel zu finden und zu erstehen, jetzt vielmehr potenzielle Be-

friedigungsmittel suchen und auftreiben, um mit ihnen neue Bedürfnissezu wecken und durch deren Befriedigung ihren kommerziellen Umsatzzu steigern und den darin vor sich gehenden Akkumulationsprozess zu beschleunigen – mögen sich also die Marktbetreiber in ihrer praktischenEinstellung zu den Produzenten, ihren Lieferanten, noch so gewandelt

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zeigen, mögen sie einen durch den Erwartungsdruck und die Anspruchs-

haltung, mit denen sie ihnen begegnen, noch so veränderten Umgangmit ihnen pflegen, von einem nicht nur ihre soziale Beziehung, sondernmehr noch ihr reales Verhältnis zu den Produzenten betreffenden undihnen nämlich nicht nur taktischen Einfluss auf die Produzenten, sondernmehr noch faktische Macht über sie verleihenden zwingenden Zugriff auf ihre Sphäre, einer die veränderte praktische Einstellung in die Tattechnischen Einwirkens umsetzenden und in diesem Sinne tatsächlichenVerfügung über den Produktionsprozess selbst, sind sie doch immer nochweit entfernt.

Genau diesen Zugriff, diese Einwirkungsmöglichkeit verschafft ihnennun aber ihre neue, auf die Aneignung der Produktionsmittel statt bloßauf den Erwerb der Produkte abgestellte Investitionsstrategie. Indem siesich quasi in die handwerkliche Produktionssphäre einkaufen, statt ihrnur das, was sie jeweils hervorbringt, abzukaufen, werden die Markt- betreiber wenn schon nicht zu persönlichen Teilnehmern, so doch zusächlichen Teilhabern am Produktionsprozess und haben ein Wörtchenmitzureden, wenn es um dessen Gestaltung und Durchführung geht,wenn es mit anderen Worten darum zu tun ist, was, wie viel und auf welche Art und Weise produziert werden soll.

Und tatsächlich ist es keineswegs nur ein Wörtchen, das sie mitreden,sondern ihr Beitrag erweist sich als ein ganzes imperativisches Diktat. Der

Grund hierfür liegt in dem spezifischen Modus, in dem sich jene durchdie neue Investitionsstrategie der Marktbetreiber, die auf die Produkti-onssphäre selbst und als solche zielt, bewirkte Trennung und künstlicheWiedervereinigung von Produzent und Produktionsmittel vollzieht, istmit anderen Worten darin zu suchen, dass es sich bei jenem Vorgang einerSeparation zwecks neuerlicher Integration mitnichten um einen bloßnominellen, eigentumsrechtlichen Akt, sondern um eine überaus reellekonkurrenzkampfförmige Aktion handelt.

Die Marktbetreiber kaufen, wenn sie ihr überschüssiges Kapital indie sächlichen Bedingungen der dem Markt zuarbeitenden Produktion

zu stecken beginnen, den Produzenten ja nicht einfach deren Produkti-onsmittel ab. Warum sollten sich die Produzenten auch ohne Not vondieser ihrer Existenzgrundlage trennen, warum sollten sie aus freienStücken ihren gewachsenen und gewohnten Besitz aufgeben und ihn denMarktbetreibern überlassen, um sich unter deren Diktat dann wieder

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mit ihrer Existenzgrundlage synthetisieren, in ihren entäußerten Besitz

integrieren zu lassen? Vielmehr können die Marktbetreiber ihr überschüs-siges Kapital nur auf die Weise in die Sphäre der Produktion selbst stattin das Sortiment der ihr entspringenden Produkte investieren, dass sieungenutzte sächliche Produktionsbedingungen beziehungsweise Lie-genschaften oder Materialien, die sich für Produktionsprozesse nutzenlassen, kaufen und in ihren Besitz bringen, um sie mit arbeitslosen Produ-zenten zu bestücken, um also Arbeitskräfte, denen die Produktionsmittelfehlen und die eben deshalb als abstrakte Kräfte firmieren, an jenen vonihnen erworbenen Produktionskapazitäten sich gegen Entlohnung betäti-gen zu lassen.

Dass es an solchen frei flottierenden Produzenten, solchen abstraktenArbeitskräften nicht mangelt, dafür sorgen die geschilderte, von denMarktbetreibern finanzierte und sekundierte absolutistische Entwicklungder politischen Herrschaft und die damit einhergehende Umgestaltungdes Arbeitsmarktes oder vielmehr Auflösung der zunftmäßig strukturier-ten Sphäre handwerklicher Arbeit in den allein durch die Lohnbeziehungorganisierten Arbeitsmarkt, sorgen mit anderen Worten die durch denneuen Souverän durchgesetzte Aufhebung der Zunftordnungen undBeseitigung der städtischen Zuzugsbeschränkungen und die dadurch bewirkte oder jedenfalls massiv geförderte Landflucht, der Zustrom ausden ländlichen Regionen in die Städte, die mit relativer Freiheit und

prospektivem Wohlstand locken.Es ist also eher eine Infiltration durch Mimikry als eine direkte Macht-

übernahme, womit die Marktbetreiber der handwerklichen Produkti-onssphäre zu Leibe rücken, ist nicht sowohl eine Expropriationsmetho-de als vielmehr eine Emulationsstrategie, die sie mittels der Investitionüberschüssigen Handelskapitals in Produktionsmittel verfolgen. Wohl-gemerkt, von Mimikry, nicht von Nachahmung ist die Rede, Emulation,nicht Imitation lautet die Devise! Will heißen, die von den Marktbetrei- bern mittels eigener Produktionsmittel initiierten Produktionsprozessesind nicht einfach den traditionellen handwerklichen Arbeitsverfahren

nachgebildete und parallele Veranstaltungen, sondern verstehen sich vonAnfang an als buchstäblich zu nehmende Konterfeis oder Widerparts, alsunter dem Deckmantel ihrer Ebenbildlichkeit alternative Vorgehenswei-sen, sind von Anfang an durch ein Konkurrenzmoment, sprich, durch dieIntention geprägt, in Wettstreit mit den traditionellen Verfahren zu treten.

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Zugleich Träger und Triebkraft dieses Wettstreits ist der mit der eigen-

tumsrechtlich-nominellen Aneignung sächlicher Produktionsbedingun-gen durch die Marktbetreiber in objectu jener Bedingungen vollzogeneund das Produktionsziel betreffende, reale Subjektwechsel, ist mit an-deren Worten das unter der Camouflage der nominellen Aneignungs-prozedur jenen sächlichen Produktionsbedingungen als eine zur her-kömmlichen Absicht, die der Produzent mit ihnen verknüpft, alternativeZweckbestimmung vindizierte neue Subjekt. Dieses neue Subjekt ist dasder kommerziellen Funktion eingeschriebene Akkumulationsprinzip,der die Marktbetreiber in ihrer handelskapitalen Betätigung leitendeVerwertungsdrang.

Solange die Produktionsbedingungen sich noch in der Verfügung derProduzenten befinden, die Arbeitsmittel von den Arbeitenden selbstebenso sehr okkupiert wie gehandhabt werden, sind letztere das dieersteren bestimmende Subjekt, ist die irdische Existenz der Arbeiten-den, ihr konkretes Dasein, ihre das materielle Überleben, die sozialeReproduktion und den spirituellen Fortbestand umfassende Subsistenz,das über Art und Menge der Arbeitsmittel, über Form und Dauer ihresEinsatzes entscheidende und dafür maßgebende Subjekt. Natürlich gibtes hier eine durch den Charakter, die Lebensumstände, die Ansprücheund die Erwartungen der Subjekte, durch ihren Fleiß, ihren Ehrgeiz,ihre Findigkeit, ihre Handfertigkeit, ihre Gewinnsucht bedingte große

Variationsbreite der Arbeitsanstrengungen und Produktionsleistungen,aber der Dreh- und Angelpunkt aller produktiven Einrichtungen undAktivitäten bleibt doch immer das empirische Subjekt der Arbeit, dersei’s als einzelner Handwerker, sei’s als Meister einer Werkstätte agieren-de Produzent; und seine zwar vielleicht vielfältigen, aber doch immersubsistenziell begrenzten und nämlich ebenso sehr lebenspraktisch kon-ditionierten wie biographisch determinierten Bedürfnisse, Ansprücheund Zielsetzungen sind das für die Beschaffenheit, die Funktion und denEinsatz der Arbeitsmittel maßgebende Subjekt, der als letzter Bezugs-und Reflexionspunkt firmierende Zweck, dem das Produktionsmittel in

actu seiner Betätigung dient.Das indes ändert sich grundlegend in dem Augenblick, in dem dieMarktbetreiber mit ihrer auf die Produktionssphäre selbst und ihre Funk-tionsbedingungen, eben die Produktionsmittel, bezüglichen Investiti-onsstrategie beginnen. Indem sie sich die Produktionsmittel aneignen,

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sie in ihren Besitz bringen, nur um sie als Arbeitsmittel dem als Lohn-

arbeiter in Dienst genommenen Produzenten zwecks Produktion zurVerfügung zu stellen, imputieren sie ihnen einen grundlegend neuenGeist, ein toto coelo anderes Subjekt, nämlich das dem Handelskapital,das sie in die Produktionsbedingungen investieren, dem sie die Gestaltder Arbeitsmittel geben, innewohnende Akkumulationsprinzip, jeneneigentümlichen Verwertungsdrang, der nichts mit den materialen Eigen-schaften des Produzierten, seiner Fähigkeit, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, zu schaffen hat, sondern der ausschließlich auf die kom-merzielle Verwendbarkeit des Produzierten, seine Eignung, geldlichenMehrwert zu verkörpern, zielt.

Nicht mehr die subsistenzielle Erhaltung des sie betätigenden hand-werklichen Produzenten, sondern die kommerzielle Verwertung des sie besetzenden händlereigenen Kapitals ist das kraft ihrer nominellen An-eignung durch die Marktbetreiber die Produktionsmittel nunmehr reellokkupierende Subjekt, der sie fortan bestimmende Logos. An die Stelleder empirischen Bedürfnisse des menschlichen Daseins tritt als treibendesMotiv der systematische Anspruch der kommerziellen Funktion; dasendliche, durch biologische, soziale und personale Determinanten kon-kretisierte Selbsterhaltungsinteresse des arbeitenden Individuums wirddurch das in seinem abstrakten Selbstbezug unendliche, weil durch keineäußere Bestimmung determinierte, sprich, negierte Verwertungsstreben

des handelnden Kapitals verdrängt.Oder vielmehr wird das arbeitende Individuum, das menschliche Sub-

 jekt, als in den Produktionsmitteln und mittels ihrer wirksamer Akteurdurch das von den Produktionsbedingungen Besitz ergreifende neueSubjekt, das in Produktionsmitteln handelnde Kapital, nicht eigentlichverdrängt, sondern es findet sich durch das neue Subjekt in ein den Pro-duktionsmitteln bei- und eingegebenes Agens verwandelt, in eine alsProduktionsmittel sui generis dem handelnden Kapital verliehene pro-duktive Kraft umfunktioniert. Schließlich ist es ja weder die Absicht nochgar das Interesse noch überhaupt das Vermögen des neuen, in die Ar-

 beitsmittel investierten, kapitalen Subjekts, mit den letzteren zu arbeiten,sie als Produktionsmittel wirksam werden zu lassen, sondern ebensowesentlicher wie grundlegender Bestandteil des vom neuen Subjekt zurGeltung gebrachten Kalküls ist es, das alte Subjekt, den handwerklichArbeitenden, den die Arbeitsmittel betätigenden Produzenten als solchen

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 beizubehalten beziehungsweise wiedereinzusetzen, ihn im Rahmen der

vom neuen Subjekt in die Produktionsmittel hineingetragenen Verwer-tungsperspektive in seiner alten Rolle nutzbar zu machen.Das alte Subjekt, das arbeitende Individuum mit seinem den Umgang

mit den Arbeitsmitteln im Doppelsinn von Bestimmung und Begrenzungdeterminierenden Subsistenzbedürfnis bleibt also durchaus bestehen, bleibt als mit den Produktionsbedingungen, sofern sie produktiv sein sol-len, unabdingbar verknüpfte Kraft erhalten, nur dass es sich jetzt mit sei-nem endlich-empirischen Telos, dem Bemühen um die Sicherung seinermateriellen, sozialen und intellektuellen Existenz – positiv ausgedrückt– eingebettet zeigt in beziehungsweise – negativ gefasst – aufgehobenfindet durch eine unendlich-systematische Perspektive, die Verwertung

des in die Produktionsbedingungen investierten Werts, die Vermehrungdes für ihre Aneignung aufgewendeten Kapitals.

Diese Einbettung oder Aufhebung freilich ist mehr als ein bloß in-tegrativer oder transformativer Akt: Sie verwandelt die Stellung undBedeutung des als produktive Kraft beibehaltenen beziehungsweise wie-dereingesetzten alten Subjekts von Grund auf. Indem sie sein endlich-empirisches Subsistenzbedürfnis aus der ihm bis dahin eigenen Rolleeiner für die Art, den Modus und den Umfang der Produktionsanstren-gung oder Arbeit maßgebenden Rücksicht vertreibt und in dem Sinnedurch das unendlich-systematische Akkumulationsstreben des neuen

kapitalen Subjekts ersetzt, dass sie es auf eine bloß einschränkende Be-dingung, ein rein retardierendes Moment, kurz, eine conditio sine quanon des letzteren reduziert, setzt sie das alte Subjekt im Prinzip denübrigen Produktionsbedingungen gleich, lässt sie es der Sache nach zueinem Arbeitsmittel, wenn auch sui generis, werden, zu einem Mittel,dessen ebenso generative wie generische Besonderheit es ist, sich unddie übrigen Arbeitsmittel selbsttätig zu vermitteln, macht sie es also auseinem handelnden Subjekt zu einem ausführenden Organ, aus einemAkteur zu einem Agens, kurz, aus dem Produzenten, um den sich dieProduktion dreht, zu einem Produktionsfaktor, ohne den die Produktionnicht vor sich geht.

Ausdruck dieser das alte Subjekt aus dem alleinigen Produzenten auf einen Produktionsfaktor unter anderen reduzierenden Verwandlung sei-nes Subsistenzbedürfnisses aus einer Zweckbestimmung in eine Funk-tionsbedingung der Gütererzeugung ist das Lohnverhältnis. Im Arbeits-lohn ist das Subsistenzbedürfnis des Produzenten als zugleich Inbegriff 

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und Summe der für seine Erhaltung als Arbeitskraft, seine materielle,

soziale und intellektuelle Konservierung erforderlichen Subsistenzmittelgesetzt. Als Lohnarbeiter ist der Produzent ein Produktionsfaktor, dersich durch den in allgemeinem Äquivalent ausgedrückten Wert der fürseine eigene Reproduktion erforderlichen sächlichen Mittel definiert. Alskraft Lohnsumme dem Tauschwert der für seine eigene Reproduktionals Arbeitskraft nötigen Lebensmittel gleichgesetzter Produktionsfaktorfügt sich der Produzent ein in das Ensemble der übrigen Produktionsmit-tel, ist er mit anderen Worten Teil der kapitalen Gestehungskosten desProduktionsprozesses, Teil der Wertmasse, die das in die Produktions- bedingungen investierte kapitale Subjekt aufbringen muss, um die unterseiner Regie veranstaltete und wesentlich auf die Schaffung von mehr

Wert in Gütergestalt berechnete Produktion ins Werk setzen zu können.Nicht mehr die Subsistenz des handwerklichen Produzenten bildet

den von ihm selbst zur Geltung gebrachten Maßstab für den durch seineProduktion zu erzielenden endlichen Gewinn, sondern Maßstab ist nunein von dem neuen Eigner der Produktionsmittel in Rechnung gestellterKostenfaktor, ein als Lohnsumme, als jeweils mit dem Produzenten aus-zuhandelnder Gegenwert für den Gebrauch seiner Arbeitskraft, kurz, alsvariables Kapital zu der in die sächlichen Produktionsmittel investiertenWertsumme, dem in ihrer objektiven Gestalt konstanten Kapital, hinzu-tretendes Moment im Kalkül des unendlichen Akkumulationsstrebens

des für den neuen Eigner der Produktionsmittel maßgebenden kapitalenSubjekts.

Die Ablösung des empirischen Arbeitssubjekts durch das in den Produktionsmit-teln steckende kapitale Subjekt vollzieht sich sukzessive: Im Verlagswesen nochauf die Verfügung über die Arbeitsmaterialien beschränkt, bemächtigt sich im

 Manufakturwesen das kapitale Subjekt bereits des personalen Subjekts selbst,dem es via Werkzeugmaschine, Kraftmaschine und Automatisierung immer mehrFunktionen entzieht und das es damit immer mehr zum bloßen Programmiererund Kontrolleur des unter seiner, des kapitalen Subjekts, Regie ablaufenden

Prozesses degradiert.

Fürwahr, ein ebenso durchgreifender wie grundlegender Subjektwech-sel, den die handelskapitale Invasion der handwerklichen Produktionss-phäre, die Investition von akkumuliertem kommerziellem Wert in die

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sächlichen Bedingungen der Gütererzeugung selbst, mit sich bringt!

Durchgreifend freilich nicht im Sinne einer ebenso jähen wie unwider-stehlichen Veränderung der Lage, sondern im Verstand einer ebenso un-aufhaltsamen wie allmählichen Umgestaltung der Szene! Im unmittelbarempirischen Effekt nämlich beschert ja den Marktbetreibern die nunmehrvon ihnen betriebene Investition von Handelskapital in die Produktionss-phäre nichts weiter als das Eigentum an Produktionsmitteln, handelt essich dabei also erst einmal nur um einen das neue Subjekt Kapital denProduktionsmitteln imputierenden gesellschaftlich-rechtlichen Übertra-gungs- beziehungsweise Aneignungsakt und mitnichten schon um einendie Produktionsmittel dem neuen Subjekt vindizierenden eigenschaftlich-sächlichen Transformations- beziehungsweise Anverwandlungsvorgang.

Im Prinzip zwar oder an sich impliziert bereits dieser rechtliche Aneig-nungsakt den beschriebenen grundlegenden Subjektwechsel, bedeutet er bereits jene qua kapitales Subjekt eingeführte neue, die gesellschaftlichePraxis nachhaltig verändernde wirtschaftliche Perspektive und Strategie.Damit sich aber die Perspektive zur Szene entfaltet, die Strategie in dieTaktik umsetzt, die gesellschaftliche Praxis zur gegenständlichen Technikkonkretisiert, kurz gesagt, das prinzipielle Ansich zum reellen Daseinwird, braucht es mehr als den abstrakt rechtlichen Aneignungsakt.

Und dieses Mehr ist gar nicht umstandslos zu haben, gar nicht oh-ne weiteres in die Tat umzusetzen. Wenn, wie oben erklärt, die Markt-

 betreiber bei ihrem Zugriff auf und Eingriff in die Produktionssphäreeher emulativ als imitativ verfahren, wenn sie bei ihren Investitionenin die Produktionsbedingungen eher Mimikry treiben, als die direkteMachtübernahme praktizieren, dann nämlich nicht nur aus dem obenerwähnten Grund des subjektiven Widerstands der handwerklichen Pro-duzenten, nicht nur deshalb also, weil die Produzenten sich nicht soeinfach von ihren Produktionsmitteln trennen lassen, weil sie keinen Sinndarin sehen, sich ihre Arbeitsmittel, ihre Werkzeuge und Werkstätten,abkaufen zu lassen, nur um dann in eigener Person oder in der Gestaltvon anderen ihresgleichen mit dem Veräußerten unter der Ägide und

nach dem Kalkül der neuen Eigentümer wieder zusammengeschlossenzu werden, sondern so verfahren müssen die Marktbetreiber auch undmehr noch aus objektiven Hinderungsgründen und zwar deshalb, weilsie mit jenen Arbeitsmitteln, jenen handwerklichen Werkzeugen undWerkstätten, wenn sie sie denn in die Hand bekämen oder, besser gesagt,

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in ihren Besitz brächten, im Sinne ihres auf die künstliche Synthesis von

appropriiertem Produktionsmittel und expropriiertem Produzenten, vonArbeitsmittel und Arbeitskraft gemünzten Kalküls gar nichts Rechtesanfangen könnten.

Tatsächlich sind in der überkommenen handwerklichen ProduktionProduktionsmittel und Produzent, Werkzeug und Handwerker im Pro-duktionsverfahren so sehr miteinander konkresziert, so eng aufeinanderabgestimmt, so innig aneinander gebunden, dass, selbst wenn die Hand-werker wider alle Voraussicht bereit wären, den Marktbetreibern ihreWerkzeuge abzutreten, die Marktbetreiber doch immer noch weit entferntdavon wären, die für ihr Gewinnstreben grundlegende Strategie einer

Ausnutzung des Konkurrenzdrucks auf dem Arbeitsmarkt zwecks Lohn-drückerei anzuwenden und aus der dank absolutistischer Schützenhilfewachsenden Schar der Arbeit Suchenden diejenigen auszulesen und mitden Werkzeugen zusammenzuspannen, die letztere für den geringstenLohn gebrauchten und produktiv werden ließen. Vielmehr könnten sichdie Marktbetreiber wegen dieser in der traditionellen handwerklichenProduktion bestehenden engen Wechselwirkung zwischen Beschaffenheitdes Werkzeugs und Qualifizierung der Arbeit, instrumenteller Spezifikund handwerklichem Geschick, Gerät und Übung keineswegs nach Belie- ben auf dem Arbeitsmarkt bedienen, sondern fänden sich, statt nach ihren

kalkulatorischen Konditionen Arbeitskräfte rekrutieren zu können, aneine ebenso zahlenmäßig beschränkte wie arbeitstechnisch qualifizierteGruppe von Handwerkern verwiesen, die, weil für sie in der Schar derübrigen Arbeit Suchenden kein adäquater Ersatz zu finden wäre, sichauch nicht unter Konkurrenzdruck setzen ließen und die Abhängigkeit,in die die Marktbetreiber kraft Eigentums an den Werkzeugen sie, dieHandhaber der Werkzeuge, zu bringen suchten, durch die nicht mindergroße Abhängigkeit der Marktbetreiber von ihnen zu konterkarierenvermöchten, insofern ja nur sie sich auf die Handhabung der Werkzeugeverstünden und als Monopolisten der Arbeit den Marktbetreibern als

Monopolisten der Arbeitsmittel Paroli bieten könnten.Daraus folgt, dass die Marktbetreiber bei ihrer neuen Investitionss-trategie, die auf die Aneignung der Produktionsmittel beziehungsweiseauf deren Trennung von den Produzenten zwecks konditionierter Wie-dervereinigung beider zielt, die ersteren den letzteren nicht nur nicht

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einfach abkaufen können, sie sich vielmehr anderweitig beschaffen müs-

sen, sondern dass es auch gar keinen Sinn für die Marktbetreiber hätte,ihre investitionsstrategischen Bemühungen auf die Produktionsmittel imengeren Sinne, auf das handwerkliche Gerät, das Werkzeug zu richten,weil dies wegen seiner Konkreszenz mit den handwerklichen Arbeiten-den, der quasiorganischen Verknüpfung mit ihnen die Wiederherstellungder unverändert alten Produktionssituation erzwänge und für die Entfal-tung des den Werkzeugen imputierten neuen, kapitalen Subjekts, für dieDurchsetzung seines auf unendliche Akkumulation gerichteten Kalkülsgar keinen Raum ließe.

Wollen die Marktbetreiber dem von ihnen ins Spiel der Produktionss-phäre gebrachten neuen Subjekt, ihrem als von sich aus produktiv gesetz-ten Handelskapital, diesen Entfaltungsraum oder Realisierungsrahmensichern, so müssen sie es in die Produktionsmittel nicht im engeren,sondern partout nur im weiteren Sinne investieren, dürfen sich in ihremAneignungsdrang nicht auf die spezifischsten und konkretesten, sondernhöchstens und nur auf die allgemeinsten und abstraktesten Produkti-onsbedingungen kaprizieren, müssen einen Bogen um das wegen seinerVerschränkung mit dem Ingenium der handwerklichen Produzentenrelativ uneinnehmbare Instrumentarium der Arbeit machen und sich ersteinmal nur in den Besitz des von jenem handwerklichen Ingenium nochweitgehend unbeleckten beziehungsweise von jenem gegenständlichen

Instrumentarium noch nahezu ungeprägten Rohstoffs oder Objekts derBearbeitung bringen. Mit anderen Worten, für die Marktbetreiber hat eskeinen Sinn, sich um die Appropriation von Werkzeugen oder Arbeitsu-tensilien zu bemühen, vielmehr müssen sie darauf aus sein, in Werkstoffeoder Arbeitsmaterialien zu investieren.

Diese Option wird ihnen im Übrigen auch schon durch ihre frühere,politische, will heißen, primär auf die Beförderung der absolutistischenKarriere des Fürsten abgestellte Investitionsstrategie nahegelegt, da ja,wie oben erwähnt, dank der ökonomischen Gegenleistungen, die derFürst für die ihm von den Markbetreibern gewährte Unterstützung zu

erbringen hat, dank der Verkäufe, Verpfändungen und Verpachtungenalso, mit denen er ihre Darlehen und Kredite honorieren muss, die Markt- betreiber im quasi sekundären Effekt in den Besitz oder den Nießnutzvon landwirtschaftlichen Gütern, Bodenschätzen und Einfuhrprivilegi-en gelangen, deren Ertrag vorzugsweise in solchen für handwerkliche

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Produktionsprozesse benötigten Werkstoffen oder Arbeitsmaterialien

 besteht. Die Marktbetreiber setzen mithin, wenn sie ihren Eingriff indie handwerkliche Produktion auf deren allgemeinste und abstraktesteBedingungen, eben auf ihre stofflichen Grundlagen, ihre naturale Materie,konzentrieren, eine bereits bewährte Investitionspraxis fort – nur dassdiese Rohstoffe und Materialien, die sie erwerben beziehungsweise in diesie ihr überschüssiges Handelskapital investieren, sie jetzt nicht mehr alsfür die zirkulative Veräußerung, den Verkauf, bestimmte Handelsgüter,als Waren, sondern vielmehr als auf die produktive Verwendung, die Ver-wertung, berechnete Investitionsgüter, als Elemente der Warenerzeugunginteressieren.

Das Ergebnis der solchermaßen fokussierten und, wenn man so will,marginalisierten Investitionsstrategie der Marktbetreiber ist das so ge-nannte Verlagswesen, eine für die Zeit, in der das durch seine ursprüngli-che Akkumulation gekräftigte Handelskapital sich als Kapital sans phraseetabliert, sprich, das zirkulative Kapital sich durch seine Einlassung inden Arbeitsprozess in “produktives” Kapital verwandelt, typische Pra-xis, bei der die Marktbetreiber den unverändert in ihren heimischenWerkstätten oder Kleinbetrieben arbeitenden und scheinbar unverändertauf eigene Rechnung produzierenden Handwerkern den Rohstoff, dasArbeitsmaterial, liefern und ihnen zu einem vereinbarten Preis das fertigeProdukt abnehmen, um es auf dem Markt zu vertreiben.

Hier scheint das alte, arbeitende Subjekt, der handwerkliche Produzent,in seiner tradierten Subjektstellung noch weitgehend unangefochten; dasneue, in die Materialien investierte, kapitale Subjekt beschränkt sich auf eine dienende Funktion, die Rolle einer bloß zureichenden Bedingung:Es reicht dem Produzenten das Arbeitsmaterial zu, legt es ihm vor, undüberlässt es ihm, im Rahmen seines habituellen Arbeitsmilieus und nachMaßgabe seiner gewohnten subsistenziellen Bedürfnisse das Materialzu marktgängigen Gütern zu verarbeiten. Nicht nur bleiben nach wievor Maß der Arbeitsanstrengung des Produzenten seine empirischenLebensumstände und Ansprüche ans Leben, auch der Maßstab der zur

Erhaltung dieses seines empirischen Lebens zu erbringenden Arbeits-leistung bleibt erst einmal unverändert: Im Zweifelsfall bringt den Pro-duzenten der Lieferkontrakt, den sie mit den Marktbetreibern auf Basisdes ihnen von letzteren vorgelegten Arbeitsmaterials abschließen, keineVerschlechterung, wo nicht gar eine Verbesserung, ihrer ökonomischen

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Situation und entspricht der Preis, zu dem ihnen die Marktbetreiber ihre

unter Verlagsbedingungen gefertigten Produkte abnehmen, im Wesent-lichen dem, den sie als ohne Kontrakt Produzierende, als eigenständigEinkaufende und Verkaufende erzielt hätten.

Und gleichzeitig hat der mit den Marktbetreibern geschlossene Verlags-kontrakt oder Werkvertrag für die handwerklichen Produzenten dieseAnnehmlichkeit, dass er ihnen erlaubt, sich ganz auf ihre Produktionzu konzentrieren, und sie davon entbindet, neben ihrer Arbeit und zu-sätzlich zu ihr auf dem Markt präsent zu sein, um sich dort ihr Materialzu beschaffen und ihre fertigen Produkte abzusetzen, dass er ihnen alsoerspart, mit den Schwankungen, Wechselfällen und Risiken des Marktes,den auf dem Markt auftretenden Beschaffungs- und Absatzproblemen,fertig werden zu müssen, und ihnen, während sie die Bewältigung alldieser marktspezifischen Probleme an den Betreiber des Marktes selbst,ihren Verleger, delegieren können, zuverlässig Aufträge ins Haus bringtund ein entsprechend regelmäßiges Einkommen sichert.

So gesehen, beschert das Verlagswesen den handwerklichen Produzen-ten Annehmlichkeiten und Vorteile, die ihnen ihre Verleger, die Marktbe-treiber, fast im Lichte von lieben Geschäftspartnern, wo nicht Wohltätern,erscheinen lassen könnten. Indes, den ihnen auf Basis des geliefertenRohmaterials zuarbeitenden Handwerkern geschäftlich zuliebe zu seinoder gar Wohltaten zu erweisen, zählt definitiv nicht zu den treibenden

Motiven der Marktbetreiber. Was sie treibt, ist der Verwertungsdrang, derWunsch nach weiterer handelskapitaler Akkumulation, und den befriedi-gen sie bei ihrer verlegerischen Tätigkeit in der Hauptsache und primärauf die Weise, dass sie dank der Rohstoffquellen, die sie durch Kauf,Verpfändung und Verpachtung von den Territorialherren übernehmenund unter ihre Verfügung bringen, dank der Handels- und Kolonialhan-delsmonopole, mit denen die nach absolutistischer Herrschaft strebendenFürsten ihren finanziellen Beistand honorieren, und dank nicht zuletztder Mengenrabatte, die sie als verlegerische Großeinkäufer von Arbeits-materialien aushandeln und gewährt bekommen, imstande sind, die

Rohstoffe und Materialien, die sie den handwerklichen Produzenten zurVerarbeitung vorlegen, erheblich billiger zu erstehen, als die letzteren siezu erstehen vermöchten, wenn sie selbst sie auf dem Markt einkaufenmüssten, dass sie mit anderen Worten ihre ihnen von den handwerkli-chen Produzenten gefertigten Produkte auf der Grundlage niedrigerer

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Produktionskosten erwerben und also, selbst wenn sie den Produzenten

das gleiche Entgelt dafür zahlen, das diese erzielten, als sie noch nichtunter Verlagskontrakt arbeiteten, doch allemal mit einer Ware dastehen,die sie mit höherem Gewinn als zuvor verkaufen können.

Diesen Gewinn investieren sie wiederum in neue Rohstoffe und Ar- beitsmaterialien und sind so in der Lage, immer neue Verlagskontrakteabzuschließen und immer mehr handwerkliche Einzelunternehmer undKleinbetriebe auf der Basis des ihnen zugeteilten materialen Produkti-onsmittels aus der uneingeschränkten Selbständigkeit von den Markt beliefernden frei schaffenden Produzenten in die relative Abhängigkeitvon für die Marktbetreiber produzierenden vertraglich gebundenen Lie-feranten zu überführen, bis schließlich die Marktbetreiber auf dem betref-fenden Rohstoff- und Materialmarkt eine so dominante Position erringen,sprich, die betreffenden Rohstoffe und Materialien so umfassend in ihreVerfügungsgewalt bringen, dass für die handwerklichen Produzenten andem materialen Quasimonopol der Marktbetreiber praktisch kein Wegmehr vorbeiführt, sie ihr Arbeitsmaterial als frei flottierendes Gut oderkonditionslos angebotene Ware auf dem Markt kaum noch vorfindenund nurmehr in seinen Besitz gelangen können, wenn sie bereit sind, dieihnen von den Marktbetreibern gleichzeitig angetragenen Verlagsarbeits- bedingungen zu akzeptieren.

In dem Maße aber, wie diese Situation eintritt, ändert sich das Verhält-

nis zwischen den per Verlagskontrakt verbundenen Marktbetreibern undhandwerklichen Produzenten und legen erstere den bis dahin bezeig-ten Anschein partner- oder gar gönnerschaftlicher Umgänglichkeit ab.Der Ratio des kapitalen Subjekts gehorchend, das sie in die materialenArbeitsmittel investiert haben und das auf generell-unendliche Wertak-kumulation statt auf individuell-endliche Lebenserhaltung zielt, und ihrequasimonopolistische Position ausnutzend, beginnen die Marktbetreiber,die handwerklichen Produzenten auf zweierlei Weise unter Druck zusetzen und zu erhöhten Produktionsleistungen anzutreiben. Zum einendrücken sie den Preis, zu dem sie den Produzenten ihre Produkte abneh-

men, und zwingen die um die Wahrung ihres Einkommensniveaus undLebensstandards Bemühten damit zu einer Verlängerung ihrer Arbeitszeit beziehungsweise einer Verstärkung ihrer Arbeitsanstrengung. Und zumanderen fangen sie an, direkt in den Produktionsprozess einzugreifen,indem sie die Produzenten zu Änderungen ihrer Arbeitsabläufe und

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Techniken zwingen beziehungsweise sie mit leistungsstärkeren Werkzeu-

gen und Arbeitsgeräten ausstatten.Mit letzterem erweitern sie ihren Investitionsbereich, dehnen ihn vonden materialen auf die instrumentalen Arbeitsmittel aus, und verset-zen die verlagsförmig tätigen Produzenten damit in eine so umfassendeAbhängigkeit, dass ihre Heimarbeit, der Umstand ihres Wirkens in deneigenen vier Wänden und heimischen Werkstätten, zur Formalie ver-kommt und die Tatsache, dass sie praktisch vollständig unter der Regieund auf Rechnung der sie in Arbeit setzenden Marktbetreiber produzie-ren, kurz, das factum brutum des Lohnarbeitsverhältnisses, in das siestillschweigend übergewechselt sind, kaum mehr zu verdecken vermag.

Indes ist solche, in der umfassenden Verfügung über die Arbeitsmittel,die in der Konsequenz ihrer expandierenden Investitionstätigkeit dieMarktbetreiber erlangen, implizierte Aushöhlung der Verlagsarbeit zurkaum mehr verhohlenen Lohnarbeit bereits eine Randerscheinung oder,wenn man so will, ein Abfallprodukt einer tiefgreifenderen Veränderungund grundlegenderen Umgestaltung der handwerklichen Produktion,die mit der Formalie der Selbständigkeit des Handwerkers und seinerauf heimischem Boden eigenständigen Werkstätte kurzen Prozess machtund sie durch die neue Realität des manufakturellen Betriebes ersetzt.Durch ihre quasimonopolistische Position, was die Beschaffung und Lie-ferung der für den Produktionsprozess erforderlichen Materialien betrifft,

so sehr gestärkt, dass sie den handwerklichen Produzenten nach Maß-gabe des Akkumulationsanspruchs des in die Materialien investiertenkapitalen Subjekts Bedingungen stellen und sie ebenso sehr zu verfah-renstechnischen Anpassungen nötigen wie einem Preisdiktat unterwerfenkönnen, stecken die Marktbetreiber ihr akkumuliertes Handelskapitalnicht mehr nur in die Mittel der Produktion, sondern in die Produk-tionssphäre als topisch solche, fangen an, eigene Produktionsorte, vonihnen selbst betriebene Werkstätten, zu errichten, und zwingen ihre Pro-duzenten, sich an diesen Stätten zur Arbeit zu versammeln, statt imhäuslich-familiären Milieu, in Heimarbeit, ihr mit dem Verleger verein-

 bartes Produktionssoll zu erfüllen.Diese Zusammenfassung der verstreuten Werkstätten zu zentralisiertenBetrieben nebst der darin beschlossenen Überführung der individuellenVerlagsarbeit in kollektive Fabrikarbeit ist für die Marktbetreiber in mehr-facher Hinsicht von Vorteil: Erstens vereinfacht beziehungsweise erübrigt

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sie die in Korrespondenz zum wachsenden Umfang des Verlagswesens

aufwendiger werdende Logistik der Versorgung der Produzenten mitden Arbeitsmaterialien, indem sie den Spieß quasi umdreht und, stattdie des Transports bedürftigen Arbeitsmaterialien zu den Produzentenzu schaffen, vielmehr die automobilen letzteren zu den ersteren zitiert,was für die hiermit ihre Investitionstätigkeit von mobilen auf immobileProduktionsbedingungen ausdehnenden Marktbetreiber, die Errichterund Unternehmer der neuen, zentralen Arbeitsstätten, die zu Fabrikantenmutierenden Verleger, eine erhebliche Kostenersparnis bedeutet.

Zweitens wird dadurch der Arbeitsprozess vom Lebenszusammen-hang der Produzenten abgetrennt, was den letzteren sowohl in seinermoralischen Bedeutung als über das Ausmaß der subsistenziellen An-strengungen entscheidendes Kriterium aus den Augen schafft als auchin seiner praktischen Wirkung als die subsistenziellen Anstrengungen beeinträchtigende Störungsquelle außer Kraft setzt und so eine volle Kon-zentration der Produzenten auf ersteren und von äußeren Abhaltungenfreie Präokkupation mit ihm ermöglicht.

Drittens erlaubt die Zusammenführung der Produzenten in solchenzentralen Arbeitsstätten deren Betreibern, den in Unternehmer verwan-delten Verlegern, ein bis dahin undenkbares Maß an Kontrolle über dieOrganisation und den Ablauf des Arbeitsprozesses und einen noch niedagewesenen Einfluss auf die Methoden und Techniken der Arbeit selbst.

Hinzu kommt viertens noch die von Grund auf veränderte Beziehungder Produzenten untereinander, die sich durch ihre räumliche Zusam-menführung und ihr organisatorisches Miteinander einem ständigenVergleich unterworfen und einem entsprechend permanenten Konkur-renzdruck ausgesetzt finden. Quasi räumlich parallelgeschaltet und pro-zessual kommunizierend, kehren die Produzenten klar erkennbar ihrearbeitstechnisch divergierenden Begabungen und ihre arbeitsenergetischunterschiedlichen Leistungen hervor, lassen sie mit vergleichsweise ana-lytischer Distinktheit ihre Stärken und Schwächen in der Ausübung ihresHandwerks sichtbar werden.

Dem kapitalen Verwertungsinteresse der Unternehmer aber bezie-hungsweise dem instrumentellen Effizienzanspruch, mittels dessen sichdas Verwertungsinteresse im realen Produktionsprozess zur Geltung bringt, wird diese Divergenz der Begabungen und Leistungen, der Stär-ken und Schwächen der handwerklich produzierenden Subjekte zum

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Anlass, die Arbeitsabläufe und Produktionsverfahren en detail wahr-

zunehmen und zu analysieren, sie in ihrer synthetischen Natur, in ihrerelementaren Zusammensetzung und Schrittfolge zu bestimmen und aus-einanderzunehmen und zum Beweis der Möglichkeit oder vielmehr –gemäß der imperativischen Natur des Verwertungsprinzips – der Not-wendigkeit, auf der Grundlage der gewonnenen methodischen und tech-nischen Einsichten die Arbeitsgänge als eine Folge von Arbeitsschrittendergestalt aufzuteilen und anzuordnen, die Produktionsverfahren so zuzergliedern und als prozessual ebenso sehr voneinander getrennte wiemiteinander verknüpfte Fertigungsetappen zu arrangieren, dass sichdurch die Beschränkung des produzierenden Subjekts auf den einenoder anderen Arbeitsschritt, die ausschließliche Bindung seiner Tätigkeitan eine einzelne Fertigungsetappe, seine Begabung voll ausschöpfenund seine Leistung optimieren, die Ausschaltung seiner handwerklichenSchwächen und der ungehinderte Einsatz seiner fabrikativen Stärkeneffektuieren lässt.

Dank der Kontrolle und kraft des Einflusses, die sie im Rahmen dervon ihnen etablierten zentralen Werkstätten über die dort versammeltenProduzenten ausüben, setzen die zu Unternehmern avancierten Verlegerim Interesse einer größtmöglichen Erhöhung der Produktionsleistung jene im Begriff der Manufaktur gefasste instrumentelle Zergliederungdes Arbeitsablaufs und personelle Aufteilung des Produktionsprozes-

ses durch, die den einzelnen Produzenten aus dem integralen Erzeugerdes Produkts zu dessen partiellem Bearbeiter werden lässt und das or-ganisatorische Miteinander in eine arbeitsteilige Kooperative, die bloßräumliche Kollektivierung in die mehr noch sächliche Spezialisierungüberführt.

Dabei spricht der Manufakturbegriff aus, worin die sicherste und inder Tat einzige Methode besteht, die Begabungen der Produzenten aus-zuschöpfen und ihre Leistungen zu optimieren, ihre Schwächen aus-zumerzen und ihre Stärken voll einzusetzen, und worauf deshalb alleAufspaltung des Arbeitsvorganges und Aufteilung auf die Arbeitenden,

alle Verwandlung der handwerklich Tätigen aus ebenso parallelen wieintegralen Erzeugern in ebenso sukzessive wie partielle Bearbeiter, kurz,alle Überführung der in der zentralen Arbeitsstätte versammelten Pro-duzenten aus einem gleichgeordneten Kollektiv in eine funktionsteiligeKooperative letztlich hinausläuft: A und O des Manufakturprinzips,

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einziger Sinn und Zweck der Zerlegung und artefiziellen Wiederzu-

sammensetzung des Produktionsprozesses ist die Beschränkung undKonzentration des einzelnen Produzenten auf ein besonderes Momentseiner produktiven Tätigkeit, die Reduktion des ganzen Handwerkersauf die detailliert wirkende Hand, der prozessualen Handarbeit auf denpunktuellen Handgriff.

Indem der einzelne Handwerker auf einen isolierten Handgriff fokus-siert und fixiert wird, verwandelt er sich aus einem Verstandeswesenin das Gewohnheitstier, das jedem Verstandeswesen den Boden bereitetund es trägt, nimmt er die Meisterschaft, zu der er es gebracht hat, in dieÜbung zurück, die ihn zum Meister gemacht hat. Er geht als Handwerker,

als Erzeuger zugrunde, um als Handlanger, als Routinier in dem Grunde,in dem er verschwunden ist, wiederaufzuerstehen. Der Spiritus reduziertsich auf den Habitus, dem er entstammt, die techné auf die mechané, auf der sie aufbaut, die Kunstfertigkeit auf die Abrichtung, in der sie gründet.

Die qua Manufaktur verfolgte Methode zielt also nicht sowohl darauf ab, durch Förderung der speziellen Begabung des Einzelnen und durchKonzentration auf seine partikularen Stärken seine Produktionsleistungzu optimieren, vielmehr ist sie darauf gerichtet, das ganze Problem derindividuellen Begabungen und Eigenheiten, der persönlichen Stärkenund Schwächen durch Regression zu unterlaufen, sprich, dadurch zu

erledigen und aus der Welt zu schaffen, dass das Individuum aus einemorganischen Wesen in ein mechanisches Geschöpf transformiert, die Per-son aus einem ausführenden Subjekt auf ein Durchführungsorgan, auseinem sein Handwerk Ausübenden auf einen Handarbeit Verrichten-den, aus einem mit Haupt und Gliedern produzierenden menschlichenKörper auf das agierende Glied eines künstlichen Produzentencorpusreduziert wird. Haupt dieses künstlichen Produzentencorpus ist das kapi-tale Subjekt, das nun den einzelnen, quasi in seine Hand gefahrenen undmit ihr kurzgeschlossenen Handwerker seine den Meister verleugnendeÜbung, sein zum Handgriff aufgehobenes Handwerk in funktionsteiliger

Abstimmung, in prozessualer Kooperation mit den anderen, zu arbei-tenden Gliedern verflüchtigten und als solche dem Produktionsprozessinkorporierten Produzenten verrichten lässt.

In eben dem Maße, wie der Handwerker sich durch die zentrale Pro-duktionsstätte und die in ihrem Rahmen vollzogene Zersetzung und

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Neuzusammensetzung des Produktionsprozesses in der Rolle des sei-

ner Hände Arbeit organisierenden Subjekts abgedankt und auf ein zumHandgriff partikularisiertes Moment dieser Arbeit beschränkt findet, wiesich also der Handwerker zum in die eigenen Hände gefahrenen und alsreines Agens ihrer partikularen Verrichtung mit Beschlag belegten Hand-arbeiter verliert, übernimmt der in der zentralen Produktionsstätte undihrem Betrieb steckende kapitale Faktor die Subjektrolle und lenkt diewirkende Hand, auf die sich der Handwerker reduziert zeigt, besetzt dievakante Stelle des Prozessbevollmächtigten, die letzterer im Zuge seinerReduktion hinterlassen hat, wird zur planenden und organisierendenMacht in corpore des arbeitsteiligen Produzentenkollektivs, in das sichder individuelle Produzent als partikulares Glied und faktorelles Organintegriert und aufgehoben findet.

Indes, so richtig es, praktisch-mechanisch betrachtet, sein mag, dasPrinzip der aus der Überführung der Verlagsarbeit in Fabrikarbeit her-vorgehenden Manufaktur in eine Reduktion des Handwerkers auf diewirkende Hand beziehungsweise des Handwerks auf den Handgriff zu setzen, so sehr stellt sich doch, faktisch-organisch gesehen, die Re-duktion eher als eine Delegation dar und bleibt die Rede davon, dassder Handwerker in seine Hand fahre, als Subjekt in seiner Gliedmaßeverschwinde, mit der ja eine Verselbständigung, ein vollständiges Ei-genleben der manufakturell genutzten Hand suggeriert wird, nolens

volens Metapher. So wenig sich, faktisch-organisch gesehen, die Handvon der Person, der sie zugehört und mit der sie verbunden ist, ohneVerlust ihrer Funktionsfähigkeit ablösen und im Sinne einer wirklichenSektion trennen lässt, so sehr bleibt die Person, mag sie sich noch sosehr als Organisatorin und Lenkerin ihrer Hand verabschiedet und ihreWirksamkeit auf einen geübten Handgriff, auf den Automatismus einersich wie von selber zur Arbeit schickenden Hand reduziert finden, dochallemal noch der hinter seiner Hand stehende lebendige Körper, der dieHand als seine Gliedmaße betätigende menschliche Organismus. Dasheißt, der produzierende Handwerker, das alte Subjekt des Produktions-

prozesses, lässt sich nur als über die Hand prozessual verfügende Person,nicht als sie korporell betätigender Organismus durch das neue, kapitaleSubjekt verdrängen, die arbeitende Hand gewinnt eine nur funktionelle,nicht auch reelle Selbständigkeit – sie wird zwar vom kapitalen Subjekteingesetzt und gelenkt, aber nach wie vor von dem Individuum, an dem

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sie mit jeder Faser ihrer organischen Beschaffenheit hängt, gebraucht und

 betätigt.Das aber bedeutet, dass zwischen dem die Hand lenkenden kapitalenSubjekt und dem sie betätigenden personalen Organismus eine Art Kon-kurrenzverhältnis besteht oder jedenfalls entstehen kann – nicht zwar indem aktiven oder positiven Verstand, dass einer dem anderen die Verfü-gung über die Hand streitig machen könnte (die Verfügungsgewalt überdie Hand hat unter den Bedingungen der in der zentralen Arbeitsstätte,im Manufakturbetrieb, durchgesetzten Verwandlung des Handwerkers inden Handarbeiter beziehungsweise des selbständig produzierenden Ein-zelnen ins arbeitsteilig fabrizierende Element eines Produktionskollektivsdas kapitale Subjekt ein für allemal errungen), wohl aber in dem passivenoder limitativen Sinne, dass der personale Organismus allemal nochdas Zeug dazu hat, dem kapitalen Subjekt ins Handwerk zu pfuschen, besser gesagt, in die fabrikative Parade zu fahren, sprich, die negativeMacht besitzt, aufgrund eigener Leibesschwäche, Unkonzentriertheitoder Ungeschicklichkeit die von ihm betätigte Hand ins Stocken gera-ten, Fehlhandlungen begehen und eine überhaupt mangelhafte Leistungerbringen zu lassen.

Diese aus Ungeschick, Zerstreuung oder einer anderen Fehlleistungs-trächtigkeit vorfallende potenzielle Sabotage des manufakturellen Pro-duktionsprozesses durch den Handarbeiter beziehungsweise dessen per-

sonalen Organismus zu unterbinden, hat das kapitale Subjekt ein vitales,seinem innersten Lebensprinzip, dem Verwertungsdrang, entspringendesInteresse. Es hat ein vitales Interesse daran, den personalen Organismushinter der Hand als deren Funktionstüchtigkeit potenziell beeinträchti-gende Störungsquelle bei der Benutzung des Werkzeugs auszuschaltenund die Hand zuverlässiger und effektiver mit dem Werkzeug, das sie benutzt, zu verbinden, sie dem personalen Organismus und seinem po-tenziell störenden Einfluss nach Möglichkeit zu entziehen, mithin ebendie Sektion oder Abtrennung der tätigen Hand vom sie betätigendenOrganismus, die auf den ersten Blick oder organisch betrachtet unmög-

lich scheint, auf anderem Wege dennoch ins Werk zu setzen. Hierfürsetzen seine Funktionäre, die zu Unternehmern mutierten Verleger, alleihnen im Rahmen ihres produktiven Engagements verfügbare techni-sche Intelligenz in Bewegung, und das Ergebnis der konsequierendenerfinderischen Anstrengungen ist die nicht zwar organische, wohl aber

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mechanische Ablösung der Hand vom Arbeiter und Eingliederung ins

Werkzeug selbst, das durch diese Eingliederung der Hand in sein Corpuszum eigenständigen Mechanismus, zur Maschine, wird.Zur Arbeits- oder Werkzeugmaschine entwickelt, ist das Werkzeug Re-

sultat und Verkörperung der fortschreitenden subjektiven Verfügung desin die Arbeitsmittel investierten kapitalen Subjekts über den Produktions-prozess: Indem es dem die Arbeitsmittel betätigenden personalen Subjekt,dem Handarbeiter, die mittels ihrer ausgeübte Funktion der Formgebungoder eidetischen Gestaltung entzieht und letztere dank mechanischer Vor-richtung in eigene Regie übernimmt, verdrängt das kapitale Subjekt daspersonale Subjekt mitsamt seiner organischen Hand endgültig aus seiner ja bereits auf den manufakturellen Handgriff reduzierten handwerklichenSubjektrolle und weist ihm die augenscheinlich nurmehr faktorelle Auf-gabe der den mechanischen Produktionsprozess in Gang setzenden undin Gang haltenden Kraftanwendung oder energetischen Leistung zu, be-schränkt es mit anderen Worten auf die Funktion der zwecks Betreibungder im übrigen selbsttätigen Arbeitsmaschine Hand anlegenden und sichin dieser energetischen Mitwirkung erschöpfenden Arbeitskraft.

Immerhin bleibt so der personale Organismus als Energiequelle, als derdie Kraft zur Arbeit beisteuernde Betätiger und Betreiber der Werkzeug-maschine ein für den Produktionsprozess unentbehrlicher Faktor und bleibt insofern aber auch, was er bereits als Betätiger seiner Hand und

Ausführender eines Handgriffs, kurz, als Bearbeiter im Prozess war: einedurch etwaige Unzulänglichkeiten und Gebrechen den Produktionspro-zess zu beeinträchtigen oder gar zu hintertreiben, jedenfalls aber in seinerEffizienz zu mindern geeignete potenzielle Störungsquelle – wobei jetztfreilich gemäß der Verdrängung des Organismus aus der Rolle des Form-gebers oder Gestalters und seiner Beschränkung auf die bloße Aufgabedes Kraftanwenders oder Energielieferanten die Störung eher aus Lei- besschwäche, Ermüdung oder sonstiger organischer Erschöpfung als ausUngeschick, Zerstreuung oder anderen Mängeln in der leiblich-seelischenKoordination entspringt. Auch diese Störungsquelle sucht das kapitale

Subjekt beziehungsweise bemühen sich die hinter ihm stehenden, durchihre Einlassung in die Produktionssphäre zu Unternehmern mutiertenMarktbetreiber nach Kräften auszuschalten, und das technische Ergebnisihrer Bemühungen ist die Kraftmaschine, eine der Werkzeugmaschineangegliederte beziehungsweise in sie integrierte und sie mechanisch

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 betreibende, mithin den organischen Kraftspender erübrigende Energie-

quelle.Nicht nur in seiner Rolle als Gestalter, als Handwerker, sondern auchund mehr noch in seiner Bedeutung als Energielieferant, als im buchstäb-lichen Sinne arbeitende Kraft, durch die Kraftmaschine, die Maschine imhiernach eigentlichen Sinne, abgelöst und obsolet gemacht, findet sich derProduzent nunmehr mit dem Posten eines Steuerers und Bedieners ebendieser, im Zusammenspiel von Formgebung und Kraftanwendung be-stehenden vollmechanischen Apparatur betraut; das heißt, die Maschine beschränkt seine Arbeit mehr und mehr darauf, sie für ihren quasi selbst-tätigen Betrieb einzurichten, für die prozessuale Abfolge ihrer einzelnenArbeitsgänge zu sorgen und bei Störungen ihres Betriebes korrigierend beziehungsweise bei Defekten ihrer Maschinerie reparierend einzugrei-fen.

Und nicht einmal mit der Reduktion und Beschränkung des menschli-chen Organismus, des personalen Subjekts, auf die Rolle eines Steuerersund Bedieners der vom wirtschaftlichen Kalkül, vom kapitalen Subjekt,ins Leben gerufenen und zum Einsatz gebrachten vollautomatischenund nämlich aus eigener Kraft nicht weniger als mit eigenem Werkzeugproduzierenden Maschine hat der Prozess der Verdrängung und Erset-zung des ersteren durch letztere sein Bewenden. Das auf umfänglicheBefreiung des Produktionsprozesses von organischer Unzulänglichkeitund seine weitestgehende Sicherstellung gegen menschliche Unbere-chenbarkeit drängende kapitale Subjekt schafft es mittels der ihm zuGebote stehenden technischen Intelligenz sogar, immer größere Anteileder dem personalen Subjekt verbliebenen Schaltaktivitäten, Steuerungs-funktionen und Bedienungsaufgaben dem vollmechanischen Apparatzu integrieren und so dessen Selbsttätigkeit zum veritablen Automa-tismus zu komplettieren, aus der Maschine den Automaten werden zulassen, bis dem personalen Subjekt wenig mehr bleibt, als die Aufgabe,diese automatisierte Maschine, diese sich selbst betreibende, steuerndeund überwachende Produktionsapparatur für ihren Einsatz zu program-

mieren, im Störungsfall zu kontrollieren und zwecks Verhütung vonStörungen zu warten.

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Weil die Verdrängung des personalen durch das kapitale Subjekt im Produktions-

 prozess kein bloß negativer Vorgang ist, weil sie in praxi durchaus als Wieder- gutmachung des dem ersteren durch letzteres angetanen Torts erscheint, kann siesich relativ reibungslos und absolut unaufhaltsam vollziehen.

Die ebenso sukzessive wie progressive Verlagerung der organischenHand, der organischen Kraft und der organischen Intelligenz ins ebendamit zur vollmechanischen Apparatur, zur selbsttätigen Maschine, zumAutomaten sich entfaltende Werkzeug ist also die konkrete Form, in dersich der Prozess der Verdrängung des von Haus aus als Handwerkerproduzierenden personalen Subjekts durch das von den Marktbetrei- bern per Investition von Handelskapital in die Arbeitsbedingungen undArbeitsmittel auf den Plan gerufene und in den Produktionsprozess ein-geschleuste kapitale Subjekt vollzieht. In dem Maße, wie es dem kapitalenSubjekt gelingt, Fertigkeiten und Kompetenzen des Handwerkers diesemzu entreißen und sie im Wortsinne zu instrumentalisieren, sie nämlich inintegrierende Bestandteile und Zurüstungen des Produktionsinstrumen-tariums, in eine dem personalen Subjekt als objektive Eigenschaften desWerkzeugs, das durch sie zur Apparatur wird, gegenübertretende Empi-rie zu verwandeln, wird der Handwerker auf seine Arbeitskraft reduziertund mit ihr identisch, findet er sich als eine Art persönlicher Produktions-faktor den anderen, sächlichen Produktionsfaktoren gleichgestellt und

 beigesellt.Das von den Produktionsbedingungen ebenso umfassend wie zuneh-

mend Besitz ergreifende kapitale Subjekt abstrahiert und funktionalisiertdas personale Subjekt, den ursprünglich gleichermaßen als Veranstalterund Durchführer des Produktionsprozesses firmierenden Handwerker,zu ebenfalls einer bloßen Produktionsbedingung, einem Produktionsfak-tor unter anderen, in den die als Unternehmer das kapitale Subjekt inSzene setzenden Marktbetreiber genauso investieren wie in die übrigenBedingungen, den sie mittels Lohnzahlung genauso einkaufen wie dieletzteren, der systematisch also nichts weiter als Teil der in den Pro-

duktionsprozess investierten und in ihm ihre Verwertung betreibendenKapitalmasse ist und den von den übrigen, sächlichen Bedingungennur unterscheidet, dass er in praxi des Produktionsprozesses nicht nurim Sinne der Wertübertragung, der Kompensation seiner Kosten in derGestalt des Produkts, funktioniert, sondern mehr noch Wertschöpfung

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 betreibt, das heißt, seine als Lohn firmierenden Kosten im Ergebnis des

Produkts dem Unternehmer rentabel oder profitabel vergütet.Nicht, dass dieser Prozess der Verdrängung des personalen durch daskapitale Subjekt, dieser Prozess der Entsubjektivierung der Arbeitenden,ihrer Instrumentalisierung und Faktorisierung, kurz, ihrer Verwandlungaus einer handelnden Person in ein Kapitalmoment für die Betroffenenein eindeutig negativer und deprivativer Vorgang wäre, einen einzigen,durchgängigen Passionsweg darstellte oder, weniger pathetisch ausge-drückt, ihnen als einziges, großes Verlustgeschäft erschiene! Er hat für sieim Gegenteil eine entschieden positive oder restitutive Implikation, kehrtin seinem Verlauf eine unbestreitbar entlastende und befreiende Seiteheraus.

Schließlich sind die am Anfang des Prozesses stehende manufakturelleBeschränkung des Handwerks auf den Handgriff, des im Rahmen dertraditionellen Arbeitsteilung halbwegs ganzheitlichen Erzeugens auf ein fragmentiertes, um seinen eigenen Sinn und Verstand gebrachtesBearbeiten und die darin beschlossene Reduktion des Handwerkers auf seine Hand, die Degradierung seines ganzen Organismus zum Anhängseleines partikularen Mechanismus, ein ihn als lebendigen Menschen mas-siv beeinträchtigender, ihn als zivile Person und als kultürliches Wesenzutiefst in Mitleidenschaft ziehender Vorgang, eine Entwicklung, die mitihrer Ausrichtung auf mechanische Verrichtungen seinen organischen

Bedürfnissen ins Gesicht schlägt und einem seinen Erwartungen ansLeben und seinen biographischen Entwürfen irgend gemäßen Daseindiametral zuwiderläuft.

Und so gesehen können die von der manufakturellen Monotonie, vomStumpfsinn ihrer partikularen Tätigkeit Betroffenen auch gar nicht um-hin, die Erfindung und Einführung von Werkzeugmaschinen als Befrei-ung von unmenschlichen Leistungsanforderungen und widernatürlichenZwängen, mithin als dankenswerten Fortschritt zu erfahren. Freilich gehtdiese Befreiung einher mit neuem Zwang und neuer Beschwer, indem sieden Arbeiter zur ebenso beschränkten Funktion eines die Werkzeugma-

schinen betreibenden Energielieferanten, eines den Mechanismus in Gangsetzenden und haltenden Kraftquells verurteilt. Als die allzeit bereite,nie ermüdende mechanische Hand, die sie darstellen, ermöglichen dieWerkzeugmaschinen eine solche Beschleunigung und Verstetigung desProduktionsprozesses, dass er, die vom manufakturellen Stumpfsinn

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 befreite Arbeitskraft, sich stattdessen kraftzehrendster Plackerei und nicht

enden wollender Fron ausgeliefert findet.Was Wunder, dass auch die Erfindung der Kraftmaschine, die Integra-tion des Energiequells in die mechanische Apparatur, vom Arbeiter alsEntlastung und Befreiung erfahren wird, als ein Restitutionsvorgang, derihn, den instrumentalisierten Produzenten, der Not und zerstörerischenEinwirkung eines ihn ebenso verdinglichenden wie absorbierenden Ar- beitslebens entreißt und ihm etwas von seiner personalen Integrität undmenschlichen Würde zurückgibt.

Und auch die Automatisierung des Produktionsprozesses, die fort-schreitende Übernahme von Schalt-, Steuer- und Bedienfunktionen durchdie Maschine selbst, erfährt der Arbeiter als Entlastung und Befreiung,insofern ihm ja die ihm als Steuerer und Bediener abgeforderte Kon-zentration und Fixierung auf den maschinellen Funktionsprozess undseinen störungsfreien Ablauf ein Maß an körperlicher Präsenz und Geis-tesgegenwart abverlangt, das – zumal auf lange Sicht, will heißen, einganzes Arbeitsleben hindurch! – mit einem dem Individuum zuträglichenmenschlichen Dasein in genere und einer dem Organismus bekömmli-chen natürlichen Lebensweise in specie schlechterdings nicht vereinbarist. Dies umso weniger, als die beginnende maschinelle Produktion vonMaschinen, die Nutzung des maschinellen Produktionsapparats zur Her-stellung von Apparaturen teils für die Produktion selbst, teils für das indi-

viduelle Leben und den privaten Gebrauch, von Förderanlagen, Turbinen,Transportmitteln, Haushaltsgeräten und Kommunikationsapparaten, denProduktionsprozessen einen Komplikationsgrad und eine Vielgliedrig-keit, kurz, eine epische Breite und Umständlichkeit verleiht, die sich nurmittels eines durchorganisierten Verfahrens, eines quasi orchestriertenEinsatzes der Belegschaft, einer Abfolge von aufeinander abgestimmtenProduktionsschritten, kurz, mittels der Einführung von Montagebän-dern effektiv bewältigen lässt, wobei ihm, dem für die Steuerung undBedienung zuständigen Arbeiter, eine ebenso sehr als Hypertrophierungwie als Fragmentierung erscheinende Partikularisierung seiner Bedi-

enaufgabe widerfährt, insofern ihm die Aufgabe zufällt, an der einenoder anderen Stelle im orchestrierten Ablauf durch einen immer gleichenHand- oder Eingriff, eine immer gleiche Schalt-, Sortier-, Schraub- oderAssemblierbewegung für den Fortgang des Prozesses beziehungsweiseden Übergang vom einen zum nächsten Produktionsschritt zu sorgen.

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In gewisser Weise kehrt durch diese Partikularisierung seiner Bedien-

funktion der Arbeiter in die Anfangszeit des Industrialisierungsprozes-ses, in die Zeit der manufakturellen Auflösung des organisch-handwerk-lichen Arbeitsvorgangs und Reorganisation als mechanisch-arbeitsteiligesProduktionsverfahren, zurück, wenngleich jetzt die eigentliche Arbeit,die Formung und Bearbeitung der Werkstoffe und Rohlinge, von Ma-schinen geleistet wird und der Hand- oder Eingriff, den der Arbeiter amFließband vollzieht, weder nennenswertes Geschick noch große Kraftmehr erfordert, sondern nurmehr dazu dient, die Kontinuität der vieleneinzelnen Produktionsschritte zu sichern beziehungsweise die Sprüngeund Etappenwechsel zu überbrücken. Aber auch wenn in der Hauptsachenicht mehr manufakturelle Bearbeitung eines Werkstücks, sondern bloßnoch fließbanddiktierte Bedienung einer Apparatur die Aufgabe ist, derStumpfsinn und die Monotonie der punktuellen Tätigkeit bleiben diegleichen, und deshalb müssen die Betroffenen die fortschreitende Auto-matisierung des Prozesses, die Ersetzung ihrer Hand- und Eingriffe durchSelbststeuerungs- und Roboteraktivitäten – vorausgesetzt, sie kostet sienicht gleich den Arbeitsplatz! – als einen veritablen Emanzipations- undRestitutionsakt erfahren.

Tatsächlich ist diese Zweischneidigkeit des vom Kapitalisierungspro-zess forcierten technischen Fortschritts, dieses Zugleich von Verdrängungaus der Subjektrolle und personalen Selbstbestimmung einerseits und

Befreiung aus unmenschlicher beziehungsweise menschenunwürdigerFron oder Routine andererseits, ein wesentlicher Grund dafür, dass derProzess der Mechanisierung und Automatisierung der handwerklichenProduktion sich so relativ reibungslos und absolut unaufhaltsam vollzie-hen kann. Gleich dem mythologischen Speer, der die Wunde heilt, die erschlägt, stürzt das der Produktionssphäre sich bemächtigende kapitaleSubjekt die dort tätigen realen Subjekte, die arbeitenden Menschen, in dieunmenschliche Not und das menschenunwürdige Elend manufakturellerMonotonie oder industrieller Plackerei, um sie in der Konsequenz seinerauf größtmögliche Kontinuität und Effektivität der Produktionsprozesse

gerichteten fortlaufenden Umgestaltung der Produktionsbedingungenaber auch wieder aus ihrer Notlage und ihrer stumpfsinnigen bezie-hungsweise kraftzehrenden Fron zu befreien und sie durch Überführungund Integration ihrer manuellen, energetischen und intellektuellen Leis-tungen in das hierbei zur Maschine, zum selbsttätigen Apparat, entfaltete

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Werkzeug in der vergleichsweisen Normalität und Integrität von durch

einen ebenso maßvollen wie zeitlich begrenzten körperlichen und geisti-gen Einsatz ihren Lebensunterhalt gewinnenden, sprich, sich die Mittelfür die Befriedigung ihrer konsumtiven, rekreativen, reproduktiven undassoziativen Bedürfnisse sichernden bürgerlichen Individuen wiederher-zustellen.

So offensichtlich und markant ist die Wiedergutmachung, die in Ver-folgung seiner monomanen Zielsetzung das kapitale Subjekt für die vonihm den personalen Subjekten geschlagenen Wunden und zugefügtenSchäden leistet, dass die sozialrevolutionäre Bewegung des ausgehendenneunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, die auf eineletztliche Austreibung des kapitalen Subjekts aus dem von ihm geschaf-

fenen Maschinencorpus, dem von ihm auf den Plan gerufenen Produkti-onsapparat hofft und pocht, eine den ganzen kapitalistischen Mechani-sierungs- und Automatisierungsprozess durchwaltende List der Vernunftam Werk sieht: Nach dem Motto des “per aspera ad astra” oder “durchLeiden zur Erlösung” will ihr der ganze Prozess darauf angelegt scheinen,das traditionelle Handwerk, das sich ja, post festum betrachtet, ebenfallsals harte Arbeit und beschwerliche Okkupation darstellt, durch das Jam-mertal und die finsteren Zeiten den Geist tötender Spezialisierung undden Leib zerstörender Fron hindurch in eine Tätigkeit zu überführen, diedank mechanischer Hilfsmittel und automatischer Abläufe den Werktä-

tigen leicht von der Hand geht und ihnen zunehmend mehr Zeit lässt,sich überhaupt aus den Produktionsprozessen auszuklinken und ihrenauf Selbstverwirklichung, Vergesellschaftung, Genuss und Zeitvertreibzielenden Bedürfnissen zu leben.

Nicht, dass diese Einschätzung rundweg falsch war: Wie die Entwick-lung der letzten hundert Jahre in den avancierten kapitalistischen Gesell-schaften zeigt, hat sich die Erwartung einer fortschreitenden Befreiungder im Produktionsprozess Engagierten von der körperlichen Last, derenergetischen Anstrengung und den geistigen Mühen der Arbeit undeiner zunehmenden zeitlichen Beschränkung des Arbeitseinsatzes undentsprechend wachsenden Verfügung über freie Zeit zwecks Wahrneh-

mung der vom Produktionsapparat parallel dazu ins Leben gerufenenkonsumtiven, rekreativen und assoziativen Angebote durchaus erfüllt.

Wie freilich die Tatsache, dass die Befreiung von Last, Anstrengungund Mühe in eine neue sublime Fron, nämlich in niederste Handlanger-dienste und sinnloseste Beschäftigungen beziehungsweise verblödendste

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Übungen, einmünden und dass die Beschränkung der Arbeitszeit ohne

weiteres auch in eine völlige Freisetzung von der Arbeit, in Arbeits-losigkeit, umschlagen und sich gegebenenfalls sogar ins Gegenteil, involkswirtschaftlich unsinnige und nur durch die Scheinrationalität einesglobalen Kampfes um die Märkte geforderte neuerliche Verlängerungender Wochenarbeits- beziehungsweise Lebensarbeitszeit verkehren kann –wie diese Tatsache beweist, ändert die im Zuge der gesellschaftlichen Pro-duktivkraftentfaltung, sprich, der Mechanisierung und Automatisierungder Produktionsprozesse, vor sich gehende funktionelle Entlastung odergar Emanzipation der menschlichen Arbeitskräfte nicht das Geringstean ihrer gleichzeitigen Verdrängung als personale Subjekte oder bestim-mende Akteure einer vom Handwerk geprägten Produktionssphäre undÜberführung in nurmehr kapitale Faktoren und ausführende Organe ei-ner durch die Mechanisierung und Automatisierung ins Leben gerufenen,maschinengetriebenen Produktionsapparatur.

Mag die Einlassung der Marktbetreiber in die Produktionssphäre undihre daraus folgende Verwandlung aus Kaufleuten in Unternehmer, ausexternen Abnehmern der Produkte in interne Organisatoren der Pro-duktion, mag die zur Entstehung von Kapital sans phrase führende han-delskapitale Investition in Produktionsbedingungen und Arbeitsmittelnoch so sehr diesen empirisch-technisch ambivalenten Effekt zeitigen,die in der Produktionssphäre Tätigen zwar einerseits in Not und Elend

zu stürzen, sie manufakturellem Stumpfsinn und industrieller Fron aus-zuliefern, sie aber andererseits aus diesem Stumpfsinn und dieser Fronauch wieder herauszuführen und also die mittels Arbeitsteilung undMechanisierung rekrutierten und maßlos ausgebeuteten Arbeitskräftein der relativen Integrität und Humanität von zwecks Steuerung derProduktionsprozesse beziehungsweise Bedienung der Produktionsappa-rate angestellten und tariflich entlohnten Arbeitnehmern zu restituieren,und mag diese Entwicklung gar den durchaus nicht abwegigen Ein-druck einer passionsvermittelten Verbesserung der conditio humana,einer durch die manufakturelle Mühe und die industrielle Plage schließ-

lich erreichten Entlastung der Menschen vom Fluch der Arbeit, einerErleichterung des durch den Sündenfall ihnen bescherten Loses erwe-cken – diese empirisch-technische Zweideutigkeit des Vorganges ändertnichts an dem systematisch-ökonomisch eindeutigen Subjektwechsel,der in einer fortschreitenden Verdrängung des in der Produktionssphäre

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 bis dahin maßgebenden personalen Subjekts, des die Werkzeuge ge-

 brauchenden Handwerkers, durch das als neues Maß in den Prozessinvestierte kapitale Subjekt, das über die Produktionsmittel verfügendeUnternehmertum, resultiert, der in der Konsequenz dieser Ersetzung daspersonale Subjekt in einen Kapitalfaktor, in eine als persönliches Elementden übrigen Produktionsmitteln im Prinzip gleichgeordnete Prozess-komponente transformiert und der damit, was den Sinn und Zweck desganzen Verfahrens betrifft, das endliche, an der Subsistenz, der Erhaltungdes menschlichen Daseins orientierte Bedürfnis nach Produkten durchein unendliches, auf Akkumulation, die Verwertung des geldlichen Werts,den die Produkte verkörpern, gerichtetes Streben substituiert.

Kraft der durch ihn ermöglichten Steigerung der Produktivität ist der sich kapi-talisierende Produktionsprozess keine bloße Parallelveranstaltung, sondern einveritables Konkurrenzunternehmen zur traditionellen handwerklichen Produk-tion. Er resultiert in einer fortlaufenden Verwohlfeilerung der Produkte unddarauf fußenden Verdrängung der handwerklichen Produktion beziehungsweisedann auch seiner eigenen quasihandwerklichen früheren Erscheinungsformenvom Markt. Die Gewinneinbuße, die die Unternehmer durch die per Konkurrenzerzwungene Verwohlfeilerung ihrer Produkte erleiden, versuchen sie durch einenStrategiewechsel, eine Verschiebung des Akzents von der Steigerung der Pro-

duktivkraft zur Erweiterung der Produktionskapazität zu kompensieren, wobeisie sich das für solche Erweiterung nötige Personal durch eben jenen von ihnenangezettelten Verdrängungswettbewerb auf dem Markt rekrutieren.

Diese Verdrängung des Handwerkers aus der Rolle des handelndenSubjekts und seine Verwandlung in einen als persönliche Komponente zuden sächlichen Produktionsbedingungen hinzutretenden Kapitalfaktorist die unabdingbare Basis und der unverbrüchliche Rahmen, auf der undin dem sich das von den Marktbetreibern kraft ihrer handelskapitalenInvestition in die Produktionssphäre als Parallel- und Konkurrenzunter-

nehmen zu den herkömmlichen handwerklichen Einzel- und Kleinbetrie- ben ins Leben gerufene Manufaktur- und Fabrikwesen von Anfang anentwickelt.

Wohlgemerkt, es entwickelt sich als Konkurrenzunternehmen nichtweniger denn als Parallelveranstaltung. Wenn nämlich auch zutrifft,

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dass die Marktbetreiber sich nicht auf direktem Weg in die Produkti-

onssphäre einzukaufen vermögen, dass sie die Produktionsmittel, die sieerstehen, um sie in eigener Regie zu bewirtschaften, den handwerklichTätigen nicht einfach abkaufen, sie ihnen nicht quasi aus den Händenreißen können, dass sie vielmehr, wie das anfängliche Verlagswesen be-zeugt, gezwungen sind, auf Umwegen oder über die Peripherie in dieProduktionssphäre vorzudringen, sich durch die käufliche Aneignungvon Arbeitsmaterialien und Rohstoffen und durch die vertragliche An-stellung von beschäftigungslosen Handarbeitern, von nicht mehr derZunftordnung verhafteten, frei flottierenden Arbeitskräften einen eigenenProduktionszusammenhang aufzubauen, dass sie, kurz, ihre produktiven

Aktivitäten außerhalb des traditionellen handwerklichen Zunftwesensund parallel zu ihm entfalten – wenn dies auch zutrifft, bedeutet das dochnicht etwa, dass ihre parallelen Aktivitäten ohne Einfluss und Rückwir-kung auf jene Sphäre des zünftigen Handwerks bleiben.

Was die parallel zum traditionellen Handwerk entstehende Manu-faktur- und Fabrikarbeit ersterem voraushat und als ebenso machtvolleKonkurrenz wie furchtbare Bedrohung in die Quere kommen lässt, ist dieals sukzessive Verdrängung der personalen Subjekte durch das kapitaleSubjekt und als Verwandlung der personalen Subjekte, der Handwer-ker, in Kapitalfaktoren, Arbeitskräfte, erscheinende Dynamik, die der

neuen, nicht mehr am endlichen Subsistenzinteresse der Arbeitenden,dem realen Bedürfnis von Menschen, sondern am unendlichen Verwer-tungsstreben des kommerziellen Prinzips, dem rationalen Kalkül desKapitals, orientierten Perspektive entspringt und die in der geschilder-ten technischen Entwicklung einer fortschreitenden Mechanisierung derProduktionsapparaturen und Automatisierung der Produktionsprozesseihren Ausdruck findet.

Unmittelbare Implikation nämlich dieser technischen Dynamik ist einenicht minder fortschreitende Erhöhung der Effektivität der Produktion,eine Steigerung der Produktivkraft, was bedeutet, dass die manufakturell

oder dann industriell Arbeitenden dank jener Mechanisierung der Pro-duktionsmittel und Automatisierung der Produktionsabläufe schnellerproduzieren, sprich, in der gleichen Arbeitszeit mehr Produkt erzeugenals die mit den traditionellen handwerklichen Mitteln und TechnikenTätigen. Und das wiederum schlägt den die neuen Produktionsweisen ins

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Werk setzenden und sich hierbei als Unternehmer etablierenden Markt-

 betreibern in ihrer von Haus aus eigenen Sphäre, in der Zirkulation, auf dem Markt, in doppelter Hinsicht zum Vorteil aus.Erstens nämlich erlaubt ihnen ihre dank höherer Produktivkraft gestei-

gerte Produktion, mehr zu verkaufen und höhere Gewinne zu erzielen,sprich, schneller zu akkumulieren und mittels Reinvestition des Akkumu-lierten schneller zu expandieren, ihre Produktionsstätten auszubauen undaufzurüsten und den Markt immer umfänglicher und vielfältiger zu be-liefern. Und zweitens gestattet ihnen ihre ergiebigere Produktion, sprich,die größere Produktmenge, die sie in der vom traditionellen Handwerkfür die Herstellung des Produkts veranschlagten Arbeitszeit erzielen, denWert, den das traditionelle Handwerk dem Produkt verleiht, preislich zuunterbieten, letzteres billiger auf dem Markt anzubieten, als das Hand-werk das kann, und so die handwerkliche Konkurrenz dort auszustechenund deren Produkte durch die eigenen vom Markt zu verdrängen.

Dies beides also ermöglicht den Unternehmern ihre dank technischerEntwicklung gesteigerte Produktivität: zum einen den Markt mit einerrelativ größeren Produktmenge als das Handwerk zu beliefern und soschneller zu akkumulieren und zu expandieren und zum anderen denPreis des einzelnen Produkts ohne Werteinbuße bei der Produktmengeals ganzer zu senken und so das traditionelle Handwerk auf dem Marktunter Konkurrenzdruck zu setzen beziehungsweise einem Verdrängungs-

wettbewerb auszuliefern.Tatsächlich aber ist das andere vom einen gar nicht zu trennen, ist

vielmehr dessen unvermeidliche Folge, seine zwingende Konsequenz.Selbst wenn nämlich der Markt eine Zeitlang aufnahmefähig genug ist,um den Absatz der Produkte sowohl des traditionellen Handwerks alsauch des neuen Unternehmertums zu gewährleisten und so dem letzterendie Chance zu bieten, den dank höherer Produktivkraft gesteigertenWert seines Gesamtprodukts zu realisieren, ohne das Mehr an Wert ganzoder teilweise für Preisabschläge drangeben zu müssen, kommt dochfrüher oder später – und dank nicht zuletzt dieser produktivitätsbedingt

zusätzlichen und für den weiteren Ausbau der Produktion verfügbarenGewinne eher früher als später! – der Punkt, an dem vorübergehend oderlängerfristig der Markt gesättigt ist; und dies ist dann nolens volens derPunkt, an dem die Unternehmer den ihnen durch ihre höhere Produkti-vität gegebenen Spielraum in der Preisgestaltung nutzen und auf dem

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überfüllten Markt ihren Produkten gegenüber denen der handwerkli-

chen Konkurrenz durch Verwohlfeilerung einen Wettbewerbsvorteil zuverschaffen und den Absatz zu sichern beginnen.Dass den Unternehmern durch die manufakturelle und industrielle

Umgestaltung der Produktionsverfahren die Arbeitskraft effektiver ein-zusetzen und ihre Arbeitszeit besser zu nutzen, sprich, ihre Produktivitätzu steigern gelingt, zieht also eben deshalb, weil es ihnen ermöglicht,mit der vermehrten Produktion ihre Profite zu steigern und mit denhöheren Profiten die weitere Expansion ihrer Produktionstätigkeit zu beschleunigen, eine Überangebotssituation auf dem Markt nach sich, diesie zwingt, die durch die höhere Produktivität erreichte Verringerung derfür die Herstellung des einzelnen Produkts nötigen Arbeitszeit und – weil ja die Arbeitszeit das Wertmaß bildet! – entsprechende Senkung des Wertsdes Produkts als Wettbewerbsvorteil zu realisieren und durch Anpassungdes Produktpreises an den dank gesteigerter Produktivität gesunkenenProduktwert die traditionellen, handwerklichen Produzenten, die mitihren weniger effektiven Produktionsverfahren mehr Arbeitszeit für dieHerstellung ihrer Produkte aufwenden und den letzteren deshalb einenhöheren Wert beimessen und für sie einen demgemäß höheren Preisverlangen müssen, auf dem Markt auszustechen und vom Markt zuverdrängen.

Der aus Expansion und Konkurrenz gewirkte Vormarsch der vom

neuen Unternehmertum der Marktbetreiber als Alternative zum zünf-tigen Handwerk eingeführten kapitalistischen Produktionsweise lässtsich, so gesehen, als ein mittels Markt der Produktionssphäre als ganzeraufgezwungener Vorgang ständiger Anpassung begreifen – der Anpas-sung nämlich an das dank der technischen Entwicklung, die von derkapitalistischen Produktionsweise forciert wird, steigende Produktivi-tätsniveau beziehungsweise an den mit dem Anstieg der Produktivitäteinhergehenden sinkenden Wert des Produzierten, den dem Wachstumder Produktivkraft der Arbeit korrespondierenden Wertverfall des vonder Arbeit Hervorgebrachten.

Anfangs des jeweiligen Anpassungsvorganges gilt als Maß für denProduktwert noch die bislang für die Herstellung des Produkts benö-tigte durchschnittliche Arbeitszeit, und deshalb können die Unterneh-mer ihr dank höherer Produktivität vermehrtes Produkt noch zu einemdem alten Produktwert entsprechenden Preis auf dem Markt losschlagen

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und einen im Verhältnis zum produktivitätsbedingt gesunkenen, neuen

Wert ihres Produkts übertrieben hohen Gewinn erzielen – was sie, dievom Streben nach Profitmaximierung, einer Ausführungsbestimmungdes Akkumulationsprinzips, Beherrschten selbstverständlich auch tun.Aber weil dieser unverhältnismäßig hohe Gewinn ihnen ermöglicht,entsprechend unverhältnismäßig zu investieren und ihre Produktions-kapazitäten auszubauen, kommt rasch der Punkt, wo auf dem Marktein Überangebot von Produkten besteht und sie, um den Absatz ihrergrößeren Produktmenge zu sichern, gezwungen sind, Preisnachlässe zugewähren, ihre Erzeugnisse billiger zu verkaufen und also den Wett- bewerbsvorteil auszuspielen, den ihnen die Tatsache verschafft, dasssie dank ihrer technischen Fortschrittlichkeit mit höherer Produktivität

arbeiten, sprich, ihre Arbeitskräfte weniger Arbeitszeit für das einzelneProdukt aufwenden, will heißen, weniger Wert in ihm seine Verkörpe-rung finden lassen.

Mit ihren durch die Konkurrenz um Marktanteile diktierten Preissen-kungen und Rabatten forcieren die zu Unternehmern mutierten Marktbe-treiber objektiv nichts weiter als die Durchsetzung des durch die techni-sche Entwicklung unter ihrer Ägide erreichten neuen Produktivitätsstan-des als für den Wert der Produkte maßgebendes Kriterium und die An-passung der Produktpreise auf dem Markt an das dem neuen Stand derProduktivkraft entsprechende Wertniveau, womit sie dem alten, hand-

werklichen oder jedenfalls technisch weniger fortgeschrittenen Produkti-vitätsstand und den ihm gemäßen Wertbestimmungen beziehungsweisePreisforderungen die Existenzgrundlage auf dem Markt entziehen unddiejenigen, die auf Basis des überholten Produktivitätsstandes die altenPreise fordern müssen und deshalb auf ihren Produkten sitzen bleiben,vom Markt vertreiben beziehungsweise zwingen, sich in ihrer Produktiondem neuen Stand der Produktivkraft anzupassen – welch letzteres ihnenfreilich im Normalfall unmöglich ist, da ihnen, eben weil sie ihre nachaltem Produktivitätsstand gefertigten und deshalb zu teuren Produktenicht mehr gewinnbringend losschlagen können, die Mittel zur Anpas-sung ihrer Produktion an den avancierten Produktivitätsstand und zur

Investition in die dafür erforderlichen veränderten Produktionsbedin-gungen und Arbeitsmittel fehlen.

Dies macht noch einmal deutlich, auf welch oblique Art die von denMarktbetreibern durch ihre kapitale Einlassung in die Produktionss-phäre etablierte alternative Herstellungsmethode in Wettstreit mit der

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herkömmlich handwerklichen Arbeitsweise tritt und wie wenig die zu

Recht zum Kernpunkt des kapitalistischen Produktionsverfahrens er-klärte Trennung der Arbeitenden von ihren Arbeitsmitteln als ein di-rekter und willkürlicher Expropriationsakt vor sich geht, wie sehr sichletztere vielmehr als die ganz und gar indirekte und von aller Willkürfreie Konsequenz eben jener von den Marktbetreibern im Zuge ihrerInvestition in die Produktion, ihrer Wandlung zu Unternehmern, durch-gesetzten alternativen Herstellungsmethode ergibt. Weil diese alternativeHerstellungsmethode wesentlich anderen Motiven und Intentionen alsdie herkömmliche entspringt, weil sie nicht durch das endliche, subsis-tenzielle Bedürfnis der handwerklich Arbeitenden, sondern durch dasunendliche, akkumulative Streben der kommerziell Tätigen angetriebenund bestimmt wird, weil sie, wie oben angemerkt, das handwerklicheTun zwar aufgreift und an es anknüpft, es aber aus grundlegend anderenPrinzipien fortführt und betreibt, weil, kurz gesagt, nicht Nachahmung,sondern Mimikry, nicht Imitation, sondern Emulation das Gesetz ist,dem sie gehorcht, hat sie einen zugleich organisatorischen Umgestal-tungs- und technischen Entwicklungsprozess zur Folge, der in einer fort-laufenden Erhöhung der Produktivkraft resultiert, sprich, die mit ihrerHilfe hergestellte Produktmenge ebenso sehr absolut, als Teil der ge-sellschaftlichen Gesamtproduktion, vergrößert wie relativ, in Proportionzur handwerklich erzeugten Produktmenge, steigert und der deshalb zu

dem beschriebenen Konkurrenzkampf auf dem Markt führt, in dessenVerlauf die der höheren Produktivkraft entsprechend verringerte durch-schnittliche Arbeitszeit, die für die Produktion erforderlich ist, und dasdemgemäß gesunkene Wertniveau des einzelnen Produkts preislich zurGeltung gebracht und auf diese Weise die nach dem alten Produktivi-tätsstand Produzierenden und also auch dem alten ProduktwertniveauVerhafteten ihrer Absatzchancen beraubt und, sofern ihnen die Anpas-sung an den neuen Produktivitätsstand nicht rasch genug gelingt, vomMarkt verdrängt werden.

Was den in eigener Regie handwerklich Arbeitenden von Seiten der

für fremden Lohn fabrikmäßig Produzierenden widerfährt, ist nicht diedirekte Enteignung ihrer Produktionsbedingungen und Arbeitsmittel,sondern deren indirekte Entwertung, nicht die Expropriation dessen,womit sie sich ihren Lebensunterhalt sichern, sondern die Extinktion derArt und Weise, wie sie sich ihren Lebensunterhalt sichern. Und diese dem

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technischen Fortschritt und der Steigerung der Produktivität, die er mit

sich bringt, geschuldete Entwertung ihrer Arbeitsmittel und Extinktionihrer Arbeitsweise ist nichts, was die Rückständigen beziehungsweiseHinterherhinkenden ein für allemal ereilt, ist kein einmaliges Ereignis,sondern ist vielmehr ein fortwährender Vorgang, ein vom Wiederho-lungszwang getriebenes Geschehen.

Das heißt, die Sache hat nicht etwa damit, dass das traditionelle, einzel-gängerische beziehungsweise kleinbetriebliche Handwerk der kollekti-vierten, fabrikmäßig organisierten Arbeitsmethode weicht, ihr Bewenden,sondern weil diese Arbeitsmethode, statt vom begrenzten Bedürfnis dermaterial Arbeitenden nach subsistenzieller Versorgung bestimmt zu sein,

vielmehr vom oben als kapitales Subjekt apostrophierten grenzenlosenStreben nach kommerzieller Verwertung beherrscht wird und weil diesesVerwertungsstreben seinen praktischen Ausdruck im ständigen Bemühenum eine durch Technisierung der Produktionsmittel und Mechanisierungder Arbeitsabläufe zu erreichende größere Effizienz der Produktion undgesteigerte Produktivkraft findet, sieht sich jede neue Produktivitätsstufedurch den technisch-mechanischen Fortschritt im Nu überholt und als inSachen Produktivkraft rückständig gesetzt, sprich, in die Rolle gedrängt,die anfangs der Vereinnahmung der Produktionssphäre durch den Marktdem traditionellen Handwerk zufällt und sein unabwendbares Ende

 bedeutet.Aufgrund der permanent wachsenden Produktivkraft des vom kapi-talistischen Verwertungsstreben motivierten manufakturell-industriellenProduktionssystems geht der Konkurrenzkampf und Verdrängungspro-zess zwischen den Verfechtern avancierter Produktionsmethoden undden Vertretern rückständiger Arbeitsweisen also ad infinitum weiter – nurdass jetzt die rückständige Arbeitsweise nicht mehr durch den substanzi-ellen Topos des dem kapitalistischen System historisch vorausgesetztentraditionellen Handwerks, sondern durch den funktionellen Faktor einervom kapitalistischen System selbst ebenso unablässig wie systematisch

gesetzten quasihandwerklich veralteten Technik und überholten Pro-duktivkraft repräsentiert wird. Als zur systeminternen Dauerfunktionaufgehobener und einer ständigen Entwertung und Extinktion unter-worfener Faktor entspricht die quasihandwerkliche Position haargenau jener unendlichen Abfolge aussterbender Arten, die Darwin auf dem

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Gipfelpunkt des ungestört ökonomischen Entfaltungsprozesses des ka-

pitalistischen Systems in einer nach Maßgabe der Prägekraft, die dasPhänomen für die gesellschaftliche Wahrnehmung besitzt, unwidersteh-lich erhellenden Projektion auf die außergesellschaftliche Wirklichkeitals artspezifischen Konkurrenzkampf und Verdrängungswettbewerb, alsnatürlichen Ausleseprozess, beschreibt.

Das weiter oben als Ersetzung des personalen durch das kapitale Sub- jekt geschilderte systematisch-funktionale Los, das im Zuge der vonden Marktbetreibern, die sich als Kapitalisten etablieren, betriebenenTechnisierung und Mechanisierung der Produktionsprozesse die hier- bei auf Arbeitskräfte reduzierten Handwerker ereilt, hat also durchaus

seine empirisch-soziale Seite und geht nämlich Hand in Hand mit derVerdrängung des eigenständigen Handwerks und der handwerklichenKleinbetriebe traditionell-zünftigen Zuschnitts durch die dank Entwick-lung der Produktivkraft übermächtige Konkurrenz eben jener von denkapitalistischen Unternehmern als kollektive Produktionsstätten ins Le- ben gerufenen manufakturellen und später industriellen Großbetriebe,ist mit anderen Worten verknüpft mit einer unaufhaltsamen Invasion derletzteren ins Terrain der ersteren, mit einer auf Kosten des Wirkungs-und Geltungsbereichs der ersteren vor sich gehenden Eroberung undInbesitznahme immer größerer Teile der Produktionssphäre durch die

letzteren.Dabei ist freilich diese der systematischen Ersetzung der personalenSubjekte durch das kapitale Subjekt korrespondierende empirische Ver-drängung der handwerklich Arbeitenden durch die manufakturell be-ziehungsweise industriell Beschäftigten ebenso wenig ein rein negativer, bloß eliminativer Vorgang wie jene. Sie ist vielmehr eine Negation mitpositivem Resultat, eine Aufhebung im Wortsinn, im konservativen, be-wahrenden nicht weniger als im extinktiven, verwerfenden Sinne. Diehandwerklichen Erzeuger, die sich mittels Marktmechanismus aus derProduktionssphäre verdrängt finden, kehren als manufakturell bezie-

hungsweise industriell Beschäftigte in sie zurück oder werden, genauergesagt, nur aus ihr verdrängt, um sich als ins manufakturelle beziehungs-weise industrielle Produktionssystem aufgenommene und in den Dienstder Expansion des letzteren gestellte Arbeitskräfte dem Produktionssys-tem wieder einverleibt zu finden.

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Für das kapitale Subjekt und sein neues Produktionssystem ist diese

Realisierung der Negation als bestimmte Negation, diese Konkretisie-rung des Verdrängungsvorganges als Aufhebungsverfahren tatsächlicheine conditio sine qua non seines auf die Produktionssphäre als ganzegerichteten Eroberungszuges, der Expansionsbestrebungen, die es kraftProduktivitätsgefälles und dadurch ermöglichten Preiskampfes verfolgt.Sowenig es – da es ja, für sich genommen, nicht realiter produziert, nichteigenhändig arbeitet! – ohne die personalen Subjekte, die es als Handwer-ker, als Akteure der Arbeit ersetzt und in Arbeitskräfte, in Faktoren derProduktion verwandelt, überhaupt systematisch funktionieren kann, so-wenig kann es empirisch expandieren, wenn ihm nicht gelingt, sich einen

dem Zugewinn an Marktanteilen, den seine höhere Produktivität und derPreiskampf, der darauf aufbaut, ihm verschaffen, entsprechenden Zulauf an solchen Arbeitskräften, solchen personalen Produktionsfaktoren zusichern. Und Expansion, eine als Geländegewinn in der Produktionss-phäre zu Buche schlagende Erweiterung der Produktionskapazität, istnicht nur der generelle Imperativ, mit dem das kapitale Subjekt der füres konstitutive Akkumulationstrieb oder Verwertungsdrang konfrontiert,sondern ist mehr noch die spezifische Notwendigkeit, die sich ihm alsaktuelle Konsequenz des produktivitätsfundierten Preiskampfes, denes mit Erfolg auf dem Markt ausficht, quasi also als Gebot der Stunde,

aufdrängt.Wenn das kapitale Subjekt sich mittels der Strategie eines auf Basis hö-herer Produktivkraft ausgetragenen Preiskampfes mit seinen Produktenauf dem Markt durchsetzt und den handwerklichen beziehungsweisenach Maßgabe ihrer geringeren Produktivität quasihandwerklichen Pro-duzenten Marktanteile abnimmt, so gereicht das nicht nur den letzterenzum Schaden, sondern schlägt auch ihm selbst in gewisser Weise zumNachteil aus: Während jene sich vom Markt verdrängt und um ihre Exis-tenzgrundlage gebracht finden, muss es selbst mittels Preisnachlässenund Rabatten den produktivitätsbedingt gesunkenen Wert seiner Pro-

dukte zur Geltung bringen und eine entsprechende Schmälerung seinerProfite in Kauf nehmen.Weil es in actu jener konkurrenzdiktierten Preisnachlässe eine An-

passung an das der höheren Produktivität tatsächlich entsprechendeWertniveau seiner Produkte vollzieht, setzt es sich zwar auf dem Markt

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durch, aber ohne den erhofften Lohn in Form gestiegener Profite zu emp-

fangen.Durch seine als Preiskampf inszenierte Durchsetzungsstrategie ge-zwungen, vom früheren, durch die geringere Produktivkraft der hand-werklichen oder quasihandwerklichen Produktionsweise determiniertenWertniveau herabzusteigen, erfährt das kapitale Subjekt seinen kom-merziellen Erfolg, seinen Triumph auf dem Markt ebenso wohl als fi-nanzielle Einbuße und ökonomischen Verlust. Die zur Technisierungund Mechanisierung der Produktionsprozesse führende Investition inrationellere Produktionsbedingungen und effektivere Arbeitsmittel erfülltalso zwar formell oder materiell ihren Zweck, indem sie dem kapita-

len Subjekt Marktanteile einbringt, ihm das Vordringen auf dem Marktermöglicht, reell oder finanziell aber, das heißt, hinsichtlich seiner Ab-sicht, entsprechend mehr Gewinn zu erzielen, erweist sie sich als ein zurSelbstvereitelung geratender Fehlschlag.

Dem kapitalen Subjekt beziehungsweise den zu Unternehmern mu-tierten Marktbetreibern, die es repräsentieren, fällt dieses Opfer, das sie bringen müssen, um ihren Absatz zu sichern und sich auf einem nichtzuletzt durch ihre eigene Produktionsleistung überfüllten Markt durch-zusetzen, denkbar schwer. Beherrscht vom kategorischen Imperativ derProfitmaximierung und verwöhnt durch die hohen Gewinnspannen, die

sie die anfängliche Orientierung der Preise am alten Produktivitätsniveauerzielen lässt, empfinden sie den ihre Profite schmälernden Preiskampf,den sie führen, fast ebenso sehr als Tort wie die handwerklichen bezie-hungsweise quasihandwerklichen Konkurrenten, die sie damit aus demFelde schlagen.

Indes gibt es ein ebenso einfaches wie probates Mittel, die konkur-renzkampfbedingten Gewinneinbußen, die sie in Kauf nehmen müssen,wenn schon nicht zu vermeiden, so doch aber zu kompensieren. Dazuist nichts weiter erfordert als ein Wechsel ihrer Investitionsstrategie: Stattihren Gewinn immer weiter in die Rationalisierung der Produktions-

 bedingungen und in die Technisierung der Arbeitsmittel, kurz, in dieSteigerung der Produktivität, zu stecken, müssen sie ihn auf der Basisdes erreichten Produktivitätsstandes in eine Vermehrung der Produk-tionsprozesse und die Rekrutierung neuer Arbeitskräfte, kurz, in eineAusdehnung der Produktion investieren. Statt bloß defensiv, im Sinne

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eines Ausbaus ihrer Marktposition durch Steigerung ihrer produktions-

technischen Leistungskraft, zu operieren, müssen sie in die Offensivegehen und ihre produktionstechnische Leistungskraft nutzen, um durchdie Vergrößerung ihres produktionspraktischen Ausstoßes den Marktaufzurollen und zu erobern. Statt in der gesteigerten qualitativen Wirk-samkeit ihrer Produktion bloß die Möglichkeit zu gewahren, den eigenenAbsatz zu sichern, müssen sie darin die Chance erkennen, durch einenvergrößerten quantitativen Umfang ihrer Produktion den Absatz derKonkurrenten zu untergraben. Kurz, statt sich darauf zu beschränken, dieKonkurrenten indirekt, durch Hebung der Produktivkraft, vom Markt zuverdrängen, müssen sie sich auf eine Erweiterung ihrer Produktionska-

pazität verlegen, um mittels der Masse ihrer dank höherer Produktivkraftpreiswerteren Produkte die Konkurrenten direkt vom Markt zu vertrei- ben.

Auf diese Weise können die manufakturellen und dann industriellenUnternehmer, was ihnen durch den Konkurrenzkampf auf Produktivi-tätsbasis an Gewinnspanne verloren geht oder was, besser gesagt, derAnpassung der Preise an den produktivitätsbedingt gesunkenen Wertder Produkte zum Opfer fällt, durch die wachsende Masse der Produk-te, die ihnen der Wechsel der Investitionsstrategie auf den Markt zuwerfen ermöglicht, ausgleichen. Zwar bringt sie der im Rahmen des

marktinternen Kampfes um den Absatz reduzierte, will heißen, demneuen Wertniveau angepasste Preis ihres Produkts um einen Teil desGewinns, den sie nach Maßgabe des alten Wertniveaus erzielten, aberweil sie diesen reduzierten Gewinn nun vornehmlich in eine Erweiterungihrer Produktionskapazität, in vermehrte Produktionsprozesse, statt ineine Hebung der Produktivkraft, in verbesserte Produktionsbedingungenstecken, summiert er sich zu einem Profit, der, aufs Ganze der vermark-teten Produktmenge gesehen, die beim Preis des einzelnen Produkts inKauf zu nehmenden Einbußen mehr als wettmacht. Was mit anderenWorten die Manufaktur- beziehungsweise Fabrikbetreiber an relativer

Gewinnspanne drangeben müssen, dafür schaffen sie in dem Maße Kom-pensation, wie ihnen durch ihre veränderte Investitionsstrategie, durchdie Verlagerung des Schwergewichts von der Steigerung der Produktivi-tät auf die Erweiterung der Kapazität die absolute Menge des Gewinnszu vergrößern gelingt.

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Und zugleich beweist erst kraft dieser Akzentverschiebung der Inves-

titionsstrategie die von den kapitalistischen Unternehmern durch dieEntwicklungsstufen des Verlagswesens, des Manufakturbetriebs und derindustriellen Fabrikation hindurch entfaltete neue Produktionsweise ihreganze Überlegenheit und Durchsetzungskraft, kehrt sie jenen emulativen,von Wetteifer erfüllten und zum Wettstreit disponierten Charakter alsin der Praxis wirkmächtige Eigenschaft hervor, die ihr oben als identi-tätsstiftende, sie im Prinzip von der bloßen Imitation unterscheidendeBestimmung attestiert wurde. Indem sich die neuen Unternehmer nichtmehr darauf beschränken, durch effektivere Produktionsbedingungenund produktivere Arbeitsmittel ihren Absatz zu sichern, sondern diesenproduktivkräftig gesicherten Absatz zum Ausgangspunkt einer Erweite-rung ihrer Kapazität und massierten Produktion machen, offenbaren sieden expansiven Drang ihrer Unternehmung, ihre im kapitalen Subjekt,das sie einführen, kodifizierte Absicht, sich zu konkurrenzlosen bezie-hungsweise nurmehr sich selbst Konkurrenz machenden Herrn überden Markt zu erheben, und lassen dabei deutlich werden, dass es sich bei dem neuen Produktionssystem, das sie scheinbar nur parallel zurhandwerklichen beziehungsweise quasihandwerklichen Arbeitsweiseetablieren beziehungsweise entfalten, in Wahrheit um ein nicht wenigerokkupatives als alternatives und ein ebenso integratives wie aggressivesGeschöpf handelt.

Freilich setzt der Wechsel der Investitionsstrategie, die Verlagerungdes Akzents von der Steigerung der Produktivkraft auf die Erweiterungder Produktionskapazität, zuerst und vor allem eine Rekrutierung neuerArbeitskräfte und Vergrößerung des Personalbestands voraus. Schließlich bedeutet ja der Strategiewechsel eben dies, dass es den Unternehmenprimär nicht mehr darum geht, durch Hebung der Produktivkraft denvorhandenen Bestand an Arbeitskräften mehr Produkte erzeugen zulassen, die ihre Vermehrung preiswerter und deshalb konkurrenzfähigerund auf dem Markt zuverlässig absetzbar macht, sondern vielmehr dar-um, durch Vergrößerung des Bestands an Arbeitskräften mehr von jenen

konkurrenzfähigen Produkten zu erzeugen, um mit ihrer Masse die Kon-kurrenz auf dem Markt zu erdrücken und sich als konkurrenzlose Herrendes Marktes zu etablieren. Wie und aus welchen Quellen aber sollen dieUnternehmer diesen vermehrten Bedarf an Arbeitskräften decken? DieBezugsquellen, aus denen sie zu Anfang schöpften und ihren Bedarf 

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 befriedigten, nämlich die durch Landflucht, Aufhebung des Zunftzwangs

und staatlich verfügten Arbeitszwang erschlossenen Reservoirs, mögenzwar weiterhin fließen, aber ergiebig genug, um dem nach Maßgabe jener Akzentverschiebung in der Investitionsstrategie rasch wachsendenBedarf an Arbeitskräften nachzukommen, sind sie nicht.

Genau hier indes greift nun der oben mit der Rede von einer Konkreti-sierung des Verdrängungsvorganges als Aufhebungsverfahren angespro-chene Mechanismus, dem zufolge die dank der höheren Produktivkraftdes manufakturellen oder industriellen Produktionssystems auf demMarkt auskonkurrierten handwerklichen beziehungsweise nach dem Kri-terium ihrer Rückständigkeit in Sachen Produktivität quasihandwerklichzu nennenden Produzenten sich automatisch und im Handumdrehenin Arbeitskräfte für das Produktionssystem verwandeln, das sie vomMarkt vertrieben hat. Dieser Vereinnahmungsmechanismus, den dervom kapitalistischen Produktionssystem mittels Preissenkungen aus-getragene Verdrängungswettbewerb als seine unmittelbare Kehrseiteimpliziert, funktioniert bereits dort, wo das System sich noch eher darauf  beschränkt, seine höhere Produktivkraft zur Sicherung des eigenen Ab-satzes zu nutzen, und er entfaltet in dem Maße seine volle Wirksamkeit,wie das System sich darauf verlegt, seine höhere Produktivkraft offensiveinzusetzen und auf ihrer Grundlage den Absatz seiner handwerklichen beziehungsweise quasihandwerklichen Konkurrenten durch Erweiterung

seiner Produktionskapazität zu untergraben und zu durchkreuzen.Um ihre Absatzchancen, die Möglichkeit, ihre Produkte zu einem profi-

tablen Preis auf dem Markt loszuschlagen, gebracht und als eigenständige beziehungsweise rückständige Warenproduzenten vom Markt vertrie- ben, finden sich die im Konkurrenzkampf Unterlegenen in eine Lageversetzt, in der sie, um subsistieren zu können und ihre Existenz zusichern, neue Arbeit suchen müssen. Die aber finden sie im Zweifels-fall dort, wo eine expansive Produktionsstrategie, eine im Dienste einesoffensiven Konkurrenzkampfs um den Markt forcierte Erweiterung derProduktionskapazität, einen ständigen Bedarf an Arbeitskräften erzeugt

– nämlich in eben dem manufakturellen beziehungsweise industriellenProduktionssystem, das sie vom Markt vertrieben und um ihre durch ihnvermittelte Existenz gebracht hat.

Aus Personen, die von ihnen in Eigenregie produzierte Güter zu Mark-te tragen, finden sie sich auf Individuen reduziert, die nichts weiter mehr

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als sich selbst, die in ihnen verkörperte Arbeitskraft, zum Austausch

anzubieten haben und die, durch die offensive Verdrängungspraxis desneuen Produktionssystems am laufenden Band hervorgebracht und inScharen auf den Plan gerufen, ein Reservoir von Arbeit suchenden Ar- beitskräften bilden, aus dem das System schöpfen kann. Es nimmt sieauf, stellt sie an und setzt sie ein, um eben jenen Verdrängungsvorgangfortzusetzen und zu verstärken, auf breiterer Front ins Werk zu setzen,dem sie zuvor selbst erlegen sind. Die in Arbeitskräfte verwandeltenProduzenten sind also ebenso sehr Täter wie Opfer und verrichten, kaumdass das System sie der als Integration in seinen Produktionszusam-menhang wohlverstandenen Reduktion und Vertreibung vom Marktunterzogen hat, dessen Geschäft, wirken mit daran, ihresgleichen, also jenen, die wie vormals sie noch als systemunabhängige, eigenständigeProduzenten zu Markte gehen, genau das widerfahren zu lassen, was sieselber ereilt hat.

Die Expansion des vom kapitalen Subjekt beziehungsweise von dessenRepräsentanten, den als Unternehmer tätigen Marktbetreibern, etablier-ten Produktionssystems macht sich demnach wie von selbst und beweistauch und nicht zuletzt im Blick auf die Rekrutierung derer, die nichtweniger in ihm als für es arbeiten, jenes Moment von mechanischer Ei-genbewegung beziehungsweise automatischer Selbstregulierung, das inder schlechten Unendlichkeit des im Produktionssystem verkörpertenVerwertungsstrebens angelegt scheint und die ebenso sehr technisch-funktionell wie sozial-strukturell wirksame Verlaufs- und Entwicklungs-form des Systems darstellt – jenes Moment nämlich, das der Philosophdes triumphierenden Kapitals als dialektische Methode auf den Begriff  bringt und dessen Kernpunkt die Aufhebung ist – dies mit anderen Wor-ten, dass das Produktionssystem das, was es emulativ herausfordertund womit es in Konkurrenz tritt, nicht einfach negiert und eliminiert,sondern in actu seiner Negation positiv wendet, aus sich heraus neusetzt, als ein Element seiner selbst reproduziert und damit ins Vehikelseiner weiteren, als vielmehr Verwandlungs- und Integrationsleistung

erscheinenden Negations- und Eliminationstätigkeit umfunktioniert.

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Das Lohnverhältnis drückt aus, dass die Arbeitskraft ein Produktionsfaktor

mit einem bestimmten Wert ist und dass dieser Wert sich wie der der anderen,sächlichen Produktionsfaktoren an ihren eigenen Produktionskosten, ihren Ge-stehungskosten, bemisst. Durch die Fiktion vom Wert der Arbeitskraft erhältdas Lohnverhältnis eine quasiökonomische Form, einen Schein von kommer-zieller Normalität: Es wird verschleiert, dass es sich dabei um eine der Notder Lohnarbeiter, ihrem Mangel an Produktionsmitteln, geschuldeten Rückfallin vorkommerzielle und durch keine traditionellen Distributionsmodi mehrlegitimierte Ausbeutungspraktiken handelt.

Die der offensiven Expansion des kapitalistischen Produktionssystemszum Opfer fallenden selbständigen beziehungsweise kleinbetrieblichenProduzenten lassen sich also, weil sie ihrer eigenen Subsistenzgrund-lage beraubt sind und doch aber subsistieren müssen, in das Systemaufnehmen und integrieren und lösen damit auf ebenso elegante wiewirksame Weise das personale Nachschubproblem des Systems, behe- ben den Mangel an Arbeitskräften, der Konsequenz seiner offensivenExpansion ist.

Allerdings bringt die Überführung der systemtranszendenten hand-werklichen beziehungsweise quasihandwerklichen Produzenten in sys-temimmanente Arbeitskräfte, Handlanger des Systems, eine grundlegen-de Veränderung ihrer systematischen Stellung und funktionellen Bedeu-

tung mit sich. Es kommt zu dem oben analysierten Subjektwechsel, durchden das kapitale Subjekt, das in den Produktionsmitteln, in die die Markt- betreiber ihr Handelskapital investieren, Gestalt gewordene unendlicheVerwertungsstreben, die personalen Subjekte, die von ihrem endlichenSubsistenzbedürfnis bestimmten Handwerker und Kleinproduzenten, inder Subjektrolle ersetzt und sie den sächlichen Produktionsbedingungenund Arbeitsmitteln als im systematischen Prinzip gleichgeordneten, wennauch kraft seiner persönlichen Natur sich von jenen sächlichen Produk-tionsmitteln im empirischen Effekt unterscheidenden Produktionsfaktoran die Seite stellt.

Diese grundlegende systematisch-funktionelle Veränderung hat dabeinicht minder schwerwiegende ökonomisch-finanzielle Implikationen,deren Ausdruck und Kodifizierung das Lohnverhältnis ist. Es ist un-mittelbare Folge der Tatsache, dass die Produzenten nicht mehr fertigeProdukte als Waren zu Markte tragen, sondern dass nunmehr die einzige

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Ware, die sie anzubieten haben und vermarkten können, sie selber sind

 beziehungsweise die in ihnen verkörperte Arbeitskraft ist. Lohn ist mitanderen Worten der Preis, mit dem den Produzenten nicht mehr der Wertgefertigter Produkte, sondern nurmehr der Wert ihrer für die Fertigungvon Produkten verfügbaren Arbeitskraft vergolten wird. Die Arbeits-kraft aber beziehungsweise der sie verkörpernde und mangels sächlicherArbeitsmittel auf sie reduzierte Produzent findet sich, wie gesagt, im ka-pitalistischen Produktionssystem als persönliches Element den sächlichenProduktionsbedingungen und Arbeitsmitteln im Prinzip gleichgestellt,in ein Produktionsmittel, einen Kapitalfaktor, unter anderen transfor-miert. Der Wert der sächlichen Produktionsmittel bemisst sich an ihrenGestehungskosten, am Wert dessen, was für ihre eigene Hervorbrin-gung nötig ist, nicht am Wert dessen, was mittels ihrer hervorgebrachtwird. Und das Gleiche gilt nun auch für die auf ein Produktionsmittel,einen Kapitalfaktor reduzierte Arbeitskraft. Deren über den Arbeitslohnentscheidende Wertbemessungsgrundlage ist nicht mehr der Erlös ausihren Produkten, sondern sind die Ausgaben für ihre eigene Produktion beziehungsweise Reproduktion, sind nicht mehr die Subsistenzmittel, diesie als Subjekt oder Akteur der Produktion hervorbringt, sondern sinddie Subsistenzmittel, die es braucht, um sie als Objekt oder Faktor derProduktion hervorzubringen.

Diese im Lohnverhältnis implizierte Veränderung der Bemessungs-

grundlage für das, was dem Produzenten aus seiner Arbeit zusteht, dieAbkoppelung nämlich seiner Vergütung vom Wert seines Produkts be-ziehungsweise seiner aktuellen Arbeitsleistung und Bindung seiner Ent-lohnung an den Wert, den er selbst beziehungsweise seine potenzielleArbeitskraft darstellt, ist Dreh- und Angelpunkt der neuen, sich als ka-pitalistische konstituierenden kommerziellen Akkumulation. Schließlichist es ja niemand sonst als der seinen Organismus, seine Hände, seineKörperkraft, seinen Geist einsetzende Produzent, der, anders als die Pro-duktionsmittel, die er verwendet und die in actu ihrer Verwendung bloßihren gegebenen Wert auf das mittels ihrer Hervorgebrachte übertragen,

Wert schöpft, indem er seine für die Produktion aufgewendete, in Ar- beitszeit gemessene Lebenskraft als im Produkt verkörperten Anspruchauf materiale Kompensation, auf entsprechende Gegenleistungen derArtgenossen, sprich, als ein in seinem Produkt vergegenständlichtes Mehran Wert, das ihm die Artgenossen, die sein Produkt brauchen, in Gestalt

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ihrer eigenen, von ihm benötigten Produkte schuldig sind, zur Geltung

 bringt.Insofern ist die Abtrennung der Vergütung des Produzenten vom Wertdes qua Arbeitsleistung ins Werk gesetzten aktuellen Produkts und dieBemessung seiner Entlohnung stattdessen am Wert der qua Arbeits-kraft zur Verfügung gestellten bloßen Fähigkeit zu produzieren, einefür die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und der auf ihr fußenden neuzeitlichen Gesellschaft schlechterdings entscheidendeMotion, weil sie eine seiner subjektiven Unendlichkeit gemäße objekti-ve Entfesselung des kommerziellen Akkumulationsstrebens bedeutet,sprich, dessen Emanzipation von dem durch den traditionellen Marktals eine Art Zweck-Mittel-Relation etablierten Zusammenhang zwischendem als Selbsterhaltungsinteresse wohlverstandenen Subsistenzanspruchdes Produzenten und seiner durch den Markt als Wertschöpfung gesetz-ten Produktion.

Solange der Produzent noch in eigener Regie und auf Basis seinerhandwerklichen Arbeit Güter produziert und zu Markte trägt, bleibt,was er dafür von den Marktbetreibern an allgemeinem Äquivalent, anWert in Rein- oder Geldform, erhält, bezogen auf den in seinem Produktverkörperten Wert und bemisst sich daran. Auch wenn für die Marktbe-treiber der in dem Produkt verkörperte Wert der einzige Zweck der Sacheist und der Erlös, den sie dem Produzenten dafür zahlen, nichts weiter

darstellt als ein in Kauf zu nehmendes und das heißt, nach Möglichkeit billig zu erstehendes und von aller Relation zum Produktwert als demkommerziellen Zweck der Sache abzukoppelndes Mittel, um den Zweckzu erreichen, für den Produzenten selbst bleibt umgekehrt der Erlösseiner Arbeit der Zweck, dessen Erfolg und Erfüllung von dem Mittelabhängt, das er dafür hat einsetzen, anders gesagt, sich an dem Wert desProdukts bemisst, das er hat hervorbringen und liefern müssen.

Nun aber, da in der Konsequenz seiner eignerschaftlichen Trennungvon allen Produktionsbedingungen und Arbeitsmitteln der Produzentnurmehr sich selbst beziehungsweise die in ihm verkörperte Arbeits-

kraft zu Markte tragen kann und da die zu Unternehmern mutiertenMarktbetreiber sein abstraktes Auftreten nutzen, um ihn den sächlichenProduktionsbedingungen und Arbeitsmitteln als persönlichen Produkti-onsfaktor gleichzustellen, die Bemessungsgrundlage für den Erlös seinerArbeit demgemäß zu verändern und ihm qua Arbeitslohn nichts anderes

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mehr zu erstatten als die Gestehungskosten für seine eigene Produktion

 beziehungsweise Reproduktion, den in das einzige Produkt, das er nochzu Markte trägt, geflossenen, sprich, in ihm selbst, in seiner Arbeits-kraft, verkörperten Wert – nun also, da im Lohnverhältnis nichts anderesmehr in Betracht kommt und maßgebend ist als der Wert, den der alsein Produkt, das produziert, als ein Arbeitsmittel, das arbeitet, gefassteProduzent für sich genommen, sprich, in seiner Eigenschaft als Arbeits-kraft, verkörpert, ist jene traditionell auf dem Markt sich herstellendeZweck-Mittel-Relation, jene in Gestalt des Produkts, das der Produzentzu Markte trägt, empirische Präsenz gewinnende Vergleichsbeziehungzwischen dem Wert, den das vom Produzenten Produzierte verkörpert,und dem allgemeinen Äquivalent, das er für seine Produktionstätigkeit,seine Arbeit, erhält, vollständig zerrissen und außer Kraft gesetzt underscheint das Geld, das ihm die sich kapitalistisch engagierenden, alsUnternehmer etablierenden Marktbetreiber zahlen, in keinem proportio-nalen Verhältnis, keiner direkten Vergleichbarkeit mehr mit dem Wert,den er für sie produziert.

Dabei ist solche ökonomische Verhältnislosigkeit zwischen dem, wasder Produzent im Rahmen der arbeitsteiligen Kooperative hervorbringt,und dem, was ihm davon für den eigenen Unterhalt zusteht, solcher Man-gel an rationaler Proportion zwischen seinem Beitrag zur gesellschaftli-chen Reproduktion und dem subsistenziellen Nutzen, den er selbst davon

hat, mitnichten neu und hat vielmehr umfängliche Tradition. Tatsäch-lich ist eine weitgehende ökonomische Unverhältnismäßigkeit zwischendem gesellschaftlichen Beitrag des Produzenten und dem persönlichenNutzen, den er daraus zieht, den größten Teil der menschlichen Geschich-te hindurch typisches Merkmal der von den Gesellschaften etabliertenDistributionssysteme – ein Charakteristikum, dem überhaupt erst dieEntstehung marktförmig organisierter Gesellschaften und die für derendynamisches Zentrum, eben den Markt, grundlegende Erhebung desauf Basis sächlicher Wertbeziehungen funktionierenden kommerziellenAustauschs zum verbindlichen Distributionsmodus die generelle Geltung

streitig machen.Im historischen Vorher beziehungsweise systematischen Außerhalbmarktwirtschaftlicher Zusammenhänge entscheidet darüber, wie vielvon seinem Beitrag zur gesellschaftlichen Reproduktion dem Produ-zenten selbst beziehungsweise seinen Angehörigen bleibt und wie viel

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davon er der Gesellschaft beziehungsweise den diese beherrschenden

und verwaltenden Gruppen und Einrichtungen überlassen muss, nichtdie Ökonomie des kommerziellen Austauschs, sondern ein Gemisch ausnichtkommerziellen Rücksichten, die teils – wie etwa persönliche Ab-hängigkeit, herrschaftliche Unterwerfung, religiöse Verpflichtungen undrituelle Leistungen – dem Anspruch des Produzenten auf sein Produktzum Nachteil ausschlagen, teils – wie im Zweifelsfall Gewohnheitsrecht,Kulturtradition, Moral und Gruppensolidarität – seinem Anspruch zumVorteil gereichen.

 Jenes Gemisch aus sozialen Verhältnissen und kulturellen Bestimmun-gen ist maßgebend für die Aufteilung der vom Produzenten hervorge- brachten materialen Güter und erbrachten realen Leistungen, nicht einin die Produkte und Leistungen selbst verlegtes und in diesem Sinneobjektives Kalkül, wie es ursprünglich der subsistenzielle Gütertauschauf lokaler Basis praktiziert und dann der unter herrschaftlicher Ägidepraktizierte und kraft des Herrenguts Edelmetall, das er als allgemeinesÄquivalent in Gebrauch nimmt, Systemcharakter gewinnende kommerzi-elle Austausch als gesamtgesellschaftlich verbindliche Distributionsformins Werk setzt.

Die Außerkraftsetzung jenes ökonomischen Kalküls und der als Wert-verhältnis ausgedrückten objektiven Beziehung zwischen dem Beitragdes Produzenten und seinem Teilhabeanspruch, die es begründet, ist also

mitnichten ein historisches Novum, schafft keineswegs eine noch nie dagewesene Situation, sondern lässt sich im Gegenteil als eine Rückkehrzum Alltag der Menschheitsgeschichte verstehen. Das Neue an ihr istnur die quasiökonomische Form, in der sie sich vollzieht, dies, dass siesich als Rückkehr zum nichtkommerziellen Normalfall gesellschaftlicherDistribution ebenso wohl dementiert und durch die Unterstellung einesdem Produzenten als solchem eigenen, seiner abstrakten Arbeitskraftunabhängig von dem, was sie hervorbringt, beizumessenden Wertes denAnschein eines unverändert kommerziell geordneten Procedere erweckt.

Dieser der Arbeitskraft unterstellte eigene Wert ist eine Fiktion. Die im

Rahmen kommerziellen Austauschs und bezogen auf ihn produzierendeArbeitskraft schafft in Gestalt ihrer als Waren zu Markte getragenen Pro-dukte Wert, der ihren Anspruch auf Güter des Marktes begründet und andem sich jener bemisst, aber so gewiss sie dasjenige ist, was Wert schafft,so gewiss hat sie keinen ihr eigenen Wert.

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Was ihr als solcher zukommt, ist äußerstenfalls Wert im negativen Sinn,

ein als Grenzwert nicht zu unterschreitendes Minimum beziehungsweisenicht zu überschreitendes Maximum an aus ihrer Wertproduktion her-leitbarem Vergütungsanspruch. Das heißt, die Arbeitskraft darf aus ihrerkommerziellen Wertproduktion nicht weniger reellen Nutzen ziehen, alsfür das Überleben des sie verkörpernden Produzent erforderlich, undsie kann aus ihrer Wertproduktion nicht mehr reellen Nutzen ziehen,als sie zum kommerziellen Wertbestand, zu den auf dem Markt gesam-melten Gütern, beigetragen hat. Im einen wie im anderen Fall würdesie, zumindest längerfristig betrachtet, das kommerziell konstituierteWertschöpfungssystem, das sie realisiert, ad absurdum führen – im einenFall dadurch, dass sie selbst zugrunde ginge und dem System damit denBoden entzöge, im anderen Fall dadurch, dass sie die Leistungskraft desSystems überforderte und damit es zugrunde richtete. Einen über diesenegative Wertbestimmung hinausgehenden und zwischen den Extremendes Wertschöpfungssystems, zwischen den Polen, an denen das Systemim Bodenlosen versinkt beziehungsweise sich zur Maßlosigkeit versteigt,gelegenen positiven Wert nach Art der Produkte, die sie im kommerziel-len Kontext hervorbringt, besitzt die Arbeitskraft so wenig, wie sie sichselbst produziert und wie sie anderes tut, als sich mittels der materialenGüter, die sie – nach Maßgabe des kommerziellen Systems als Werte –hervorbringt, zu reproduzieren.

Zweck der Fiktion eines der Arbeitskraft eigenen positiven Wertes ist,wie gesagt, die quasiökonomische Form, die scheinbar marktkonformeFassung, die dadurch der Außerkraftsetzung der für allen kommerziellenAustausch und traditionellen Markt konstitutiven proportionalen Bezie-hung oder rationalen Relation zwischen dem Beitrag des Produzentenund der ihm dafür gezahlten Vergütung vindiziert wird. Die Fiktion oder,funktionalistischer ausgedrückt, das Konstrukt einer Wert besitzendenArbeitskraft dient mit anderen Worten zu verschleiern, dass im kapi-talistischen Lohnverhältnis, das den Wert dessen, was der Produzenthervorbringt, abkoppelt von und außer Relation setzt zu dem Wertanteil,

den er dafür erhält, eben dem nicht für seine Arbeitsleistung, sondern fürseine Arbeitskraft ihm gezahlten Lohn – dass im kapitalistischen Lohn-verhältnis also de facto eine Rückkehr zu gesellschaftlichen Verteilungs-weisen oder Distributionsmodi stattfindet, wie sie vor und außerhalbdes kommerziellen Austauschzusammenhanges und des durch ihn ins

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Leben gerufenen Marktsystems, sprich, den bei weitem größten Teil der

Menschheitsgeschichte hindurch, den Normalfall bilden.Und diese Verschleierung hat ihren guten oder vielmehr bösen Sinn.Würde nämlich die Außerkraftsetzung des kommerziellen Austauschme-chanismus und der Rückfall in eine nicht objektiv-ökonomisch begrün-dete, sondern rein institutionell-sozial bewerkstelligte Distributionsform,wie sie das Lohnverhältnis in Wahrheit darstellt, offen eingestanden undvollzogen, die unvermeidliche Folge wäre die Frage nach der Legitimati-on des Aufteilungsverfahrens.

Die traditionellen Formen nichtkommerzieller Distribution erhaltenihre Legitimation aus sozialen Gegebenheiten und institutionellen Struk-turen wie Gewohnheitsrecht, kulturellem Anspruch, politischer Macht,religiöser Sanktion und Gruppenbildung. Diese ihre Fundierung in Ha- bitus, Kultur, Herrschaft, Kult und Hierarchie ist es, was jenen nichtdurch kommerziellen Austausch vermittelten Distributionsformen ei-ne mehr oder minder bereitwillige beziehungsweise mehr oder minderwiderwillige gesellschaftliche Anerkennung sichert. Wie aber ließe sichin vergleichbarer Weise der qua Lohnverhältnis durchgesetzte Distri- butionsmodus der zu Unternehmern mutierten Marktbetreiber recht-fertigen, dessen einzige Begründung die subsistenzielle Notlage unddaraus folgende existenzielle Erpressbarkeit ist, der die letzteren dieherkömmlichen handwerklichen Produzenten ausliefern, indem sie auf 

die beschriebene, eher indirekt-emulative als direkt-expropriative Weisederen Produktionsmittel in ihre Hand bringen und die damit ihrer Exis-tenzgrundlage Beraubten und auf abstrakte Arbeitskräfte Reduziertenzwingen, um des Überlebens willen sich, ihre Arbeitskraft, den neuenEigentümern der Produktionsmittel zu Konditionen, die weitgehend vondiesen diktiert sind, zur Verfügung zu stellen?

Zwar lässt es der aus Eigennutz beziehungsweise Selbstbehauptungs-interesse mit den kapitalistischen Unternehmern paktierende absolutisti-sche Staat nicht an der Bereitschaft fehlen, mit bürokratisch-rechtlichemZwang und militärisch-polizeilicher Gewalt den mit allem kommerzi-

ellem Austausch unvereinbaren und der existenziellen Notlage, der dieUnternehmer durch ihr kapitalistisches Wirken die Produzenten auslie-fern, geschuldeten Verteilungsmodus der Lohnarbeit als gesellschaftlicheNorm durchzusetzen und aufrecht zu erhalten. Und parallel dazu zeigtsich das zunehmend vom kapitalen Verwertungsanspruch beherrschte

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normensetzend-öffentliche Bewusstsein eifrig bemüht, durch eine Hy-

pertrophierung und Verabsolutierung des Eigentumsbegriffs zu einemBegriff von der Unantastbarkeit beziehungsweise Unanfechtbarkeit derpersönlichen Habe, ihrer Entbindung von allen sozialen Rücksichten beziehungsweise freien Verfügung für jedwede gesellschaftlichen Absich-ten, den nötigenden und erpresserischen Gebrauch, den die kapitalisti-schen Unternehmer von den in ihre Hände gelangten Produktionsmittelnmachen, für gerechtfertigt zu erkennen.

Eine den traditionellen Formen gewohnheitsrechtlicher, herrschaftli-cher, ritueller oder sonstiger Güteraufteilung vergleichbare Legitimationoder Sanktionierung des unternehmerischen Verfahrens freilich lässt sichdadurch schwerlich erreichen. Zu offenkundig ist die in der Rede vomPrivateigentum kodifizierte Pervertierung des Eigentumsbegriffs auseiner auf Selbstmächtigkeit und Selbstbehauptung abgestellten Katego-rie in ein die Bemächtigung und Unterdrückung anderer beinhaltendesVerdikt, zu augenscheinlich verwandelt sich Eigentum damit aus einemdenjenigen, denen es zukommt, affirmativ beizulegenden Haben in einall denen, denen es abgeht, privativ anzulastendes Soll, zu unübersehbarist mit anderen Worten die alle gesellschaftliche Kontinuität beziehungs-weise jede zivile Verträglichkeit zerstörende kreatürliche Existenznot,in die das Eigentum an den Produktionsmitteln, das den spezifischenKern des zum Privateigentum zugespitzten generischen Eigentumsbe-

griffs bildet, im Zuge seiner Karriere die Nichteigentümer stürzt unddie es zur Basis seines Umspringens mit letzteren, sprich, zur Grund-lage des als Knebelvertrag unschwer erkennbaren Lohnverhältnissesmacht – zu umstürzlerisch und katastrophisch bringt sich, kurz, dasden kommerziellen Zusammenhang ebenso sehr sprengende wie ihmentspringende Eigentum an den gesellschaftlichen Produktionsmittelnals Stifter eines neuen, nichtkommerziellen Distributionsmodus zur Gel-tung, als dass es eine der Legitimität beziehungsweise Sakrosanktheit deralten Ordnungsmächte, die traditionell für die Ungleichverteilung desgesellschaftlichen Reichtums einstehen, im Entferntesten ähnliche Über-

zeugungskraft beanspruchen und als selbsttragendes Fundament einerauf ihm aufbauenden neuen Gesellschaftsordnung Anerkennung findenkönnte und nicht vielmehr, für sich genommen, in der prekären Positioneiner Laune der Geschichte erscheinen müsste, die nur die Bürgschaft deretablierten Macht, dies, dass der in ihrem Kraftfeld zum absolutistischen

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über die gesellschaftlichen Produktionsmittel gründet, kurz, aus der

schieren Macht des Kapitals resultiert.

Der Verdrängungswettbewerb, den die Unternehmer durch die Akzentverlage-rung auf die Erweiterung ihrer Produktionskapazitäten provozieren, führt zueinem Überangebot an Arbeitskräften. Als Wertverkörperung ist die Arbeitskraftwie alle anderen marktgängigen Wertverkörperungen der Gesetzmäßigkeit von

 Angebot und Nachfrage unterworfen. Weil es sich aber beim Wert der Arbeits-kraft um eine bloße Fiktion handelt, kann das Überangebot an Arbeitskräftenvon den Unternehmern dazu genutzt werden, den Preis der Arbeitskraft, denLohn für sie, ad infinitum oder vielmehr ad finem ihres als Existenzminimum

bestimmten Grenzwerts zu drücken.

Erleichtert wird die Einführung und Durchsetzung der Fiktion vomWert der Arbeitskraft oder von letzterer als einer dem sächlichen Ei-gentum vergleichbaren Habe dadurch, dass sich anfänglich dieser alsLohn erscheinende Wert quantitativ gar nicht weiter unterscheidet vondem Erlös, den der Handwerker erzielt, solange er noch seine eigenen,selbständig oder kleinbetrieblich erzeugten Produkte zu Markte trägt.Schließlich besteht ja, wie gezeigt, die Strategie der in jener Anfangszeitkapitalistischen Unternehmertums als Verleger oder Manufakturisten

in die handwerkliche Produktionssphäre investierenden Marktbetreiberhauptsächlich darin, durch Verbilligung oder Verbesserung der objek-tiven Produktionsbedingungen, das heißt, durch eine wohlfeileren Ar- beitsmaterialien und effektiveren Arbeitsmitteln oder Arbeitsprozessengeschuldete Steigerung der Produktivkraft einen höheren Gewinn auf dem Markt zu erzielen, als dies dem traditionellen Handwerk möglich ist.

Die in der Lohnarbeit vollzogene Separation der als den realen Pro-duktionsfaktoren gleichartiger personaler Produktionsfaktor mit spezifi-schem Wert gesetzten Arbeitskraft vom Wert der durch die Arbeitskraftgeschaffenen Produkte dient also hier nur erst dem Zweck, den – jeden-

falls solange sich das neue Produktivitätsniveau noch nicht als gesell-schaftliche Norm durchgesetzt hat – produktivkraftbedingt gesteigertenWert der Produktion und entsprechend vermehrten Profit aus ihr zurGänze den Unternehmern zufallen zu lassen und die kraft Lohnverhältnisals Arbeitskräfte identifizierten Produzenten von jedem Anspruch darauf 

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 beziehungsweise jeder Beteiligung daran ex cathedra des ihnen qua Lohn

vergoltenen Werts ihrer Arbeitskraft auszuschließen. Die Unternehmerkönnen demnach ihren als Lohnarbeiter in Dienst genommenen Produ-zenten den gleichen Erlös bieten, den sie von ihrer früheren selbständigen beziehungsweise kleinbetrieblichen handwerklichen Tätigkeit her ge-wohnt sind, ohne dass dadurch der von ihnen primär verfolgte Zweckder Veranstaltung, die Abschöpfung und vollständige Aneignung desproduktivkraftbedingt gesteigerten Mehrwerts, den die Produzentenerzeugen, durchkreuzt würde.

Wie sollte die letzteren angesichts dieser, den Erlös aus ihrer Arbeit betreffend, handgreiflichen faktischen Kontinuität jene im Lohnverhältnisund in der Fiktion vom Wert der Arbeitskraft, die ihm zugrunde liegt,

vollzogene systematische Veränderung ihrer Austauschsituation undStellung zum Markt groß kümmern und ihnen, die sich als freiberuflicheHandwerker auf dem Markt geheimnisvollerweise ins Hintertreffen ge- bracht und auskonkurriert finden und froh sind, durch das Verlagswesenund die Manufakturbetriebe der zu Unternehmern mutierten Marktbe-treiber zu den erst einmal weitgehend gleichen Konditionen wieder inLohn und Arbeit gesetzt zu werden, Motiv und Anlass sein können, sichder neuen Geschäftsgrundlage zu verweigern und gar gesellschaftlichenWiderstand gegen sie zu mobilisieren.

Freilich bleibt es nicht bei den gleichen Konditionen und ist die an-

fängliche faktische Kontinuität zwischen dem Erlös aus der selbständigenhandwerklichen Tätigkeit und dem Lohn aus der abhängigen manufak-turellen beziehungsweise industriellen Beschäftigung nicht von Dauer!Wie gesehen, ermöglichen ja den verlegerisch oder manufakturell enga-gierten Unternehmern ihre produktivitätsbedingt vermehrten Gewinne,ihre Investitionen zu verstärken und ihre Produktion entsprechend zusteigern, womit sie früher oder später und eher früher als später auf dem Markt für ein Überangebot sorgen, das sie zwingt, im Interesse desAbsatzes ihrer Produkte die zusätzliche Gewinnspanne, die ihre neue,höhere Produktivität ihnen im Rahmen des noch geltenden alten Produk-tivitätsniveaus verschafft, zu einem mit Hilfe von Preisnachlässen und

Rabatten ausgetragenen Konkurrenzkampf zu nutzen, der nolens volenszur Folge hat, dass auf dem alten Produktivkraftniveau produzierendeund deshalb dem Preiskampf nicht gewachsene handwerkliche bezie-hungsweise quasihandwerkliche Konkurrenten vom Markt verdrängtwerden.

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Objektiv betrachtet, stellt diese konkurrenzkampfbedingte Senkung der

Preise zwar nichts weiter dar als eine Anpassung des Preisniveaus an dasdurch die höhere Produktivität bestimmte neue Wertniveau der Produkte.Dennoch erfahren ihn diejenigen, die die Preisnachlässe im Konkurrenz-kampf einsetzen, eben die kapitalistischen Unternehmer, als eine ihremAkkumulationsdrang widerwärtige schmerzliche Gewinneinbuße, die sienur zu gern vermeiden oder wenigstens kompensieren möchten und diesie infolgedessen zu dem beschriebenen Wechsel in ihrer Investitionss-trategie veranlasst, dem Wechsel von Investitionen zur Steigerung derProduktivität, mit der eher defensiven Absicht, sich auf dem Markt zu behaupten, zu Investitionen zur Erweiterung der Produktionskapazität,

mit dem erklärten Ziel, weitere Marktanteile zu erobern.Diese ins Zentrum der unternehmerischen Aktivitäten rückende neueStrategie, mittels deren die kapitalistischen Unternehmer ihre dem Preis-kampf auf einem überfüllten Markt geschuldeten relativen Gewinneinbu-ßen durch die Vergrößerung der absoluten Profitsumme zu kompensierensuchen, führt nun aber naturgemäß zu einer Verstärkung und Beschleuni-gung des Verdrängungsprozesses, der schon mit der alten, noch primärauf eine Steigerung der Produktivkraft gerichteten Investitionsstrategieeinhergeht. Was nämlich bereits der nur erst produktivitätsgestützte Kon-kurrenzkampf durch die in ihm den Unternehmern gegebene Möglich-

keit, den Markt mit wohlfeileren Produkten zu beliefern, zwangsläufigzur Folge hat, dass handwerkliche oder quasihandwerkliche Konkurren-ten im Preiskampf unterliegen, keinen Absatz für ihre Produkte findenund so vom Markt vertrieben werden, das bewirkt nun in weit höheremMaße und in viel größerem Umfang auch der neue kapazitätsorientierteKonkurrenzkampf, weil das Neue an ihm ja im Wesentlichen darin be-steht, den Markt mit wohlfeileren Produkten nicht mehr nur zu beliefern,sondern mehr noch zu überschwemmen, sprich, die Absatzchancen, dieder billigere Preis dem Produkt eröffnet, durch Massenproduktion vollauszuschöpfen und zu einem auf breiter Front vorgetragenen Einbruch in

den Markt zu nutzen.Das Ergebnis ist, wie gesagt, eine massive Verstärkung und Beschleu-nigung des personalen Verdrängungsprozesses und ein entsprechendwachsendes Reservoir an arbeitslosen beziehungsweise Arbeit suchendenProduzenten, und diese Masse von Arbeitskräften, die im regelrechten

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circulus vitiosus ebenso sehr für die Umsetzung der offensiven Inves-

titionsstrategie der kapitalistischen Unternehmer zur Verfügung steht,wie sie durch letztere erzeugt wird, eröffnet nun aber der Fiktion voneinem der menschlichen Arbeitskraft eigenen Wert ein neues Anwen-dungsgebiet und weiteres Wirkungsfeld, das der durch sie ins Werkgesetzten systematischen Trennung von Lohn und Produktwert erst ihreganze Durchschlagskraft verleiht und sie in ihren empirisch verheerendenKonsequenzen voll zum Tragen bringt.

 Jene Fiktion vom Wert der Arbeitskraft bedeutet ja, dass die letztereals ein zwar personales, aber doch nicht anders als die gleichfalls durchihren Wert definierten materialen Güter für den kommerziellen Aus-tausch geeignetes Gut, eine für den Markt bestimmte Ware erscheintund dass, so gesehen, der Lohnarbeitsvertrag, den die Produzenten mitden kapitalistischen Unternehmern schließen, nichts weiter ist als dasErgebnis eines kommerziellen Austauschvorganges, bei dem die Pro-duzenten sich, ihr auf ein Element des neuen Produktionssystems, auf einen Kapitalfaktor reduziertes Selbst, kurz, ihre Arbeitskraft zu Marktetragen, um sie dort gegen die in diesem Falle als Lohn firmierende Wareallgemeines Äquivalent, die als Passepartout des gesamten Warensorti-ments fungierende Münze des Marktes, auszutauschen. Das Reservoiran Arbeit Suchenden, das die kapitalistischen Unternehmer durch ihrenauf dem Gütermarkt ausgetragenen Verdrängungswettbewerb schaffen

und aus dem sie zwecks erweiterter Reproduktion des Wettbewerbsschöpfen, stellt sich aus dieser Perspektive als ein wegen der spezifischenBeschaffenheit der Ware, die dort angeboten und nachgefragt wird, we-gen der Tatsache also, dass der Artikel, der dort zum Austausch kommt,das personale Gut Arbeitskraft ist, zum Arbeitsmarkt erklärter Teil desGesamtmarktes dar, der, eben weil er bloßer Bestandteil des letzteren ist,dessen Gesetzmäßigkeiten unterliegt und gehorcht.

Zu diesen Gesetzmäßigkeiten aber zählen zuerst und vor allem dasmarkteigene Wechselspiel zwischen Angebot und Nachfrage, zwischendem Überfluss oder dem Mangel, der beim Angebot eines bestimmten

Produkts beziehungsweise bei der Nachfrage nach ihm herrscht, unddie als der Preis des betreffenden Produkts ihren Niederschlag findendeRückwirkung, die jenes Wechselspiel auf die Realisierung des Produkt-werts auf dem Markt hat. Je nachdem, ob beim Angebot Überfluss be-ziehungsweise bei der Nachfrage Mangel herrscht oder ob umgekehrt

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ein mangelndes Angebot einer übermäßigen Nachfrage begegnet, sinkt

oder steigt der Preis der betreffenden Ware und wird also ihr Wert durchdie Situation am Markt modifiziert, egal, ob man diese Modifikationals eine dem tatsächlichen gesellschaftlichen Bedürfnis nach dem Pro-dukt geschuldete Korrektur oder als einen dem Produzenten durch dieUnberechenbarkeit des Marktes angetanen Tort betrachtet.

Und dieser Gesetzmäßigkeit des Marktes, diesem den Wert des Pro-dukts modifizierenden und als Warenpreis realisierenden Wechselspielvon Angebot und Nachfrage, zeigt sich nun auch jenes wachsende Reser-voir von arbeitslosen und Arbeit suchenden Produzenten unterworfen,das dank der Fiktion vom Wert der Arbeitskraft als Arbeitsmarkt, als ein

mit dem Austausch der Ware Arbeitskraft befasster Teil des Gesamtmark-tes erscheint.Wie aber hier die Gesetzmäßigkeit sich auswirkt, was in diesem Falle

aus dem Wechselspiel folgt, erhellt ja bereits aus der Rede von einemReservoir von Arbeitskräften, und einem wachsenden dazu, und ausder darin implizierten Tatsache, dass der Nachfrage der kapitalistischenUnternehmer nach Arbeitskräften ein Überfluss am Nachgefragten, einreichliches und in der Tat überreichliches Angebot an arbeitslosen Produ-zenten gegenübersteht. So gewiss die Unternehmer durch ihre offensiveInvestitionsstrategie, durch die Strategie einer auf die Eroberung des

Marktes zielenden Erweiterung ihrer Produktionskapazitäten, einen Ver-drängungswettbewerb praktizieren, der die wegen ihrer geringeren Pro-duktivität im Preiskampf unterlegenen handwerklichen beziehungsweisequasihandwerklichen Konkurrenten in Massen aus dem Markte wirft, sogewiss schaffen sie jenes Reservoir von Arbeitskräften, jenen Überflussan Arbeit Suchenden, aus dem sie schöpfen können, ohne ihn doch,weil er ja Überfluss ist, zu erschöpfen, an die Grenze seiner Ergiebigkeit,geschweige denn Verfügbarkeit, zu treiben.

Eben dies aber, dass der Überfluss vergleichsweise unerschöpflich ist,dass das Reservoir mehr Arbeitskräfte anbietet, als dem Bedarf der Unter-

nehmer entspricht, dies Ungleichgewicht also zwischen dem im Übermaßvorhandenen Angebot und der dem Angebot nicht gewachsenen Nach-frage wirkt sich nun mit der Zwangsläufigkeit jener marktspezifischenGesetzmäßigkeit zum Nachteil der Anbieter und zum Vorteil der Nach-frager aus, weil es den letzteren erlaubt, den Wert des Produkts, das die

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ersteren zu Markte tragen, den Wert mit anderen Worten ihrer Arbeits-

kraft, preislich nach unten zu modifizieren, sprich, ihnen weniger Lohnfür ihre Arbeitskraft zu zahlen, als sie ihnen unter Bedingungen einesausgeglichenen Verhältnisses zwischen Angebot und Nachfrage odergar einer das Angebot übertreffenden Nachfrage zahlen müssten. Dassin dem dank der Fiktion vom Wert der Arbeitskraft als Arbeitsmarkterscheinenden Reservoir arbeitsloser und um ihrer Subsistenz willenArbeit suchender Produzenten zu viele von diesen um vergleichsweisezu wenige Arbeitsplätze konkurrieren müssen, schafft eine Konstellation,die der vom materialen Gütermarkt seit jeher vertrauten Situation einesübermäßigen Angebots beziehungsweise Mangels an Nachfrage aufsHaar gleicht und die sich von den Nachfragern nach der Ware Arbeits-kraft im vom materialen Gütermarkt her gewohnten Sinne ausbeutenund nämlich nutzen lässt, um den Anbietern der Ware Arbeitskraft derenüberreichliches Vorhandensein gewissermaßen in Rechnung zu stellenund ihnen, die ja um ihrer Subsistenz willen darauf angewiesen sind, ihreWare loszuschlagen, einen Preis für sie zu zahlen, der ihrem Wert nichtentspricht und ihn vielmehr mehr oder minder unterschreitet – mit demErgebnis, dass er den Anbietern den Gewinn, den sie normalerweise ausdem Verkauf ihrer Ware ziehen, teilweise oder vollständig raubt oderihnen sogar nicht einmal die Produktionskosten für ihre Ware zu ersetzentaugt.

So haargenau gleich der der Fiktion vom Wert der Arbeitskraft ge-schuldete Arbeitsmarkt dem materialen Gütermarkt erscheint und sosehr er sich deshalb auch der gleichen, als preisrelevantes Wechselspielzwischen Angebot und Nachfrage wirksamen Gesetzmäßigkeit wie letz-terer unterworfen zeigt – in einem wesentlichen Punkte unterscheidet ersich von ihm, und dieser Unterschied verleiht nun jener Gesetzmäßigkeit,während er sie formell nicht zu berühren und unverändert in Geltungzu lassen scheint, in der Realität eine geradezu hypertrophe Konsequenzund verheerende Durchschlagskraft. Gemeint ist eben das Fiktive desder Arbeitskraft beigemessenen Werts, dies mit anderen Worten, dass der

Wert der als personale Ware firmierenden Arbeitskraft im Unterschiedzu dem der materialen Güter ein bloßes Konstrukt ist und bleibt undnämlich jenes Realgrunds entbehrt, der im Falle der materialen Güter inder Tatsache besteht, dass sie Arbeitsprodukte sind, dass ihre Herstel-lung ein bestimmtes Maß an in Arbeitszeit gemessener Arbeitskraft und

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eine bestimmte Menge an Arbeitsmaterialien und Arbeitsmitteln gekos-

tet hat, die ihrerseits ein bestimmtes Maß an in Arbeitszeit gemessenerArbeitskraft verkörpern.Der der Realität der zu ihrer Herstellung erforderlichen Verausgabung

menschlicher Arbeitskraft entspringende Wert der materialen Produkte bildet den objektiven Bezugspunkt beziehungsweise definitiven Maßstab,an den das mit den materialen Produkten auf dem Markt betriebeneWechselspiel zwischen Angebot und Nachfrage gebunden bleibt, stellteinen Tatbestand dar, von dem die Gesetzmäßigkeit einer reellen Modifi-zierung des den Wert nominell repräsentierenden Preises nolens volensihren Ausgang nehmen muss und auf den sie immer wieder rückbe-ziehbar ist. Dieser Tatbestand des im Produkt durch den Prozess seinerHerstellung objektiv verkörperten Werts gibt das Kriterium an die Hand,das zu beurteilen erlaubt, wann und wie lange es sich bei der dem Wech-selspiel von Angebot und Nachfrage geschuldeten Preisgestaltung umeine Modifizierung, um eine im Rahmen des kommerziellen Wertesys-tems verharrende Abweichung handelt und wann die Abweichung denRahmen sprengt und das kommerzielle Wertesystem ad absurdum führt,wann also etwa der Preis des Produkts wegen seines angebotsbedingtenVerfalls zum Spottpreis oder wann er wegen seines nachfragebeding-ten Anstiegs zum Wucherpreis wird und wann es deshalb nicht mehrverlohnt, das betreffende Produkt auf dem Markte anzubieten bezie-

hungsweise nachzufragen.Der Fiktion nach besitzt nun zwar auch die Ware Arbeitskraft einen sol-

chen objektiven Bestimmungsgrund für ihren Wert, nämlich ihre eigenenGestehungskosten, die für ihre Herstellung beziehungsweise Aufrechter-haltung erforderlichen materialen Bedingungen und realen Leistungen,kurz, die für ihre Subsistenz, ihre Reproduktion als Arbeitskraft erforder-lichen Mittel. Das Fiktive dieser materialen Begründung des Werts derArbeitskraft liegt indes darin, dass letztere an eine Person gebunden ist,die sie betätigt und ausübt, eine Person, die zwar zum Zwecke und imZuge des Lohnverhältnisses mit ihrer Arbeitskraft identisch gesetzt be-

ziehungsweise auf sie reduziert erscheint, die also, wie gezeigt, wenn siezu Markte geht, mangels anderen marktgängigen Eigentums nichts mehrals sich selbst, ihre leibhaftige Existenz, insofern diese arbeitsfähig ist,Kraft zum Arbeiten hat, zu Markte tragen kann, die aber doch zugleichin ihrer Leibhaftigkeit alle möglichen nichtleiblichen oder, besser gesagt,

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den Leib aus einem physischen Organismus in eine menschliche Person

verwandelnden Bestimmungen ihrer Existenz oder Bedingungen ihresDaseins ökologischer, ethologischer, historischer, sozialer, kultureller odersonstiger Art impliziert und sich von daher gegen jene Identifizierungmit ihrer bloßen Arbeitskraft und Reduktion auf sie verwahrt, sich auf ähnliche Weise von letzterer unterscheidet, ihr auf ähnliche Weise alsHypothek aufliegt oder als Klotz am Bein anhängt, wie oben bei Be-trachtung der progressiven Mechanisierung und Automatisierung desArbeitsverfahrens Körper und Geist des Produzenten seiner sukzessivein die Maschine integrierten Hand, Kraft und Steuertätigkeit aufgebürdetund angehängt erschienen.

Die Produktionskosten, sprich, die Subsistenzansprüche dieser der Ar- beitskraft angehängten Person aber quantitativ eindeutig anzugeben, sienach dem Vorbild der den Wert materialer Produkte ausmachenden Men-ge an für deren Produktion erforderlichen Arbeitsmitteln und Arbeits-kraft als ein- für allemal gegebene Größe zu ermitteln, ist schlechterdingsunmöglich, eben weil die Person jeweils Resultat des Zusammenwirkenseiner Vielzahl von Variablen ist, sich in ihrem empirischen Dasein durchzahlreiche und vielfach veränderliche Konditionen und Relationen kon-stituiert zeigt, weil sie einer spezifischen historischen Epoche angehört, aneinem spezifischen zivilisatorischen oder kulturellen Niveau partizipiert,spezifische individuelle oder kollektive Ansprüche an Ernährung und

Lebensführung ausgebildet hat, spezifische soziale und familiäre Bindun-gen unterhält und Verpflichtungen erfüllen muss, spezifische biologischoder biographisch fundierte Bedürfnisse und Vorlieben mitbringt usw.

Unter den vorliegenden Bedingungen ist freilich diese, das Konzepteines Werts der Arbeitskraft eigentlich als Fiktion entlarvende unend-liche Variabilität und folglich Unbestimmbarkeit der für den Wert derArbeitskraft beziehungsweise die Person, die letzterer angehängt ist,maßgebenden Produktions- beziehungsweise Reproduktionskosten nichtetwa ein Vorteil, den die Person zu ihren Gunsten nutzen könnte, sondernerweist sich im Gegenteil als ein Manko, das die Person unaufhaltsam

ins Verderben zu stürzen droht. Die unendliche Variabilität und Un- bestimmbarkeit der für den Wert der Ware Arbeitskraft maßgebendenGestehungskosten verhindert nämlich keineswegs, dass die Fiktion vomWert der Arbeitskraft Geltung und Realität gewinnt, sprich, dass die Ar- beitskraft tatsächlich als Ware gehandelt und behandelt wird – schließlich

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existiert das Lohnverhältnis ja und setzt, begünstigt durch die schein-

 bare Kontinuität, die es anfangs zur subsistenziellen Lage des von ihmverdrängten selbständigen Handwerkerdaseins wahrt, die Lohnarbeit alsherrschenden gesellschaftlichen Produktionsmodus progressiv durch.

Vielmehr bewirkt die empirische Unbestimmbarkeit der Reprodukti-onskosten, die für den Wert der Arbeitskraft maßgebend wären, einzigund allein dies, dass anders als bei den materialen Gütern bei der WareArbeitskraft jener ihr beigemessene Wert als ein faktischer Bezugspunktund praktisches Urteilskriterium für das Wechselspiel von Angebot undNachfrage außer Kraft tritt beziehungsweise gar nicht erst eine Rollespielt und letzterem damit die Entfesselung und Verabsolutierung zueinem Spiel ohne Grenzen, einer Gesetzmäßigkeit ohne definierten Gel-tungsbereich ermöglicht. Eben weil die Fiktion zwar, empirisch betrach-tet, Fiktion, aber dennoch, systematisch gesehen, als Realität anerkanntist, kann unter ihrem Deckmantel oder, besser gesagt, auf ihrer boden-losen Grundlage der aus der Relation zwischen Angebot und Nachfragesich speisende Kampf um den Preis der Arbeitskraft sich ungehindert ent-falten und schrankenlos austoben, beziehungsweise kann der Preisverfall,dem unter den gegebenen Umständen ein die Nachfrage ebenso zuneh-mend wie fortlaufend übersteigendes Angebot die Arbeitskraft ausliefert,durch keine Rücksicht auf einen ihr nachweislich eigenen Wert, keinobjektives Urteilskriterium in Schach gehalten, ad infinitum weitergehen.

Oder vielmehr nicht ad infinitum, sondern ad finem jenes oben als Wertim negativen Sinne apostrophierten Grenzwerts, den schließlich auchdie Arbeitskraft beziehungsweise die sie verkörpernde Person hat, jenesMinimums nämlich an Reproduktionskosten, sprich, Mindestmaßes anSubsistenzmitteln, ohne das die kreatürliche Existenz der Arbeitskraftnicht mehr gewährleistet, das physische Überleben der die Arbeitskraftverkörpernden Person nicht mehr möglich ist! Dieser Grenzwert ist dereinzige empirische Anhalt, der für das marktspezifische Wechselspiel vonAngebot und Nachfrage, das die Fiktion von einem der Arbeitskraft sys-tematisch beizumessenden, wenngleich empirisch nicht nachweisbaren

Wert von allen Rücksichten und jedem Vergleichskriterium entbindet,noch als maßgebende Größe in Betracht kommt, und auf ihn steuert derdem Wechselspiel unter den gegebenen Umständen entspringende Preis-verfall, dem sich die Arbeitskraft unterworfen findet, zwangsläufig zu.Solange das kraft der Fiktion vom Wert der Arbeitskraft als Arbeitsmarkt

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firmierende Reservoir von Arbeit Suchenden diese im – gemessen an

der Nachfrage nach ihnen als Überangebot erscheinenden – Übermaßumfasst, können die kapitalistischen Unternehmer nicht nur Arbeitskräfteaus jenem Reservoir schöpfen, sondern gleichzeitig auch deren Preisad infinitum ihrer empirischen Wertlosigkeit beziehungsweise ad finemihres biologischen Grenzwerts drücken und ihn sukzessive letzteremannähern, sprich, die von ihnen in Lohn gesetzten Arbeitskräfte undvielmehr die sie verkörpernden Personen an den Rand ihrer kreatürlichenExistenz treiben.

Der Verdrängungswettbewerb, den die Unternehmer entfesseln, sorgt zusam-

men mit anderen Gründen wie der Landflucht, den medizinisch-hygienischenFortschritten und einer aus der Not geborenen Fortpflanzungsbereitschaft dafür,dass anderthalb Jahrhunderte lang ein Überfluss an Arbeitskräften herrscht.Der Konkurrenzkampf in der zum Arbeitsmarkt erklärten Masse von ArbeitSuchenden ermöglicht eine Lohndrückerei, in deren Konsequenz als Hauptquelleder Kapitalakkumulation an die Stelle der intensiven Ausnutzung sächlicherProduktivkraft die extensive Ausbeutung personaler Arbeitskraft tritt.

Und dass solch ein Überangebot an Arbeitskräften auch weiterhin besteht, dass das als Arbeitsmarkt firmierende Reservoir von Arbeit Su-

chenden langfristig hinlänglich gut gefüllt bleibt, um den kapitalistischenUnternehmern die beschriebene infinite oder vielmehr aufs bittere Endekreatürlicher Not zielende Lohndrückerei zu ermöglichen – dafür sorgtzuerst und vor allem die offensive Investitionsstrategie der kapitalis-tischen Entwicklung selbst, die ja in einer massenhaften Verdrängunghandwerklicher beziehungsweise quasihandwerklicher Konkurrentenvom Markt resultiert, einer Verdrängung, die gleichbedeutend ist mit derEinspeisung der um ihrer Subsistenz willen auf Arbeit angewiesenenVerdrängten in jenes als Arbeitsmarkt firmierende Arbeitskräftereservoir.

Zwar müssen die kapitalistischen Unternehmer, um ihre offensive,

auf die Eroberung weiterer Marktanteile gerichtete Strategie fortsetzenzu können, aus dem Reservoir schöpfen und sind mithin nolens volensdamit befasst, es auch wieder zu leeren und das in ihm vorhandene Über-angebot an Arbeitskräften zu reduzieren, aber weil sie, wie dargestellt,eine Expansionsstrategie auf der Basis eines durch höhere Produktivität

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ermöglichten Preiskampfes betreiben und weil die höhere Produktivität

unter anderem bedeutet, dass die Arbeitskräfte, die sie in ihr Produkti-onssystem aufnehmen, im System mehr produzieren, als sie außerhalbproduzierten, ist prinzipiell gewährleistet, dass die Zahl der Arbeits-kräfte, die durch die Vermarktung ihrer Produkte vom Markt verdrängtwerden, ihre eigene jeweils übersteigt, dass also die Menge der vomSystem neu aufgenommenen und in Arbeit gesetzten Arbeitskräfte dieMenge der durch die Arbeit der letzteren auskonkurrierten und um ihreArbeit gebrachten Produzenten jeweils relativ erhöht und dass mithin, so-lange die Expansionsstrategie der kapitalistischen Unternehmer anhält, esdiesen nie an personalem Nachschub fehlt und sich in der unmittelbaren

Konsequenz ihrer Strategie jene personale Nachschubbasis, das Reservoirvon Arbeitslosen, immer nur vergrößert.So, als wäre es des – je nach ökonomischem Standort – Guten oder

Schlechten noch nicht genug, kommen nun aber zu diesem systemimma-nenten Grund für ein fortwährendes und sogar wachsendes Überangebotan Arbeit Suchenden weitere, mehr oder minder direkt mit der frühenkapitalistischen Entwicklung verknüpfte gesellschaftliche Bedingungenhinzu, deren Auswirkungen in die gleiche Richtung einer Vergrößerungdes den Unternehmern zur Verfügung stehenden und konkurrenzbedingtihrem Lohndiktat ausgelieferten Arbeitskräfteheeres zielen. Da ist zum

einen der schon für die Anfänge der kapitalistischen Entwicklung we-sentliche und nach wie vor wirksame Faktor einer durch das objektiveFlorieren und die subjektive Attraktivität der städtischen Wirtschaftszen-tren angeheizten Landflucht, der Zuwanderung ländlicher Gruppen, diesich durch das parallel zur manufakturell-industriellen Umgestaltungder handwerklich-städtischen Sphäre im bäuerlichen Bereich aufkom-mende Großpächterwesen und dessen Tendenz zur Rationalisierung desagrarischen Betriebes subsistenziell bedroht oder gar überflüssig gemachtsehen, in die dank der absolutistischen Wirtschaftspolitik von den tra-ditionellen Zunftordnungen und gewerklichen Berufsbeschränkungen

 befreite Stadt, wo sie ein gedeihlicheres Leben oder jedenfalls ein besseresAuskommen zu finden hoffen.Sodann sind da die ebenfalls mit der Bildung städtischer Ballungszen-

tren auf manufakturell-industrieller Basis in Zusammenhang stehendenund nämlich ebenso sehr durch die causa efficiens der gesundheitlichen

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Risiken und Seuchengefahren, die solche demographischen Zusammen-

 ballungen in sich bergen, erzwungenen wie durch die causa efficiensdes allgemeinen wissenschaftlich-technischen Ingeniums, das als Geistaus der Flasche der kapitalistischen Durchdringung und Neuordnungder handwerklichen Produktionssphäre auf den Plan tritt, ermöglichtenhygienischen und medizinischen Fortschritte, die dem Aderlass entge-genwirken, für den durch mangelnde Hygiene und fehlende Therapienverschuldete Epidemien und Endemien traditionell sorgen – Fortschrit-te, die dadurch, dass sie die Sterblichkeitsrate im Allgemeinen und dieKindersterblichkeit im Besonderen senken, indirekt das Bevölkerungs-wachstum befördern.

Und drittens ist da der generell beim Menschengeschlecht zu beob-achtende Mechanismus, der von ökonomischer Not und sozialem ElendBetroffene auf ihre prekäre Situation mit verstärkter Fortpflanzung rea-gieren lässt – wohl im widersprüchlich kombinierten Bemühen, einerseitsdie der Not und dem Elend entsprechend geringe eigene Lebenserwar-tung durch ein Fortleben in den Nachkommen zu kompensieren, undandererseits für das eigene Überleben Sorge zu tragen und sich in denKindern eine Alterssicherung zu schaffen. Weil Auslöser für jenen Me-chanismus einer verstärkten Fortpflanzungsaktivität die zunehmende Be-drängnis ist, in die die Lohndrückerei der kapitalistischen Unternehmerdas um die manufakturellen beziehungsweise industriellen Arbeitsplätze

konkurrierende Heer von Arbeit Suchenden bringt, erweist sich freilichder in seinem Überlebenskalkül und seinem Anpassungswert seit jeherfragwürdige Mechanismus in diesem Fall als denkbar kontraproduktiv:Indem er das Heer von Arbeit Suchenden längerfristig noch zu vergrö-ßern dient, leistet er der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt weiterenVorschub, arbeitet der durch sie ermöglichten kapitalistischen Lohn-drückerei direkt in die Hände und vermehrt damit eben die Not unddas Elend, denen er doch eigentlich zu wehren oder die er wenigstens inihren Folgen zu neutralisieren gedacht ist. Zumindest zeitigt er indirektdiesen schädlichen Effekt, indem er nämlich die als traditionelle Antwort

auf die massive Säuglings- und Kindersterblichkeit früherer Zeitalter zuverstehende hohe Geburtenrate aufrecht erhält und verhindert, dass dieRate nach Maßgabe jener Leben – und zumal das des Nachwuchses –erhaltenden Fortschritte auf hygienischem und medizinischem Gebietsinkt.

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Diese drei zusätzlichen Faktoren – die anhaltende demographische Wan-

derung aus den agrarischen Regionen in die städtischen Ballungszentren,die dank hygienischer Vorsorge und medizinischer Versorgung steigendedurchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung und die als Reaktionauf ökonomische Not und soziales Elend begreifliche hohe Fortpflan-zungsrate in den von der Not und dem Elend betroffenen Schichten –wirken mit dem systemeigenen, der offensiven Investitionsstrategie desKapitals geschuldeten Mechanismus einer Auffüllung des Arbeitskräf-tereservoirs mit vom Markt verdrängten Produzenten zusammen, umrund anderthalb Jahrhunderte lang, bis tief ins neunzehnte Jahrhunderthinein, jenen permanenten Überfluss an Arbeitskräften zu erhalten, derdie auf der Fiktion vom Wert der Arbeitskraft fußende Konstruktion desReservoirs von Arbeitslosen als eines Arbeitsmarkts und die darauf wie-derum basierende Anwendung der marktspezifischen Gesetzmäßigkeitvon Angebot und Nachfrage als eines der Ware Arbeitskraft zum Nachteileines eben wegen ihrer objektiven “Wertlosigkeit” schier unendlichenPreisverfalls gereichenden Mechanismus ermöglicht.

Der dem permanenten Überangebot an Arbeit Suchenden geschulde-te fortlaufende Preisverfall der Ware Arbeitskraft, diese unaufhaltsamauf den Grenzwert eines existenziellen Minimums an Lohn zutreibendeVerwohlfeilerung des von den Produzenten in eigener Person zu Marktegetragenen Kapitalfaktors Arbeit wird nun tatsächlich zum Hauptvehikel

einer Steigerung des im Rahmen kapitalistischer Wertschöpfung vomKapital selbst beanspruchten Mehrwerts und mithin zur Hauptquelle dervon den kapitalistischen Unternehmern aus den Produktionsprozessen,die unter ihrer Regie ablaufen, zu ziehenden Profite. In dem Maße, wiedieser oben als Lohndrückerei apostrophierte Mechanismus einer dieinterne Konkurrenz der Arbeit Suchenden nutzenden Verwohlfeilerungder Arbeitskraft greift und seine Wirkung entfaltet, tritt an die Stelleder zu Anfang vornehmlich intensiven, auf die größtmögliche Effizi-enz der objektiven Produktionsbedingungen, sprich, die Steigerung derProduktivkraft, gerichteten eine wesentlich extensive, auf den weitest-

möglichen Einsatz der produzierenden Subjekte, sprich, die Ausbeutungder Arbeitskraft zielende Strategie der Profitmaximierung.Dabei tritt die Lohndrückerei, die auf jene extensive Ausbeutungsstra-

tegie abzielt und die der diktatorischen Macht über die Vertragskondi-tionen des Lohnverhältnisses geschuldet ist, die die Konkurrenzsituation

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in dem kraft der Fiktion vom Wert der Arbeitskraft zum Arbeitsmarkt

erklärten Arbeitslosenheer den kapitalistischen Unternehmern verleiht,keineswegs nur in der direkten Gestalt einer Herabsetzung der Löhneauf, sondern nimmt ebenso sehr die obliquen Formen einer bei gleicherLohnzahlung erzwungenen Verlängerung des Arbeitstages beziehungs-weise Beschleunigung des Arbeitstaktes an, sofern sie nicht sogar beideskombiniert und den Arbeitskräften bei gemindertem Lohn eine zeit-lich verlängerte beziehungsweise vom körperlich-geistigen Einsatz herverstärkte Arbeitsleistung abfordert.

Aber welche Form auch immer die im Sinne ihrer extensiveren Nut-zung verstärkte Ausbeutung der Arbeitskraft annimmt, sie zielt stets auf 

das Gleiche, nämlich auf eine Veränderung des proportionalen Verhält-nisses zwischen dem Teil des Produktwerts, der in Gestalt ihres Lohnsden Produzenten überlassen wird, und dem Teil, der als Mehrwert inden Händen der Unternehmer verbleibt, eine proportionale Veränderung,die sich ebenso gut direkt durch eine relative Verkleinerung der Lohn-summe wie indirekt durch eine absolute Vergrößerung des Produktwerts bewirken lässt. Und anders als die durch die Steigerung der sächlichenProduktivkraft zu erreichende Veränderung der Proportion zwischen denvon den beiden Vertragspartnern des Lohnvertrags, dem Unternehmerund dem Arbeiter, mit Beschlag belegten Teilen des Produktwerts ist die

durch die stärkere Ausbeutung der persönlichen Arbeitskraft bewirkteproportionale Veränderung keine bloß vorübergehende, keine, die nureiner Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung des Produktwerts und einerdadurch bedingten quasi optischen Täuschung des Marktes geschuldetwäre, sondern sie ist definitiv, weil sie sich am tatsächlichen, allgemeingeltenden Produktwert abspielt.

Wie oben gezeigt, verdankt sich das Mehr an Wert, das die kraft säch-licher Produktionsbedingungen und Arbeitsmittel gesteigerte Produkti-vität zu schöpfen erlaubt und das sich die kapitalistischen Unternehmeraufgrund ihrer Verfügung über das sächliche Produktionsinventar aneig-

nen, bloß der Tatsache, dass jene produktiveren Bedingungen und Mittelsich noch nicht als allgemeingesellschaftlich verbindliche beziehungswei-se gültige objektive Konditionen des Produktionsprozesses durchgesetzthaben und dass deshalb der Wert sich statt an ihnen beziehungswei-se der für ihre Produktion erforderlichen Arbeitszeit vielmehr an dem

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alten, weniger produktiven, sprich, mehr Arbeitszeit benötigenden Pro-

duktionstempo bemisst. Hat das Produktivitätsniveau des betreffendenProdukts bei den Konkurrenten Schule gemacht, wie wegen des größerenProfits, den das Gefälle zwischen neuem und altem Niveau, solange es besteht, verschafft, unvermeidlich, und hat es sich als das gesellschaftlichverbindliche durchgesetzt, so wird die dem neuen Produktivitätsniveauentsprechende Arbeitszeit zum Maß des Wertes des betreffenden Pro-dukts und sinkt der überhöhte Preis, den dank des Produktivitätsgefällesund ihrer Orientierung am alten Niveau die auf dem neuen Niveau pro-duzierenden Unternehmer auf dem Markt erzielen konnten, auf diesenmittlerweile verbindlich gewordenen neuen Wert herab.

Die Wertsteigerung als Folge einer erhöhten Produktivkraft ist alsoein der Ungleichzeitigkeit der technischen Entwicklung und organisa-torischen Gestaltung der Produktionsprozesse geschuldetes Phänomenund eignet sich eher für taktische als für strategische Zwecke, ist mitanderen Worten eher dazu nutzbar, im Kampf um die für die Schlacht umden gesellschaftlichen Reichtum günstigsten Positionen Geländegewinnezu erzielen, als in der Schlacht selbst die Oberhand zu gewinnen unddie Beute zu erringen. Sie taugt, wie gesehen, eher dazu, in einem alsPreiskampf geführten Konkurrenzkampf auf dem Markt zu expandierenund neue Marktanteile zu erobern, als dass sie, für sich genommen, schondie Grundlage einer ebenso effektiven wie kontinuierlichen Kapitalakku-

mulation, einer ebenso haltbaren wie anhaltenden Bereicherung bildenkönnte.

Indem nun aber die produktivitätsbedingte Wertsteigerung und dieihr geschuldete transitorische Erhöhung des den kapitalistischen Un-ternehmern zufallenden Mehrwertanteils den letzteren die Möglichkeitzu jenem als Verdrängungswettbewerb auf dem Markt wohlverstande-nen Preiskampf mit ihren handwerklichen und quasihandwerklichenKonkurrenten eröffnet, führt sie, wie ebenfalls gesehen, zu einem wach-senden Reservoir von arbeitslosen und deshalb notgedrungen Arbeitsuchenden Produzenten, einem Heer von abstrakten Arbeitskräften, das,

 behandelt als Arbeitsmarkt, als Ansammlung von Personen, die nichtsals die Ware Arbeitskraft verkörpern und zu Markte tragen, die in derPosition, den Arbeit Suchenden Arbeit zu geben, befindlichen kapitalis-tischen Unternehmer zur Lohndrückerei ermächtigt, sie dazu befähigt,den miteinander um die Arbeitsplätze konkurrierenden Arbeitskräften

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die finanziellen beziehungsweise reellen Bedingungen, unter denen sie

Lohnarbeit verrichten müssen, weitgehend zu diktieren – womit in derTat der Grund für eine ebenso dauerhafte wie wirksame Steigerung derKapitalakkumulation gelegt ist.

Die nämlich verdankt sich nun nicht mehr einem vorübergehenden,durch die technische Entwicklung hervorgerufenen, aber durch den Markt-mechanismus und seinen Konkurrenzdruck auch jeweils wieder besei-tigten Produktivitätsgefälle, sondern ist Folge einer vom Stand der Pro-duktivität unabhängigen und eben deshalb dauerhaften proportionalenVeränderung der den beiden Parteien, die am manufakturellen bezie-hungsweise industriellen Wertschöpfungsprozess beteiligt sind, dem

kapitalen und dem personalen Subjekt, dem sächlichen und dem persön-lichen Produktionsfaktor, dem Arbeitsmittel und der Arbeitskraft, demUnternehmer und dem Lohnarbeiter, zufallenden Anteile am produzier-ten Wert.

Die vermehrte Bereicherung ist also nicht mehr Konsequenz einerdurch Ausnutzung sächlicher Produktivkraft errungenen, konkurrenz-mäßig geltend gemachten, vorübergehenden Vormachtstellung gegen-über den Wettbewerbern in der Zirkulationssphäre, sondern sie ist Resul-tat einer in der Ausbeutung persönlicher Arbeitskraft bestehenden, ver-tragsgemäß besiegelten, bleibenden Verfügungsgewalt über die Kontra-

henten im eigenen Produktionsbetrieb. Zugleich aber ist beides dadurchquasikausal miteinander verknüpft und das eine zumindest indirektdadurch die Folge des anderen, dass, wie gesehen, der Preiskampf, mitdem ihre höhere Produktivität den kapitalistischen Unternehmern auf die Überfüllung des Marktes zu reagieren erlaubt, und der Wechsel voneiner intensiven zu einer extensiven Investitionsstrategie beziehungswei-se von einer defensiven zu einer offensiven Expansion auf dem Markt,mit dem sie ihre mit dem Preiskampf einhergehenden Gewinneinbußenwettzumachen suchen, Hauptbedingung für die Bildung jenes wach-senden Reservoirs von Arbeitskräften, jenes Heeres von Arbeitslosen,

 jenes Übermaßes an Arbeit Suchenden sind, das die Basis für den Über-gang beziehungsweise die Akzentverschiebung von der Ausnutzungsächlicher Produktivkraft und den daraus zu ziehenden vorübergehen-den Gewinnen zur Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und den ihrentspringenden dauerhaften Profiten darstellt.

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Nur weil, mit anderen Worten, die auf der Grundlage einer Intensivierung

des Produktionsprozesses oder Ausnutzung sächlicher Produktivkraftvon den kapitalistischen Unternehmern zuerst eher defensiv, zur Be-hauptung der errungenen Marktposition, und dann zunehmend offensiv,zur Eroberung neuer Marktanteile, verfolgte Expansionsstrategie ihrehandwerklichen beziehungsweise quasihandwerklichen Konkurrentenmassenhaft aus dem Markt herauswirft und zu einem wachsenden Reser-voir von Arbeitslosen und notgedrungen Arbeit Suchenden versammeltund nur weil die gesellschaftlich mittlerweile anerkannte Fiktion vomWert der Arbeitskraft erlaubt, dieses – noch aus den genannten anderenGründen wachsende – Arbeitskräfteheer als einen Arbeitsmarkt, eineAmassierung von sich zum Verkauf anbietenden Verkörperungen derWare Arbeitskraft, zu interpretieren und zu behandeln, können die ka-pitalistischen Unternehmer, indem sie die vormals selbständigen, auf eigene Rechnung produzierenden Konkurrenten in abhängige Kontra-henten, Lohnarbeiter transformieren, diese per medium des Wechsel-spiels von Angebot und Nachfrage jener Extensivierung des Produkti-onsprozesses oder Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft unterwerfen,die empirisch-arbeitsorganisatorisch auf eine Verlängerung der Arbeits-zeit beziehungsweise Verstärkung der Arbeitsanstrengung bei gleich bleibendem oder gar sinkendem Lohn hinausläuft und systematisch-verteilungsökonomisch in einer entweder bloß relativen – der gleichen

Arbeitsleistung bei sinkendem Lohn geschuldeten – oder dazu nochabsoluten – der vermehrten Arbeitsleistung bei gleichem, wo nicht garsinkendem Lohn entspringenden – Vergrößerung des als Mehrwert er-scheinenden Unternehmeranteils, kurz, in einer Umverteilung des durchden Arbeitsprozess geschaffenen Produktwerts zugunsten der als säch-licher Produktionsfaktor, als Kapital, firmierenden Arbeitsmittel und zuLasten der als menschlicher Produktionsfaktor, als Personal, fungieren-den Arbeitskräfte resultiert.

Und indem die Unternehmer dies tun, vollenden sie eigentlich erstdie im kapitalistischen Produktionssystem implizierte Überführung der

personalen Subjekte in kapitale Faktoren, lassen die Identifizierung derProduzenten als den sächlichen Produktionsmitteln ihrem Wesen nachgleichgeordnete, nur eben ihrer Erscheinung nach nicht sächliche, son-dern persönliche Produktionsbedingungen über die von Anfang an for-male Geltung hinaus materiale Wirksamkeit gewinnen und können das

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Potenzial ungehindert ausschöpfen, das diese Faktorisierung der arbei-

tenden Subjekte, diese Verwandlung der Produzenten in Arbeitskräfte,diese ihre Eingliederung in den Organismus des nunmehr die Produktion bestimmenden kapitalen Subjekts im Hinblick auf eine Verstärkung derWertschöpfung und entsprechende Steigerung des aus der Wertschöp-fung zu ziehenden Mehrwertanteils ihnen erschließt.

Erst hier wird die menschliche Arbeitskraft in dem vollen Sinne Mo-ment und Bestandteil des Kapitals, den die klassische Volkswirtschaftmeint, wenn sie sie als variables Kapital bezeichnet und den als kon-stantes Kapital definierten sächlichen Produktionsbedingungen als einedas Kapital als Gesamtmenge komplettierende Teilmenge an die Sei-

te stellt. Solange in der Frühzeit der kapitalistischen Entwicklung derSchwerpunkt der unternehmerischen Akkumulationsstrategie noch auf der intensiven Ausnutzung sächlicher Produktivkraft liegt, geht, wie ge-sagt, die Ausbeutung der in Lohnabhängigkeit gebrachten Produzentennoch unter dem Deckmantel eines im Großen und Ganzen durch dasLohnverhältnis unverändert gelassenen Einkommens- und Lebenshal-tungsniveaus vor sich und scheint insofern der persönliche Produkti-onsfaktor Arbeitskraft auch noch anders als die sächlichen Produktions-faktoren, die Arbeitsmittel, durch nicht marktwirtschaftlich fundierteKriterien und Schranken historisch-traditioneller, moralisch-habitueller

und praktisch-kultureller Natur determiniert.Die den persönlichen Produktionsfaktor von den sächlichen, die Ar- beitskraft von den Arbeitsmitteln scheinbar noch unterscheidenden Kri-terien und Schranken aber erweisen sich nun in dem Maße als haltlosund hinfällig, wie das durch die kapitalistische Entwicklung geschaffeneReservoir von Arbeitslosen und notgedrungen Arbeit Suchenden unddie auf Basis der Fiktion vom Wert der Arbeitskraft sich vollziehendeRealisierung dieses Arbeitskräftereservoirs als eines Arbeitsmarktes denUnternehmern erlauben, das Schwergewicht ihrer Akkumulationsstrate-gie zu verlagern und nämlich anstelle der Ausnutzung sächlich fundierter

Produktivkraft die Ausbeutung persönlich inkorporierter Arbeitskraft insZentrum ihrer unternehmerischen Bemühungen zu stellen. Indem dieKonkurrenz auf dem überfüllten Arbeitsmarkt diese scheinbar noch inskapitalistische System hinein als Bestimmungsgründe für das Einkom-mensniveau des Lohnarbeiters, seinen Lebensunterhalt, kontinuierten

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nichtökonomischen Kriterien und Schranken beseitigt, wird die Arbeits-

kraft als der Kapitalfaktor sans phrase, der sie im kapitalistischen Systemist, offenbar, als die Produktionsbedingung, die, ungeachtet ihrer persön-lichen Natur, ihres Subjektcharakters, um kein Jota weniger durch ihreGestehungskosten und ihren daraus resultierenden Marktwert bestimmtist, als das die objektiven Voraussetzungen des Arbeitsprozesses, diesächlichen Produktionsbedingungen sind.

Solch vollständige Egalisierung der Arbeitskraft mit dem Arbeitsmittel,ihre auf Basis der Fiktion vom auch der ersteren eigenen Wert durchge-setzte rückhaltlose Gleichstellung zeitigt freilich, wie ebenfalls gezeigt,das paradoxe Ergebnis, dass die tatsächliche Ungleichheit beider, die sichvorher noch in der positiven Gestalt einer dem Wert der Arbeitskraft vonaußerhalb des Systems, nämlich von Tradition, Gewohnheit und Kulturwegen zukommenden, nichtökonomischen Bestimmtheit zur Geltungzu bringen schien, jetzt in der negativen Form einer dem Wert der Ar- beitskraft überhaupt fehlenden ökonomischen Bestimmtheit zum Tragenkommt. Eben weil der der Arbeitskraft beigemessene eigene Tauschwerteine Fiktion ist, kann er sich auf dem Markt auch nicht als für die Bewer-tung der Arbeitskraft maßgebender kommerzieller Anhaltspunkt, sprich,über Sinn oder Unsinn des Handels mit ihr entscheidendes Urteilskriteri-um zur Geltung bringen – mit der fatalen Konsequenz, dass anders als beiden sächlichen Produktionsfaktoren, den Arbeitsmitteln, der Marktwert

der Ware Arbeitskraft sich de facto auf ihren Marktpreis reduziert und siedamit ganz und gar der marktspezifischen Gesetzmäßigkeit von Angebotund Nachfrage ausgeliefert ist.

Unter der durch die kapitalistische Entwicklung teils direkt herbei-geführten, teils indirekt beförderten Bedingung eines wachsenden Re-servoirs von Arbeitslosen und eines die Nachfrage nach Arbeitskräftenfolglich ebenso progredient wie permanent übersteigenden Angebots anihnen bedeutet für die Ware Arbeitskraft diese ihre faktische “Wertlosig-keit”, diese ihre rückhaltlose Verfallenheit an den Preis, den der Marktihr zumisst, einen fortlaufenden Preisverfall, eine als Lohndrückerei er-

scheinende unaufhaltsame Tendenz der kapitalistischen Unternehmer, siefür die Arbeitsleistung, die sie im Dienste der letzteren erbringt, mit demfür ihre Reproduktion, das heißt, für das individuelle oder gar nur daskollektive Überleben ihrer personalen Träger unabdingbaren Minimuman Vergütung abzuspeisen.

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Eben dieser gravierende Unterschied zwischen den beiden Kapitalfakto-

ren der Arbeitsmittel und der Arbeitskraft, den die kapitalistische Ent-wicklung in dem Maße, wie sie ihn als außerökonomisch-positiven zumVerschwinden bringt, als innerökonomisch-negativen zum Tragen kom-men lässt, ist in der Charakterisierung des Kapitalfaktors Arbeitskraftals variablen Kapitals impliziert, da ja das der kapitalistischen Produkti-onsweise als quasilogisches Prinzip eingeschriebene akkumulative Stre- ben nach möglichst geringen Produktionskosten, das heißt, nach einerweitestgehenden Reduzierung der finanziellen Aufwendungen für denEinsatz der erforderlichen Produktionsfaktoren, sich nicht oder nur im begrenzten Umfang marktbedingter Preisschwankungen an den Arbeits-mitteln und objektiven Produktionsbedingungen befriedigen kann, diedurch ihre eigene Herstellung in ihrem Wert determiniert, sprich, als kon-stantes Kapital der Preisdrückerei im Normalfall entzogen sind, und da jenes Streben sich deshalb nolens volens an den Kapitalfaktor Arbeitskrafthalten muss, dem sein Wert erzeugender, nicht verkörpernder Subjekt-charakter, sprich, seine objektive “Wertlosigkeit” solche Wertkonstanzversagt und der deshalb Variabilität in dem wohlverstandenen Sinne beweist, dass er in der als Kapitalkalkül funktionierenden Produktions-kostenrechnung eine Variable darstellt, die unter den entsprechendensozialökonomischen und demographischen Bedingungen – und sie sind,wie gezeigt, in dem fraglichen Zeitraum gegeben – in eine Richtunggetrieben wird, die sie zu einem kalkulatorisch verschwindenden Posten,einer finanziellen quantité négligeable verflüchtigt, zu einem Element,das, ohne realiter ins Gewicht zu fallen, nur noch formaliter existiert,damit die Rechnung überhaupt aufgehen und, indem sie aufgeht, imgrößtmöglichen Maße zugunsten der Unternehmerseite zu Buche schla-gen kann.

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. Merkantilismus, koloniale Expansion und Etatismus

Die für das rasche Avancement der kapitalistischen Produktionsweise zur ge-

sellschaftlichen Reproduktionsmethode par excellence grundlegende extensive Ausbeutung der Lohnarbeitskraft führt zu einer rasch wachsenden Masse vonGütern, die die Aufnahmefähigkeit der traditionellen Konsumentenschicht, we-niger was ihre Bedürfnisstruktur, als was ihr Bedürfnisvolumen betrifft, überfor-dert. Die Vermarktung der Gütermasse, sprich, die als ihr Absatz apostrophierteRealisierung ihres Werts beziehungsweise Mehrwerts aber ist conditio sine quanon für das Funktionieren des ganzen Systems.

Es ist demnach die im Lohnarbeitsverhältnis zur Geltung gebrachte Fikti-on vom Wert der Arbeitskraft, eine durch den kommerziellen Austauschzwar kaschierte, aber keineswegs gedeckte, sprich, durch die Marktöko-

nomie zwar kodifizierte, aber mitnichten auch legitimierte Unterstellung,was dem kapitalistischen System erlaubt, bei entsprechender ökono-mischer Machtverteilung, das heißt, unter der doppelten Bedingungeiner in der Kapitalisierung kommerziellen Reichtums beschlossenenTrennung der Produzenten von den Produktionsmitteln, ihrer Degra-dierung zu bloßen Arbeitskräften, und eines durch die kapitalistischeEntwicklung selbst direkt und indirekt erzeugten Überflusses an solchenArbeitskräften, ihrer Amassierung zu einem Heer von Arbeitslosen unddeshalb notgedrungen Arbeit Suchenden – was also unter dieser dop-pelten Bedingung den kapitalistischen Unternehmern erlaubt, von einer

intensiven, vornehmlich auf die Ausnutzung sächlicher Produktivkraftgerichteten zu einer extensiven, hauptsächlich auf die Ausbeutung perso-naler Arbeitskraft konzentrierten Strategie der Kapitalakkumulation zuwechseln und in der Konsequenz dieses Strategiewechsels jene sowohlabsolute als auch relative Steigerung des realen Mehrwerts zu erreichen,

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will heißen, jene Umverteilung des durch den Arbeitsprozess geschaffe-

nen produktivitätsstandsgemäßen Produktwerts zu Gunsten des Kapi-tals und zu Lasten der Lohnarbeit durchzusetzen, kurz, jene Steigerungihrer an der Höhe des Arbeitslohns sich bemessenden Gewinnspanneund entsprechende Vergrößerung ihrer aus dem Produktionsprozess zuziehenden Profite zu erzielen, die sich als grundlegend für das rascheAvancement der kapitalistischen Produktionsweise, ihren steilen Aufstiegzur dominanten, wo nicht gar absolut herrschenden gesellschaftlichenReproduktionsmethode erweist.

In der Tat verleiht erst diese, durch die Konkurrenz im Heer der Ar- beitskräfte, das sich in die Uniform eines Arbeitsmarktes gepresst findet,ermöglichte extensive Ausbeutung der Lohnarbeit der kapitalistischenEntwicklung jene Durchsetzungskraft und Geschwindigkeit, die sie in ei-nem Zeitraum von anderthalb Jahrhunderten die traditionelle handwerk-liche Arbeitsweise und die ihr eigenen Organisations- beziehungsweiseKorporationsformen aus dem Feld schlagen beziehungsweise an die Peri-pherie der Produktionssphäre verbannen und zur Nischenexistenz einesder eigentlichen Produktion bloß anhängenden und zuarbeitenden Repa-raturbetriebs und Dienstleistungsgewerbes verurteilen lässt. Bliebe diekapitalistische Entwicklung auf die in der intensiven Ausnutzung säch-licher Produktivkraft bestehende und vornehmlich auf die Behauptungder errungenen Marktposition gerichtete defensive Investitionsstrategie

der Anfangszeit beschränkt, sie würde zwar voranschreiten, aber dochin einem ungleich gemäßigteren Tempo und, was sowohl die ökonomi-schen Verschiebungen als auch die sozialen Verwerfungen angeht, mitweit weniger dramatischen Folgen. Teils nämlich sind, wie gesehen, diehöheren Gewinne, die ihre durch effektivere Arbeitsmittel, Produktions-techniken und Arbeitsorganisationsformen gesteigerte Produktivkraftund entsprechend verringerten Produktionskosten ihnen verschaffen, nurvorübergehende Erscheinungen, die wieder verschwinden, sobald sichdie der höheren Produktivkraft entsprechende Arbeitszeit als verbindli-ches Kriterium für den Wert des betreffenden Produkts durchgesetzt hat,

teils sehen sich in dem Maße, wie nicht zuletzt dank der kapitalistischenErhöhung der Produktivkraft der Markt mit dem jeweiligen Produktüberreichlich versorgt wird, die kapitalistischen Unternehmer genötigt,durch Preisnachlässe und Preissenkungen ihrem Produkt den Absatzzu sichern und büßen so ihren produktivitätsbedingt höheren Gewinn

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teilweise oder ganz wieder ein. Wird aber der Gewinn aus der intensiven,

auf die Steigerung der Produktivkraft abgestellten Investitionsstrategieimmer wieder geschmälert oder gar zunichte gemacht, so werden na-türlich auch die auf dem Gewinn basierenden weiteren Investitionengehemmt oder gar verhindert und sieht sich die kapitalistische Entwick-lung, sprich, die Durchsetzung der von der Ratio des kapitalen Subjekts bestimmten manufakturellen beziehungsweise industriellen Lohnarbeitzur maßgebenden gesellschaftlichen Produktionsweise, immer wiederEinbrüchen oder Rückschlägen ausgesetzt.

Erst die extensive Investitionsstrategie, auf die im Bemühen, ihre imPreiskampf erlittenen Gewinneinbußen durch den Absatz größerer Pro-duktmengen zu kompensieren, die kapitalistischen Unternehmer ver-fallen und die den Akzent von der Steigerung der Produktivkraft undVerstärkung der Effektivität der Produktion auf eine Vermehrung derArbeitsprozesse und Ausweitung der Produktionskapazität verlagert, bringt die ebenso dauerhaften wie realen Gewinnsteigerungen mit sich,aufgrund deren das kapitalistische System via Verdrängungswettbewerbauf dem Markt ab dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts derart un-widerstehlich und rasant expandieren kann, dass es sich bereits in derersten Hälfte des neunzehnten zur konkurrenzlos herrschenden Form dergesellschaftlichen Reproduktion avanciert zeigt.

Indem die extensive, auf die Ausweitung der Produktionskapazität

auf Basis des jeweils erreichten Produktivitätsstandes gerichtete Investi-tionsstrategie durch die massenhafte Verdrängung handwerklicher undquasihandwerklicher Konkurrenten vom Markt, die sie bewirkt, ein Heervon verfügbaren Arbeitskräften schafft, das, als Arbeitsmarkt behandelt,den kapitalistischen Unternehmern erlaubt, den ihre Ware Arbeitskraftzu Markte Tragenden immer weiter die Löhne zu kürzen beziehungs-weise fortlaufend höhere Leistungen abzuverlangen und damit die bisdahin vornehmlich betriebene und aber als Akkumulationsinstrumentzweifelhafte beziehungsweise unzuverlässige Ausnutzung sächlicherProduktivkraft durch die todsichere Bereicherungsquelle einer progressi-

ven Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft zu ersetzen, ist die Folge eineanhaltende Umverteilung zwischen Unternehmern und Lohnarbeitern,die einen nicht nur relativ, sondern auch absolut immer größeren Mehr-wert, sprich, einen relativ wachsenden Anteil am absolut steigenden Wertdes manufakturell beziehungsweise industriell geschaffenen Produkts

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in den Händen der Unternehmer belässt, der, sofern es gelingt, ihn auf 

dem Markt zu realisieren, sprich, in klingende Münze zu überführen,den Unternehmern zur Verfügung steht, um ihn, der Logik des kapitalenAkkumulationsstrebens folgend, erneut in wertschöpfende Produktions-prozesse zu investieren und das Tempo der kapitalistischen Entwicklung,sprich, der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise als derfür die ganze handwerkliche Produktionssphäre verbindlichen gesell-schaftlichen Reproduktionsmethode massiv zu forcieren.

Freilich gibt die obige Parenthese vom “sofern es gelingt” schon die alsconditio sine qua non einschränkende Bedingung an, der diese forcierteExpansion des Systems unterliegt, beziehungsweise weist auf das Pro- blem hin, das eben diese forcierte Entwicklung schafft und dessen Lösungüber ihren Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Das Problem nämlichist, kurz und bündig, wie die materiale Konsequenz der auf Basis derAusbeutung menschlicher Arbeitskraft forcierten Expansion des Systems bewältigt, wie mit anderen Worten die dank extensiver Investitionss-trategie, dank Vermehrung der Arbeitsprozesse und Ausweitung derProduktionskapazität unter der Maßgabe progressiver Lohndrückereiund exzessiven Leistungsdrucks zunehmende Masse von Produkten, diewachsende Fülle von als Wertverkörperungen figurierenden Waren, auf dem Markt abgesetzt und damit jener ökonomisch als Wertrealisierung bestimmten Verwandlung in allgemeines Äquivalent unterzogen werden

kann, die die Voraussetzung dafür ist, dass der mittels ausbeuterischenWertschöpfungsprozesses erzielte exorbitante Mehrwert erneut investiert,sprich, für neue, ebenso exorbitant gewinnträchtige Wertschöpfungspro-zesse verwendet werden kann.

Systematischer gefasst, ist das Problem, dass die als Selbstverwertungvor sich gehende Kapitalbildung, die selbstbezügliche Akkumulation vonKapital unfehlbar und unaufhebbar dies Moment von Fremdbestimmt-heit an sich hat, dass sie immer zugleich der menschlichen Bedürfnis- befriedigung dienen und sich nämlich per medium der Produktion vonals Befriedigungsmittel tauglichen materialen Gütern ins Werk setzen

muss und dass der Beweis für die Erfüllung dieser dem kapitalen Inter-esse ebenso heteronomen wie zwingend zugewiesenen sozialen Aufgabedarin besteht, dass es gelingt, jene materialen Produkte, in die sich dasKapital um seiner Selbstverwertung willen nolens volens investierenoder verkleiden muss, auf dem Markt an den Mann und die Frau zu

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 bringen, sprich, bei den zu Markte gehenden Konsumenten auf ein Be-

dürfnis nach dem jeweiligen Produkt zu treffen, das groß genug ist, umsie zu veranlassen, letzteres gegen allgemeines Äquivalent, die Münzedes Marktes, Geld einzutauschen, kurz, es zu kaufen. Das Problem alsosind die konsumpraktischen Folgen der vom Kapital bewirkten und eben-so sehr in specie durch die Ausbeutung der Arbeitskraft wie in generedurch die Steigerung der Produktivkraft bedingten Zunahme der Gü-terproduktion, sind mit anderen Worten die Absatzschwierigkeiten, vordie eine auf dem Markt rasch wachsende Ansammlung von materialenWertverkörperungen, Waren, die kapitalistischen Unternehmer stellt.

Schon die auf eine Verbesserung der Produktivkraft gerichtete intensiveInvestitionsstrategie, auf die das Kapital zu Anfang seiner Entwicklungnoch weitgehend beschränkt ist, führt ja, wie gesagt, bereits zu einemProduktionswachstum, das früher oder später in einem Überangebot auf dem Markt resultiert und die kapitalistischen Unternehmer zwingt, dieproduktivitätsbedingt höheren Gewinne, die sie, wenn auch nur vorüber-gehend, erzielen, zur Sicherung ihrer Absatzchancen mittels Preisdum-ping einzusetzen. Indem sich nun aber die Unternehmer darauf verlegen,die Gewinneinbußen, mit denen sie selber ihren Preiskampf bezahlenmüssen, durch eine Akzentverschiebung in der Investitionsstrategie,sprich, durch den Wechsel von einer intensiven, vornehmlich auf dieSteigerung der Effektivität der Produktion zielenden zu einer extensi-

ven, hauptsächlich auf die Ausweitung der Kapazität der Produktionabgestellten Investitionstätigkeit zu kompensieren, entfesselt dieser Stra-tegiewechsel einen massiven Verdrängungskampf auf dem Markt, der ein– auch noch aus den genannten anderen Gründen – rapide wachsendesHeer von frei verfügbaren Arbeitskräften, ein überreichliches Kontingentvon Anbietern der Ware Arbeitskraft auf den Plan ruft und damit jeneneigentlichen und für die Durchsetzung der kapitalistischen Produkti-onsweise in so relativ kurzer Frist und auf so absolut unwiderstehlicheArt entscheidenden Paradigmenwechsel ermöglicht, der die Ausbeutungmenschlicher Arbeitskraft als Hauptbereicherungsquelle an die Stelle der

Ausnutzung sächlicher Produktivkraft treten lässt.Absolut gesehen, bedeutet der Paradigmenwechsel von der Ausnut-zung sächlicher Produktivkraft zur Ausbeutung menschlicher Arbeits-kraft eine weitere und unvergleichlich massivere Vermehrung der inGestalt materialer Güter produzierten Wertmenge. Relativ betrachtet,

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 bedeutet er eine Vergrößerung des Anteils der Unternehmer an der pro-

duzierten Wertmenge, eine Steigerung des der Kapitalseite zufallendenMehrwerts, der, in neue Produktionsprozesse investiert, das Wachstumder in Gestalt materialer Güter produzierten Wertmenge noch weiter beschleunigt oder vielmehr eskaliert.

Wie sollte wohl dem Strom von materialen Gütern, von Wert verkör-pernden Befriedigungsmitteln, den diese ausbeutungsfundierte Wert-schöpfungsdynamik hervortreibt, die anfänglich die kapitalistische Ent-wicklung tragende Konsumentenschicht, will heißen, die traditionelleOberschicht, die sich von der absolutistischen Herrschaft für ihren Verlustan realer Macht, ihre Reduktion auf zeremonielles Ansehen, mit derRolle des privilegierten Konsumenten, wie man will, entschädigt oderabgespeist findet – wie sollte wohl diese konsumierende Oberschicht jenem kapitalistischen Güterstrom lange standhalten und Genüge leistenkönnen, wie sollte sie längerfristig imstande sein, die ihr in ihrer Kon-sumentenfunktion zugewiesene Aufgabe, den Güterstrom in klingendeMünze zu verwandeln, zu erfüllen?

Schließlich ist diese Gruppe vergleichsweise, und nämlich bezogenauf das Gros der Bevölkerung, klein und verdankt ihre relativ großekonsumtive Aufnahmefähigkeit überhaupt nur der weiter oben geschil-derten und für den Fortbestand und das Gedeihen des Marktes zumEnde des Mittelalters und in der beginnenden Neuzeit grundlegenden

Akzentverlagerung in der kommerziellen Absatzstrategie, bei der andie Stelle des traditionellen Bemühens um eine Erhöhung der Nachfra-ge durch die räumliche Expansion des Marktes und Ausweitung desKonsumentenkreises als neues Hauptrezept das Streben nach Steigerungdes Absatzes durch Vervielfältigung und Verstärkung der konsumti-ven Bedürfnisse im Rahmen des vorhandenen Marktes und des mit ihmgegebenen Konsumentenkreises tritt.

Nur weil es gelingt, in dem als Renaissance firmierenden Übergangvom Mittelalter zur Neuzeit die Bedürfnisstruktur in einem Maße zuentfalten und luxuriös auszugestalten, wie das aus wesentlich anderen,

nichtkommerziellen Gründen bislang höchstens noch dem RömischenReich auf der Höhe seiner imperialen Macht beschieden war, und einedieser Steigerung und Diversifizierung der Bedürfnisse entsprechendePalette von Befriedigungsmitteln heimischer Produktion und kolonia-ler Provenienz auf den Markt zu bringen, kann die traditionsgemäß als

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primäre und hauptsächliche Nutznießerin des kommerziellen Systems

figurierende Oberschicht ihrer historischen Aufgabe nachkommen unddurch verstärkten und vervielfältigten Konsum letzterem nicht nur ausder Stagnationssituation, in der es sich Ende des Mittelalters befindet, her-aushelfen, sondern mehr noch jene post festum als ursprüngliche Akku-mulation erscheinende massive kommerzielle Bereicherungsperspektiveerschließen, in deren Resultat das Handelskapital sich in Produktionska-pital, in Kapital sans phrase, verwandelt, indem es sich mangels weitererkommerzieller Verwertungsmöglichkeiten in die handwerkliche Produk-tionssphäre wirft und diese ebenso sehr technisch, sprich manufakturell beziehungsweise industriell, revolutioniert wie durch die Überführungdes selbständigen Handwerkers in den abhängigen Lohnarbeiter unddes kleinen handwerklichen Betriebes ins Fabrikwesen gleichermaßenkalkulatorisch und organisatorisch auf neue Grundlagen stellt.

Diese, aus der ursprünglichen Akkumulation, die der verstärkte undvervielfältigte Konsum der traditionellen Oberschicht ermöglicht, resul-tierende Kapitalisierung der handwerklichen Produktionssphäre hat nunaber dank einerseits des die Produktionsmittel betreffenden Produktivi-tätsschubs, der mit ihr einhergeht, und andererseits des die Arbeitskräfteereilenden Ausbeutungsprozesses, den die marktmechanischen Auswir-kungen jener Steigerung der Produktivität in Gang setzen, eine solche,sowohl quantitative als auch qualitative Zunahme der auf dem Markt

versammelten Gütermenge, eine solche Überschwemmung des Mark-tes mit einer bis dato unbekannten Masse und Vielfalt manufakturell beziehungsweise industriell erzeugter Befriedigungsmittel zur Folge,dass sich diejenigen, die bis dahin die Hauptnutznießer des kommerzi-ellen Treibens sind und die durch ihren Konsum den Grund für jenendie Produktion ebenso sehr eskalierenden wie expandierenden Über-gang des kommerziellen in industrielles Kapital legen, eben die mit derOberschicht, mit Adel und Geistlichkeit, weitgehend deckungsgleichenprivilegierten Konsumenten, hoffnungslos überfordert finden und ihrerökonomisch als Wertrealisierung firmierenden Aufgabe, die Güteran-

sammlung auf dem Markt zu kaufen und ihm abzunehmen, ihn von ihrzu entlasten, partout nicht mehr gewachsen sind, schlechterdings nichtmehr zu genügen vermögen.

Wäre das durch die Produktivität und Ausbeutung der Arbeit einer-seits und durch die relative Beschränktheit des Kreises der Nutznießer

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der Arbeit andererseits heraufbeschworene Absatzproblem nur eines

der Bedürfnisstruktur, der Diversität und qualitativen Vielgestaltigkeitder manufakturell beziehungsweise industriell erzeugten Befriedigungs-mittel, es ließe sich vielleicht noch dank der Plastizität und polymorph-perversen Natur des menschlichen Bedürfnissystems durch eine fort-schreitende Perfektionierung und Detaillierung der Formen und Mittelleiblich-geistiger beziehungsweise sinnlich-neuraler Befriedigung, sprich,durch die Produktion einer immer ausschweifenderen Palette von fakti-schen und symbolischen Luxusgütern lösen. Aber wegen der mittlerweilevon den kapitalistischen Unternehmern angewandten extensiven Inves-titionsstrategie und der in ihrem Gefolge fortschreitenden Ausbeutungeines wachsenden Heeres von Arbeitskräften erweist sich das Absatzpro-

 blem als eines nicht mehr hauptsächlich der Bedürfnisstruktur, sondernwesentlich des Bedürfnisvolumens, will heißen, es fehlt den Bedürfnissender den Konsum tragenden Oberschicht nicht mehr sowohl an Diversitätund qualitativer Vielgestaltigkeit, sondern mangelt ihnen hauptsächlichan Kapazität und quantitativer Aufnahmefähigkeit.

Angesichts der Masse und Zuflussgeschwindigkeit der zugleich immervielfältigeren materialen Güter, die die kapitalistische Lohnarbeit auf-grund der mit ihr forcierten Ausnutzung sächlicher Produktivkraft undin deren Konsequenz wiederum effektuierten Ausbeutung menschlicherArbeitskraft hervorbringt und auf den Markt wirft, erweist sich mit ande-

ren Worten der aus der Oberschicht bestehende, sprich, sich aus Adel undGeistlichkeit rekrutierende, traditionelle Konsumentenkreis als definitivzu klein und in seinem Fassungsvermögen zu beschränkt, um jene Güter-masse zu bewältigen und so dafür zu sorgen, dass eine conditio sine quanon für die weitere Entwicklung des kapitalistischen Produktionssystemsweiterhin erfüllt wird und letzteres sich nicht in eben die fundamentaleAbsatzkrise gestürzt findet, als die sich das Absatzproblem herausstellt,wenn seine Lösung unterbleibt.

Denn keine Frage, eine fundamentale Krise droht dem System, wennes ihm nicht gelingt, die dank seiner realen Produktivität und seinerpersonalen Ausbeutungsrate rasch wachsende qualitative Vielfalt und

quantitative Masse von Produkten, die es zu Markte trägt, die riesigeWarenansammlung, als die der Markt sich dank Lohnarbeit zunehmenddarbietet, tatsächlich auch Abnehmer finden zu lassen und dem Kon-sum zuzuführen oder, wie es der ebenso zynische wie karge Sprachge- brauch des Marktes will, abzusetzen. Schließlich werden aus Sicht des

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Systems und seiner Unternehmer jene Produkte nur produziert, um die

in ihnen als vergegenständlichter Arbeit steckende Mehrarbeit, den inihnen als Wertverkörperungen enthaltenen Mehrwert zu gewinnen, kurz,Wertakkumulation zu treiben. Und schließlich treiben das System undseine Unternehmer Wertakkumulation einzig und allein zu dem Zweck,den vermehrten Wert wiederum in neue, kraft Mehrarbeit mehrwer-tige Arbeitsprozesse, in neue wertakkumulative Produktionsprozessezu investieren. Die Bedingung der Möglichkeit freilich für letzteres istdie erfolgreiche Überführung der vom System produzierten materialen,“unreinen” Wertverkörperungen in die reale, “reine” Wertform, sprich,ihr Verkauf auf dem Markt, ihr Austausch gegen allgemeines Äquivalent,

Geld.Diese Überführung der vielen Wertverkörperungen in die eine Wert-form ist gleichbedeutend mit der Erfüllung beziehungsweise Erledigungder dem kapitalistischen Produktionssystem uno actu der autonomenBewegung des Kapitals, seines als akkumulative Verwertung selbstbe-züglichen Treibens, zugewiesenen heteronomen Aufgabe der Versorgungder Gesellschaft mit Reproduktionsgütern, der Erzeugung von Befriedi-gungsmitteln für menschliche Bedürfnisse. Weil schon der bloß kommer-zielle Akkumulationsdrang sich nur im Rahmen und per medium jenermaterialen Bedürfnisbefriedigungsleistung und sozialen Versorgungsver-

anstaltung bilden und entfalten kann und weil auch die Kapitalisierungder Produktionssphäre und die darin beschlossene Aufhebung der kom-merziellen Akkumulation zur industriellen Wertschöpfung nichts daranändern kann, dass die autonome Bewegung der kapitalen Selbstverwer-tung an die heteronome Bedingung materialer Gütererzeugung gefesselt beziehungsweise in sie eingebunden bleibt – weil dies so ist, bleibt dieauf die industrielle Produktion folgende kommerzielle Transaktion, derVerkauf der auf dem Markt versammelten Güter gegen in den Händender Konsumenten befindliches allgemeines Äquivalent, der einzige undverbindliche Beweis dafür, dass das System der mit seiner autonomen

Neigung, seinem kapitalen Verwertungsanliegen untrennbar verknüpftenheteronomen Pflicht, der sozialen Versorgungsaufgabe, Genüge getan hatund deshalb zu Recht den Lohn für seine Mühe, das durch die Lohnarbeit,die sich in den materialen Produkten verkörpert hat, vermehrte Quantumdes zuvor in die kapitale Produktion investierten Werts, empfängt.

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Seiner sozialen Aufgabe glücklich entledigt und für deren Erfüllung des

vermehrten allgemeinen Äquivalents, verwerteten Werts habhaft, kanndas System sich wieder seinem eigentlichen Geschäft, der durch denEinsatz des allgemeinen Äquivalents als Kapital betriebenen weiterenAkkumulation, der weiteren Vermehrung oder Verwertung des Einge-setzten selbst zuwenden, wobei freilich dieser ökonomisch als Investitionfirmierende Einsatz dem gleichen Schema wie der vorherige folgt, willheißen, abermals an die ebenso heteronome wie obligate Aufgabe ge- bunden ist, einen Beitrag zur sozialen Versorgung oder gesellschaftlichenReproduktion zu leisten, abermals untrennbar mit der Verpflichtungzur Produktion von Befriedigungsmitteln für menschliche Bedürfnis-se, von gesellschaftlich nachgefragten materialen Gütern verknüpft istund deshalb auch abermals einer auf dem Markt zu bestehenden, allesentscheidenden Bewährungsprobe unterliegt und nämlich nur dann alsvon Erfolg gekrönt gelten kann, wenn es gelingt, durch den Absatz derBefriedigungsmittel, dadurch also, dass die materialen Güter an denMann und die Frau gebracht werden, die Erfüllung jener aus Sicht des ei-gentlichen kapitalen Geschäfts als ebenso unentrinnbare wie heteronomeVerpflichtung erscheinenden sozialen Aufgabe unter Beweis zu stellen.

Schlägt die Bewährungsprobe fehl und gelingt es dem kapitalen Pro-duktionssystem nicht beziehungsweise nur zum Teil, die unter seinerRegie erzeugten materialen Güter auf dem Markt abzusetzen, konsumtive

Abnehmer für sie zu finden, so sind nicht nur die Güter als solche, alsObjekte, die zu etwas gut, Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen sind,widerlegt, sondern es ist ebenso sehr auch der in den Gütern steckende,per medium ihrer seine Vermehrung, seine Verwertung betreibende Wertad absurdum geführt und in der Tat zunichte gemacht. So gewiss derals Erfüllung der sozialen Aufgabe des Systems apostrophierte Absatzder materialen Güter auf dem Markt zwecks Befriedigung menschlicherBedürfnisse gleichsinnig ist und sich uno actu vollzieht mit der vom Sys-tem selbst als Wertrealisierung betriebenen Erlösung des in den Güternverkörperten mehrwertigen Werts aus dieser seiner materialen Hülle und

Rücküberführung in jene als allgemeines Äquivalent figurierende sich-selbstgleiche Form, in der er als Mittel für die weitere Verfolgung seineseigentlichen Geschäfts, seiner durch alle materialen Produktionsprozessehindurch betriebenen Selbstverwertung, kurz, als Kapital zur Verfügungsteht, so gewiss ist das Scheitern des einen auch das Scheitern des anderen

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und findet das System ebenso unfehlbar, wie ihm die Erfüllung seiner

sozialen Versorgungsaufgabe missglückt, auch dieses sein eigentlichesGeschäft, die Befriedigung seines kapitalen Verwertungstriebs vereitelt.Der durch die Arbeit vermehrte Wert bleibt quasi in den durch ihre

Unabsetzbarkeit widerlegten Bedürfnisbefriedigungsmitteln stecken,lässt sich aus ihnen nicht erlösen und erstirbt in ihnen, will heißen, erverliert seine Wirklichkeit, verliert sich als Wert, der er ja nur ist und bleibt, weil und solange er sich als solcher, als allgemeines Äquivalent,Geld, zu restituieren und damit dem System als Mittel für seine weitereVerwertung, als akkumulativ leibhaftiger Selbstzweck, als Kapital, zurVerfügung zu stellen vermag.

Dabei muss der Wert sich gar nicht als ganzer unerlösbar zeigen undgenügt es bereits, dass er nur zum Teil, dem durch die Arbeit hinzuge-fügten und als Mehrwert erscheinenden Teil nämlich, in den als solchewiderlegten materialen Gütern stecken bleibt und sich als nicht aus ih-nen restituierbar erweist, um das System vor den Fall seines Scheiternszu bringen und seines zum Existenzgrund verabsolutierten einzigenBeweggrunds, seines als Selbstverwertungszwang perennierenden aus-schließlichen Motivs verlustig gehen zu lassen. Schließlich geht es demSystem auf Basis des für es konstitutiven Akkumulationsprinzips um denWert nicht einfach in genere seiner identisch fortlaufenden, sondern inspecie seiner fortlaufend erweiterten Reproduktion, will es den Wert nicht

einfach nur als sich erhaltenden, sich immer wieder als solchen bezwe-ckenden, sondern mehr noch als sich vermehrenden, sich im Rahmenseiner Selbstzweckbeziehung verwertenden erzielen. Es genügt, dass sichdiese spezifische, seinem Akkumulationstrieb entspringende Existenzbe-dingung des Systems, sein Anspruch auf mehr Wert, als unrealisierbarerweist, um das System an der Wirklichkeit seines wesentlichen Inhalts,eben des Werts, verzweifeln und dessen akkumulative Verfolgung, ebendie Wertschöpfung, einstellen, sprich, sich als Ganzes in Konkurs gehen,seine Existenz aufgeben zu lassen.

Dank der untrennbaren Verknüpfung zwischen kapitaler Wertschöp-

fung und materialer Gütererzeugung aber, dank der Tatsache also, dassdie Realisierung der kapitalen Verwertungsabsicht nur uno actu mit derErfüllung der sozialen Versorgungsaufgabe geschehen, die wirtschaftli-che Akkumulation nur per medium der gesellschaftlichen Reprodukti-on vor sich gehen kann, ist das Ende der ersteren gleichbedeutend mit

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dem Ende oder zumindest (da ja die Menschen den Systemen, die sie

selber geschaffen haben, zwar auf Gedeih und Verderben ausgeliefertsind, nicht unbedingt aber auf Tod oder Leben verbunden bleiben) einermassiven Krise der letzteren. Indem die materiale Bedingung des ka-pitalen Systems, die mit der Verwertung menschlicher Arbeit ins Werkgesetzte Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sich als unrealisierbarerweist und diese ökonomisch als Fehlschlagen der Wertrealisierungauf dem Markt erscheinende Nichterfüllung der materialen Bedingungdes Systems dessen ersten und letzten Zweck, die Akkumulation vonWert, sei’s auch nur in parte, nämlich zum akkumulierten, als Mehrwertfirmierenden Teil vereitelt, bringt diese partielle Vereitelung der Verwer-tungsabsicht dadurch, dass sie dem System seine ganze Motivation undseinen in ihr bestehenden Existenzgrund verschlägt, nicht nur letzteresselbst zum Erliegen, sondern bringt auch und natürlich in toto und imvollen Umfang nämlich der unter der Regie des letzteren ablaufendenrealen Lohnarbeitsprozesse die materiale Güterproduktion zum Stillstandund stürzt so die menschliche Gesellschaft in eine der Verquickung vongesellschaftlicher Reproduktion und kapitaler Wertschöpfung geschulde-te fundamentale Versorgungskrise, eine ihren Stoffwechsel mit der Naturtangierende tiefe Notlage.

Damit dürfte klar sein, welch existenzieller Bedrohung das kapitalis-tisch umgerüstete und entfaltete Produktionssystem sich und die ihm

als Wirtsgesellschaften dienenden absolutistischen Sozialverbände aus-setzt, indem es mittels einer Kombination aus Ausnutzung sächlicherProduktivkraft und Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft eine Güter-produktion ins Werk setzt, deren Vielfalt und vor allem Masse die sichweitgehend aus der Oberschicht rekrutierenden und entsprechend be-schränkten traditionellen Konsumentenkreise zunehmend überfordernund an die Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit führen, sprich, dazu angetansind, letztere vor den Fall des Scheiterns an der hauptsächlich ihnen zu-gewiesenen ökonomischen Rolle zu bringen, der Aufgabe nämlich, durchihren Konsum den vom Produktionssystem geschöpften Wert als solchen

zu realisieren. Es dürfte klar sein, dass sich die Absatzprobleme, die diesewachsende Diskrepanz zwischen der Leistungskraft des Produktionssys-tems und der Aufnahmefähigkeit auf dem Markt, diese sich immer weiteröffnende Schere zwischen Güterangebot und konsumtiver Nachfrageschafft, früher oder später und eher früher als später zu einer tödlichen

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Gefahr für das kapitalistische Produktionssystem selbst und zugleich

zu einer existenziellen Versorgungskrise für seine Wirtsgesellschaftenauswachsen müssen, sofern es nicht gelingt, die Schere zwischen massen-haftem Angebot und beschränkter Nachfrage rechtzeitig zu schließen, dieDiskrepanz zwischen Produktionsleistung und Konsumkraft effektiv zu beseitigen.

Das produktivitäts- und ausbeutungsbedingte Wachstum der Gütermenge er- fordert eine Ausweitung des Konsumentenkreises. Teilhabe im Konsum ist indesnicht nur eine Frage der als Bedürfnis figurierenden subjektiven Kondition, son-dern ebenso sehr der als Vermögen firmierenden objektiven Disposition. Und das

Dilemma ist, dass das Gros der Bevölkerung zwar erstere mitbringt, nicht aberüber letzteres verfügt. Die Ähnlichkeit der Situation mit der zum Ausgang des

 Mittelalters, die durch die glückliche Fügung des kolonialen Schatzes ihre Lösung fand, täuscht. Jetzt nämlich lässt sich das Problem nurmehr durch die Schaffungvon mehr Konsumkraft mittels Erschließung neuer Konsumentenschichten lösen.

Dabei liegt auf der Hand, wie aus Sicht des Produktionssystems dieBeseitigung der Diskrepanz überhaupt nur zu bewerkstelligen ist, wieallein die Lösung des Absatzproblems aussehen kann. Schließlich liegt die

ebenso sehr ausbeutungsbedingte wie produktivitätsfundierte Verviel-fältigung und Massierung des Güterangebots, der zu Markte getragenenWaren, ja ganz und gar in der Logik des Systems und ist ihm so lieb undteuer wie es sich selbst. Eine Lösung des Problems im Sinne einer Rück-führung des Angebots durch eine gezielte Drosselung der kapitalistischenVerwertungsmaschinerie, sprich, durch eine freiwillige Verlangsamung beziehungsweise Zurücknahme der auf Lohnarbeitsbasis betriebenenmanufakturellen beziehungsweise industriellen Produktionsprozessekommt deshalb schlechterdings nicht in Frage. Eine Lösung des Absatz-problems durch Reduktion des Angebots ist denkbar nur auf dem oben

an die Wand gemalten unfreiwilligen, gleichermaßen das System selbstin den Konkurs treibenden wie die Gesellschaft, die es beherbergt, ineine Versorgungskrise stürzenden und von daher höchstens ironisch alsLösungsmethode zu bezeichnenden Weg des seine Wirkung entfaltendenAbsatzproblems selbst, nämlich in der Form der post festum, auf dem

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Markt, misslingenden Realisierung des zuvor vom System geschöpften

Werts, sprich, der Durchkreuzung der kapitalen Verwertungsabsicht unddes daraus resultierenden und in letzter Konsequenz zur Einstellungaller Wertschöpfungsaktivitäten führenden, sprich, den Zusammenbruchheraufbeschwörenden Verlusts des das System treibenden Motivs undtragenden Existenzgrunds.

Wenn also keine Reduktion des Angebots durch Einschränkung derProduktion in Frage kommt, dann scheint die Lösung des Absatzpro- blems nur umgekehrt in einer Verstärkung der Nachfrage durch Aus-weitung der Konsumtion bestehen zu können. Und deren Opportunitätwie auch Modalität und Stoßrichtung scheinen in der obigen Expositiondes Absatzproblems ja auch bereits – ex negativo zumindest! – eindeutigangezeigt. Schließlich steht jener Exposition zufolge der wachsendenVielfalt und vor allem Masse kapitalistisch produzierter Güter eine alszu beschränkt, das heißt, als numerisch zu klein, als im personalen Be-stand von zu geringer Anzahl oder Menge apostrophierte Konsumen-tenschicht gegenüber, und was liegt da wohl näher, als die Lösung desAbsatzproblems in einer Aufhebung oder zumindest Lockerung jenerBeschränkung, das heißt, einer numerischen Vergrößerung, einer Er-weiterung der Konsumentenschicht, einer Aufstockung ihres Bestandszu suchen. Und das ist keine abstrakt arithmetische Aussage, sondernsie hat durchaus ihre konkret demographischen Implikationen, da ja

die beschränkte Konsumentenschicht zugleich als sich im Wesentlichenaus der gesellschaftlichen Oberschicht rekrutierend erscheint und dieBeschränkung also in der Hauptsache daraus resultiert, dass große Tei-le der Bevölkerung, nämlich die mittleren und unteren Schichten derGesellschaft, am Konsum nicht oder nur marginal teilhaben können.

So aber die Exposition des Problems in ihren richtungweisenden Im-plikationen recht verstanden, was liegt da näher, als die Lösung desProblems in einer Ausweitung des auf die Oberschicht beschränkten tra-ditionellen Konsumentenkreises auf Gruppen aus den anderen Schichtenzu suchen, sprich, Sorge dafür zu tragen, dass diese anderen, bislang nicht

oder nur in geringem Maß von den Früchten des kapitalistischen Produk-tionssystems profitierenden und deshalb im Unterschied zur Oberschichtnoch reichlich mit unbefriedigten Bedürfnissen gesegneten Gruppen indie Lage versetzt werden, sich in verstärktem Umfang am Konsum, was,ökonomisch gesehen heißt, am mittels Konsum abgewickelten Geschäft

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der Wertrealisierung, der Überführung des geschöpften Werts in für neue

Wertschöpfung verfügbares Kapital, zu beteiligen.Freilich ist die Formulierung, dass die betreffenden Gruppen in die La-ge versetzt werden müssen, stärker am Konsum teilzuhaben, bereits eindeutlicher Hinweis darauf, dass die avisierte Lösung des Absatzproblemsdurch Erweiterung des Konsumentenkreises leichter gesagt als getanund jedenfalls keine Sache bloß der Demographie, geschweige denn derArithmetik ist. Wie auch und gerade dem Alltagsbewusstsein bekanntund wie im Zuge unserer Überlegungen schon mehrfach erwähnt, istdie Teilhabe am Konsum beziehungsweise an der marktvermitteltenSubsistenz nicht einfach nur eine Frage der als unbefriedigtes Bedürfnisfigurierenden subjektiven Kondition der Anwärter, sondern mehr nochihrer als zureichendes Vermögen firmierenden objektiven Disposition.Mit anderen Worten, für die Rolle des die ökonomische Funktion einesWertrealisierers auf dem Markt erfüllenden Konsumenten kommt nurin Frage, wer nicht allein Bedürfnisse mitbringt, die ihn konditionie-ren, ihm den Beweggrund liefern, die auf dem Markt versammeltenBefriedigungsmittel in Anspruch und Gebrauch zu nehmen, sonderndarüber hinaus auch über allgemeines Äquivalent, also Geld verfügt,das ihn in die Lage versetzt, diese Befriedigungsmittel, die dem Markteselbst und seinen Betreibern ja nicht als solche, sondern als Wertverkör-perungen, als Waren gelten, auszulösen, sprich, durch ihren Kauf, ihren

Austausch gegen allgemeines Äquivalent den in ihnen steckenden Wertzu erlösen, ihn als Wert zu realisieren und damit in die Gestalt, in die sich-selbstgleiche Form zurückzuverwandeln, in der er das A und O des vomMarkt und seinen Betreibern verfolgten kommerziellen Akkumulations- beziehungsweise kapitalen Verwertungsprozesses bildet.

An eben jenem objektiven Vermögen, dem als die Münze des Marktesfirmierenden allgemeinen Äquivalent, aber mangelt es großen Teilender vom subjektiven Bedürfnis her für eine Ausweitung des Konsumen-tenkreises in Betracht kommenden Bevölkerung definitiv. Da sind zumeinen die Vielen, die noch außerhalb des stadtgemeinschaftlichen Zu-

sammenhangs in mehr oder minder territorialherrschaftlich organisiertenVerhältnissen leben, als im Großen und Ganzen Selbstversorger vomkommerziellen System noch weitgehend ausgeschlossen und in ihrensporadischen Austauschaktivitäten auf lokalen Tauschhandel beschränkt bleiben und allgemeines Äquivalent, Geld, nur erst in seiner archaischen

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Bedeutung als Schatz zu schätzen wissen, als ein eigentlich nicht für sie

 bestimmtes Herrengut, das sie, wenn es ihnen wider Erwarten gelingt,ein Stückchen davon zu ergattern, eifersüchtig hüten, damit es ihnenin Notzeiten, will heißen, wenn sie sich nicht von ihrer Hände Arbeitzu erhalten vermögen, auf Herrenart, dadurch nämlich, dass es sich alsReichtumssymbol, als Gütezeichen gegen realen Reichtum, materialeGüter austauschen lässt, das Überleben sichert.

Und da sind zum anderen die nicht minder Vielen, die zwar bereitsdem Marktsystem angeschlossen sind und an ihm partizipieren und diedank des Marktsystems auch über ein wie immer bescheidenes Quantumallgemeinen Äquivalents verfügen, die aber eben deshalb, weil sie nurdank des Marktsystems darüber verfügen, für die Lösung des Absatz-

problems ebenso wenig wie die Gruppe der vom Marktsystem Ausge-schlossenen in Frage kommen. Was nämlich diese dem Marktsystemangeschlossenen Vielen an allgemeinem Äquivalent besitzen, das ge-winnen sie durch ihre Arbeit als Produzenten oder Dienstleister für dasMarktsystem, dadurch also, dass sie als in der traditionellen Produkti-onssphäre als Handwerker Tätige beziehungsweise im kapitalistischenWertschöpfungssystem als Arbeitskräfte Beschäftigte für den Markt Gütererzeugen oder Dienstleistungen erbringen.

Dies allgemeine Äquivalent, mit dem ihnen der Markt ihre Arbeit undLeistung vergütet, dient ihnen dazu, sich auf dem Markt mit den für

ihre Subsistenz nötigen Bedürfnisbefriedigungsmitteln zu versorgen, ihrefinanzielle Vergütung in materielle Güter umzusetzen, den Anspruchan den Markt, den sie durch ihre Arbeit erworben haben, in Geldformvorzutragen, als Geld zur Geltung zu bringen. Weil diese Produzentenum ihrer Selbsterhaltung willen, als Subsistierende, das allgemeine Äqui-valent in ihrer Hand, den Lohn ihrer Arbeit, nutzen, um es gegen auf dem Markt versammelte Wertverkörperungen, Waren, auszutauschen,nehmen sie teil am Geschäft der Wertrealisierung, der Überführung desverkörperten Werts in die sichselbstgleiche Wertform des allgemeinenÄquivalents und helfen insofern in einem unsystematisch-pauschalenSinne mit, etwaige, den kommerziellen Betrieb beziehungsweise den

kapitalistischen Wertschöpfungsprozess bedrohende Absatzprobleme zulösen beziehungsweise gar nicht erst entstehen zu lassen.

Im systematisch-pointierten Verstand freilich und nämlich bezogenauf die dem Akkumulations- oder Verwertungsprinzip geschuldete Not-wendigkeit, jeweils mehr Wert als den in den Betrieb oder Prozess zuvor

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investierten zu realisieren, sind jene Produzenten von solcher Mithilfe

denkbar weit entfernt. Schließlich sind sie es ja, die diesen Mehrwert, derder kommerziellen Akkumulation beziehungsweise der kapitalistischenVerwertung so wesentlich ist wie sie sich selbst, dadurch schöpfen, dassder Wert, den sie in Gestalt von materialen Gütern, also Waren hervor- bringen, den Wert, den sie in Form von allgemeinem Äquivalent dafürerhalten, ihre finanzielle Vergütung beziehungsweise ihren Arbeitslohn,ebenso permanent wie markant übersteigt. Wie sollten wohl sie, die durchein Weniger an Wert in Form von allgemeinem Äquivalent ein Mehran Wert in Gestalt von besonderen Wertverkörperungen produzieren,logischerweise imstande sein, dies Mehr an Wert auf dem Markt nun auchals solches zu realisieren, sprich, die von ihnen produzierten Wertverkör-perungen im vollen Umfang ihres mehrwertigen Bestands durch ein ihrerMehrwertigkeit äquivalentes allgemeines Äquivalent zu ersetzen?

Tatsächlich ist es ja genau die quasi logische Unmöglichkeit, auf demMarkt den Wert der produzierten Gütermenge mittels der in ihre Pro-duktion investierten geldlichen Wertsumme zu realisieren, was jedesMarktsystem und natürlich auch das aus dem Marktsystem hervorge-gangene kapitalistische Produktionssystem einer für sein autonomesBestehen und Funktionieren unabdingbaren Heteronomie, einem öko-nomisch grundlegenden Moment von Fremdbestimmtheit unterworfenund nämlich davon abhängig zeigt, dass dem System nicht bereits in

ihm zirkulierendes allgemeines Äquivalent zugänglich gemacht undmittels kommerziellen Austauschs eingespeist wird, dass es also, wie ananderer Stelle formuliert, über einen regelmäßigen Zufluss an Edelmetallaus anderen, systemexternen Quellen verfügen kann. Ins Soziologischeübersetzt, bedeutet jenes Moment von systematischer Fremdbestimmt-heit, dass neben der Gruppe der für den Markt Arbeitenden und durchden Markt Subsistierenden und zusätzlich zu ihr eine weitere Gruppevorhanden sein muss, die, obwohl nicht für den Markt arbeitend undkeine Leistungen für ihn erbringend, doch aber dank anderer, marktex-terner Quellen über die Münze des Marktes, über allgemeines Äquivalent

verfügt, das sie einsetzen kann, um in der Käufer- oder Konsumenten-rolle am Markt zu partizipieren und den in den materialen Gütern oderWaren, die dort versammelt sind, verkörperten Mehrwert, der durch dasmarktinterne allgemeine Äquivalent logischerweise nicht einlösbar ist,dennoch einzulösen, als solchen zu realisieren.

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Diese für die Realisierung des Mehrwerts, den der Markt erwirtschaften

lässt, zuständige Gruppe, die im Unterschied zu den für ihre Subsistenzauf den Markt angewiesenen Produzenten, als reine Konsumenten, Kon-sumenten sans phrase, figuriert, ist im vorliegenden Fall die aus Adel undGeistlichkeit und deren Anhang bestehende traditionelle Oberschicht,ohne deren effektive Mitwirkung und auf der ganzen Linie erfolgrei-ches konsumtives Engagement der dank absolutistischer Hilfestellungund dadurch ermöglichter ursprünglicher Akkumulation mittlerweilekapitalistisch fundierte kommerzielle Prozess ins Stocken geraten undmangels Antriebskraft letztlich zum Stillstand kommen muss. Und genaudas, die effektive Mitwirkung der Oberschicht, den Erfolg ihres konsum-

tiven Engagements, stellt nun aber der auf kapitalistischer Grundlagefortlaufende kommerzielle Prozess in Frage, weil der Menge und Vielfaltan wertverkörpernden Befriedigungsmitteln, Waren, die er hervortreibt,diese konsumierende Oberschicht, aller Stärkung ihrer Bedürfnisse undEntfaltung ihrer Bedürfnisstruktur zum Trotz, immer weniger gewach-sen ist, weil es ihr, der privilegierten Konsumentenschicht, auch wennsie noch über das objektive Vermögen zum Konsum, über hinlänglichallgemeines Äquivalent, verfügt, zunehmend an der für die Bewältigung jener Menge und Vielfalt an Waren nötigen Intensität und Diversität desBedürfnisses mangelt.

Unter der Voraussetzung, dass an eine Rückführung der Menge undVielfalt des Warenangebots nicht zu denken ist, weil dies der Triebstruk-tur des kapitalistischen Akkumulationsprozesses diametral zuwiderliefe, bleibt logischerweise als Lösung für das drohende Absatzproblem nurdie numerische beziehungsweise demographische Erweiterung des Kon-sumentenkreises, die Rekrutierung neuer Gruppen, die über beides, überdas subjektive Verlangen nach den angebotenen Befriedigungsmittelnwie über das objektive Vermögen, sie in ihren Besitz zu bringen, verfügen.Und genau hier aber findet sich das solch logischer Lösung ins Gesichtschlagende Dilemma, dass der Großteil der Gesellschaft, das Gros der

Bevölkerung, zwar die subjektive Kondition für die Konsumentenrolle,unbefriedigte Bedürfnisse, in reichlichem Maße mitbringt, nicht aberdie objektive Disposition zu ihr, das die Kaufkraft verleihende allgemei-ne Äquivalent, und deshalb für jene Rolle und einen mittels ihrer zuleistenden Beitrag zur Problemlösung gar nicht in Betracht kommt.

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Genau hier zeigt sich das abgrundtiefe Dilemma, dass das kraft ursprüng-

licher Akkumulation im kapitalistischen Produktionsprozess resultieren-de kommerzielle System zwar auf breiter Front Wertschöpfung in Gangund einen entsprechend oder gar unverhältnismäßig hohen Anteil vonMehrwertproduktion ins Werk zu setzen vermag, nicht aber imstandeist, von sich aus dafür Sorge zu tragen, dass auch die heteronome Be-dingung für die Realisierung des geschaffenen Mehrwerts erfüllt wirdund nämlich genug kaufkräftige Konsumenten, ökonomisch gespro-chen, hinlänglich allgemeines Äquivalent aus systemexternen Quellenzur Verfügung steht, um nicht nur die in materiale Wertgestalten, Waren,gebannte Wertmenge, die durch das systemeigene allgemeine Äquiva-lent gedeckt ist, sondern auch den als Mehrwert figurierenden Anteil,der, eben weil er neu hinzugekommen ist, noch keine im allgemeinenÄquivalent bestehende systeminterne Realität besitzt, einzulösen, sprich,in die Form von allgemeinem Äquivalent, die Wertform sans phrase, zuüberführen.

Nicht, dass diese durch einerseits ein Übermaß an materialen Wertge-stalten, die Masse und Vielfalt von Waren, die das System produziert,und andererseits einen Mangel an Konsumkraft, an Konsumenten, dienicht nur die subjektive Kondition für den Konsum, eigene Bedürfnisse,sondern auch das Vermögen zu ihm, fremdes Geld, mitbringen, herauf- beschworene dilemmatische Konstellation völlig neu wäre! Tatsächlich

und genauer besehen reproduziert sie nur eine Situation, die gut zwei Jahrhunderte vorher, zum Ausgang des Mittelalters, schon einmal bestehtund die dort noch die traditionelle Konsumentenschicht, die Oberschichtselbst, betrifft und nämlich in eben der Position vorzuführen droht, in der jetzt das Gros der Bevölkerung sich befindet – in der Position von Möchte-gernkonsumenten, denen es zwar nicht an Bedürfnissen fehlt, wohl aberan allgemeinem Äquivalent und die eben deshalb Gefahr laufen, an derihnen zugewiesenen Aufgabe einer Bewältigung des rasch wachsendenWarenangebots zu scheitern. Grund für das rasche Wachstum des Waren-sortiments ist dort die Entfesselung des Marktes im Zuge der Ab- und

Auflösung der Feudalherrschaft durch absolutistische Regime, die vonden neuen hegemonialen Machthabern beziehungsweise absolutistischenSouveränen durchgesetzte Befreiung des kommerziellen Treibens von denBeschränkungen, die ihm feudale Privilegien und stadtfreiheitliche Ord-nungen auferlegen, und seine gleichzeitige Ausweitung auf die Boden-

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und Naturschätze der territorialen Herrschaftsgebiete im Allgemeinen

und der kolonialen Dominien im Besonderen.Hier eröffnen sich der bis dahin ins Korsett feudalherrschaftlicher Ge-walt und kommunalrechtlicher Ordnung eingezwängten kommerziellenFunktion plötzlich Entfaltungsräume und Investitionsmöglichkeiten,deren funktionsgemäß konsequente Wahrnehmung eine solche Massie-rung und Diversifizierung des Güterangebots auf dem Markt, eine solcheZunahme und Beschleunigung des Warenverkehrs zur Folge hat, dassdie seit alters mit der Konsumentenrolle betraute Oberschicht aus Adelund Geistlichkeit, mag sie noch so viel Bereitschaft zum Konsum oderKauflust mitbringen, aus ihren hauseigenen Thesauri und in Bodenschät-zen und Kriegsbeute bestehenden Edelmetallquellen die nötige Fähigkeitzum Konsum oder Kaufkraft, sprich, das zur Einlösung des vermehrtenWerts jenes Warenstroms erforderliche allgemeine Äquivalent, nicht mehraufzubringen vermag.

Dass es in der Situation nicht zu einer das ganze Marktsystem aus denFugen geraten lassenden Absatzkrise kommt, verdankt sich, wie obengeschildert, dem angesichts des offenbaren systemischen Zusammen-hangs zwischen politischer Veränderung, ökonomischer Entwicklungund geographischer Expansion eher als Fügung denn als Zufall, eher alsGlück des Tüchtigen denn als reiner Lotteriegewinn zu betrachtendenkolonialen Schatz, dem Faktum also der in den fremden Erdteilen im

Allgemeinen und in der so genannten Neuen Welt im Besonderen vorge-fundenen und teils als Beute davongetragenen teils durch Ausbeutungangeeigneten großen Mengen Edelmetalls. Genauer gesagt, verdankt sichdas Ausbleiben einer veritablen Absatzkrise der politischen Strategie dernach Souveränität und absolutistischer Machtfülle strebenden Fürsten,die den primär in ihre Hände gelangenden kolonialen Schatz einset-zen, um ihr Streben nach zentralistischer Alleinherrschaft zu finanzierenund in die Tat umzusetzen, und die nämlich mittels jenes ihnen aus denfremden Erdteilen zufließenden Edelmetalls ihre die Oberschicht bil-denden Standesgenossen und potenziellen Konkurrenten um die Macht

 bekämpfen, auskaufen, bestechen und abfinden und letztlich aus streit- baren, territorial fundierten Kontrahenten in lenkbare, höfisch zentrierteKonsumenten verwandeln.

Durch diese politisch-strategisch motivierte und dank der internatio-nalen Verflechtung der Staaten und ihrer Führungsgruppen breitwürfig

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wirksame Distribution des kolonialen Edelmetalls findet sich die Ober-

schicht nicht nur in ihrer nunmehr ebenso sehr politisch gewollten wieökonomisch gesetzten Konsumentenrolle entscheidend bekräftigt, son-dern mehr noch und vor allem aus ihrer die Verfügung über allgemeinesÄquivalent betreffenden Mangelsituation so effektiv befreit und in ihremobjektiven Konsumvermögen, ihrer Kaufkraft so nachdrücklich gestärkt,dass sie ohne Mühe den dank der Förderung des Marktes durch dieabsolutistische Fürstenmacht wachsenden Warenstrom zu bewältigenund in klingende, für weitere kommerzielle Unternehmungen verfügbareMünze umzusetzen vermögen.

Statt dass das rasante Marktwachstum, zu dem es unter absolutis-tischer Ägide kommt, eine umfassende Absatzkrise heraufbeschwüre,ermöglicht so die glückliche Fügung der absolutistisch inszenierten undkolonialistisch finanzierten Sanierung der Kaufkraft der traditionellenKonsumentenschicht und Ankurbelung ihrer Konsumtätigkeit im Gegen-teil eine weitere Verstärkung und Beschleunigung des Wachstums – mitdem Resultat jener später als ursprüngliche Akkumulation identifiziertenAnhäufung von Handelskapital, die den Marktbetreibern zum – wieman will – Motiv oder Imperativ wird, ihre Investitionstätigkeit vomMarktbereich auf die Produktionssphäre, von den fertigen Produktenauf den Produktionsprozess selbst auszudehnen beziehungsweise zuverlagern und das Handelskapital, den in materiale Güter gesteckten

Wert, als Kapital sans phrase, als in die sächlichen und persönlichenEntstehungsbedingungen der materialen Güter investierten Wert einzu-setzen, sprich, die als vollständige Integration der Produktionssphäre indas Marktsystem, als Umrüstung der materiellen Erzeugung in ein will-fähriges Instrument beziehungsweise eilfertiges Vehikel kommerziellerVerwertung begreifliche kapitalistische Produktionsweise einzuführen.

Freilich führt nun diese – der ursprünglichen Akkumulation und derVeränderung der kommerziellen Investitionsstrategie, in der sie resultiert,entspringende – kapitalistische Produktionsweise wegen der steigendenrealen Produktivität und der wachsenden personalen Ausbeutung, die

mit ihr einhergeht, zu einer solchen Vermehrung und Vervielfältigung derauf dem Markt versammelten Gütermenge, einer solchen Verstärkungund Beschleunigung des qua Markt zirkulierenden Warenstroms, dass invergleichsweise kurzer Frist, binnen nicht einmal zweier Jahrhunderte,das frühere Absatzproblem sich reproduziert und erneut und mehr denn

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 je in eine das ganze System ins Stocken geraten lassende beziehungsweise

zum Stillstand bringende Absatzkrise auszuufern droht. Erneut undmehr denn je fehlt es an der für die Bewältigung jenes Warenstromserforderlichen Kaufkraft, dem für die Aufnahme der Gütermenge undGüterpalette nötigen konsumtiven Vermögen, ökonomisch gesprochen,dem zureichenden Äquivalent zur Realisierung des in den Gütern alsWertverkörperungen steckenden Wertes.

Und erneut und mehr denn je ist das System von sich aus und auseigener Kraft so wenig in der Lage, für die fehlende Kaufkraft zu sorgenund die lahmende Nachfrage wieder ins Lot, sprich, auf den jeweilsneuesten Stand des produktivitäts- und ausbeutungsbedingt wachsendenAngebots zu bringen, dass sich wie vormals die Wiederherstellung einesÄquilibriums zwischen Produktions- und Konsumtionskraft am Endenur von einem als glückliche Fügung erscheinenden Eingriff von außer-halb des Systems erhoffen lässt, von einem Glückstreffer nach Art jenerans Wunderbare grenzenden Koinzidenz, die sich knapp zweihundert Jahre zuvor ereignet, als die durch die absolutistische Auflösung derFeudalgesellschaft bewirkte Entschränkung des kommerziellen Entfal-tungsraums und Entfesselung der kommerziellen Investitionstätigkeitihr haargenau passendes Pendant in dem als Beute und Ausbeute ausden kolonialen Gebieten nach Europa fließenden Edelmetall und dessenmachtpolitisch motivierter Distribution unter die durch ihren Mangel

an hauseigenem Edelmetall in ihrer traditionellen Konsumentenrollegehandikapte Oberschicht findet.

Indes, zur Behebung des durch die Lösung des früheren Absatzpro- blems heraufbeschworenen neuerlichen Absatzproblems auf eine Wie-derholung jenes Quasiwunders, auf eine zweite glückliche Fügung nachArt der ersten zu setzen, scheint bei näherer Betrachtung wenig aus-sichtsreich. Und dies nicht nur in der logisch-formalen Erwägung, dassWunder per definitionem keine wiederholbaren Erscheinungen sind,glückliche Fügungen, eben weil das Glück im Spiel ist, Seltenheitswerthaben, sondern mehr noch aus dem empirisch-realen Grund, dass dank

der mittlerweile stattgehabten Entwicklung, dank mit anderen Wortender Einführung und Ausbildung des kapitalistischen Produktionssys-tems die Menge und Vielfalt der Warenansammlung auf dem Markt undmithin aber auch das durch die Menge und Vielfalt heraufbeschworeneAbsatzproblem eine Dimension erreicht haben, die einem qualitativen

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Sprung im Quantum, dem Eintritt einer neuen Maßbestimmung gleich-

kommt und sich durch ein noch so wundersames Wunder, eine nochso glückliche Fügung – insofern damit eine nicht planmäßig, sondernvon ungefähr, nicht aus Vorsatz, sondern beiläufig den gewünschtenEffekt erzielende Einwirkung von außerhalb gemeint ist! – nicht mehr bewältigen und ins systemkonforme Lot bringen lässt.

So bedeutend und folgenreich sich der Glückstreffer des kolonialenSchatzes und seiner aus ganz anderen, rein machtpolitischen Gründenerfolgenden ökonomischen Verwendung, seiner Distribution unter dieaus Mangel an allgemeinem Äquivalent, Kaufkraft, ihrer traditionellenKonsumentenrolle nicht mehr gewachsene Oberschicht erweist, so sehrer, was die Entdeckung und Eroberung der neuen Welt der kapitalis-tischen Produktionsweise betrifft, als eine Art Ei des Kolumbus geltenkann – angesichts des quantitativen Umfangs und der Produktionskrafteben jener neuen Welt des Kapitals, zu deren Entstehung er modo obliquound nämlich via den durch ihn ermöglichten exorbitanten kommerziellenAkkumulationsprozess einen wesentlichen Beitrag leistet, stellt er sichim Rückblick als ebenso beschränkt wie situationsgebunden dar und er-scheint als eine reine Anschubfinanzierung, eine bloße Finanzspritze, die,so wichtig und in der Tat entscheidend sie zu ihrer Zeit, nämlich in demzu Beginn der absolutistischen Umkrempelung der Feudalgesellschaftgegebenen Augenblick, auch ist, doch aber schwerlich dazu taugt, durch

ihre einfache Wiederholung, ihren neuerlichen Einsatz, das in massivvergrößertem Maßstab wiederkehrende Absatzproblem zu lösen unddem System erneut auf die Beine zu helfen oder gar Beine zu machen.

Und das nicht allein wegen der durch die kapitalistische Produktivitätund Ausbeutung bewirkten dimensionalen Ausweitung des Problems,sondern mehr noch und vor allem wegen der als qualitativer Sprungim Quantum erscheinenden strukturellen Veränderung, die das Problemim Zuge seiner Ausweitung erfährt. Wie gesehen, geht es wegen derMenge und Vielfalt der durch ebenso produktivkräftige wie preiswerteLohnarbeit mittlerweile produzierten Warenansammlung ja nicht nur

generell darum, die Kaufkraft zu stärken, sprich, das für die Realisierungdes Mehrwerts in Warengestalt nötige Mehr an allgemeinem Äquivalentaus marktexternen Quellen beizuschaffen und in Konsumentenhandgelangen zu lassen, sondern es ist spezieller darum zu tun, die Konsum-kraft im Sinne einer Erweiterung des traditionellen Konsumentenkreises

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zu nutzen, sprich, die Distribution des beizuschaffenden allgemeinen

Äquivalents aus marktfremden Quellen so zu arrangieren, dass es sichin den Händen neuer und anderer Konsumenten findet, dass also da-durch Personengruppen rekrutiert werden, die hinlänglich bedürftigsind oder jedenfalls genug unbefriedigte Bedürfnisse haben, um die fürden Einsatz der ihnen verliehenen Kaufkraft nötige Konsumbereitschaftmitzubringen.

Tatsächlich ist dies ja die Hauptschwierigkeit bei der mittlerweile ein-getretenen Situation, dass die herkömmlicherweise mit der Konsumen-tenrolle betraute Oberschicht wegen ihrer numerischen Beschränktheit beziehungsweise demographischen Begrenztheit, auch wenn und so-weit sie über die objektive Disposition zum Konsum, die in allgemei-nem Äquivalent bestehende Kaufkraft verfügt, doch aber nicht mehr dieerforderliche subjektive Kondition, die dem Bedürfnis entspringendehinlängliche Konsumbereitschaft aufbringt, um der Masse und Vielfaltder manufakturell beziehungsweise industriell produzierten Güter Herrzu werden. Tatsächlich ist dies das entscheidende Dilemma, in das sichdurch seine reale Produktivkraft und seine personale Ausbeutungsdy-namik das kapitalistische Produktionssystem gestürzt findet, dass es dieauf eine Vermehrung und Intensivierung der Bedürfnisse, eine Entfal-tung der Bedürfnisstruktur zielende neue Absatzstrategie, auf die dasvon den absolutistischen Kräften entfesselte Marktsystem zu Beginn der

Neuzeit verfällt, um nicht an der zahlenmäßigen und bevölkerungsantei-ligen Beschränktheit ihres traditionellen Abnehmerkreises zu scheitern,und die zusammen mit dem Glückstreffer des kolonialen Schatzes jenenkommerziellen Aufschwung ermöglicht, der letztlich in ihm, dem kapi-talistischen Produktionssystem selbst, resultiert – dass es also diese neueAbsatzstrategie an – durch eben jene Beschränktheit des traditionellenKundenkreises gesetzte – unüberschreitbare Schranken stoßen lässt undin dem Maße, wie versucht wird, das durch die kapitalistische Produktivi-tät und Ausbeutung heraufbeschworene Absatzproblem innerhalb dieserSchranken zu lösen, sprich, die Strategie ins äußerste Extrem dessen, was

sie hergibt, zu treiben, vielmehr ad absurdum führt.Das Extrem, in das unter dem Druck kapitalistischer Produktivität undAusbeutung die Absatzstrategie einer Entfaltung der Bedürfnisstruktur,um nicht an der Beschränktheit des traditionellen Abnehmerkreises zuscheitern, hineintreibt, ist eine zunehmende Ausrichtung der Produktion

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auf Erlesenheit und Opulenz der Güter, auf Preziosität und Prunk. Da-

durch, dass die Produktivkraft und der Ausbeutungsgrad des Systemsin den Dienst der Produktion von ebenso überflüssigen wie exquisitenund ebenso ausschweifenden wie ausgefallenen Konsumgütern gepresstwird, soll das neue produktive Quantum eine konsumtive Qualifikationerfahren, die es dem traditionellen Konsumentenkreis erlaubt, es dennochaufzunehmen und zu absorbieren, soll die Masse und Vielfalt, die dasProduktionssystem hervortreibt, in eine Form von Erlesenheit und Füllegebracht werden, die sie der privilegierten Schicht von Wertrealisiererndennoch bewältigbar macht. Luxus und Verschwendung, Finesse undVöllerei sollen die durch die Masse und Vielfalt, die Breite und Fülleder kapitalistischen Güterproduktion zunehmend heraufbeschworenenAbsatzprobleme im Rahmen der alten Marktordnung und Distributionss-truktur lösbar werden lassen.

Indes, was sich vormals als Ausweg aus der drohenden Absatzkrise bewährt, die Diversifizierung und Intensivierung der Bedürfnisse dertraditionellen Konsumentenschicht, muss sich in dem Maße, wie es unterdem Druck kapitalistischer Produktionskraft ins Extrem einer Hypertro-phierung und exzessiven Inanspruchnahme jener Bedürfnisse getriebenwird, als Sackgasse erweisen. So gewiss dank der Produktivität unddes Ausbeutungsgrades des neuen Produktionssystems die Masse undVielfalt der manufakturell beziehungsweise industriell erzeugten Güter

eine Dimension erreichen, die einem als qualitativer Sprung erscheinen-den Ebenenwechsel im Quantum, einem Umschlag der kontinuierlichwachsenden Größe in ein diskret gefertigtes neues Maß gleichkommt,so gewiss muss dies neue Maß der Produktion bei Strafe seiner Ver-wandlung in einen für das System unverdaulichen Brocken auch die alteDistributionsstruktur sprengen und verlangt mit anderen Worten nacheiner ihm gemäßen Erweiterung des Konsumentenkreises.

Weil es eben nicht mehr einfach nur darum geht, dem kapitalistischauf Touren gebrachten Marktsystem mehr Kaufkraft, sprich, mehr allge-meines Äquivalent aus fremden Quellen zu verschaffen, sondern weil

darüber hinaus und gleichzeitig damit die Notwendigkeit besteht, dieKaufbereitschaft zu vergrößern, was unter den gegebenen Umständennur bedeuten kann: die durch Luxus und Fülle in ihrer Konsumbereit-schaft überforderte traditionelle Abnehmerschicht um neue Verbrau-cherkreise mit intakten Bedürfnissen zu erweitern – weil dies beides

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zur Lösung des Absatzproblems Hand in Hand gehen muss, reicht ein

Glückstreffer, wie ihn die in absolutistischer Absicht betriebene Aus-teilung des zur rechten Zeit sich findenden kolonialen Schatzes an dieOberschicht darstellt, ein Quasiwunder also nach Art jener im Rahmender traditionellen Distributionsstruktur sich haltenden und ihre Wirkungentfaltenden politisch motivierten Finanzspritze, zur Bewältigung derdrohenden Krise des Systems mitnichten aus.

Aber wenn es auch kein Glückstreffer mehr tut, keine dem Systemals deus ex machina beispringende Koinzidenz, keine aus dem geogra-phischen Umfeld des Systems sich ergebende wundersame Fügung –ein Eingriff von außerhalb, eine von anderer Seite dem System gereich-te helfende Hand, ein dem ökonomischen Zusammenhang aus seinempolitischen Milieu heraus geleisteter und den koinzidentiellen deus exmachina durch ein kohabitatives dominus vobiscum ersetzender Beistandist jedenfalls vonnöten. Aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln kanndas mittlerweile kapitalistisch ebenso sehr forcierte wie fundierte Markt-system sich die für die Lösung seiner Absatzprobleme und für eine seinerProduktionskraft gemäße Fortentwicklung erforderliche größere Kauf-kraft und den zur Verkörperung der größeren Kaufkraft unabdingbarenerweiterten Konsumentenkreis unmöglich verschaffen.

Und dies nicht nur aus dem offensichtlichen, systematisch-logischenGrunde, dass zur Einlösung des von der Warenansammlung auf dem

Markt verkörperten vollen Werts, spezifischer gesagt, zur Realisierungdes darin enthaltenen Mehrwerts, allgemeines Äquivalent aus anderen,markttranszendenten Quellen nötig und der Markt also definitionsgemäßfür sein Funktionieren auf gesellschaftliche Gruppen angewiesen ist, dieals nicht dem Marktsystem integrierte abhängige Produzenten, sondernihm bloß assoziierte selbständige Konsumenten die Münze des Marktesnicht bereits aus Mitteln des Marktes bezogen haben, sondern aus ganzund gar eigenen Mitteln mitbringen! Sondern auch und mehr noch wegendes erwähnten, empirisch-faktischen Umstandes, dass die Gesellschaft,in der das auf das neue, dynamische Fundament der kapitalistischen

Produktionsweise gestellte Marktsystem sich entwickelt, zum weit über-wiegenden Teil für die Ausfüllung jener erweiterten Konsumentenrolle,aller subjektiven Kondition, aller vorhandenen Bedürftigkeit zum Trotz,gar nicht in Betracht kommt und vom Markt nicht rekrutierbar ist, weiles diesem überwiegenden Teil entweder an der objektiven Disposition

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für die Rolle, an dem als Münze des Marktes firmierenden allgemei-

nen Äquivalent, überhaupt fehlt und er also gar keinen Zugang zumMarkt findet, oder weil er zwar über die objektive Disposition, überallgemeines Äquivalent verfügt und dadurch am Markte teilnimmt, diesallgemeine Äquivalent indes, über das er verfügt, als der für Arbeits-oder Dienstleistungen gezahlte Lohn vom Markte beziehungsweise demes fundierenden kapitalistischen Produktionssystem selbst stammt undmithin definitiv das nicht darstellt, was der Markt und sein Produktions-system jetzt unbedingt brauchen: für die Realisierung des Mehrwerts,den das System systematisch erzeugt, taugliches allgemeines Äquivalentaus anderen, systemexternen Quellen!

Der absolutistische Staat als politisch-ökonomischer Nutznießer der kapitalisti-schen Entwicklung steht bereit, bei der Lösung der im Zuge dieser Entwicklungauftretenden massiven Absatzprobleme zu helfen. Seine merkantilistische, denheimischen Handel zu fördern bestimmte Strategie baut auf einem staatlich

 geschlossenen Wirtschaftsraum auf und verbindet negativ-protektionistischemit positiv-dirigistischen und infrastrukturell-expansionistischen Maßnahmen.Während der durch Frankreich geprägte kontinentale Merkantilismus auf Kos-ten der Nachbarstaaten die entwicklungshemmenden Absatzprobleme seinerWirtschaft zu lösen sucht, schlägt England einen anderen, dem Land durch

seine Schifffahrt vorgezeichneten und nicht sowohl merkantilistischen, sondernschlicht merkantilen Weg ein – den Weg der Erschließung von außereuropäischen

 Absatzmärkten im Allgemeinen und des Handels mit den in der Konsequenz sei-ner zentralistischen Homogenisierungspolitik ins Leben gerufenen überseeischenKolonien im Besonderen.

Aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln ist also das durch die ka-pitalistische Produktionsweise, die manufakturelle beziehungsweise in-dustrielle Lohnarbeit, ebenso sehr forcierte wie fundierte Marktsystemschlechterdings nicht in der Lage, das jener Forcierung der Produktion

geschuldete und im Rahmen der traditionellen Distributionsstrukturnicht mehr bewältigbare Absatzproblem zu lösen. Aus eigener Kraft undmit eigenen Mitteln ist im Gegenteil und schlimmer noch das Systemhöchstens geeignet, das Problem fortlaufend zu verschärfen und dieLösung immer weiter zu erschweren. Schließlich haben ja die beiden

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oben geschilderten treibenden Faktoren des kapitalistischen Produkti-

onssystems, die Steigerung der realen Produktivität einerseits und dieletztlich daraus resultierende Erhöhung der personalen Ausbeutungsrateandererseits, dies problematische Ergebnis, die Menge des Mehrprodukts,das zur Realisierung des in ihm verkörperten Werts auf Konsumentenangewiesen ist, die über allgemeines Äquivalent aus systemexternenQuellen verfügen, zu vergrößern – im Falle der Produktivität dadurch,dass sich der gleiche Wert und ergo auch Mehrwert in einem wachsendenProduktquantum verkörpert, im Falle der Ausbeutung dadurch, dass derden Lohn, den Wert der Arbeitskraft, verkörpernde Teil des Produkt-quantums schrumpft und der den Mehrwert, den “Lohn” des Kapitals,

verkörpernde Teil der Produktmenge entsprechend zunimmt.Wenn auch auf unterschiedliche Weise, nämlich einerseits modo direc-to, durch eine absolute Vermehrung der den Mehrwert verkörperndenProduktmenge, und andererseits via obliqua, durch eine relative Ver-größerung des den Mehrwert verkörpernden Teils der Produktmenge,zielen also beide Dynamismen des Systems, die Produktivität und dieAusbeutung, auf den im Prinzip gleichen Effekt, auf eine wachsendeMenge Mehrwert verkörpernder Waren, deren Wert nicht durch das zumZweck ihrer Produktion vom Markt als Lohn beziehungsweise Entgeltfür Arbeitsmittel verausgabte und aber zwecks Eigenversorgung der

Produzenten dem Markt zurückerstattete allgemeine Äquivalent gedeckt,sprich, nicht durch letzteres einlösbar, realisierbar ist und vielmehr zuseiner Realisierung allgemeines Äquivalent aus marktexternen Quellen,fremdes Geld braucht und gar wegen eben jener die Warenmenge, dieden Mehrwert verkörpert, absolut oder relativ vergrößernder Dynamis-men immer mehr davon braucht und also den als Forderung nach einerErweiterung des Konsumentenkreises sich artikulierenden Absatzdruck,die Notwendigkeit, neue, gleichermaßen mit der objektiven Dispositionund der subjektiven Kondition für die Konsumentenrolle, mit Bedürfnisund Geld, gesegnete Abnehmer für das wachsende Warensortiment zu

finden, immer weiter verstärkt, ohne doch zur Entlastung vom Druck,sprich, zur Lösung des Abnehmerproblems aus eigener Kraft und miteigenen Mitteln das Mindeste beitragen zu können.

Aber da ist ja noch die den Staat, das Gemeinwesen der gesellschaftli-chen Gruppen und Schichten, verkörpernde absolutistische Herrschaft,

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die von Anbeginn ihres eigenen Werdens, ihres Aufstiegs zu einem eben-

so zentralen, unter intern verwaltungstechnischen Aspekten einheitli-chen, wie souveränen, aus extern hoheitsrechtlicher Sicht eigenständi-gen, Gebilde im Bunde steht mit der ökonomischen Macht, dem Markt,den ebenso sehr sie durch die Beseitigung kommunaler und territoria-ler Handels- und Gewerbeschranken und durch die Eröffnung neuerkommerzieller Entfaltungsräume und Erschließung neuer Investitions-chancen nach politischen Kräften fördert, wie umgekehrt er sie mit seinenökonomischen Mitteln unterstützt und nämlich die für ihren Aufstieg nö-tigen militärischen, diplomatischen und bürokratischen Aufwendungenweitgehend finanziert.

Was liegt für den Markt näher, als sich angesichts des Absatzproblems,das seine zunehmende Unterfütterung durch den kapitalistischen Pro-duktionsapparat dank der Produktivität und Ausbeutungskapazität desletzteren heraufbeschwört und das er aus eigener Kraft und mit eigenenMitteln nicht zu lösen vermag, an sie, die absolutistische Herrschaft,zu wenden und von ihr die Lösung des Problems oder jedenfalls einenwesentlichen Beitrag dazu zu erwarten, sie mit anderen Worten für jeneErweiterung des Abnehmerkreises, jene Rekrutierung neuer, gleicher-maßen mit der subjektiven Kondition und der objektiven Disposition,mit Bedürfnissen und Kaufkraft, ausgestatteter Konsumenten sorgen zulassen, ohne die eine erfolgreiche Erledigung des vom Markte betriebenen

Wertrealisierungsgeschäfts und die daran hängende weitere Entwicklungder Produktion und Fortführung des unter ihrem Deckmantel vor sichgehenden Wertakkumulationsprozesses, die wiederum conditio sine quanon der Funktionsfähigkeit des ganzen kapitalistischen Produktionsap-parats ist, nach unseren obigen Überlegungen immer schwieriger undletztlich ausgeschlossen erscheint.

Die Bereitschaft, den Marktbetreibern Sukkurs, ihnen bei der Lösungdes Absatzproblems, das der Erfolg ihrer kapitalistischen Aktivitätengebiert, Hilfestellung zu leisten, hat die absolutistische Herrschaft durch-aus. Schließlich verdankt sie nicht nur im Allgemeinen oder politisch-

historisch ihren Aufstieg und ihren Bestand der wirtschaftlich-praktischenUnterstützung, die der Markt ihr leistet, und der gesellschaftlich-rechtli-chen Anerkennung, die sie bei ihm und den ihn tragenden stadtbürger-lichen Gruppen findet, sondern sie ist auch im Besonderen oder ökono-misch-systematisch abhängig von den regulären steuerlichen Abgaben

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und den temporären finanziellen Zuwendungen, die der Markt mit seiner

stadtbürgerlichen Klientel an sie entrichtet und ihr macht, ist in ihreminnersten Wesen, ihrem Etat, angewiesen darauf, dass sie von ihm diefür ihre militärischen Unternehmungen, ihre bürokratischen Reformenund ihren höfischen Aufwand erforderlichen finanziellen Mittel erhält.Dass diese Unternehmungen, diese Reformen und dieser Aufwand nurmöglich sind beziehungsweise nur in dem für die vollständige Ausbil-dung eines absolutistisch-zentralistischen Staatswesens nötigen Umfang betrieben werden können, weil der Markt durch seine neue Investiti-onsstrategie, seine unmittelbare Einlassung in die traditionelle Produk-tionssphäre und deren organisatorische und technische Umgestaltung

 jenen kapitalistischen Produktionsapparat ins Leben ruft, der ihm, demMarkt, eine seiner Entfaltungsdynamik angemessene Produktionskraftverfügbar werden lässt – dies weiß die absolutistische Herrschaft sehrwohl, und entsprechend groß ist ihr Interesse, diesen kapitalistischenProduktionsapparat funktions- und ausbaufähig zu erhalten und ihmdeshalb Probleme wie das ihm aus seinem Distributionssystem, der kom-merziellen Zirkulation, aufstoßende eines seiner Produktionskraft nichtmehr gewachsenen, weil zu beschränkten Abnehmerkreises vom Leibezu schaffen.

Und nicht nur die Bereitschaft, den guten Willen, Sukkurs zu leis-

ten, hat die absolutistische Herrschaft, sondern sie verfügt auch, recht besehen, über das Vermögen, die Handhabe dazu. Schließlich hat siedurch ihren Aufstieg zur absolutistisch-zentralistischen Staatsgewalteine politische Vollmacht errungen, die sie auch und nicht zuletzt in derForm von wirtschaftspolitischen Eingriffen und Maßnahmen geltendmachen kann. Dabei liegt der unmittelbarste und nächstliegende Eingriff darin, das eigene Hoheitsgebiet als ebenso geschlossenen wie einheit-lichen Wirtschaftsraum, das Territorium als Oikos, zu definieren undder in diesem Wirtschaftsraum versammelten Manufaktur und Industriedurch handels- und zollpolitische sowie subventionsstrategische und

infrastrukturelle Maßnahmen im Verhältnis zu den umliegenden Gebie-ten beziehungsweise den dort etablierten Nachbarstaaten vorteilhafteAustauschbeziehungen, sprich, günstige Absatzbedingungen zu sichern.Konsumenten gibt es in den Nachbarstaaten nicht anders als im eigenenHoheitsgebiet, und mögen diese Gruppen auch ebenso demographisch

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 begrenzt und nämlich im Wesentlichen auf die gesellschaftliche Ober-

schicht, Adel und Geistlichkeit, eingeschränkt sein – falls es gelingt, sieals Abnehmer für die im eigenen Hoheitsgebiet produzierten Waren zugewinnen, ist, für letzteres jedenfalls, das Absatzproblem gelöst. DasResultat dieser von der absolutistischen Herrschaft dem Markt des eige-nen Wirtschaftsraums geleisteten Hilfestellung in Form einer nach außengerichteten, auf die Gewinnung ausländischer Konsumenten zielendenHandelspolitik ist der Merkantilismus.

So sehr der Merkantilismus nach außen orientiert und insofern ex-pansionistisch ist, sein tragendes Fundament findet er in einer auf denBinnenmarkt gerichteten, defensiv-protektionistischen Maßnahme. Derabsolutistische Staat sorgt durch Einfuhrbeschränkungen im Allgemei-nen und Schutzzölle im Besonderen dafür, dass möglichst wenige aus-ländische manufakturelle und industrielle Güter auf den heimischenMarkt gelangen und die inländischen Konsumentengruppen ihre ganzeKonsumkraft den Erzeugnissen des eigenen kapitalistischen Produktions-apparats zuzuwenden gezwungen sind und also in ihrer Beschränktheitwenigstens unbeschränkt dem heimischen Markt zur Verfügung stehen.Nur durch diese grundlegende protektionistische Maßnahme lässt sichgewährleisten, dass die offensiv auf die Verstärkung des Güterexportsgemünzten merkantilistischen Maßnahmen nicht durch die gegenläufigeBewegung vermehrter Einfuhren konterkariert und zum Nullsummen-

spiel neutralisiert werden.Dabei dürfen sich die staatlich verfügten und durchgesetzten Einfuhr-

 beschränkungen freilich nicht zum Nachteil des heimischen kapitalisti-schen Produktionsapparats auswirken, dürfen nicht dazu führen, dassletzterer in seiner Produktion gestört und in seinem Ausbau behindertwird. Die Schutzzölle und Importbeschränkungen dürfen deshalb nur diefertigen Produkte, nicht auch die für die Fertigung der Produkte erfor-derlichen Materialien und Rohstoffe betreffen, deren ungehinderte undkostengünstige Einfuhr im Gegenteil zu fördern ist. Schließlich zielt dieper Merkantilismus angestrebte Lösung des Absatzproblems durch die

Rekrutierung weiterer Kaufkraft ja auf die ungestörte Fortführung oderfunktionelle Kontinuität der Produktionstätigkeit des kapitalistischenApparats, wobei unter Bedingungen des die Produktion beherrschendenkommerziellen Akkumulationsprinzips Fortführung und Kontinuitätgleichbedeutend sind mit Fortentwicklung und Steigerung, Zunahme

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und Ausweitung. Wie sollte wohl diese mit Fortentwicklung und Aus-

weitung synonyme Fortführung und Kontinuität der Produktion möglichsein, ohne dass die sächlichen Mittel der Arbeit im Allgemeinen und diezu verarbeitenden Rohstoffe im Besonderen ebenso leicht zugänglich sindwie in hinreichender Menge zur Verfügung stehen?

Und schließlich ist es bei der mit Ausweitung synonymen Fortführungder Produktionstätigkeit um die Schöpfung von Wert zu tun, was unterBedingungen des besagten Akkumulationsprinzips auf die Maximierungvon Profit hinausläuft, die Erzielung einer möglichst hohen Proportionan nicht durch die Produktionskosten, die Gestehungskosten der Ar- beitskraft und der Produktionsmittel, aufgewogenem Wert. Wie solltesich wohl diese auf die Erzielung von Profit abgestellte Wertprodukti-on, sieht man einmal von den Möglichkeiten ab, die die Ausbeutungder Arbeitskraft hierzu bietet, besser ins Werk setzen lassen als durchsächliche Produktionsmittel im Allgemeinen und Rohstoffe im Besonde-ren, die, weil sie in hinreichender, wo nicht gar übermäßiger Menge zurVerfügung stehen, um ihre Aufnahme in die Produktion konkurrierenmüssen und entsprechend kostengünstig zu erstehen sind, sprich, mitihren Gestehungskosten möglichst wenig zu Buche schlagen?

Auf diesem negativ-protektionistischen Fundament einer wohldosier-ten Regulierung des Außenhandels, einer Beschränkung der Einfuhr vonArbeitsprodukten und Entschränkung der Einfuhr vom Arbeitsmate-

rialien bauen nun positiv-dirigistische Maßnahmen auf, deren Ziel esist, ausfuhrorientierte beziehungsweise exportträchtige Manufakturenund Industrien zu fördern und Produktionskapazitäten in sie zu ver-lagern. Sei’s dass die absolutistische Herrschaft beziehungsweise ihreFinanzverwaltung mit gutem Beispiel vorangeht und in staatlicher Re-gie neue Produkte beziehungsweise Produktionstechniken in Angriff nimmt, sei’s dass sie entsprechende Innovationen und Orientierungender privaten Wirtschaft durch steuerliche Vergünstigungen oder direkteBeihilfen finanziell fördert, so oder so ist sie bemüht, die Aktivitätendes kapitalistischen Produktionsapparats in eine Richtung zu lenken,

die letzterem erlaubt, sowohl im Blick auf die Produktpalette als auchhinsichtlich der Produktionskosten erfolgreich mit den Produktions-apparaten der Nachbarn zu konkurrieren und so im Außenhandel, imkommerziellen Verkehr mit eben jenen Nachbarstaaten, eine möglichstpositive Handelsbilanz zu erzielen, sprich, in den Nachbarstaaten mehr

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Konsumenten zu gewinnen, als umgekehrt den Produktionsapparaten

der Nachbarstaaten im Wirtschaftsraum ihres erfolgreichen Konkurrentenzu rekrutieren gelingt.Und zu den protektionistischen Vorkehrungen und dirigistischen Maß-

nahmen, die die als Merkantilismus firmierende Handelspolitik des abso-lutistischen Staates ergreift, kommt drittens noch eine Strategie hinzu, diesich als expansionistisch charakterisieren lässt und deren Zweck es ist,durch die Verbesserung beziehungsweise den Ausbau der Infrastrukturdie Bahn für den Handelsverkehr im Allgemeinen und die nach außengerichteten Handelsbeziehungen im Besonderen zu ebnen. Die absolutis-tische Herrschaft unternimmt es von Staats wegen und auf Staatskosten,

Straßen und Kanäle anzulegen, für die Einrichtung regelmäßiger Ver-kehrsverbindungen zu sorgen und die Entwicklung des Transportwesenszu Wasser und zu Lande zu befördern. Unter anderem protegiert undsubventioniert sie auch die Handelsschifffahrt zur See und betreibt denAufbau einer eigenen Flotte, teils um vergleichsweise bequeme Han-delsverbindungen zu den Nachbarn entlang den Küsten herzustellenund zu sichern, teils und vor allem um die überseeischen Beziehungenzu intensivieren und die zunehmenden Markt- und Absatzchancen zunutzen, die nicht nur der Handel mit den fernen asiatischen Territori-alherrschaften, sondern in wachsendem Maße auch der Austausch mit

den als Kolonien in Besitz genommenen Territorien der nichtstaatlichorganisierten beziehungsweise in ihrer staatlichen Organisation zertrüm-merten außereuropäischen Gesellschaften, der sogenannten Naturvölker,eröffnen.

Dabei fällt der Schifffahrt in einem der sich als absolutistische Staatenreorganisierenden Herrschaftsgebiete, nämlich in England, dank nichtzuletzt der insularen Lage des Landes von Anfang an eine solch tragendeRolle für den Markt und den kraft ursprünglicher Akkumulation ausihm generierten kapitalistischen Produktionsapparat zu, dass ihr Auf-und Ausbau, weit entfernt davon, bloß eine Maßnahme unter anderen im

Kontext einer merkantilistischen, will heißen, staatlich betriebenen bezie-hungsweise geförderten Handels- und Absatzpolitik darzustellen, im Ge-genteil als ein gegebener Bezugs- und Orientierungsrahmen erscheint, derdie Entfaltung des Marktes einschließlich des ihm integrierten Produk-tionsapparats maßgeblich determiniert und den ökonomischen Prozess

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gleichermaßen in seiner Entwicklungsrichtung und in seinen Krisenbe-

wältigungsformen so entscheidend dirigiert, dass sich tatsächlich einevom Staat eigens und gezielt betriebene merkantilistische Politik in demvon der anderen führenden absolutistischen Herrschaft, Frankreich, aus-gebildeten und praktizierten klassischen Sinne weitgehend erübrigt.

Der Auf- und Ausbau eines die Meere überspannenden Schifffahrts-wesens, der anderswo, eben in Frankreich, bloß eine von der politischenMacht ins Spiel gebrachte und in diesem Sinne künstliche infrastruktu-relle Maßnahme unter anderen ist, um dem Markt bei der Lösung seinerproduktivitäts- und ausbeutungsinduzierten Absatzprobleme beizusprin-gen und für den ungehinderten Fortgang der ökonomischen Entwicklungzu sorgen, ist hier, in England, so sehr das von Anfang an tragende infra-strukturelle Fundament, auf dem und vermittels dessen die ökonomischeEntwicklung vonstatten geht, sprich, der Markt die traditionelle Pro-duktionssphäre infiltriert und sich als seinen kapitalistischen Unterbauintegriert, dass auch die Lösung der Absatzprobleme, die der exorbi-tante Erfolg dieses Integrationsvorganges, die Leistungskraft nämlichdes als kapitalistischer Produktionsapparat apostrophierten Unterbaus,heraufbeschwört, sich gar nicht anders als auf jenem infrastrukturellenFundament und vermittels seiner vollziehen kann und insofern nolensvolens den Anschein eines im Unterschied zur merkantilistischen Strate-gie von politischer Einflussnahme weitgehend freien, innerökonomischen

und in diesem Sinne natürlichen Verfahrens gewinnen muss.Diese den kommerziellen beziehungsweise kapitalistischen Prozess

tragende und bis in seine Krisenbewältigungsstrategien hinein dirigie-rende Rolle, die im Falle des britischen Staatswesens der Schifffahrt imAllgemeinen und dem maritimen Handelsverkehr im Besonderen zu-kommt, reicht, wie gesagt, in die Anfänge der absolutistischen Entwick-lung zurück und tritt schon bei der oben erwähnten, den dynastischenHundertjährigen Krieg als ökonomischer Faktor entscheidend bestim-menden Auseinandersetzung um die flandrische Tuchindustrie deutlichzutage. Die Stärke Englands zur See ist es, die jene Blockadepolitik ge-

genüber dem von Frankreich dominierten Flandern ermöglicht, die Teileder auf die englische Wolle angewiesenen flandrischen Tuchindustrie zurUmsiedlung nach England zwingt und damit den Grund für den raschenAufstieg der englischen Metropole zu einem blühenden Wirtschafts-und Handelszentrum legt. Und die englische Stärke zur See ist es, die es

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dem Land nach der erfolgreichen Abweisung der spanischen maritimen

Aggression erlaubt, seinerseits zum Angriff überzugehen und durchKaperei, durch staatlich sanktionierte Piraterie, an den Reichtümern imAllgemeinen und den als allgemeines Äquivalent tauglichen Schätzen imBesonderen zu partizipieren, die Spanien aus seinen Eroberungen in derNeuen Welt zieht.

Die zu wesentlichen Teilen der Krone zufallende Beute dieser Prisen-politik erfüllt einen doppelten, für die Entwicklungsrichtung des Marktesmaßgebenden Zweck: Zum einen finanziert sie, von der Krone in Ver-folgung ihrer absolutistischen Karriere unter die Oberschicht und derenAnhang verteilt, jenes als ursprüngliche Akkumulation apostrophierte

rasche Wachstum des Marktes, das in der Überführung des Handelskapi-tals in Produktionskapital, Kapital sans phrase, sprich, in der Schaffungund Entfaltung des kapitalistischen Produktionsapparats resultiert. Undzum anderen aber dient sie zum Unterhalt und zum Ausbau des Beuteve-hikels oder Reichtumsbeschaffungsinstruments selbst, der landeseigenenHandelsflotte und der königlichen Marine, und lässt damit die Seewegein genere und die überseeischen Verbindungen in specie zu vergleichs-weise nahe liegenden Vertriebswegen für den wachsenden Warenstromwerden, den der mit der tatkräftigen Hilfestellung, den die Schifffahrtdem Markt bei seiner Entfaltung leistet, hervorgetriebene kapitalistische

Produktionsapparat produziert.Die durch die insulare Lage und die frühen Bemühungen, die po-litischen und ökonomischen Beziehungen zum europäischen Festlandzu kontrollieren, in Gang gesetzte Ausrichtung aufs Meer, die schonin der Gründung von Handelskompanien während der Tudorzeit, derFormationsphase des Absolutismus, ihren Ausdruck findet, wird hierentscheidend beschleunigt und verstärkt. Gleichzeitig allerdings erhältsie, gemäß der mittlerweile vor sich gehenden Kapitalisierung des Wirt-schaftslebens und der mit letzterer und der Produktionskraft beziehungs-weise Ausbeutungskapazität, die sie beweist, heraufbeschworenen neuen

Problemlage des Marktes, einen veränderten Inhalt und Fokus. Ist esprimäres Ziel der frühen Handelskompanien, auf dem Seeweg Verbin-dungen zu den asiatischen Territorialstaaten zu knüpfen und den Marktmit dort vorfindlichen Luxusgütern und Exotika zu versorgen, mit derenHilfe sich die Konsumkraft der vom absolutistischen Souverän in spe

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ausgekauften beziehungsweise konsumtiv abgefundenen Oberschicht ab-

schöpfen und zum Zwecke einer raschen Entfaltung des Marktes und zurursprünglichen Akkumulation geratenden Amassierung von Handels-kapital nutzbar machen lässt, so rückt jetzt zunehmend die umgekehrteForderung in den Vordergrund, mittels der Seewege und des sie zu-gänglich machenden Schifffahrtswesens Vertriebsmöglichkeiten für denwachsenden Ausstoß des kapitalistischen Produktionsapparats zu er-öffnen, sprich, Märkte für den Absatz der landeseigenen Produktion zuerschließen.

Angesichts der relativen ökonomischen Autarkie und kulturellen Ei-genständigkeit jener asiatischen Territorialherrschaften fände sich freilich

die Schifffahrt in ihrer Doppelrolle als Handelsflotte und Marine, alsGütertransportvehikel und Transportsicherungsunternehmen, durch die-ses distributionsökonomische Ansinnen, dieses Markterschließungsamthoffnungslos überfordert, erfüllte sie nicht bereits vorher beziehungs-weise gleichzeitig eine quasi ordnungspolitische Funktion im Diensteder absolutistischen Herrschaft, nämlich die Aufgabe, mit ihrer Verschif-fungskapazität einen praktischen Beitrag zu der für die Durchsetzung desabsolutistisch-zentralistischen Staatswesens erforderlichen Homogenisie-rung der Gesellschaftsstruktur, Uniformierung der Untertanenschaft undNormierung des Kulturlebens zu leisten.

Um die soziale Kontinuität, legale Verbindlichkeit und kulturelleGleichförmigkeit herbeizuführen, die Kennzeichen der dem Feudalismusentzogenen und absolutistisch-zentralistisch reorganisierten Gemein-wesen und für deren kapitalistische Marktentwicklung unverzichtbareBedingungen sind, erweist es sich überall als nötig, gesellschaftlicheGruppen, die in irgendeiner wesentlichen Hinsicht, in der religiösenOrientierung, den moralischen Normen, den kulturellen Gepflogenhei-ten, dem sprachlichen Idiom, der ethnischen Besonderheit dissidierenund in ihren abweichenden Denk- und Verhaltensweisen so stark ver-ankert sind, dass sie sich nicht hinlänglich in das vorherrschende Sozi-

algefüge, Rechtssystem und Kulturleben integrieren lassen – erweist essich also als nötig, diese Dissidentengruppen aus dem gesellschaftlichenCorpus auszuschließen und zu entfernen. Im kontinentalen Normalfallgeschieht dies durch Verfolgung, Mord und Vertreibung: Die Dissidenten-gruppen sehen sich von Seiten der staatskonformen Majorität ständigen

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Repressalien und Gefährdungen an Leib und Leben ausgesetzt und ge-

hen entweder zugrunde oder müssen das Feld räumen und zusehen,dass sie andernorts, in Nachbarstaaten, Aufnahme finden, wo ihre kul-turellen Eigenheiten und abweichenden Überzeugungen entweder alsvergleichsweise konform akzeptiert oder wegen nützlicher Kenntnisseund Fertigkeiten, die die Flüchtlinge mitbringen, toleriert werden.

Im insularen England eröffnen die entfaltete Seeschifffahrt und diedurch sie erschlossenen Verbindungen nach Übersee einen anderen Wegzu jener Säuberung des Staatscorpus zwecks Vereinheitlichung der in ihmorganisierten Gesellschaft – die erzwungene beziehungsweise freiwilligemaritime Auswanderung. Statt wie im kontinentalen Europa entweder

um Leib und Leben gebracht oder aber als Flüchtlinge in Nachbarstaatenvertrieben zu werden, finden sich hier die religiös, moralisch, kultu-rell oder auf andere Weise abweichenden Bevölkerungsgruppen mittelsHandelsflotte und Marine in die von staatlicher Organisation freien undinsofern als Niemandsland angesehenen überseeischen Gebiete Amerikas(später auch Australiens und des südlichen Afrika) deportiert bezie-hungsweise emigrieren aus freien Stücken dorthin, siedeln sich an undgründen Kolonien, die dank der vorgefundenen immensen Naturschätzeund fruchtbaren Landflächen im Blick auf Naturprodukte und land-wirtschaftlich erzeugte Lebensmittel rasch das Selbstversorgungsniveau

überschreiten und zu Überschussproduzenten werden, wohingegen sie,was handwerkliche Gebrauchsgegenstände und Kulturgüter, die Palettealso der manufakturell beziehungsweise industriell produzierten Warenangeht, auf Lieferungen aus dem Mutterland angewiesen bleiben.

Damit aber legt das englische Schifffahrtswesen als politischer Ord-nungsfaktor des sich ebenso sehr demographisch homogenisierenden wiepolitisch zentralisierenden absolutistischen Staatswesens den Grund füreine andere, von der im klassischen Sinne merkantilistischen Methode,wie sie Frankreich ausbildet, unterschiedene Methode zur Lösung des imZuge der Entfaltung des kapitalistischen Produktionsapparats dem Mark-

te zunehmend aufstoßenden Absatzproblems, sprich, des Problems, fürdie rasch wachsende Menge manufakturell beziehungsweise industriellerzeugter Waren einen entsprechend großen Abnehmerkreis zu gewin-nen, was letztlich auf die Erschließung neuer Märkte, die Rekrutierungneuer Konsumentengruppen hinausläuft.

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Statt, wie das merkantilistische Staatswesen kontinentaler Prägung tut,

durch handelspolitische Maßnahmen die landeseigene Wirtschaft darauf anzusetzen, sich diese neuen Konsumentengruppen in den Nachbar-staaten zu suchen, sie auf deren Kosten zu rekrutieren, nutzt das insu-lare Staatswesen seine maritime Stärke dazu, dem allen absolutistischenStaaten gemeinsamen Bedürfnis nach Säuberung des Sozialcorpus undAusmerzung störender Elemente eine quasi positive Bedeutung zu vin-dizieren und konstruktive Wendung zu geben und durch Verfrachtungder dissidierenden Elemente in die überseeischen Gebiete, durch dieGründung überseeischer Kolonien, die benötigten neuen Konsumenten-gruppen aus eigener Machtvollkommenheit in die Welt zu setzen, für dieerforderliche Erweiterung des Marktes selbstherrlich zu sorgen, um dann,wiederum mittels der sich als regelrechter Dreh- und Angelpunkt derökonomischen Entwicklung der Insel erweisenden Schifffahrt, gedeihli-che Handelsbeziehungen zu jenen Extensionen des Marktes, jenen neuenKonsumentengruppen aufzunehmen.

Gedeihlich sind die Handelsbeziehungen deshalb, weil sie haargenauder Bedürfnislage des englischen Marktes und des von ihm hervorgetrie- benen kapitalistischen Produktionsapparats entsprechen, weil sie demheimischen Markt nämlich ermöglichen, die Manufaktur- und Industrie-güter, die er wegen der Produktivkraft und Ausbeutungsrate des kapi-talistischen Produktionsapparats zunehmend Mühe hat, an den Mann

 beziehungsweise die Frau zu bringen, in die kolonialen Gründungenauszuführen, wo sie gebraucht werden, und im Austausch dafür aus denKolonien die dort reichlich vorhandenen Rohstoffe und Naturprodukteeinzuführen, die wiederum der heimische Produktionsapparat für seineGüterproduktion braucht.

Dank der wesentlichen Rolle, die sie als ordnungspolitischer Faktor bei der Durchsetzung einer der absolutistischen Herrschaft gemäßenhomogenen Bevölkerungsstruktur spielt und die in der Besiedlung über-seeischer Gebiete durch Gruppen des Mutterlands und in der Etablierungdieser Gebiete als Kolonien, als auf das Mutterland rückbezogener kom-

moder Handelspartner und profitabler Märkte resultiert, gelingt es derenglischen Seefahrt tatsächlich, die ihr vom kapitalistischen Produktions-apparat, den sie selber entscheidend mitgeholfen hat, ins Werk zu setzen,zugemutete distributionsökonomische Aufgabe einer Erschließung neuerMärkte oder Eröffnung neuer Absatzchancen für den rasch wachsenden

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Ausstoß des Apparats zu erfüllen. Die Seefahrt erweist sich als ein Fak-

totum, das die wirtschaftliche Entwicklung ebenso maßgeblich steuertwie vorantreibt und das, während die Staaten des Festlands auf staatlichgelenkte, merkantilistische Weise, durch europazentrierte, handelspoli-tische Maßnahmen, ihrer ökonomischen Wachstumsprobleme Herr zuwerden suchen, das englische Staatswesen auf den Sonderweg einer quasinatürlich vor sich gehenden, schlicht merkantilen Problemlösung, einerweltläufig handelspraktischen Projektions- und Erschließungsstrategieleitet.

Dieser handelspolitische Sonderweg, auf den die Schifffahrt das eng-lische Gemeinwesen schickt, verspricht dem Markt und seinem kapita-listischen Produktionsapparat eine so unabsehbar kontinuierliche undvergleichsweise störungsfreie Entfaltung, dass das Staatswesen das In-termezzo der frühbürgerlich-puritanischen Herrschaft, zu dem es imRahmen der religiösen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts undauf Basis des mittels ihrer ausgetragenen Konflikts zwischen restaura-tiver, territorial fundierter, royalistischer Oberschicht und progressiver,marktbezogener, städtisch-parlamentarischer Mittelschicht kommt, dazunutzt, ihn sich gewissermaßen zu patentieren und in der kodifiziertenForm der so genannten Navigationsakte zu einer zwei Jahrhunderte hin-durch mit Zähnen und Klauen verteidigten via regia der ökonomischenEntwicklung des Landes zu erheben.

Indem die Navigationsakte erstens negativ-protektionistisch festlegt,dass ausländische Schiffe nur Waren aus ihren Heimatländern nach Eng-land importieren dürfen und aller Zwischenhandel mit der Insel engli-schen Schiffen vorbehalten bleibt, und zweitens positiv-expansionistischverfügt, dass der Handel des englischen Mutterlands mit seinen überseei-schen Kolonien sowie der Kolonien untereinander nur mittels englischerSchiffe statthaben darf, leistet sie zweierlei: Erstens sorgt sie dafür, dassdie englische Handelsflotte an den Gewinnen aus dem Zwischenhandelpartizipiert, und nutzt also die fremdländischen Einfuhren nach Englandals Geldquelle für den weiteren Auf- und Ausbau eines meerbeherr-

schenden Schifffahrtswesens, und zweitens sichert sie mittels dieses –wie schon in seinen Anfängen als Kaper- und Prisenunternehmen deneigenen Auf- und Ausbau finanzierenden – Schifffahrtswesens dem eng-lischen Markt und dem ihn mehr und mehr tragenden kapitalistischenProduktionsapparat praktisch das Monopol auf den Handel mit den für

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letzteren lukrativsten und vielversprechendsten überseeischen Territorien

und eröffnet beiden eine gemäß den geographischen und demographi-schen Dimensionen der außereuropäischen Welt und ihrem kommerziel-len Entwicklungspotenzial beziehungsweise der Fülle ihrer Ressourcenschier unabsehbare Entfaltungs- und Wachstumsperspektive.

Dass England mit seinem merkantilen Sonderweg und den kapitalistischen Ent-wicklungschancen, die er eröffnet, das merkantilistische Kontinentaleuropa nichtauskonkurriert und auf einen kolonialen Status herabdrückt, hat seinen Grundeinerseits darin, dass der Merkantilismus Freihandelsbedingungen verhindert,und andererseits und vor allem darin, dass der merkantilistische Staat seine nach

außen gerichtete durch eine nach innen gewendete Strategie der Konsumentenre-krutierung ergänzt. Die bäuerlichen und lohnarbeitenden Massen kommen dabei

 freilich als Rekrutierungsbasis kaum in Betracht.

Der nicht sowohl staatsgelenkt-merkantilistisch gegen die europäi-schen Konkurrenten zielende, sondern vielmehr naturwüchsig-merkantilauf die außereuropäischen Kolonien bauende und in die weite Welt ge-richtete handelspolitische Sonderweg des englischen Staatswesens zahltsich voll und ganz aus. Dank seiner Rolle als Tor zur Welt und des fastschon monopolistischen Welthandelsgebrauchs, den es von dieser Öff-

nung nach draußen zu machen vermag, verleiht England seinem ka-pitalistischen Produktionsapparat eine Schubkraft und sichert dessenAufschwung zugleich eine Kontinuität, die das Land binnen anderthalb Jahrhunderten aus den manufakturellen Anfängen ins Industriezeitalterkatapultieren und jenem Produktionsapparat gegenüber den Produkti-onsverhältnissen bei den europäischen Konkurrenten einen solch großentechnischen und organisatorischen Vorsprung verschaffen, dass das Landdie Stellung und Funktion einer “Werkstatt für die Welt” gewinnt unddass unter Freihandelsbedingungen, das heißt, unter Bedingungen einesohne protektionistische Maßnahmen und Subventionsleistungen des

Staates vor sich gehenden und ausschließlich den Marktgesetzen vonAngebot und Nachfrage gehorchenden Außenhandels, der Triumph derenglischen industriellen Ökonomie über die des europäischen Kontinentsabsehbar und es wohl nur eine Frage der Zeit wäre, bis die kontinenta-len Konkurrenten sich im kommerziellen Austausch mit dem Inselstaat

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auf eine der Funktion der überseeischen Kolonien vergleichbare Rolle

reduziert fänden.Dass es dazu nicht kommt, hat zwei Gründe: Da ist zum ersten dieTatsache, dass Freihandel nicht oder nur in sehr begrenztem Maße be-steht, weil ja protektionistische Maßnahmen, staatliche Bemühungen,durch Schutzzölle und Subventionen die landeseigene Manufaktur undIndustrie zu stützen und ihre Entwicklung zu schützen und zu diesemZweck den Außenhandel zu fördern und seine Bilanz möglichst positivzu gestalten, ein tragendes Element des auf dem Kontinent praktiziertenMerkantilismus sind, und dass darüber hinaus auch das manufakturellund industriell überlegene Staatswesen, England, zu diesem Zeitpunktzumindest durchaus kein uneingeschränkter Befürworter des Freihandelsist, weil eine starke Fraktion des Landes, die politisch tonangebende land- besitzende Gentry, um die Konkurrenzfähigkeit ihrer agrarischen Produk-tion unter Freihandelsbedingungen fürchtet und deshalb auf Schutzzöllenund Einfuhrbeschränkungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse ausdem Ausland besteht. Ebenso wenig wie seine schwächeren kontinenta-len Konkurrenten ist mithin das dank maritimem Handel avanciertereinsulare Staatswesen disponiert, unter Inkaufnahme aller sekundärenökonomischen Folgen und sozialen Nebenwirkungen einen unter Frei-handelsbedingungen ausgetragenen, sprich, vergleichsweise bedingungs-losen Konkurrenzkampf oder Verdrängungswettbewerb zwischen den

kapitalistischen Produktionsapparaten zuzulassen.Der längerfristig vielleicht wichtigere Grund dafür, dass es zu einem

solchen bedingungslosen ökonomischen Kräftevergleich nicht kommtund das insulare Staatswesen keine Gelegenheit erhält, seine manufak-turelle beziehungsweise industrielle Überlegenheit voll zum Tragen zu bringen, ist aber zweitens dies, dass die ökonomisch führende Macht auf dem Kontinent, Frankreich, seine merkantilistischen, nach außen gerich-teten Bemühungen um neue Konsumenten und erweiterte Absatzchancendurch eine nach innen gewendete Rekrutierungsstrategie ergänzt, diesich als ebenso zukunftsträchtig wie für die anderen Staatswesen bei-

spielhaft erweist und die indes – zuvörderst in dem Land, das sie einführt– ungeahnte politisch-soziale Folgen hat und in einer Revolutionierungder gesellschaftlichen Machtverhältnisse resultiert, die auf das gesamteeuropäische Staatengefüge zurückwirkt und es, wenn auch nicht zumEinsturz, so doch hinlänglich ins Wanken bringt, um eine grundlegende

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Neuordnung der zwischenstaatlichen Beziehungen zu erzwingen und

an die Stelle der absolutistischen Souveränität einen chauvinistischenAnspruch auf nationale Integrität und Prosperität treten zu lassen.Ohne die Welthandelsperspektive, die dem englischen Staatswesen

funktionell seine Handelsflotte und Marine und strukturell seine übersee-ischen Kolonien erschließen, stößt die absolutistische Herrschaft Frank-reichs rasch an die Grenzen ihrer merkantilistischen Anstrengungen undmuss feststellen, dass ihre Versuche, durch protektionistische, dirigis-tische und infrastrukturelle Eingriffe und Maßnahmen im innereuro-päischen Raum neue Konsumenten zu gewinnen und neue Märkte zuerobern, allen unbestreitbaren Erfolgen zum Trotz bei weitem nicht aus-reichen, um längerfristig für eine Lösung der Absatzprobleme, die derdank des merkantilistisch-staatlichen Engagements wachsende manufak-turelle und industrielle Produktionsapparat dem Markt beschert, sorgenzu können.

Hauptzielscheibe und Entfaltungsprospekt für den merkantilistisch ge-förderten Außenhandel Frankreichs wäre natürlicherweise, und nämlichnach Maßgabe des wirtschaftlichen Entwicklungsstandes nicht wenigerals unter geographischen und demographischen Gesichtspunkten, derzentral- und osteuropäische Raum. Der aber ist – dank nicht zuletzt derpolitischen Interventionen und militärischen Aktionen der auf die Siche-rung ihrer Souveränität bedachten französischen Herrschaft – so sehr

territorial zersplittert und entsprechend von handels- und zollpolitischenSchranken und Hemmnissen durchzogen und darüber hinaus durch dengroßen Krieg, der diese Zersplitterung herbeizuführen beziehungsweisefestzuklopfen diente, so sehr verwüstet, entvölkert und verarmt, dass erweder über die Konsumkraft noch über die Aufnahmekapazität verfügt,um sich als großes Absatzgebiet für französische Waren in Szene setzenzu können.

Erschwerend hinzu kommt aber noch, dass die vielen größeren undkleineren Herrschaften, in die der zentral- und osteuropäische Raumzerfällt, sich am Beispiel der führenden kontinentalen Macht, Frank-

reich, orientieren und ebenfalls als absolutistische Herrschaft zu eta- blieren suchen und im Rahmen dieser Aspirationen zwecks Stärkungihrer Wirtschaftskraft und Kräftigung ihres Etats eine wie auch immerentsprechend der tatsächlichen Beschränktheit und Erbärmlichkeit derVerhältnisse in ihren Territorien abgeschwächte und modifizierte Form

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von merkantilistischer Wirtschaftslenkung ins Werk zu setzen bestrebt

sind. Dieser als Kameralismus in die Geschichte eingegangene, situati-onsgemäß modifizierte Merkantilismus zielt zwar mangels nennenswer-ter manufaktureller, geschweige denn industrieller Kapazitäten, sprich,mangels eines funktionierenden kapitalistischen Produktionsapparats,nicht sowohl auf die Exportförderung, die Erschließung neuer Märkteund Rekrutierung neuer Konsumenten in den Nachbarstaaten, sondernist eher darauf gerichtet, durch bevölkerungspolitische Strategien undfinanz- oder steuerpolitische Maßnahmen zum Aufbau von Produkti-onsbetrieben unter staatlicher Regie beziehungsweise zur Förderungprivatwirtschaftlicher Initiativen so etwas wie einen kapitalistischen Pro-

duktionsapparat überhaupt erst ins Leben zu rufen, aber das ändert nichtsdaran, dass er sich in seinen negativ-protektionistischen Aspekten alsein Merkantilismus ohne Wenn und Aber erweist und die Einfuhr fran-zösischer Waren ebenso effektiv erschwert, wie das der französischeMerkantilismus mit den Importen aus seinen Nachbarstaaten tut.

Kommt demnach der zentral- und osteuropäische Raum aus Gründenteils seiner Rückständigkeit und Armut, teils seiner kameralistischenAbschottung als Absatzgebiet für den Markt der merkantilistischen Groß-macht Frankreich nicht oder jedenfalls weit weniger als erhofft in Frage,so findet sich letztere in ihren Außenhandelsbemühungen an die Märkte

der auf Augenhöhe mit ihr wirtschaftenden westeuropäischen Konkur-renten verwiesen, die freilich ebenfalls wenig Eignung beweisen, alsAuffangbecken für französische Produktionsüberschüsse zu dienen, weilsie entweder den gleichen Protektionismus praktizieren wie die fran-zösische Staatsmacht selbst oder aber bereits über Produkte verfügen,die denen des kapitalistischen Produktionsapparats Frankreichs eben- bürtig oder gar überlegen sind und die dafür sorgen, dass der Importdem Export, der Verlust an landeseigenen Abnehmern dem Gewinnan ausländischen Konsumenten in etwa entspricht und das Ganze aufsNullsummenspiel einer ausgeglichenen Außenhandelsbilanz hinausläuft.

In dieser Situation findet die merkantilistische Macht Frankreich Ge-schmack an der Idee, dem Sonderweg der merkantilen Macht Englandzu folgen und ihr Außenhandelsheil in der Erschließung überseeischerGebiete und der Gründung von als Absatzmärkte tauglichen Kolonienzu suchen. Das Mittel und Vehikel hierfür indes, eine aus Handels- und

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Kriegsschiffen kombinierte Flotte, die über hinlängliche Kapazitäten ver-

fügt, um die Handelswege kontinuierlich zu befahren und effektiv zusichern, fehlt der Territorialmacht Frankreich. In England ist, wie gezeigt,diese Flotte eine historisch gewachsene, dank spanischem Silber undNavigationsakte weitgehend selbstfinanzierte und ebenso sehr als Motorwie als Vehikel, nicht weniger als Agent denn als Mittel der Wendungnach draußen fungierende Einrichtung.

In Frankreich hingegen muss der Staat diese Flotte erst künstlich, imRahmen seiner Bemühungen um eine außenhandelsförderliche Infra-struktur, schaffen beziehungsweise aus ihrem rudimentären Zustandin eine der Aufgabe weltweiter Präsenz auf den Meeren angemesseneVerfassung überführen. Er muss mit anderen Worten in der Hoffnung auf künftigen, dem kapitalistischen Produktionsapparat des Landes und da-mit auf fiskalischem Wege auch ihm zufließenden kommerziellen Gewinngewaltige Etatmittel aufwenden, muss in Erwartung späterer Leistun-gen der von ihm geförderten privaten Wirtschaft ebenso anhaltende wieumfassende staatliche Vorleistungen erbringen.

Was Wunder, dass er sich diesem ebenso langfristigen wie aufwendigenProjekt nicht recht gewachsen zeigt, dass er den Wechselfällen des macht-und fraktionspolitischen Schlingerkurses, auf dem er selbst sich bewegt,unterworfen und ausgeliefert bleibt, dass er zwischen Engagement undDesinteresse, zwischen begeisterter Unterstützung und stiefmütterlicher

Vernachlässigung des Projekts hin und her wechselt, es mithin an dernötigen Resolution und Konsequenz fehlen lässt, und dass, allen unbe-streitbaren Fortschritten und zwischenzeitlichen Erfolgen, die das Projekterzielt, zum Trotz, es doch letztlich in dem Sinne zum Scheitern verurteiltist, dass es eher den Etat belastet und die Staatsverschuldung vergrößert,als seinen Zweck zu erfüllen und dem kapitalistischen Produktionsappa-rat des Landes neue Absatzgebiete zu erschließen, die gewinnbringendgenug wären, um dem Apparat auf lange Sicht sein Wachstum zu sichernund dem von solchem Wachstum auf fiskalischem Wege profitierendenStaat selbst seine flotten- und kolonialpolitischen Investitionen rentabel

werden zu lassen.Anders als der naturwüchsig-merkantile Sonderweg, den das insu-lare England einschlägt, reichen also die diversen planwirtschaftlich-merkantilistischen Maßnahmen, die die absolutistische Herrschaft auf dem Kontinent, maßgeblich das Staatswesen Frankreich, ergreift, nicht

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aus, um dem kapitalistischen Produktionsapparat des Landes kontinu-

ierliche und seinem Wachstum entsprechend zunehmende Export- undAbsatzchancen zu verschaffen. Egal ob darauf gerichtet, Konsumenten inden Nachbarstaaten zu rekrutieren und auf Kosten der europäischen Kon-kurrenten die eigene ökonomische Entwicklung voranzutreiben, oder obdarauf abgestellt, den als englischer Sonderweg quasi natürlich zustan-de gekommenen Drang nach Übersee und auf koloniale Märkte durchmaritime Anstrengungen von Staats wegen künstlich nachzuahmen, bieten jene Maßnahmen zwar Wachstumsimpulse und erzielen Erfolgeim Blick auf die Entwicklung der heimischen Manufaktur und Industrie,aber effektiv und prospektiv, durchschlagend und weitreichend genug,um der mit ihrer Hilfe gewachsenen Wirtschaftskraft den erforderlichenAnschub und den hinlänglichen Entfaltungsraum für ein selbsttätig undin eigener Regie fortgesetztes dauerhaftes Wachstum zu verleihen und zuerschließen, sind sie nicht.

Am Ende überfordern jene merkantilistischen Bemühungen vielmehrdie staatlichen Finanzen und tragen, weil ihr wenn überhaupt, so höchs-tens langfristig zu erwartender Nutzen für den Etat die letzterem kurz-und mittelfristig durch sie entstehenden Kosten nicht zu kompensie-ren vermag, bei zu der Verschuldung und dem Ruin, in die sich dasStaatswesen durch die Verschwendungssucht und Kriegslust, die Maßlo-sigkeit und Selbstüberhebung seiner absolutistischen Herrschaft ohnehin

getrieben sieht.Die staatlich betriebene beziehungsweise geförderte Suche nach Kon-

sumenten oder Märkten bei den europäischen Nachbarn und in der ko-lonialen Sphäre ist also weder eine dauerhafte noch eine ausreichendeLösung für das durch die Produktivkraft und die Ausbeutungsrate desheimischen kapitalistischen Produktionsapparats heraufbeschworeneund die konsumtive Leistungskraft der traditionellen, auf die Oberschichtund ihre Klientel beschränkten Abnehmergruppen überfordernde Ab-satzproblem. Da, was den merkantilen Sonderweg des insularen England betrifft, der Zug oder, besser gesagt, das Schiff für die kontinentalen

Staaten im Allgemeinen und die führende Kontinentalmacht Frankreichim Besonderen abgefahren ist, kann die Lösung nur in der Rekrutierungvon Konsumenten im eigenen Lande liegen.

In ihren merkantilistischen Bemühungen wenn auch nicht vollständiggescheitert, so doch an unüberwindliche Schranken stoßend, sieht sich

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die absolutistische Herrschaft auf die eigenen Untertanen und das Pro-

 blem der bei ihnen herrschenden krassen demographisch-numerischenDiskrepanz zwischen denen, die an den Früchten des kapitalistischenProduktionsapparats teilhaben, und denen, die von der Teilhabe weitge-hend oder vollständig ausgeschlossen sind, zurückverwiesen. Denn anlandeseigenen Rekruten für den Konsumentendienst fehlte es ja, wie be-reits oben konstatiert, so wenig, dass im Gegenteil das weit überwiegendeGros der Bevölkerung, die breite bäuerliche und handwerkliche Masseder Gesellschaft, jedenfalls was ihre subjektive Kondition, ihr Bedürfnisnach Befriedigungsmitteln angeht, für das Amt in Frage kommt!

Wie ebenfalls bereits festgestellt, scheiden freilich diese Massen als

ernsthafte Anwärter auf das Amt auch gleich wieder aus, weil es ihnenan der zweiten für das Amt erforderlichen Qualifikation, der objekti-ven Disposition für sie, der in allgemeinem Äquivalent bestehendenKaufkraft, mangelt. Und diesem Mangel lässt sich auch nicht einfachabhelfen, weil er, recht besehen, die Grundlage des ganzen vorhandenenMarktsystems bildet und also, wenn es ihn nicht gäbe, zwar vielleicht daszu lösende Absatzproblem sich erledigte, aber auch das System selbst, derMarkt in genere und sein kapitalistischer Produktionsapparat in specie,unmöglich gemacht und demnach eben den gesellschaftlichen Produkti-onsverhältnissen und darin implizierten Distributionsmechanismen der

Boden entzogen wäre, um deren Erhaltung willen die gesellschaftlichmaßgebenden Kräfte, die absolutistische Herrschaft und ihr höfischesGefolge ebenso wie die Marktbetreiber und ihre kapitalistische Klientel,doch gerade so eifrig um eine Lösung des durch die Produktivität undAusbeutungsrate des kapitalistischen Produktionsapparats heraufbe-schworenen Absatzproblems bemüht sind.

Schließlich sind es die von der Teilhabe am Marktsystem noch so gutwie vollständig ausgeschlossenen ländlich-bäuerlichen Gruppen, diedurch ihre Fronarbeit, eine Arbeit, die ihnen nichts als die karge Subsis-tenz belässt und das gesamte agrarische Mehrprodukt, das sie erzeugen,

den Grundherrn und Landeignern zuwendet, letztere als vermögendeOberschicht etablieren und erhalten und sie mitsamt ihrem Anhang indie Lage versetzen, für den Markt so lange Zeit und bis in die Ära seinerkapitalistischen Fundierung hinein die Rolle des Hauptkonsumentenzu spielen. Unbeschadet des zusätzlichen Reichtums, der in Gestalt des

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kolonialen Schatzes, in Form von unmittelbarem allgemeinem Äquiva-

lent, der adligen Oberschicht in die Hände fällt und dadurch zu einerentscheidenden Antriebskraft für die als ursprüngliche Akkumulationapostrophierte und in der Kapitalisierung der Produktionssphäre resul-tierende Entfaltung des Marktes wird – unbeschadet dieses in gewisserWeise ausschlaggebenden Quantums Reichtum, ist es das aus der bäu-erlichen Fronarbeit herausgepresste agrarische Mehrprodukt, das, vonden wachsenden und sich zu förmlichen Metropolen auswachsendenwirtschaftlichen Ballungszentren dringend benötigt, den landbesitzendenAdel und seinen absolutistischen Herrn, den Domänenbesitzer par excel-lence, zu immer wichtigeren Lieferanten für den Markt promoviert undihnen damit den dauerhaften Wohlstand sichert, der ihnen wiederum er-

möglicht, dem vom Markt kreierten kapitalistischen Produktionsapparatals – wenn auch am Ende seiner Aufgabe nicht mehr hinlänglich gewach-sener – Haupt- und Staatskonsument ebenso dauerhaft zu Diensten zusein.

Und wie die agrarisch-bäuerliche Fronarbeit der weltlichen und geistli-chen Oberschicht, den traditionellen Konsumenten, den Fundus ihrer an-haltenden Konsumkraft sichert, so verschafft die städtisch-handwerklicheLohnarbeit dem Markt das manufakturelle und industrielle Mehrpro-dukt, das die traditionellen Konsumenten mit ihrem Erlös aus der agra-rischen Fronarbeit und den zusätzlichen finanziellen Zuwendungen aus

der dank kolonialen Schatzes gut gefüllten absolutistischen Staatsscha-tulle bereitstehen, durch ihren Konsum in Mehrwert zu überführen unddamit für weitere Mehrwert schöpfende Lohnarbeitsprozesse, sprich, fürdie fortgesetzte Verwertung von Arbeitskraft, die kapitale Akkumulation,verfügbar zu machen. Dass dank der Produktivität, die der kapitalistischeProduktionsapparat entwickelt, und der Ausbeutungsrate, die ihm diegeschilderten sozialen Prozesse, zu denen es infolge jener Produktivitätkommt, ermöglichen – dass dank jener beiden Faktoren der kapitalisti-sche Produktionsapparat eine derartige Masse und Vielfalt von Güternhervorbringt, dass die traditionellen Konsumenten des Angebots nichtmehr Herr zu werden vermögen und sich das Marktsystem mit einem

Absatzproblem konfrontiert sieht, das sich nur durch die Rekrutierungweiterer und neuer Konsumentengruppen lösen lässt – dies alles ändertnichts an der grundlegenden Bedeutung, die der mittels Lohnarbeit be-triebenen Expropriation der in den kapitalistischen Produktionsapparatintegrierten Produzenten für das System zukommt!

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Und deshalb ist auch für alle im Marktsystem maßgeblich Engagierten be-

ziehungsweise einträglich an ihm Beteiligten, für die politische Herrschaftund die konsumierende Oberschicht nicht weniger als für die Kapitaleig-ner und Marktbetreiber, eine Lösung des Problems durch Zurücknahmeoder Einschränkung der mittels städtisch-handwerklicher Lohnarbeit betriebenen Expropriation ebenso ausgeschlossen, wie eine Problemlö-sung durch Abschaffung oder Ablösung der mittels agrarisch-bäuerlicherFronarbeit praktizierten Expropriation jenseits des Vorstellungshorizontsder Betreffenden liegt. Das Gros der Bevölkerung, das Ensemble ausländlich-bäuerlichen und städtisch-handwerklichen Arbeitskräften, stehtfür die Konsumentenrolle also nicht zur Verfügung, weil ihr vollständi-ger beziehungsweise weitgehender Mangel an allgemeinem Äquivalent,der objektiven Disposition für die konsumtive Teilnahme am Markt,konstitutiv ist für das Funktionieren und den Erfolg des durch den ka-pitalistischen Produktionsapparat unterfütterten Marktsystems selbstund nämlich conditio sine qua non zum einen für das nach der sub-sistenziellen Versorgung der Produzenten auf dem Markt verbleibendeMehrprodukt und zum anderen für die – wenn auch nachgerade unzu-längliche – Kaufkraft ist, die gebraucht wird, um jenes Mehrprodukt alsin die weitere und erweiterte Warenproduktion investierbaren Mehrwert,Kapital, zu realisieren.

Wenn aber das Gros der Bevölkerung als Anwärter auf die Konsumen-tenrolle von vornherein, weil systematisch, ausscheidet und wenn dochangesichts der Schwierigkeiten, auf die das merkantilistische Werbenum Konsumenten, die Rekrutierung von ausländischen Abnehmern,stößt, das System sich bei seiner Suche nach geeigneten Kandidaten aneben diese landeseigene Bevölkerung verwiesen sieht, woher sollen dieGesuchten dann eigentlich kommen? Woher nehmen und nicht stehlen?

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Eine gewisse Entschärfung der Absatzsituation durch Schaffung neuer Konsu-

mentengruppen findet statt, weil die Entstehung städtischer Ballungszentrenund die Entfaltung des kapitalistischen Produktionsapparats ein agrarischesPächterwesen und ein kapitaleigenes Administrationssystem zur Folge hat, diein der Bildung eines provinziellen und metropolitanen Mittelstandes resultieren.Dieser neue Mittelstand bringt aber nur eine Entschärfung, nicht etwa dieLösung des Absatzproblems, weil die durch ihn bewirkte Umverteilung bezie-hungsweise Umschichtung von Kapital nie so weit gehen kann, dass sie das

 Akkumulationsprinzip außer Kraft setzte.

Ganz so starr und unflexibel freilich, wie hier suggeriert, sind die Fron-ten denn doch nicht, ganz so dichotomisch und unverrückbar stehensich akkumulierende Kapitaleigner und Marktbetreiber und konsumie-rende Oberschicht auf der einen Seite und expropriierte Unterschichtauf der anderen Seite doch nicht gegenüber. Eine gewisse Fluktuationvon unten nach oben, mit der Nebenwirkung einer Rekrutierung neuerKonsumenten, einer Erweiterung des Abnehmerkreises für das vom kapi-talistischen Produktionsapparat in die Welt gesetzte Mehrprodukt, bringtdie Entwicklung des kapitalistisch fundierten Marktsystems durchausmit sich.

Da sind zum einen die neuen Konsumentengruppen auf dem Land,die entstehen, weil das der Landflucht und dem Arbeitskräftebedarf 

des kapitalistischen Produktionsapparats geschuldete relative Wachs-tum der ökonomischen Ballungszentren und die in den Fortschrittender Hygiene und Medizin sowie im proletarischen Fortpflanzungsreflex begründete absolute Zunahme der städtischen Bevölkerung zu einerverstärkten Nachfrage nach landwirtschaftlichen Erzeugnissen führen,die unternehmende Individuen aus dem niederen Landadel und auchaus dem Bauernstand nutzen können, um durch eine im großen Maßstab betriebene agrarische Produktion, die durch verbesserte Anbaumethodenhöhere Erträge erzielt, zu Wohlstand oder gar Reichtum zu gelangen. DieLandflächen, die sie für diese, nicht zwar was die technische Ausrüstung

angeht, wohl aber was die Rationalisierung der Produktionsbedingungenund die Organisation der Arbeit betrifft, dem manufakturellen bezie-hungsweise industriellen Betrieb abgeschaute Produktion im großenMaßstab brauchen, pachten sie bei den großen Grundherren, bei Adelund König.

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Diese erhalten dafür, dass sie den Pachtnehmern ihre Besitzungen oder

Domänen ganz oder teilweise zur agrarischen Nutzung überlassen, inGestalt des Pachtzinses eine Grundrente, die im Zweifelsfall dank derverbesserten und rationalisierten Anbaumethoden der Pachtnehmer denGewinn übersteigt, den sie durch eigene Bewirtschaftung aus ihren Gü-tern ziehen könnten. Während sie dank der ihnen von den Pächterngarantierten Grundrente des Müßiggangs pflegen und sich unbekümmertdem höfischen Leben und dem Konsum widmen können, erzielen auchdie Pächter selbst dank ihrer verbesserten und rationalisierten Anbaume-thoden und wegen der von den städtischen Zentren ausgehenden starkenNachfrage nach ihren Erzeugnissen hohe Gewinne und erreichen einendem Konsumstatus und Luxus der adligen Oberschicht zwar weder imsozialen Prestige noch in der materialen Ausführung ebenbürtigen, aberdoch angenäherten und vergleichbaren Lebensstandard und Wohlstand.

Und da sind zum anderen die neuen städtischen Konsumentengrup-pen, die als direkte Folge des Auf- und Ausbaus des kapitalistischenProduktionsapparats in Erscheinung treten. In dem Maße, wie der Ap-parat wächst und sich ebenso sehr strukturell entfaltet wie funktionellvervielfältigt und der von ihm belieferte Markt sich entsprechend aus-dehnt und ausfächert, in dem Maße, wie neue Fabriken und Werkstättenentstehen und gleichermaßen in ihrem betrieblichen Zusammenhangund in ihren kommerziellen Beziehungen immer umfangreicher und

komplizierter werden, wächst auch das Bedürfnis nach Verwaltungskräf-ten, nach Personal, das jene Zusammenhänge und Beziehungen stiftet,überschaut, steuert und kontrolliert. Es entsteht ein dem Produktions-apparat und dem Zirkulationssystem, das seine Produkte vermarktet,korrespondierender und ihm nach Umfang und Differenzierung gemäßerAdministrationsapparat aus Organisatoren, Buchhaltern, Kontrolleuren,Instrukteuren, Spediteuren, Handelsvertretern, Rechtsberatern, öffentli-chen Interessenvertretern, kurz, Funktionären aller Art.

Funktionäre sind diese Mitarbeiter in eben dem Sinne, dass sie nichtproduktiv, sondern administrativ wirken, dass ihres Amtes nicht die

Funktionstätigkeit des Betriebes, nicht der Einsatz für seine Realität undFaktizität, sondern seine Funktionsfähigkeit, die Sorge um seine Ratio-nalität und Effektivität ist. Als administrative Funktionäre stehen die-se Gruppen auf der Seite des kapitalen Subjekts selbst und damit denvon diesem ebenso sehr substituierten wie integrierten realen Subjekten,

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den produktiven Arbeitskräften, gegenüber, sind sie keine Lohnarbei-

ter, sondern eben Mitarbeiter des kapitalen Subjekts, keine gegen LohnEingestellten, sondern gegen Gehalt Angestellte. Sie sind Agenten derKapitaleigner und Marktbetreiber oder, wenn man so will, Unteragen-ten der Agenten des kapitalen Subjekts, denen sie dabei behilflich sind,die Kapitalfaktoren, die Produktionsmittel und Arbeitskräfte im Sinnedes kapitalen Akkumulations- und Verwertungsprinzips, das heißt, mitdem Ziel einer größtmöglichen Produktivität der ersteren und weitest-gehenden Ausbeutung der letzteren zu organisieren, einzusetzen und zukontrollieren.

Die Loyalität und das Engagement dieser für die Funktionsfähigkeitdes kapitalen Produktionsapparats und seiner Zirkulationseinrichtung,des Marktes, in dem Maße, wie beide sich strukturell entfalten und funk-tionell komplizieren, immer wichtiger werdenden administrativen Mit-arbeiter lässt sich das kapitale Subjekt etwas kosten: Nicht nur nominellunterscheidet es das Gehalt, das sie von ihm empfangen, von dem Lohn,den es den Arbeitern zahlt, auch reell, in der Höhe der Summe, lässt esdeutlich werden, dass es die Zahlung nicht als Abfindung für im Sys-tem verrichtete und zu seiner Essenz, der Wertschöpfung, beitragendeproduktive Arbeit, sondern als Vergütung für dem System als solchemgeleistete und seine Existenz, den Verwertungsprozess selbst, sicherndeadministrative Dienste betrachtet.

Tatsächlich erfüllt, was das kapitale Subjekt beziehungsweise dessenAgenten ihren administrativen Mitarbeitern zahlen, eher den Tatbestandeiner veritablen Gewinnbeteiligung als den einer dem Arbeitslohn ver-gleichbaren Aufwandsentschädigung. Was das kapitale Subjekt durchSteigerung der Produktivität und Erhöhung der Ausbeutungsrate anLohn einspart und mithin als seinen Gewinn verbuchen kann, daran beteiligt es die administrativen Mitarbeiter, die jene Einsparungsmaßnah-men planen, durchführen und überwachen, jene Strategien zur Senkungder Produktionskosten organisieren, exekutieren und kontrollieren.

Und diese wegen ihrer besonderen Stellung zum kapitalen Subjekt,

wegen der Bedeutung, die sie für die Funktionsfähigkeit und Effektivi-tät des kapitalen Produktionsapparats und Zirkulationssystems haben, besonders dotierten und in ihrem Lebensstandard dem Status der tra-ditionellen Konsumentenschichten relativ angenäherten Mitarbeiter, diein den wirtschaftlichen Ballungszentren entsprechend dem Wachstum

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Fachkräften, die beiden Gruppen bei der konsumtiven Verwendung ihres

relativen Wohlstands zur Hand gehen, bestehende Mittelstand übt imBlick auf das dank Produktivkraft und Ausbeutungsrate des kapitalisti-schen Produktionssystems wachsende Absatzproblem, das der absolu-tistische Staat, wie seine merkantilistischen Bemühungen zeigen, als dasmittlerweile zentrale Problem der seine Herrschaft fundierenden kapi-talistischen Produktionsweise erkennt, eine durchaus heilsame Wirkungaus. Durch die Konsumkraft, die objektive Disposition zum Konsum,über die er dank seiner Beteiligung an den Erträgen aus der Grund-rente beziehungsweise an den Profiten des manufakturellen respektiveindustriellen Kapitals verfügt, sowie die Bedürfnisse, die subjektive Kon-dition zum Konsum, die er als sozialer Aufsteiger mitbringt, sorgt erfür das, was im Blick auf das dem kapitalistischen Produktionsappa-rat ins Haus stehende Absatzproblem am dringendsten gebraucht wird– eine Erweiterung des traditionell auf die Oberschicht beschränktenKonsumentenkreises, eine Verteilung des Geschäfts, die durch den Pro-duktionsapparat erzeugten materialen Güter in ihrem Wert zu realisieren,auf mehr Schultern, besser gesagt, auf zahlreichere Körper, Münder, Au-gen, Nervensysteme.

Freilich taugt diese neue, der Entfaltung des kapitalistischen Produk-tionssystems selbst direkt oder indirekt entspringende mittelständischeKonsumentenschicht nur dazu, das Absatzproblem zu entschärfen, ihm

seine Dringlichkeit und imminente Bedrohlichkeit zu nehmen, nicht etwa,es tatsächlich zu bewältigen, es als solches zu lösen. Recht besehen näm-lich ist diese Verteilung der Konsumkraft auf einen umfänglicheren unddurch den konsumtiven Nachholbedarf, den der Mittelstand mitbringt,aufnahmefähigeren Konsumentenkreis ja nicht einer wirklichen Zunahmeoder Steigerung der Konsumkraft, nicht einem wirklichen Zufluss vonallgemeinem Äquivalent aus marktexternen Quellen, sondern bloß einerUmverteilung vorhandener Konsumkraft einerseits und einer Umschich-tung im Verhältnis zwischen Produktionskosten und Profit andererseitsgeschuldet.

Ersteres ereignet sich bei der Bildung des auf dem Pachtwesen ba-sierenden provinziellen Mittelstandes: Indem die Pächter die Güter desAdels und die fürstlichen Domänen pachten und in eigener Regie be-wirtschaften, ziehen sie Gewinn aus der Grundrente, der Haupteinnah-mequelle der traditionellen Oberschicht, das heißt, sie bewirken eine

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Umverteilung vorhandener und bis dahin der Oberschicht vorbehaltener

Kaufkraft. Dass die Pächter durch verbesserte Anbaumethoden und ra-tionelleren Einsatz bäuerlicher Arbeit die Grundrente steigern und diedem Boden entzogene Konsumkraft um den Anteil der Grundrente, derin ihren Händen verbleibt, vergrößern, steht dabei außer Frage, ändertaber nichts daran, dass hier letztlich nur eine Umverteilung vorhandenerKaufkraft stattfindet, weil die der Grundrente in Gestalt der Pächterge-winne vindizierte Vergrößerung ja nur dadurch zustande kommt, dassdie Pächter ihr im Vergleich mit dem traditionellen Anbau vermehrtesProdukt in den städtischen Ballungszentren zu Markte tragen und inseinem Wert realisieren können, und also nichts anderes darstellt, als eine

kommerzielle Überführung von Anteilen der im Rahmen des kapitalis-tischen Produktionsapparats erarbeiteten Löhne und erwirtschaftetenGehälter in die Verfügung des agrarischen Pachtwesens und des vondiesem getragenen provinziellen Mittelstandes.

Eher um eine Umschichtung als um eine Umverteilung von Kauf-kraft handelt es sich hingegen bei der zweiten, in einer Erweiterungdes traditionellen Konsumentenkreises resultierenden sozialen Entwick-lung – der im Bereich der wirtschaftlichen Ballungszentren selbst vorsich gehenden Bildung eines relativ gut dotierten Mitarbeiterstabes inDiensten des kapitalistischen Produktionsapparats und eines diesem Mit-

arbeiterstab bei der Entfaltung eines seinem Gehalt gemäßen Lebensstilszur Hand gehenden städtischen Mittelstandes. Von Umschichtung stattvon Umverteilung wird in diesem Fall deshalb gesprochen, weil ja nichtvorhandene Konsumkraft, allgemeines Äquivalent in Verbraucherhandnur von einer Hand in die andere verlagert, der einen Konsumenten-gruppe entzogen und einer anderen zugewandt wird, sondern weil hiervorhandene Investitionskraft, allgemeines Äquivalent in der Verfügungdes Produktionsapparats, sprich, Kapital, dem Apparat entzogen undKonsumenten zugewendet wird. Dafür, dass jener administrative Mitar- beiterstab des kapitalistischen Produktionsapparats und des Marktes dem

kapitalen Subjekt beziehungsweise seinen Agenten dabei hilft, Produk-tion und Distribution zwecks Maximierung des Profits zu organisieren,durchzuführen und zu kontrollieren, wendet ihm das kapitale Subjekt beziehungsweise wenden ihm dessen Agenten einen Teil des Profits alsGehalt zu, als eine Gewinnbeteiligung, die sowohl ihrer Höhe als auch

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ihrer Funktion nach eher als Vergütung oder Erfolgsprämie denn als

Entschädigung oder Arbeitslohn zu verstehen ist.Diese Zuwendung aber führt nolens volens zu einer Senkung der Inves-titionsrate und damit einer Verlangsamung des Wachstums des kapita-listischen Systems: Was vom Profit die exekutiven Agenten des kapitalenSubjekts, die industriellen und kommerziellen Unternehmer, dessen ad-ministrativen Unteragenten, ihrem in Korrespondenz zum System selbstsich erweiternden Mitarbeiterstab zuwenden, das können sie nicht inneue und erweiterte Produktionsprozesse investieren, sprich, als Kapitalverwenden, sondern es tritt ihnen im Gegenteil als Anspruch an denMarkt, als Konsumkraft, entgegen. Statt in weitere oder neue, Mehrwertin Gestalt von Mehrprodukt schöpfende Produktionsprozesse fließenzu können, findet sich der dem Mitarbeiterstab des kapitalen Subjektsüberlassene Teil des Profits, das allgemeine Äquivalent also, das jeneMitarbeiter für ihre administrativen Dienste erhalten, aus potenziellemKapital in aktuelles Geld, sprich, in ein Austauschmittel überführt, mitdem diejenigen, die über es verfügen, zu Markte gehen, um dort bereitsvorhandenes Mehrprodukt zu konsumieren und den darin steckendenMehrwert zu realisieren, zu erlösen, und also aus Sicht eines zunehmendmit dem Problem, das auf ihm sich sammelnde Mehrprodukt abzuset-zen, es in seinem Mehrwert zu realisieren, konfrontierten Marktes einenBeitrag zur Problemlösung zu leisten.

Genau in dieser Umschichtung von geschöpftem Wert, dieser Überfüh-rung von produktivem Kapital in konsumtives Geld, liegt die segensrei-che, zur Entschärfung der Absatzsituation auf dem Markte beitragendeWirkung der Erweiterung der traditionellen Konsumentenschicht durchdie neuen, vom kapitalistischen Produktionsapparat und vom Marktsys-tem selbst gestellten und mit Kaufkraft ausgestatteten, mittelständischenGruppen. Indem diese Gruppen durch die Gewinnbeteiligung, die siesei’s direkt als administrative Mitarbeiter des kapitalistischen Systems,sei’s indirekt als die neuen konsumtiven Ansprüche dieser Mitarbeitererfüllende Dienstleister vom kapitalen Subjekt erhalten, uno actu das

Wachstum des Produktionsapparats verlangsamen und den auf demMarkt bereits vorhandenen Überfluss an Produkten reduzieren, stellen siedas entscheidende Korrektiv dar, das im Blick auf die dem Produktions-apparat durch seine Produktivität und seine Ausbeutungsrate drohendeAbsatzkrise das System selbst und aus eigener Kraft aufzubieten vermag.

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Entscheidendes Korrektiv ist der durch Umschichtung von kapitalem

Investitionsvermögen in kommerzielle Konsumkraft auf den Plan geru-fene städtische Mittelstand übrigens auch in dem Sinne, dass sein länd-liches Gegenstück, der im Zusammenhang mit dem agrarischen Pacht-wesen entstehende provinzielle Mittelstand, recht besehen, ihm seineExistenz verdankt und sich als seine bloße Weiterung oder Folgeerschei-nung betrachten lässt. Zwar verdankt sich formell dieser ans Pächter-wesen anschießende provinzielle Mittelstand einer Umverteilung vonKonsumkraft durch Beteiligung an der Grundrente und ist insofern eineigenständiges Phänomen. Aber weil diese mittels Pachtwesen effek-tuierte Beteiligung an der Grundrente ja einhergeht mit und in der Tat

 begründet ist in einer durch die veränderten Produktionsmethoden derPächter erzielten massiven Erhöhung der agrarischen Produktion, ei-ner nachdrücklichen Steigerung des Ertrags, den der herrschaftliche Bo-den abwirft, und weil gleichermaßen der Auslöser für die gesteigerteAgrarproduktion und die Voraussetzung dafür, dass sich das Mehr anlandwirtschaftlichen Produkten als erhöhte, Gewinn für die Pächter ab-werfende Grundrente realisieren lässt, die Nachfrage in den städtischenBallungszentren, das dort wachsende Bedürfnis nach der subsistenziellenVersorgung beziehungsweise konsumtiven Belieferung mit Lebensmittelnist, erweist sich, reell genommen, jene mit dem Pachtwesen verknüpfte

Erhöhung der Grundrente, die das provinzielle Pendant zum neuen Mit-telstand der wirtschaftlichen Ballungszentren ins Leben ruft, als Resultateiner einfachen Umverteilung, der zufolge ein gemäß dem Wachstumdes kapitalistischen Produktionsapparats und seines Marktsystems grö-ßer werdender Teil der von letzteren gezahlten Löhne und Gehälter,ein wenn schon nicht relativ, so jedenfalls doch absolut wachsender Teilmithin der manufakturell und industriell geschöpften Wertsumme aufsLand fließt und den dort als Pächterstand wirtschaftenden Agrarprodu-zenten und ihrer mittelständischen Klientel zu einem im Vergleich mitder subsistenziellen Armut, die ansonsten auf dem Lande herrscht, mit

der traditionellen Not der fronwirtschaftlich ausgebeuteten bäuerlichenBevölkerung, beachtlichen Wohlstand verhilft.Egal aber, wie sich neuer metropolitaner und provinzieller Mittelstand

zueinander verhalten, egal, ob letzterer ein eigenständiges Phänomenoder nur ein Ableger des ersteren ist, bloßes Ergebnis einer sekundären

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Umverteilung von kapitalem und kommerziellem Mehrwert, der pri-

mär in den wirtschaftlichen Ballungszentren, in der Sphäre des kapi-talistischen Produktionsapparats und seines Marktes, umgeschichtet,sprich, aus Investitionsvermögen in Kaufkraft überführt, der produktivenVerwendung entzogen und zur Vergütung systemspezifischer adminis-trativer Leistungen verwendet wird – beide sozialen Gruppen zusam-men haben jedenfalls diesen gemeinsamen und ihre Apostrophierungals neuer Mittelstand rechtfertigenden Effekt, auf Kosten des industri-ellen Wachstums die soziale Konsumkraft zu stärken, gleichzeitig dieInvestitionstätigkeit, den Einsatz von Mehrwert als Kapital, als Mittelzur Ausweitung der Produktion, zu verlangsamen und die konsumti-ven Aktivitäten, die Verwendung von Mehrwert als Geld, als Mittel zuvermehrter Bedürfnisbefriedigung, zu befördern, und erweisen sich sodurch ihre schiere Existenz als systemeigener Beitrag zur Bewältigung desdurch die Produktivkraft und Ausbeutungsrate des Systems heraufbe-schworenen und letzterem wie ein Schatten an den Fersen klebenden, wonicht gar bei ungünstiger Konstellation der Gestirne in den Weg tretendenAbsatzproblems.

Kraft seiner Teilhabe am Vermögen der traditionellen, grundbesitzen-den Oberschicht und am Gewinn des kapitalistischen Produktionsap-parats beziehungsweise, wenn unsere vorangegangenen Überlegungenzutreffen, seiner direkten und indirekten Teilhabe an letzterem bewirkt

 jener aus metropolitanen und provinziellen Elementen kombinierte undrein ökonomisch generierte Mittelstand das, was oben als Mittel gegendie von der Produktivkraft und Ausbeutungsrate des kapitalistischenProduktionsapparats her drohenden Absatzprobleme gefordert wurde –eine Rekrutierung neuer Kaufkraft und Verbreiterung der das Wertrea-lisierungsgeschäft tragenden demographischen Basis, eine Erweiterungder traditionellen Konsumentenschicht um landesinterne Gruppen, diesowohl über die objektive Disposition zum Konsum, über allgemeinesÄquivalent, verfügen als auch die subjektive Kondition dazu, sprich,hinlänglich unbefriedigte Bedürfnisse, mitbringen. Und weil solche Re-

krutierung neuer Kaufkraft eben zu Lasten der Investitionskraft des ka-pitalistischen Produktionsapparats geht und dessen Wachstum verlang-samt, erweist sich dieser als Mittel gegen drohende Absatzproblemewirksame neue Mittelstand gleich als doppelt funktionstüchtig und kannmit Fug und Recht Anspruch darauf erheben, einen unverzichtbaren

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Beitrag zur Entschärfung jenes Absatzproblems und Vertagung der in

der letzten Konsequenz des Problems zu erwartenden, systembedrohendumfassenden Absatzkrise zu leisten.Wohlgemerkt, nur eine Entschärfung beziehungsweise Vertagung des

Absatzproblems vermag dieser neue, systemgenerierte Mittelstand zu bewirken, nicht etwa die Lösung und endgültige Bewältigung des Pro- blems. Für seine administrative Mitwirkung im kapitalistischen Produk-tionsapparat, seinen logistischen Beitrag zur Versorgung der städtischenZentren mit Lebensmitteln und seine das eigene Wohlbefinden betref-fenden sekundären Dienstleistungen direkt und indirekt dotiert wirdder systemgenerierte Mittelstand ja nur mit einem Teil des bereits ge-schöpften und als solcher realisierten Mehrwerts, während der Rest, das,was nach der Vergütung der neuen sozialen Gruppe übrig bleibt, demKapital einverleibt und seiner verwertungslogischen Bestimmung, durchInvestition in materiale Produktionsprozesse weiteren, als Mehrproduktverkörperten Mehrwert zu schöpfen, zugeführt wird.

Und dass für jene Weiterverwertungsbestimmung genug übrig bleibt,dass nicht etwa alles für jenen Vergütungszweck drangegeben wird, dafürsorgt das als Grundmotiv des Systems firmierende kommerzielle Akku-mulationsprinzip, mit dem, eben weil es die entscheidende Triebkraftdes Systems bildet, letzteres steht und fällt: Bliebe kein Mehrwert mehrzurück, um weiteren Mehrwert zu hecken, erreichte das Kapital also denPunkt, wo es aufgrund der finanziellen Beteiligung der an seinen Produk-tionsprozessen funktionell Beteiligten selber nichts weiter zurückbehielteals die für seine einfache Reproduktion erforderlichen Geldmittel, keinMehrprodukt mit anderen Worten zurückbehielte, dessen Realisierungals Mehrwert das Engagement marktfremden allgemeinen Äquivalentserforderte und das sich eben deshalb als ad usum capitalis bestimmter,dem Zweck der eigenen Vermehrung geweihter, kurz, sich selbst ver-wertender Wert erwiese, die kapitalistische Produktionsweise verlörein der Tat ihren innersten Beweggrund und der ganze kapitalistischeProduktionsapparat gäbe seinen Geist auf und käme zum Erliegen.

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Nach dem Vorbild des administrativen Ausbaus des kapitalistischen Produkti-

onsapparats macht sich die absolutistische Herrschaft an den Auf- und Ausbaueines bürokratischen Staatsapparats und leistet so ihren Beitrag zur Stärkung der gesellschaftlichen Konsumkraft durch Schaffung eines bürgerlichen Mittelstands.So sehr jener Ausbau des Staatsapparats politisch gerechtfertigt erscheint, so sehrist er doch zugleich ökonomisch motiviert, wie der Vergleich zwischen Frankreichund England lehren kann.

Die Entstehung des neuen, systemgenerierten Mittelstands kann alsodas Wachstum des kapitalistischen Produktionsapparats bei Strafe derLähmung und Stillstellung des Apparats nur verlangsamen, nicht an-halten und in einen äquilibristischen Ruhezustand versetzen. Und am

Ende gelingt diese Verlangsamung des Akkumulationsprozesses undVerbesserung der Absatzsituation auf dem Markt dem neu entstehenden,systemgenerierten Mittelstand nicht einmal sonderlich gut, weil ja gleich-zeitig die Hauptfaktoren für das Wachstum des kapitalistischen Produk-tionsapparats, die Steigerung der Produktivität und die Ausbeutung derArbeitskraft, weiterhin ihre Wirkung tun und aufgrund dessen ein nichtunbeträchtlicher Teil der dem neuen Mittelstand zufließenden Geldmit-tel den Mehrwert gar nicht belasten und seine gegebene Rate gar nichtsenken kann, weil er durch diesen beiden Expropriationsmechanismengeschuldete fortschreitende direkte und indirekte Einsparungen bei den

Arbeitslöhnen, vorübergehende und dauerhafte Senkungen der persona-len Produktionskosten aufgebracht wird. Der systemstabilisierende Effektder Erweiterung des die adlige Oberschicht umfassenden traditionellenKonsumentenkreises durch einen systemeigenen, aus administrativenMitarbeitern, Lebensmittellieferanten und professionellen Dienstleistern bestehenden bürgerlichen Mittelstand steht also zwar außer Frage, hältsich aber letztlich in engen Grenzen.

In Sachen Systemstabilisierung wichtiger als dieser unmittelbare Effekterweist sich indes die mittelbare Wirkung, die der neue, vom kapita-listischen Produktions- und Marktsystem selbst generierte Mittelstanddadurch ausübt, dass er die nach Wegen, der heimischen Wirtschaft einen

ihrem Wachstum angemessenen Markt zu sichern, suchende absolutis-tische Herrschaft auf Gedanken bringt, dem zentralistischen Staat einBeispiel gibt. Frustriert durch die nur begrenzte Wirksamkeit beziehungs-weise relative Ineffektivität seiner merkantilistischen Förderungsstra-tegien und Unterstützungsmaßnahmen, lässt sich der Staat durch die

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Entstehung jener vom Kapital generierten neuen mittelständischen Grup-

pen inspirieren und beginnt seinerseits, neue, mit administrativen Funk-tionen beziehungsweise Dienstleistungsaufgaben betraute Gruppen insLeben zu rufen und direkt oder indirekt so zu dotieren, so mit Kaufkraftauszustatten, dass sie die Erweiterung des landeseigenen Konsumenten-kreises voranzutreiben und ihren Beitrag zur Entlastung des Marktes,sprich, zur Bewältigung der durch die Produktivität und Ausbeutungs-intensität des kapitalistischen Produktionsapparats heraufbeschworenenAbsatzprobleme, zu leisten vermögen.

Schließlich verfügt die absolutistische Herrschaft ja über eine demProduktionsapparat, den das Kapital betreibt, wenn auch nicht funktio-nell, so doch institutionell vergleichbare Einrichtung, den zentralistischenStaatsapparat, und auch der kann, um weiter zu funktionieren und denwegen des ökonomischen und demographischen Wachstums der Gesell-schaft, ihrer organisatorischen Umgestaltung und der Vervielfältigungihrer Institutionen steigenden Anforderungen an Verwaltung, Steuerungund Kontrolle zu genügen, mehr Administratoren und neue Funktionäregut gebrauchen, auch der lässt sich mit anderen Worten nutzen, umGehaltsempfänger, vergleichbar den Mitarbeitern und Dienstleistern deskapitalen Subjekts, nur eben jetzt staatlich dotiert, in die Welt zu setzenund durch den gouvernemental betriebenen Ausbau jenes vom Kapitalgenerierten Mittelstands dessen entlastende Rolle für den Markt zu ver-

stärken, der wenn schon nicht heilbringenden Lösung, so immerhin dochsegensreichen Entschärfung des den kapitalistischen Produktionsappa-rat progressiv heimsuchenden Absatzproblems, die jener Mittelstanddurch seine relativ kaufkräftige Existenz darstellt, größere Wirksamkeitzu verleihen.

Die Frage freilich ist, wie und mit welchen Mitteln dieser Ausbau desStaatsapparats, diese politische Maßnahme, und der dadurch erzielteökonomische Effekt, die Rekrutierung neuer Konsumenten und Verbesse-rung der Absatzsituation auf dem heimischen Markt, finanziert werdenkann. Zwar ist klar, woher die Finanzmittel für den Ausbau des Staats-

apparats kommen müssen: Wie gesehen, verdankt die absolutistischeHerrschaft im Wesentlichen ihren Etat, sich selbst also, wenn man so will,der Teilhabe an den handelskapitalen beziehungsweise manufaktur- undindustriekapitalen Gewinnen, den zunehmend fiskalisch kodifizierten,als Steuern und regelmäßige Abgaben etablierten Zuwendungen, die

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der Markt und der unter seiner Regie sich entfaltende kapitalistische

Produktionsapparat ihr machen. Wie schon ihren Aufstieg, so verdanktdie absolutistische Herrschaft auch ihr Bestehen dem Bündnis mit demkommerziellen und im Effekt seiner ursprünglichen Akkumulation sichdurch Investition in die Produktionssphäre zum manufakturellen be-ziehungsweise industriellen mausernden Kapital, einem Bündnis, unterdessen Bedingungen der Fürst dem Kapital politische Förderung ange-deihen lässt und ihm neue Entfaltungsräume und Investitionschanceneröffnet und dafür von seinem Schützling mit den erforderlichen Fi-nanzmitteln versorgt wird, um durch militärische Aktionen, politischeGeschäfte und diplomatische Manöver sich seiner feudalen Bindungenund Verpflichtungen zu entledigen, sich vom regionalen primus interpares und Machthaber zum territorialen Souverän und Landesherrn auf-zuschwingen und sich in dieser Position dauerhaft zu etablieren, sprich,durch eine bürokratisch-zentralistische Neuordnung der Gesellschaftseine absolutistische Herrschaft durchzusetzen.

Die wesentliche, wo nicht ausschließliche Geldquelle, die der absolu-tistischen Herrschaft für jenen zur Stärkung der Konsumkraft im Landegeeigneten Ausbau des Staatsapparats und der mit ihm verknüpftenDienstleistungsbranchen zur Verfügung steht, sind also die Steuern undAbgaben, die das Kapital an die Herrschaft entrichtet, die finanziellenZuwendungen, mit denen es sie an seinen Gewinnen teilhaben lässt. So

gesehen und rein ökonomisch betrachtet, lässt sich demnach die Finanzie-rung jenes die staatliche Administration und ihre Appendizes in SachenDienstleistung betreffenden Ausbaus ohne Weiteres der des geschildertenAuf- und Ausbaus eines dem kapitalistischen Produktionsapparat undseinem Distributionssystem, dem Markte, eigenen Kaders von Mitar- beitern und Dienstleistern vergleichen: Wie letztere kommt auch ersteredurch die Einspeisung von Kapital in den Konsum, die Umschichtungvon Investitionsvermögen in Kaufkraft zustande, nur dass es jetzt nichtdie Kapitalagenten selber sind, die diese Umschichtung vornehmen undfür ihre Zwecke nutzen, sondern dass sie mittels Entrichtung von Steuern

und Abgaben an den Staat die Umschichtungsaufgabe diesem übertra-gen, es ihm überlassen, nach seinem Ermessen und zu eigenen ZweckenKapital in Konsumkraft zu verwandeln.

Angesichts der, ökonomisch betrachtet, perfekten Parallele drängt sichhier freilich die Frage auf, wie der oben im Zusammenhang mit der

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systemeigenen Umschichtung erwähnten Gefahr, dass zuviel Investi-

tionsvermögen in Kaufkraft überführt, der Mehrwert von dem neuenadministrativen und dienstleistenden Mittelstand gewissermaßen aufge-fressen und dem Kapital seine Selbstverwertungsperspektive verschlagenwird, mithin sein als Akkumulationsprinzip perennierender Seinsgrundverloren geht – wie also dieser, ex negativo zumindest, oben an die Wandgemalten Gefahr zu begegnen ist, wenn nun auch noch der Staat ins Spielkommt und seine eigenen administrativen Ansprüche und Dienstleis-tungsbedürfnisse denen hinzufügt, die bereits der kapitalistische Produk-tionsapparat und sein Markt mittels des Kapitals und zu Lasten seinerGewinne zu befriedigen sucht. Muss nicht diese doppelte Belastung des

Kapitals durch einerseits den Produktionsapparat und andererseits denStaatsapparat, dieser von beiden Apparaten betriebene Auf- und Ausbaueines mittelständischen Kaders, der seine Verwaltungsfunktionen undDienstleistungen direkt beziehungsweise indirekt durch Anteile aus demMehrwertfundus des Kapitals, aus dessen für die Reinvestition und dasweitere Wachstum bestimmtem eigenstem Vermögen vergütet bekommt– muss nicht diese doppelte Belastung rasch zu einer Überforderung derLeistungskraft des Kapitals und letztlich zu seiner Lähmung führen?

Indes, unter den im Absolutismus auf der Höhe seiner Macht gege- benen Umständen geht solche Besorgnis fehl, zielt sie am eigentlichen

Problem vorbei! Tatsächlich braucht jene doppelte Belastung des Kapitals ja gar nicht erst als mit Paralyse drohender Prospekt an die Wand gemaltzu werden – sie findet bereits statt und wird vom kapitalistischen Pro-duktionsapparat und seinem Distributionssystem, dem Markt, mehr oderminder erfolgreich geschultert. Während mit anderen Worten das kapitaleSubjekt beziehungsweise seine Agenten in Menschengestalt durch dieKreation systemeigener Mitarbeiter und Dienstleister die Umschichtungvon Kapital in Kaufkraft vornehmen, die den erwähnten, eine gewisseEntlastung an der Konsumfront bringenden, neuen Mittelstand von Ka-pitals wegen ins Leben ruft, sind sie doch gleichzeitig gehalten, in Form

von Steuern und Abgaben der absolutistischen Herrschaft ihren gewich-tigen Anteil an den kapitalen Gewinnen zu entrichten und also auch jene zweite, nicht auf den Produktionsapparat beschränkte, sondern sichauf den Staatsapparat erstreckende Umschichtung zu vollziehen. BeideUmschichtungen sind also Fakt, finden bereits statt; die letztere muss

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nicht erst dem Kapital als neue Belastung abverlangt beziehungsweise

aufgebürdet werden.Das vordringliche Problem ist vielmehr, ob die letztere wirklich eineUmschichtung von Kapital in Kaufkraft darstellt, ob sie beim Staatsappa-rat einen der Wirkung, die sie im Produktionsapparat zeitigt, vergleichba-ren Effekt erzielt, ob sie also tatsächlich dazu dient, den administrativenund dienstleistenden Mittelstand, den der Produktionsapparat von sichaus generiert und durch den er den traditionellen Konsumentenkreismit letztlich mäßigem Erfolg erweitert, durch entsprechende, staatlichhonorierte Gruppen, Bürokraten und die sie versorgenden Dienstleister,zu ergänzen und auszubauen und damit die Entschärfung des Absatzpro- blems, das dem kapitalistisch unterfütterten Markt immer neu aufstößt,durch die weitere Streuung des in Konsumkraft umgeschichteten Kapi-tals und die Verteilung des Wertrealisierungsgeschäfts auf noch mehrSchultern erfolgreicher zu gestalten.

Dass auch die zugunsten der absolutistischen Herrschaft vorgenom-mene, auf fiskalischem Wege, mittels Steuern und Abgaben, vollzogeneUmschichtung von Kapital nicht ohne Rückwirkung auf die Konsumkraftund deren Stärkung bleibt, steht dabei außer Frage. Dafür sorgen schließ-lich die merkantilistischen Bemühungen der absolutistischen Herrschaft,sorgt jener Teil des sich aus der Umschichtung speisenden Etats, derin die Wirtschaftsförderungsmaßnahmen des Staates und seine dirigis-

tischen und infrastrukturellen Aufwendungen fließt, weil dadurch jazum einen ausländische Konsumenten rekrutiert und fremde Märktezugänglich gemacht werden und zum anderen durch die Löhne und Zu-wendungen für jene Maßnahmen und Aufwendungen Geld unters Volkgebracht und dessen Kaufkraft in wenn auch angesichts der niedrigenLöhne und der Fronarbeit, die bei den infrastrukturellen Vorhaben inAnwendung kommt, bescheidenem Maße verbessert wird. Da aber allediese staatlich-merkantilistischen Maßnahmen und Aufwendungen den janusköpfigen Charakter aufweisen, wie der Rekrutierung ausländischerKonsumenten und der Erschließung fremder Märkte, so gleichzeitig aber

auch dem Auf- und Ausbau der heimischen Produktionskapazitäten undder manufakturellen beziehungsweise industriellen Entwicklung desLandes dienen zu sollen, da also hier die Hilfestellung des Staats bei derBewältigung des Absatzproblems untrennbar mit der staatlichen Förde-rung des Wachstums des Produktionsapparats des Landes verknüpft ist,

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heben sich diese merkantilistischen Maßnahmen und Aufwendungen

in ihrer absatzfördernden Wirkung, die ja, wie gesehen, ohnehin hinterden Erwartungen zurückbleibt, selber auf und erweisen sich in dieserHinsicht als letztlich vergeblich.

Als ganz und gar nutzlos im Blick auf die Stärkung der gesellschaft-lichen Konsumkraft erweist sich indes der weit überwiegende Teil desEtats, das Gros des per Steuern und Abgaben umgeschichteten und derabsolutistischen Herrschaft zugewendeten Kapitals. Es bleibt, der Selbst-herrlichkeit und Repräsentationssucht des Souveräns, dem Pomp undPrunk seiner Hofhaltung und seiner Großmannssucht nach außen, seinerNeigung zu militärischen Abenteuern und zum Kräftemessen mit den benachbarten Potentaten gemäß, in den Händen einer vergleichsweisekleinen, aus dem höfischen Gefolge des Herrschers bestehenden, also derOberschicht, dem traditionellen Konsumentenkreis, angehörigen Gruppeund wird von dieser, vor allem aber vom Herrscher selbst, fürs Hofhalten,Repräsentieren und Kriegführen ausgegeben, für teure Prachtbauten,rauschende Feste, pompöse Schaustellungen und Spektakel, aufwendigeAusfahrten und Jagdgesellschaften, kostspielige Machtdemonstrationen,Rüstungen, Manöver und Kriegszüge verbraucht – für Zwecke also, die bei gewissen Produzenten, Lieferanten, Prokuranten oder Intendantenmächtig zu Buche schlagen und diesen große Gewinne bescheren, dieaber das ganz gewiss nicht leisten, was sie nach dem Beispiel der durch

den administrativen Ausbau des kapitalistischen Produktionsapparatsund seines Distributionssystems bewirkten Umschichtung von Kapital inKaufkraft leisten könnten: die Dotierung neuer, als Mittelstand firmieren-der sozialer Gruppen mit genügend allgemeinem Äquivalent, um durchihre konsumtive Betätigung in nennenswertem Maß zur Bewältigung derdurch die Produktivität und Ausbeutungsintensität des kapitalistischenProduktionsapparats immer wieder hervorgerufenen Absatzprobleme beizutragen.

Wenn diese in Luxus und Verschwendung resultierende Verwendungeines Großteils des absolutistischen Etats überhaupt eine ökonomische

Wirkung zeitigt, dann nicht etwa die einer Steigerung des Konsums, son-dern die einer Ankurbelung der Produktion, da ja die Produzenten undLieferanten, die von solchem Luxus und solcher Verschwendung haupt-sächlich profitieren, ihre exorbitanten Gewinne, soweit sie diese nichtihrerseits zu einem Leben in Luxus und Verschwendung verwenden, im

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Zweifelsfall in den kapitalistischen Produktionsapparat beziehungsweise

sein Distributionssystem investieren, um die dank Produktivität undAusbeutung dort winkenden weiteren Gewinnchancen zu nutzen undihren als Kapital wohlverstandenen Reichtum zu mehren.

Will also die absolutistische Herrschaft sich ernsthaft ein Beispiel ander im Produktionsapparat vor sich gehenden Bildung eines aus admi-nistrativen Mitarbeitern des kapitalen Subjekts und deren Dienstleis-tern bestehenden, vergleichsweise konsumkräftigen bürgerlichen Mit-telstands nehmen und durch entsprechende Entwicklungen im Staats-apparat, durch den Ausbau der Bürokratie und die darin beschlosseneFörderung freiberuflicher Dienstleister, diesen bürgerlichen Mittelstanddurch ein staatliches Pendant so ergänzen und vergrößern, dass er dentraditionellen Konsumentenkreis nachdrücklich zu erweitern und einenins Gewicht fallenden Beitrag zur Entschärfung der Absatzproblemedes Marktes zu leisten vermag, dann sind es eben jene dem Luxus undder Verschwendung zugewendeten Teile des Etats, eben jene in die hö-fische Repräsentation, in die Selbstinszenierung des Souveräns und indie symbolischen und praktischen Demonstrationen seiner Macht flie-ßenden Steuern und Abgaben, die ihr für solche Absicht zur Verfügungstehen und darauf warten, nach Maßgabe der letzteren umgewidmet undumverteilt zu werden.

Es geht also gar nicht primär darum, weitere Steuern und Abgaben zu

erheben und das manufakturelle und industrielle Kapital durch fiskali-sche Umschichtungen zusätzlich zu belasten, sondern was nottut, umeinen Beitrag zur Verbesserung der Absatzsituation jenseits aller mer-kantilistischen Bemühungen zu leisten, ist die ökonomisch sinnvollereVerwendung der bereits erhobenen Steuern und Abgaben, ein konsum-förderlicherer Einsatz des der absolutistischen Herrschaft zur Verfügungstehenden Etats. Die absolutistische Herrschaft muss mit anderen Worten,will sie dem Beispiel des kapitalistischen Produktionsapparats folgen,zu Lasten ihrer demonstrativen Verschwendungssucht, ihres repräsen-tativen Luxuslebens und ihres aggressiven Muskelspiels Etatmittel für

die Schaffung und Erhaltung neuer beziehungsweise erweiterter undvermehrter Behörden und Verwaltungsstellen verwenden und damit jenen Weg einschlagen, der aus der Institution des Staates überhaupt ersteinen Apparat im eigentlichen Sinne werden lässt und der am Ende dasepiphanische Spektrum, als das sich die Staatsmacht vor der Neuzeit

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manifestiert, in das bürokratische Monstrum verwandelt, als das sich die

Staatsapparate heute allenthalben darbieten.Und genau das tut sie, genau diesen Weg schlägt die absolutistischeHerrschaft im achtzehnten Jahrhundert ein! Dadurch dass sie Etatmit-tel einsetzt, um in staatlicher Regie und unter staatlicher Leitung oder jedenfalls unter staatlicher Lenkung und Kontrolle gesellschaftliche Pro-fessionen und Verwaltungsressorts wie Hygiene, Ordnungskräfte undOrdnungsämter, Rechtspflege und Strafanstalten, Bildung und Erzie-hung, Kunsteinrichtungen, Zensus, Gewerbe-, Bau-, Straßen- und Gewäs-seraufsicht, Arbeitshäuser und Armenschulen aus- beziehungsweise auf-zubauen, vollzieht und befördert sie eine der kapitalistischen Integrationder Produktionssphäre in den Marktzusammenhang durchaus analogeInkorporation oder Eingliederung von gesellschaftlichen Funktionen undAktivitäten, die bis dahin, sofern überhaupt vorhanden, in lokaler Selbst-verwaltung oder gar privater Eigeninitiative ausgeübt wurden, in denVerwaltungsapparat des Staates und sorgt damit entweder direkt, durchÜbernahme der betreffenden Funktionäre und Aktiven in den Staats-dienst, oder indirekt, durch die Schaffung staatlicher Organe, die für dieLenkung und Beaufsichtigung der betreffenden Funktionen und Aktivitä-ten zuständig sind, für eine ebenso progressive wie massive Aufstockungund Ausweitung des staatlich honorierten Personalbestands.

Und weil den neuen Staatsbediensteten für die Organisation und den

Betrieb des Staatsapparats eine ähnlich tragende Rolle zufällt wie denkapitalgenerierten Funktionären in Sachen Produktionsapparat und siedeshalb ähnlich gut von der regalen Herrschaft wie letztere vom kapitalenSubjekt dotiert, sprich als Gehaltsempfänger mit Kaufkraft ausgestat-tet werden und zudem wie letztere mit dieser ihrer Kaufkraft zwecksFührung eines standesgemäßen Lebensstils Scharen von Dienstleistern,sekundären Nutznießern, in Brot setzen – weil das so ist, dienen dieseUmverteilungen der fiskalisch aus Kapital in Kaufkraft umgeschichte-ten Gelder vom höfischen Luxus der absolutistischen Herrschaft aufs bürokratische Leben des Staatsapparats in der Tat dazu, das, was das ka-

pitale Subjekt spontan und der Logik seiner Entfaltung folgend, beginnt,planmäßig und dem Kalkül staatlicher Krisenprävention gehorchend,fortzusetzen und zu verstärken und so den kapitalgenerierten neuen Mit-telstand von Staats wegen so zu vermehren und zu erweitern, dass er ander von der kapitalistischen Entwicklung ständig unter Druck gesetzten

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und mit dem Zusammenbruch bedrohten Konsumfront einen wesentlich

stabilisierenden Faktor bildet, ohne den die der Produktivkraft und Aus- beutungsrate des Produktionsapparats geschuldeten Absatzprobleme imNu unbewältigbar werden müssten.

Dabei wäre es ein Irrtum, anzunehmen, dass die absolutistische Herr-schaft quasi eine Konversion durchmacht, eine Wandlung vom haltlosenVerschwender zum gewissenhaften Verwalter, in deren Konsequenz sieihre repräsentative Prunksucht, ihren höfischen Luxus und ihre Jagdenund kriegerischen Unternehmungen überhaupt aufgibt, um sich ganzund gar dem ökonomischen Geschäft eines Ausbaus des Staatsappa-rats zwecks Rekrutierung neuer und nach Maßgabe ihrer relativ großenKaufkraft als Mittelstand firmierender Konsumentengruppen zu weihen.Tatsächlich führt sie ihren luxuriösen und verschwenderischen Lebens-stil unbeirrt fort; die Einschränkungen, die sie sich in dieser Hinsichtauferlegt, bestehen im Wesentlichen darin, dass sie den Luxus und dieVerschwendung gewissermaßen auf der Stelle treten lässt, sie nicht ent-sprechend den steigenden fiskalischen Einnahmen, die ein produktivkräf-tig und ausbeuterisch expandierender Produktionsapparat sprudeln lässt,eskaliert und auf die Spitze treibt, sondern vielmehr dieses progressiveMehr an Staatseinnahmen zur Umverteilung nutzt, es direkt zum Ausbaudes staatlichen Apparats und seiner die gesellschaftliche Selbstverwal-tung aufhebenden bürokratischen Institutionen und indirekt damit auch

zur Entstehung eines für die Versorgung und Betreuung jener wach-senden Zahl von Staatsangestellten zuständigen Dienstleistungssektorsverwendet.

Aber auch wenn die absolutistische Herrschaft sich, absolut betrachtet,gar keine großen Einschränkungen zumutet, sondern bloß relativ zu-rücksteckt, indem sie darauf verzichtet, ihrer Prunk-, Verschwendungs-und Repräsentationssucht im Gleichschritt mit dem wachsenden Etat-volumen zu frönen, sind doch die Leistungskraft des expandierendenkapitalistischen Produktionsapparats und seines Distributionssystemsund die ihr geschuldete Zunahme der in steuerlichen Einnahmen und

Sonderabgaben bestehenden herrschaftlichen Beteiligung am Gewinngroß genug, um einer klugen und umsichtigen staatlichen Finanzpolitikdie mittels Ausbaus des Staatsapparats direkt und indirekt betriebeneEtablierung neuer, mittelständischer Konsumentengruppen zwecks Ent-lastung der kommerziellen Absatzlage zu ermöglichen, ohne dadurch

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dem kapitalen Verwertungsstreben in die Quere zu kommen und der

Investitionskapazität des Kapitals, seiner Fähigkeit, immer noch weitere beziehungsweise produktivere Wertschöpfungsprozesse in Gang zu set-zen, über das gewohnte und als normal akzeptierte Maß hinaus Abbruchzu tun.

Dass der Ausbau des Staatsapparates und die darin einbeschlosseneindirekte Förderung mittelständischer Dienstleistungssparten hier soganz mit ökonomischen Rücksichten begründet und als eine Strategiezur Unterstützung der Wirtschaft im Allgemeinen und zur Lösung oder jedenfalls Entschärfung von produktivitäts- und ausbeutungsbedingtenAbsatzproblemen im Besonderen hingestellt wird, dass also das neuin Dienst genommene staatliche Personal und sein zivilgesellschaftli-cher Anhang nicht sowohl in ihrer politischen Funktion und praktischenLeistung, sondern nur in ihrer ökonomischen Bedeutung und kommerzi-ellen Wirkung gewürdigt werden, mag auf den ersten Blick befremden.Schließlich liegt doch auf der Hand, dass es für diesen Ausbau des Staats-apparats auch gute, nicht sowohl ökonomisch-kommerzielle als vielmehrpolitisch-funktionelle Gründe machtpolitischer und verwaltungstech-nischer Art gibt. Es liegt auf der Hand, dass eine zentralistische, auf die Konzentration der politischen Macht in einer Hand oder jedenfallsderen Verlagerung auf eine einzige Instanz erpichte Herrschaft die lo-kalen und regionalen, tribalen und kommunalen, professionellen und

habituellen, kulturellen und konfessionellen Selbständigkeiten und Ei-genmächtigkeiten der Bevölkerung wenn nicht brechen und unterbinden,so zumindest doch adaptieren und integrieren und die mit solcher Selb-ständigkeit und Eigenmächtigkeit einhergehende Eigenorganisation undSelbstverwaltung durch staatliche, der zentralistischen Macht unmittelbarunterstehende Einrichtungen und Ämter wenn nicht überhaupt verdrän-gen und substituieren, so allemal doch vermitteln und kontrollieren muss– was nolens volens eine Vervielfachung des staatlichen Personals undeine massive Vergrößerung des bürokratischen Apparats mit sich bringt.

Und nicht minder auf der Hand liegt, dass die kapitalistische Umge-

staltung der Gesellschaft und das, was damit einhergeht: die Entstehungwirtschaftlicher Zentren und städtischer Ballungsgebiete, das Bevölke-rungswachstum, die kommerzielle, kommunikative und transportativeVerflechtung des Landes und die Zunahme und Vervielfältigung der vonder Allgemeinheit wahrzunehmenden organisatorischen, planerischen,

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ordnungspolitischen und kontrollspezifischen Aufgaben beziehungswei-

se für die Wahrnehmung der Aufgaben zu schaffenden Einrichtungen –dass dies alles das die Allgemeinheit verkörpernde Staatswesen in diegleiche Richtung drängt wie der machtpolitische Zentralismus der abso-lutistischen Herrschaft und allein schon Grund genug für letztere wäre,den besagten Ausbau des Staatsapparats zu betreiben und die dafür erfor-derliche massive Vergrößerung des gouvernementalen Personalbestandsnebst dazugehörigen zivilen Anhangs in Kauf zu nehmen, sprich, aus denvorhandenen Etatmitteln zu finanzieren. Wozu sich also bei so viel undso offensichtlich realpolitischer Funktion auf ein kapitalökonomischesKalkül kaprizieren beziehungsweise ein solches Kalkül zur Erklärung desim achtzehnten Jahrhundert von der absolutistischen Macht betriebenenAusbaus des Staatsapparats überhaupt bemühen?

Tatsächlich liegt es uns fern, jene realpolitische Funktion des ausge- bauten Staatsapparats in ihrer motivationalen Bedeutung für das finanz-politische Umdenken der absolutistischen Herrschaft, ihre Abkehr vonschierer Repräsentations- und Verschwendungssucht und Hinwendungzu Maßnahmen zur Förderung der gesellschaftlichen Konsumkraft durchStiftung eines relativ gut dotierten Mittelstands gering zu schätzen odergar in Abrede zu stellen. Die absolutistische Herrschaft als eine politischeMacht, die zwar das ökonomische System um ihrer Beteiligung an seinenGewinnen, ihres Etats willen stützt und nach Kräften fördert, ihm aber

auch das ökonomische Kalkül überlässt und sich darauf beschränkt,ihre Politik so zu gestalten, dass diese mit ihren dem System zu treuenHänden übergebenen finanziellen Interessen in Einklang bleibt, würdeohne einen realpolitischen Beweggrund vermutlich gar nicht tätig werdenund jene Maßnahme zur Förderung der gesellschaftlichen Konsumkraft,als die sich der Ausbau des Staatsapparats erweist, gar nicht ergreifen.

Auch etwa bei der geschilderten, für die ursprüngliche Akkumulationdes Handelskapitals entscheidenden und dank der dynastischen Verflech-tungen und Allianzen europaweit wirksamen Austeilung des kolonialenSchatzes an die Oberschicht erweist sich die absolutistische beziehungs-

weise nach absolutistischer Macht strebende Herrschaft ja nicht deshalbso freigebig, weil sie ökonomisch denkt und dem ihre Bestrebungenunterstützenden und dafür von ihr mit neuen Investitionschancen undEntfaltungsräumen belohnten Markt neue, für seinen Warenüberflusserforderliche kaufkräftige Konsumenten zuführen will, sondern weil sie

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damit eine politische Strategie verfolgt, nämlich die Strategie, durch jene

Distribution von Kaufkraft ihre Standesgenossen auszukaufen und abzu-finden, zu ködern und zu korrumpieren, sie als politische Konkurrentenauszuschalten und aus einer Feudalschicht, die regionale Machtpositio-nen innehat und dynastische Ansprüche erhebt, in einen Hofstaat zuverwandeln, der materialem Wohlleben frönt und seine sozialen Privile-gien genießt.

Dass dies die besagte weitreichende ökonomische Folge einer massi-ven Beschleunigung des kommerziellen Akkumulationsprozesses undletztlich einer mittels Kapitalisierung der Produktionssphäre vollzogenenTransformation von Handelskapital in manufakturelles und industrielles

Kapital, Kapital sans phrase, hat, liegt zwar nicht unmittelbar in der Ab-sicht der absolutistischen beziehungsweise nach absolutistischer Machtstrebenden Herrschaft, bildet aber doch nach Maßgabe des sie leitendenErfordernisses, ihre Politik im Einklang mit ihren finanziellen Interes-sen, sprich, mit den Interessen des letztere wahrenden ökonomischenSystems zu halten, eine Art zureichenden Grund für ihr Tun, der siedarin nicht nur rechtfertigt und bestätigt, sondern gegebenenfalls auch bestärkt und antreibt. Jener ökonomische Effekt hinter dem politischenHandeln ist die List der ökonomischen Vernunft hinter dem Treibendes politischen Verstandes, die zu ihrem Recht kommen und befriedigt

werden muss, damit das politische Treiben überhaupt stattfinden kann,und die, je mehr sie dabei zu ihrem Recht kommt und befriedigt wird,umso mehr die Bedeutung einer insgeheim wirkenden Ursache, einesdas politische Handeln als sein Vehikel nutzenden beziehungsweise insein Werkzeug umfunktionierenden, kurz, das Treiben treibenden Motivsgewinnt.

Und so verhält es sich auch jetzt, im Falle des von der absolutistischenHerrschaft mit Etatmitteln betriebenen Ausbaus des Staatsapparats, der,während er, politisch gesehen, den Erfordernissen gleichermaßen der zen-tralistisch verwalteten staatlichen Macht und der kapitalistisch entfalteten

gesellschaftlichen Organisation entspricht, zugleich doch, ökonomisch betrachtet, der Bedingung einer Umverteilung von höfischem Luxus auf  bürgerlichen Konsum und damit der Aufgabe einer Entlastung des dankseiner Produktivität und Ausbeutungsrate von Absatzproblemen heim-gesuchten kapitalistischen Produktionsapparats durch eine dem, was der

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Produktionsapparat selbst beginnt, komplementäre wirksame Umschich-

tung von Investitionsvermögen in Wertrealisierungsmittel, Kapital inKaufkraft genügt.Und tatsächlich genügt in diesem Falle das Tun der absolutistischen

Herrschaft der ökonomischen Bedingung und Aufgabe nicht einfach nur,sondern es erfüllt und übererfüllt sie, nimmt sie nicht nur passiv wahr,sondern kommt ihr aktiv nach! Das heißt, die absolutistische Herrschaft begnügt sich hier nicht damit, das Angenehme mit dem Nützlichen oder,vielleicht besser gesagt, den einen Nutzen mit dem anderen zu verbinden,sprich, in der Verfolgung ihrer politischen Absicht auch die nötige öko-nomische Rücksicht zu nehmen, sondern sie nutzt die politische Absicht,um der ökonomischen Rücksicht die größtmögliche Geltung zu ver-schaffen, ihr nach Kräften Rechnung zu tragen und so die Rücksicht auseinem bloß konditionierenden Faktor zu einem motivierenden Agens derAbsicht, aus einem zusätzlichen Beweggrund zu einer entscheidendenAntriebskraft für deren Verfolgung werden zu lassen.

Dass sich die Sache mit Fug und Recht so betrachten lässt, lehrt derVergleich der auf dem Festland dominierenden absolutistischen Herr-schaft Frankreich mit der insularen Macht England. Wie oben dargestellt,erschließt England durch den maritimen Sonderweg, den es einschlägt,und durch die überseeischen Kolonien, die es auf diesem Wege stiftet,um dann mit seinen kolonialen Gründungen arbeitsteilige und für beide

Seiten entsprechend vorteilhafte Handelsbeziehungen zu unterhalten,seinem wachsenden kapitalistischen Produktionsapparat kommerzielleAbsatzmöglichkeiten, die letzteren auf lange Zeit vor den produktivitäts-und ausbeutungsbedingten Absatzproblemen, die den Volkswirtschaftender kontinentalen absolutistischen Staaten im Allgemeinen und unterihnen im Besonderen der avanciertesten Macht Frankreich zu schaffenmachen, bewahren und sicherstellen und die England eine solch kontinu-ierliche und störungsfreie industrielle Entwicklung ermöglichen und indieser Entwicklung einen solchen Vorsprung verschaffen, dass die Insel bis tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein nicht nur als weltweit führende

Handelsnation zu agieren, sondern auch als “Werkstatt der Welt” zufirmieren vermag.Dass sich unter solchen Umständen merkantilistische Maßnahmen, wie

sie im Bemühen, der Wirtschaft des Landes generell im Ausland und spe-ziell bei den europäischen Nachbarn neue Absatzgebiete zu erschließen

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und neue Konsumenten zu gewinnen, Frankreich ergreift, für England

weitgehend erübrigen, liegt auf der Hand. Was Frankreich sich durchprotektionistische, dirigistische und infrastrukturelle Anstrengungenmühsam zu beschaffen suchen muss, das fällt England quasi naturgemäßund nämlich dank einer den historischen Umständen geschuldeten Flot-tenpolitik und der richtungweisenden Rolle, die hinsichtlich der kapitalis-tischen Entwicklung in genere und der Lösung der aus der Entwicklungsich ergebenden Probleme in specie der Flotte zukommt, in den Schoß.

Und ebenso wie die von Frankreich verfolgte merkantilistische Stra-tegie muss sich dann aber auch, wenn unsere Einschätzung von seinerwesentlich ökonomischen Motivation zutrifft, der Ausbau des Staatsap-parats im Falle Englands erübrigen oder jedenfalls weit weniger durchdie ökonomische Rücksicht überdeterminiert und forciert darstellen! Sogewiss dem englischen Staatswesen dank bis auf unabsehbar Weiteresgesicherter überseeischer Absatzmöglichkeiten erspart bleibt, eigene han-delspolitische, sprich, merkantilistische Maßnahmen zu ergreifen, so ge-wiss kann es natürlich auch darauf verzichten, den aus machtpolitischenund sozialorganisatorischen Gründen nötigen Ausbau des Staatsapparatsals Instrument zur ökonomischen Problembewältigung in Anspruch zunehmen und dadurch tendenziell ebenso sehr umzufunktionieren wie zuhypertrophieren.

Und tatsächlich zeigt sich wie bei den handelspolitischen Maßnahmen,

so auch beim Ausbau des Staatsapparats das englische Staatswesen imLaufe des achtzehnen Jahrhunderts und noch das ganze neunzehnte Jahr-hundert hindurch weit weniger initiativ und ungleich zurückhaltenderals seine kontinentalen Konkurrenten, allen voran die absolutistischeHerrschaft Frankreichs. Zwar wird auch auf der Insel nach Maßgabepolitischer Erfordernisse, die sich aus der Zentralisierung der Gesellschaftzwecks absolutistischer Herrschaft sowie aus der Notwendigkeit einerReorganisation der im Zuge der Durchsetzung der kapitalistischen Pro-duktionsweise ebenso sehr umgruppierten, anders massierten und neuassoziierten wie dislozierten, atomisierten und entstrukturierten Bevöl-

kerung ergeben, der Einfluss des Staates auf die einzelnen Funktionsbe-reiche und die verschiedenen institutionellen Gruppen der Gesellschaftwie auch seine Kontrolle über die Regionen und Kommunen des Lan-des verstärkt und werden folglich neue Behörden und Zuständigkeitengeschaffen und der Personalbestand des Staatsapparats entsprechend

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aufgestockt und ausgeweitet, aber von einer Zentralisierung und Bü-

rokratisierung der Herrschaft, kurz, Systematisierung der staatlichenRepräsentanz zu einer alle Teile des Landes, alle gesellschaftlichen Sphä-ren und alle Lebensbereiche durchdringenden administrativen Präsenz,wie sie Frankreich ins Werk setzt, bleibt England zu jener Zeit noch him-melweit entfernt. Wo immer möglich, beschränkt sich hier der Staat auf ein Minimum an unmittelbarer Machtausübung und lässt die aus Zei-ten der feudal und kommunal verfassten Gesellschaft überkommenenSelbstverwaltungseinrichtungen und Honoratiorenherrschaft auf ehren-amtlicher Basis fortbestehen beziehungsweise überlässt es der neuenSozialisierungsmacht Kapital weitestgehend, sich und die ihr Befohlenenoder besser Ausgelieferten nach eigenem Ermessen und in eigener Regie

zu reorganisieren.Begünstigt durch einen Absolutismus, der konstitutionell modifiziert

ist und der kraft der zentralen parlamentarischen Repräsentanz, die erden Regionen und Kommunen einräumt, diesen beziehungsweise ihrerlokalen Führung eine legislativ vermittelte aktive Mitgestaltung des Ge-meinwesens ermöglicht, statt sie der Passivität einer exekutiv verfügtenVerwaltung durch die Zentralmacht zu überantworten, kann sich dasvon keiner Sorge um sein ökonomisches Wachstum geplagte englischeStaatswesen beim Ausbau seines bürokratischen Apparats äußerste Zu-rückhaltung auferlegen und eine Form jener indirect rule praktizieren,

die es dann im neunzehnten Jahrhundert erfolgreich in seinem imperia-listisch expandierenden Kolonialreich zur Anwendung bringt.

Die Strategie einer Stärkung der gesellschaftlichen Konsumkraft durch den Aus-bau des Staatsapparats lässt sich in ökonomischer Zuspitzung des Begriffs alsEtatismus bezeichnen. Wie der administrative Ausbau des Produktionsapparatskann auch der bürokratische Ausbau des Staatsapparats die gesellschaftlicheKonsumkraft nur im Sinne einer Entschärfung, nicht einer Lösung des Ab-satzproblems stärken. Durch Einbeziehung der nichtfiskalischen, thesaurischenElemente des Etats kann indes die absolutistische Herrschaft einen der vollstän-

digen Lösung des Absatzproblems, die der Kolonialismus ermöglicht, im Prinzipvergleichbaren Effekt erzielen.

Vor diesem Hintergrund des englischen Gegenbeispiels eines sparsa-men, rein auf politische Belange und Bedürfnisse abgestellten Ausbaus

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des Staatsapparats lässt sich also die in Kontinentaleuropa und beispiel-

haft in Frankreich Platz greifende zentralistische Bürokratisierung unddaraus folgende hypertrophe personelle Ausstattung der Staatsmachtunschwer als durch die oben explizierte ökonomische Rücksicht überde-terminiert und forciert erkennen. Im Kontrast zur vornehmen Zurück-haltung des dank seines Welt- und Kolonialhandels bis auf unabsehbarWeiteres über reichlich Märkte und Absatzchancen verfügenden insula-ren Gemeinwesens lässt sich der ebenso forsche wie massive Ausbau deskontinentalen Staatsapparats als eine nicht einfach nur neben der politi-schen Absicht, sondern mitten durch sie hindurch und als ihr heimlicherTriebgrund verfolgte Strategie gewahren, durch die direkt und indirektaus Etatmitteln finanzierte Schaffung neuer mittelständischer Konsumen-tenschichten, durch die von Staats wegen betriebene Fortsetzung undAusweitung also eines bereits vom kapitalistischen Produktionsapparatselbst begonnenen Umbaus der Sozialstruktur in ein Dreiklassensystem,die erwünschte ökonomische Wirkung zu erzielen und nämlich das, wasder Merkantilismus draußen, in den Nachbarstaaten, mit mäßigem be-ziehungsweise zweifelhaftem Erfolg zu erreichen sucht, die Rekrutierungneuer Konsumentengruppen und Erschließung weiterer Absatzgebiete,ebenso effektiv wie definitiv im Lande selbst, in der eigenen Gesellschaftins Werk zu setzen.

Das Ensemble handelspolitischer Maßnahmen, die die absolutistische

Herrschaft im siebzehnten Jahrhundert ergreift, um die Entwicklungdes kapitalistischen Produktionsapparats zu fördern, den nach außengerichteten Merkantilismus also, wenn nicht überhaupt ersetzend, so jedenfalls doch wesentlich ergänzend, präsentieren sich der für das acht-zehnte Jahrhundert charakteristische Ausbau des Staatsapparats und diedadurch direkt und indirekt bewirkte Schaffung eines gesellschaftlichenMittelstandes als eine nach innen gewendete finanzpolitische Strategie,die im Prinzip dem gleichen Ziel einer Förderung der Kapitalentwicklungdient und die wir in ökonomischer Zuspitzung des Begriffs, besser gesagt,in Reduktion seiner üblichen, politisch-funktionellen Bedeutung auf seine

wirklichen, ökonomisch-kommerziellen Implikationen, als Etatismus bezeichnen können.Wie der Merkantilismus, die handelspolitischen Bemühungen um eine

Erweiterung des Konsumentenkreises durch Rekrutierung ausländischerAbnehmer, dient auch der Etatismus, der finanzpolitische Einsatz von

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Produktivkraft und Ausbeutungsrate des wachsenden kapitalistischen

Produktionsapparats permanent heraufbeschworenen Absatzprobleme,nie und nimmer aber deren Lösung erreichen kann.Und in dieser Hinsicht, das heißt, als Strategie zur vollständigen Lösung

der die heimische Wirtschaft heimsuchenden Absatzprobleme, scheintder kontinentale beziehungsweise französische Etatismus dem Kolonia-lismus, auf den sein maritimer Sonderweg das insulare England verfallenlässt, irreparabel und hoffnungslos unterlegen! Der englische Kolonialis-mus nämlich löst tatsächlich das Absatzproblem, weil er nicht wie derfranzösische Etatismus nur eine dem Konsum förderliche Umverteilungder für diesen in Form von allgemeinem Äquivalent verfügbaren syste-minternen Kaufkraft bewirkt, die freilich mit systematischer Notwendig-keit nie ausreicht, um auch den vom kapitalistischen Produktionsapparatin Gestalt des jeweiligen Mehrprodukts erzeugten Neuwert zu realisieren,sondern es vielmehr schafft, die für die Realisierung eben jenes Neu-werts erforderliche Kaufkraft von außerhalb des Systems zu mobilisieren,sprich, das allgemeine Äquivalent, das nötig ist, um den Absatz des den jeweiligen Mehrwert verkörpernden Mehrprodukts zu sichern, und dasder Logik des Akkumulationsprinzips gemäß im System selbst nichtvorhanden ist, in den überseeischen Kolonien und in zunehmendemMaße auch auf den Märkten fremder Territorialherrschaften aufzutreiben.

Dass die kolonialistische Lösung dem englischen Handel dann auch

noch ermöglicht, den in Übersee realisierten Mehrwert gleich wiederin preiswerte Rohstoffe umzusetzen, und so dem heimischen Produkti-onsapparat durch Senkung seiner Produktionskosten einen zusätzlichenWachstumsimpuls verleiht, ist ein Zusatzgewinn, der dem kapitalisti-schen System des Landes den Kolonialismus lieb und teuer macht undmaßgebend ist wenn schon nicht für die industrielle Vormachtstellung,die im Verhältnis zu Kontinentaleuropa England erringt, so doch für dieRasanz und Schwungkraft, mit der es sie erringt. Im Grundsatz entschei-dend aber für die Überlegenheit des kapitalistischen Produktionsapparatsder Insel ist jene dem englischen Markt verfügbare fremde Kaufkraft,

 jenes allgemeine Äquivalent aus systemexternen Quellen, das die über-seeischen Handelsbeziehungen in die heimische Ökonomie einschleusenund das, weil es das Wertprodukt des kapitalistischen Apparats des Lan-des im vollen Umfange, einschließlich also des gesamten, durch denProduktionsprozess jeweils neu geschöpften Werts, zu realisieren taugt,

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der kapitalistischen Entwicklung eine Kontinuität und zugleich Dynamik

sichert, wie sie den im Wesentlichen auf das eigene Land und in merkanti-listischen Maßen auf den europäischen Raum beschränkten Wirtschaftender kontinentalen Staatswesen und der unter ihnen führenden MachtFrankreich schlechterdings unerreichbar bleiben.

Der Etatismus Frankreichs und der ihm nachgeordneten kontinentalenStaaten verfügt eben nur über den herrschaftseigenen Etat, um ihn fürdie Rekrutierung neuer, die Realisierung des Gesamtwerts der kapitalis-tischen Produktion geeigneter Konsumentengruppen einzusetzen, undstößt, weil dieser Etat ja in der Hauptsache aus Steuern und Abgaben, dasheißt, aus der herrschaftlichen, direkten und indirekten Teilhabe an denErträgen des kapitalistischen Produktionsapparats stammt und weil dieseTeilhabe bei Strafe des Zusammenbruchs des Apparats impliziert, dassnach Abzug der Steuern und Abgaben immer genug Kapital in der Verfü-gung des letzteren bleibt, um die Produktion zu erweitern und mehr Wertin Gütergestalt als zuvor zu erzeugen – der Etatismus kommt also, weilsich dies so verhält, nolens volens vor den Fall, die für die Realisierungdieses neu erzeugten Werts in Gütergestalt erforderlichen Konsumentenschlechterdings nicht rekrutieren zu können, die ja, um den durch die sys-teminterne Geldmenge noch nicht repräsentierten neugeschaffenen Wertzu realisieren, logischerweise nicht nur die Disposition über ihnen ausEtatmitteln zugeschanzte Kaufkraft haben dürfen, sondern allgemeines

Äquivalent aus systemexternen Quellen mitbringen müssen.Der englische Kolonialismus hingegen, der das merkantilistische Di-

lemma einer innereuropäischen Konkurrenzsituation, die entweder vorden Fall mangelnder Kaufkraft bei der potenziellen ausländischen Kund-schaft bringt oder zu gegenseitiger handelspolitischer Abschottung führtoder bestenfalls im Patt einer ausgeglichenen Handelsbilanz resultiert– der also dieses Dilemma, wie man will, umgeht oder durchbricht, in-dem er sich kommerziell nach Übersee orientiert, findet in der weitenWelt, die er sich erschließt, allgemeines Äquivalent aus systemexternenQuellen genug, und zwar so viel davon, dass er im eigenen Land auf 

etatistische Umverteilungsstrategien, wie sie exemplarisch Frankreichverfolgt, weitgehend verzichten und, wie den Ausbau des Staatsapparatsauf das Minimum des politisch Nötigen beschränken, so die Bildungeines bürgerlichen Mittelstands dem kapitalistischen Produktionsapparatselbst überlassen und dabei dennoch ökonomisch besser fahren und eine

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stärkere Dynamik und Kontinuität in der kapitalistischen Entwicklung

entfalten beziehungsweise beweisen kann als der Konkurrent auf demFestland.Ganz so dramatisch eklatant und logisch hoffnungslos, wie hier sugge-

riert, ist die lösungsstrategische Unterlegenheit des Etatismus gegenüberdem Kolonialismus am Ende aber doch nicht! Das Zauberwörtchen, dasdem Etatismus, halbwegs zumindest, aus der Patsche hilft, ist das oben imZusammenhang mit dem herrschaftlichen Etat gebrauchte einschränken-de “in der Hauptsache”. Dass der Etat der absolutistischen Herrschaft inder Hauptsache, nicht aber zur Gänze aus Steuern und Abgaben besteht,öffnet der herrschaftlichen Finanzpolitik ein Hintertürchen, das geeignetist, ihr aus dem beschriebenen quasilogischen Dilemma einer bloßenUmverteilung vorhandener Kaufkraft, durch die zwar generell mehran bereits zirkulierendem Warenwert, nicht aber speziell das Mehr anneu produziertem Warenwert realisierbar wird, herauszuhelfen, und ihrerlaubt, eine Art Simulation des kolonialistischen Wertrealisierungsver-fahrens Englands ins Werk zu setzen.

Tatsächlich umfasst der Etat der absolutistischen Herrschaft neben denSteuern und Abgaben, die das Gros seines Bestandes bilden und diedirekt oder indirekt dem kommerziellen beziehungsweise industriellenProzess entspringen, auch Bestandteile, die eher thesaurisch als fiska-lisch fundiert, sprich, im traditionellen, um nicht zu sagen, archaischen

Sinne herrschaftlichen Ursprungs sind und nämlich in Edelmetallreser-ven bestehen, die im geringerem Umfang dem Beutemachen bei denMitmenschen und zum überwiegenden Teil der Ausbeutung von Boden-schätzen entstammen, die also entweder durch kriegerischen Raub, durchKonfiskationen und Kontributionen, oder durch mineralischen Abbau,die Wahrnehmung herrschaftlicher Schürf- und Bergbauprivilegien imeigenen Land und in kolonialen Gebieten, erworben werden.

Dieses im eigentlichen Sinne als herrschaftlicher Schatz erscheinen-de Element des Etats kann die etatistische Finanzpolitik in einer dem,was die kolonialistische Handelspolitik leistet, vergleichbaren Funktion

einsetzen: als ein nicht bereits der kommerziellen Zirkulation einver-leibtes, systemfremdes allgemeines Äquivalent, dessen Einschleusung inden kommerziellen Zusammenhang eben deshalb auch nicht nur relativ,durch Umverteilung der bereits im System vorhandenen und für denKonsum verfügbaren Geldmenge, die gesellschaftliche Kaufkraft stärkt,

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sondern sie absolut, durch eine von außerhalb des Marktsystems, sprich,

von Staats wegen effektuierte Vergrößerung der für konsumtive Zweckeverwendbaren Geldmenge, erhöht. Indem die etatistische Finanzpolitikden nicht bereits dem kapitalistischen System entstammenden Teil desEtats der absolutistischen Herrschaft, deren Thesaurus also, nutzt, um imRahmen ihrer via Staatsausbau betriebenen Mittelstandsförderung Kon-sumenten zu rekrutieren beziehungsweise zu dotieren, die durch ihrenKonsum neues allgemeines Äquivalent ins landeseigene Wirtschaftssys-tem eintragen und damit für eine absolute Vergrößerung der im Systemzirkulierenden Geldmenge sorgen, bewirkt sie funktionell das Gleiche,was die kolonialistische Handelspolitik durch den kommerziellen Aus-

tausch mit den überseeischen Kolonien und Territorialherrschaften er-reicht: den Zufluss systemexternen allgemeinen Äquivalents, das denvom kapitalistischen Produktionsapparat geschöpften Wert im vollenUmfange, einschließlich Mehrwert also, zu realisieren erlaubt und damitersterem die kontinuierliche und durch keine Absatzprobleme gehemmteEntfaltung sichert.

Bei aller funktionellen Vergleichbarkeit oder Ähnlichkeit im Effekt liegtindes, strukturell betrachtet oder unter Verfahrensgesichtspunkten, derUnterschied dieser etatistisch vollständigen Lösung des Absatzproblemszur kolonialistischen auf der Hand. Während die kolonialistische Vor-

gehensweise das für die vollständige Realisierung des Werts, den derkapitalistische Apparat in materialer Gestalt produziert, benötigte sys-temfremde allgemeine Äquivalent auf ökonomisch-direktem, kommerzi-ellem Weg ins landeseigene Wirtschaftssystem einschleust und nämlichandernorts durch die Rekrutierung neuer Konsumenten beschafft, tutdies die etatistische Strategie auf indirekt-politische, provisionelle Wei-se, indem sie dafür sorgt, dass Mitglieder der heimischen Gesellschaft,Landeskinder, mit hinlänglich systemfremdem allgemeinem Äquivalentausgestattet werden, um eben die Rolle spielen zu können, die bei der ko-lonialistischen Vorgehensweise den überseeischen Konsumenten zufällt.

Bei der via directa eingeschlagenen oder marktvermittelten Vorgehens-weise des Kolonialismus also fallen Ermöglichung und Verwirklichungder Lösung des Absatzproblems zusammen, während die modo obliquooder von Staats wegen angewandte Strategie bloß die Lösung ermöglichtund darauf setzt, dass Gelegenheit Diebe macht, sprich, dass die mit

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systemexternen Kaufkraft Ausgestatteten zu Markte gehen und sie dort

verausgaben.Im Grunde stellt diese etatistische Strategie nichts weiter dar als ei-ne Fortsetzung oder auch Wiederaufnahme der in den Anfängen derabsolutistischen Herrschaft beziehungsweise im Zusammenhang mitihrem Aufstieg zur Macht angewandten Methode einer Distribution vonGeldmitteln in genere und dem in Fürstenhände gespülten Edelmetall ausder Neuen Welt, dem kolonialen Schatz, in specie zur Durchsetzung undErreichung politischer Absichten. Nur dass die politische Absicht damalsder Auskauf, die Bestechung und die Abfindung der Standesgenossen desFürsten, ihre Ausschaltung als Konkurrenten um die Macht, mithin dieEtablierung des Fürsten als absolutistischer Souverän und die Überfüh-rung seiner Standesgenossen in einen Hofstaat, ist und dass sich deshalbdie Distribution im Wesentlichen auf den ersten und zweiten Stand, dietraditionelle Oberschicht beschränkt, wohingegen jetzt als die politischeAbsicht der Ausbau des Staatsapparats und der damit verfolgte dop-pelte Zweck einer Festigung der absolutistischen Herrschaft und einerNeuordnung der durch die kapitalistische Entwicklung aufgemischtenGesellschaft firmiert und Adressat der Distribution in der Hauptsache derdadurch zum neuen bürgerlichen Mittelstand avancierte dritte Stand ist.Und dass – als Unterschied wichtiger noch! – der ökonomische Effekt, dendie von Haus aus politisch motivierte Distribution von Etatmitteln jeweils

zeitigt, damals, zu Zeiten der Formation der absolutistischen Herrschaft,sich eher als eine ebenso willkommene wie von der Herrschaft selbstunbeabsichtigte Nebenwirkung ergibt, während er sich jetzt als ein impolitischen Handeln je schon wesentlich impliziertes und in der Tat alsdessen geheime Triebkraft wirksames Kalkül suggeriert.

Dass die Freigebigkeit des nach absolutistischer Macht strebenden Fürs-ten nicht nur den politischen Zweck erfüllt, die Standesgenossen alsMachtfaktoren auszuschalten, sie aus dynastischen Konkurrenten in höfi-sche Konsumenten zu verwandeln, sondern zugleich auch die Nutznießersolcher Freigebigkeit in die Lage versetzt, als Wertrealisierer der Gü-

termasse Herr zu werden, die dank der neuen Entfaltungsräume undInvestitionschancen, die sein Pakt mit der Fürstenmacht ihm eröffnet, dasHandelskapital auf den Markt bringt, und damit denn aber jenes forcierteWirtschaftswachstum anzukurbeln, das als so genannte ursprünglicheAkkumulation den als qualitativer Sprung wohlverstandenen Übergang

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des Handelskapitals in Manufaktur- und Industriekapital, Kapital sans

phrase, initiiert, sprich, in der Entstehung des kapitalistischen Produkti-onsapparats resultiert – dass also seine politisch motivierte Freigebigkeitso weitreichende ökonomische Folgen hat, liegt nicht in der Absicht desFürsten, geschweige denn, dass es finanzpolitischer Planung entspränge,und stellt wie der koloniale Schatz selbst, der die fürstliche Freigebigkeitüberhaupt erst ermöglicht, eine glückliche Fügung oder Koinzidenz dar,die, so sehr sie durch die systematischen Bedingungen oder objektivenUmstände begünstigt oder gar provoziert erscheinen mag, doch aber jedenfalls unabhängig von allem historischen Vorhaben und frei vonallem subjektiven Kalkül eintritt.

Hingegen ist, dass die absolutistische Herrschaft durch den Ausbaudes Staatsapparats direkt und indirekt für die Erweiterung der traditio-nellen, aus den beiden oberen Ständen und ihrem Anhang bestehendenKonsumentenschicht um neue, als bürgerlicher Mittelstand firmierende,vergleichsweise kaufkräftige Gruppen sorgt, keine bloße, aus herrschaftli-cher Sicht sich wie von ungefähr ergebende ökonomische Nebenwirkung jenes politisch motivierten Ausbaus, sondern eine im Kalkül des letzterenvon Anfang an enthaltene Implikation, ein das verwaltungstechnisch-politische Programm einer Festigung der staatlichen Macht und Reaf-firmation der sozialen Ordnung untermauernder oder, besser gesagt,unterfütternder finanzpolitisch-ökonomischer Programmpunkt zur Un-

terstützung des kapitalistischen Produktionsapparats und seines Marktesdurch Hebung der gesellschaftlichen Kaufkraft, ein der politischen Strate-gie eingeschriebenes zentrales ökonomisches Strategem, das es durchauserlaubt, diese als Etatismus erscheinende Strategie für ebenso sehr öko-nomisch instigiert wie politisch motiviert zu erklären und als das zuerkennen, als was sie sich im Kontrast zur kolonialistisch alternativenVerfahrensweise präsentiert, als im Lande selbst modo obliquo, durch diestaatliche Kreation von Kaufkraft, geschaffener Ersatz für die Lösung deskraft der Produktivität und Ausbeutungsrate des kapitalistischen Pro-duktionsapparats heraufbeschworenen Absatzproblems, die der Kolonia-

lismus via directa, durch Handelsbeziehungen in Übersee, sprich, durchaußerhalb des landeseigenen Wirtschaftssystems erschlossene Märkteund rekrutierte Konsumenten, findet.Wie gezeigt, gelingt es dieser, die Rekrutierung von Konsumenten durchdie Distribution von Etatmitteln an Gruppen der heimischen Gesellschaft

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aus der unbeabsichtigten Nebenwirkung herrschaftlich-politischen Han-

delns, die sie in den Anfängen der absolutistischen Herrschaft ist, in einquasi planwirtschaftliches Kalkül staatlich-finanzpolitischen Handelnsüberführenden etatistischen Strategie, durch den Einsatz des herrschaft-lichen Thesaurus, der systemfremden, nicht aus Steuern und Abgaben bestehenden, sprich, nicht bereits aus dem Wertschöpfungsprozess desKapitals stammenden Teile des Etats, die ihr an sich gesteckten Grenzeneines bloßen Umverteilungsverfahrens, das das Absatzproblem zwarentschärfen, nicht aber lösen kann, zu durchbrechen und aus einem blo-ßen Ersatz für die kolonialistische Vorgehensweise zu einer veritablenAlternative, aus einem notbehelflichen Substitut zu einer vollgültigen Si-mulation zu avancieren. In dem Maße, wie es dem Etatismus gelingt, viaAusbau des Staatspersonals und seines bürgerlichen Anhangs allgemei-nes Äquivalent aus marktextern-thesaurischen Quellen in den Marktzu-sammenhang einzuschleusen, scheint er imstande, es dem Kolonialismusgleich zu tun und, statt bloß die Absatzsituation zu verbessern, ohnedoch für die Einlösung des Wertes des jeweils vom Produktionsapparaterzeugten Mehrprodukts sorgen zu können, das Geld für die Realisierungeben dieses in materialer Gestalt hervorgebrachten Mehrwerts dem Sys-tem wahrhaftig zur Verfügung zu stellen und damit das Absatzproblemwirklich zu lösen.

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. Bürgerliche Emanzipation

Die Stärkung der gesellschaftlichen Konsumkraft mittels des thesaurischen Teils

des Etats impliziert Risiken praktisch-funktioneller und soziokultureller Art, dieallerdings zur damaligen Zeit noch keine Aktualität gewinnen. Umso akuter istdas ökonomisch-finanzielle Risiko, das eine aus thesaurischen Quellen gespeisteStrategie zur Lösung des Absatzproblems birgt, das Risiko nämlich steigenderPreise beziehungsweise sinkender Kaufkraft, kurz, einer inflationären Entwick-lung, deren Folge eine Verschlechterung der ökonomischen Lage und sozialenStellung gleichermaßen des bürgerlichen Mittelstandes und der lohnarbeitendenVolksmasse ist.

Freilich ist, genauer besehen, die etatistische Lösung des produktivi-täts- und ausbeutungsbedingten Absatzproblems wenn auch keineswegs

Schein, so doch mit Risiken behaftet, von denen die kolonialistische Lö-sungsmethode verschont bleibt und die sich allesamt früher oder späterals für das ganze System bedrohlich erweisen und den Segen, den jene bringt, zum Fluch werden lassen können. Da ist zum einen das praktisch-funktionelle Risiko, das sich aus der oben erwähnten und dem Etatismusim Unterschied zum Kolonialismus eigenen Trennung von Ermöglichungund Verwirklichung des Konsums, aus der Tatsache also ergibt, dass,während der Kolonialismus nur mögliche Konsumenten rekrutiert, dieauch gleich wirkliche sind und nämlich Handelswaren kaufen, Hanh-hder Etatismus zwar mit Hilfe von Etatmitteln mögliche Konsumenten

 beischafft, nicht aber dafür sorgen kann, dass letztere ihres Amtes waltenund wirklich tun, wozu sie die Möglichkeit erhalten haben, nämlich dasan sie distribuierte Geld als kommerzielles Äquivalent einsetzen, sprich,per Konsum Wertrealisierung betreiben. Angesichts der Bedürfnislage derRekrutierten bleibt allerdings diese Gefahr eines zwischen Ermöglichung

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Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft zur technologischen Ausbeutung

sächlicher Produktionsmittel, es dem kapitalistischen Produktionsapparatermöglicht, mit immer weniger lohnarbeitendem Personal die unverän-dert gleiche oder sogar eine vergleichsweise größere Produktionsleistungzu erbringen, bleibt auch in der weiteren Folge dieses soziostrukturelleRisiko einer Destabilisierung der Sozialstruktur durch eine der etatisti-schen Strategie geschuldete Verschiebung des Größenverhältnisses der beiden Hauptfraktionen der Gesellschaft eine eher akademische bezie-hungsweise ideologisch beschworene als empirische beziehungsweisepraktisch ins Haus stehende Gefahr, die in unseren Tagen allerdings, inder mittlerweile erreichten Endphase der kapitalistischen Entwicklungimmer häufiger als mittlerweile tatsächlich akut geworden an die Wandgemalt wird.

Diesen von interessierter Seite intonierten Unkenrufen zufolge hat derdem kapitalistischen Produktionsapparat von Staats wegen aufgesetzteWasserkopf eine solche Masse und ein solches Gewicht erlangt, dassdas Corpus des Apparats von ihm erdrückt zu werden und in seinerFunktionsfähigkeit zum Erliegen zu kommen droht. Schaut man freilichgenauer hin, so trifft zwar wohl zu, dass es dem Produktionsapparatnachgerade unmöglich wird, jenen Wasserkopf aus direkt und indirektstaatlich dotierten Konsumenten zu erhalten und im gewohnten Umfangezu versorgen. Der Grund aber ist mitnichten der, dass es dem Appa-

rat hierfür an realer Produktionskapazität, an materialer Leistungskraftmangelte, sondern dass es ihm an für die Umschichtung in Kaufkraft ver-fügbarem Kapital, an finanziellem Spielraum für die staatlich organisiertedirekte und indirekte Rekrutierung und Alimentierung landeseigenerKonsumenten fehlt.

Mittlerweile nämlich hat der Apparat eine solche reale Produktivitätund materiale Kapazität erreicht, dass das oben als erstes beschwore-ne praktisch-funktionelle Risiko eines verderblichen Hiatus zwischenErmöglichung und Verwirklichung des Konsums zur durchaus akutenBedrohung geworden und der inländische Markt derart übersättigt ist,

dass im Lande selbst die Nachfrage das Angebot schlechterdings nichtmehr zu bewältigen vermag, der Konsum durch die vom Apparat auf den Markt geworfene Warensammlung aus Gründen der subjektivenKondition, sprich, des Bedürfnisses, und nicht etwa der objektiven Dis-position, sprich, der Kaufkraft, absolut überfordert ist. In dieser Situation

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wird es zum unabweislichen Erfordernis, Konsumenten außerhalb des

landeseigenen Wirtschaftssystems aufzutreiben, sprich, die mangels be-dürfnisgetriebener Nachfrage im Lande nicht mehr an den Mann und dieFrau zu bringenden Produkte per Außenhandel andernorts abzusetzen.Dort indes treffen die kommerziellen Vertreter des einen kapitalistischenProduktionsapparats auf die der anderen Produktionsapparate, die mitexakt dem gleichen inländischen Absatzproblem zu kämpfen haben undes auf exakt die gleiche Weise, nämlich durch den Export der überschüs-sigen Güter, zu lösen suchen.

Daraus aber entspinnt sich ein von der Schönrednerei der Ideologen jeglicher Couleur zur Globalisierung euphemisierter erbitterter interna-tionaler Konkurrenzkampf, der alle Beteiligten zwingt, durch preiswer-tere Produkte die Wettbewerber auf dem Weltmarkt auszustechen. Undgenau dieser Zwang zur ständigen weltmarktverfügten Verwohlfeilerungihrer Produkte macht es nun dem jeweiligen Produktionsapparat un-möglich, die vergleichsweise großzügige staatsvermittelte Umschichtungvon Teilen seiner kapitalen Gewinne und deren Einsatz für konsumti-ve Zwecke, ihre Verwandlung in Kaufkraft, noch länger zu tolerieren. Jenen Teil des im Produktionsprozess neugeschöpften Kapitals, jenenMehrwertanteil, den der Staat per Fiskus und Sozialgesetzgebung re-klamiert, um ihn dem bürgerlichen Mittelstand und mittlerweile auchin Form der so genannten Sozialleistungen in bescheidenem Umfan-

ge den lohnarbeitenden unteren Schichten zuzuwenden, sprich, in denWasserkopf einzuspeisen – jenen Anteil braucht der kapitalistische Pro-duktionsapparat jetzt vielmehr selber, um auf die eine oder andere Weiseseine Produkte zu verbilligen, ihn nämlich entweder aktiv in die Au-tomatisierung und Rationalisierung seiner Produktion zu investierenoder ihn passiv zur Diskontierung des Produktpreises zu nutzen, ihnquasi als Gewinn zu verbuchen und das Produkt entsprechend verbilligtabzugeben, und so auf dem einen oder anderen Weg seine Erfolgschancenauf dem Weltmarkt zu verbessern.

Und so gesehen, ist also die scheinbare Aktualisierung, die das mit der

etatistischen Strategie verknüpfte soziostrukturelle Risiko heute erfährt,in Wahrheit gar nicht soziostruktureller Natur, gar nicht einer die Gesell-schaft als ganze aus dem Lot bringenden Verschiebung ihrer Fraktionenzuungunsten des kapitalistischen Produktionsapparats und einer darausresultierenden Überforderung des letzteren geschuldet, sondern Folge

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einer ganz anderen und in der Tat gegenteiligen Entwicklung, nämlich

der sich zur Hypertrophie auswachsenden Produktionskapazität derdiversen nationalen Produktionsapparate und der daraus resultierendenÜberfüllung des Weltmarkts und Entfachung eines auf den Wohlstandder beteiligten Länder, ihren Commonwealth, zurückschlagenden und imWesentlichen als Preiskampf ausgetragenen Konkurrenzkampfs.

Aber um nach diesem Vorgriff auf spätere Zuspitzungen in die zwei-te Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zurückzukehren: Egal, wie zu-kunftsträchtig oder überhaupt ernst zu nehmen die beiden erstgenanntender mit dem Etatismus verknüpften Risiken, das praktisch-funktionelleund das soziostrukturelle, auch immer sein mögen, eine akute Bedrohung beziehungsweise ein aktuelles Hemmnis für die kapitalistische Entwick-lung stellen sie zum damaligen Zeitpunkt jedenfalls nicht dar. Umsoakuter freilich und quasi ad hoc unheilschwangerer erweist sich das drit-te, als ökonomisch-finanziell zu bezeichnende Risiko, das die etatistischeStrategie zur Lösung des Absatzproblems beinhaltet und das spezielldort entsteht, wo diese Lösungsstrategie es der kolonialistischen gewis-sermaßen gleich tut, insofern sie sich nicht einfach darauf beschränkt,den der politischen Herrschaft vom kapitalen Subjekt in Form von Steu-ern und Abgaben überlassenen Anteil am kapitalen Gewinn besser zuverteilen, sprich, mit dem Ziel einer Optimierung der gesellschaftlichenKaufkraft unter die Leute zu bringen, konkreter gesagt, zum Aufbau eines

neuen, bürgerlichen Mittelstands zu nutzen, sondern es darüber hinausunternimmt, durch die Einschleusung thesaurischer, nicht der Finanz-kasse, sondern dem Staatsschatz entnommener und insofern nicht demkapitalistischen Marktsystem entstammender, sondern von außerhalbgenommener Geldmittel in den Etat so viel neue Kaufkraft zu erzeugen,dass auch der Konsum des durch den Produktionsprozess jeweils neugeschaffenen Mehrprodukts, sprich, auch die Realisierung des in demMehrprodukt verkörperten Mehrwerts und mithin die vollständige Reali-sierung des durch den Produktionsprozess als Wertschöpfungsverfahrenverwerteten, akkumulierten Werts gewährleistet ist.

So finanzpolitisch genial nämlich dieses den Gipfelpunkt der etatisti-schen Lösungsstrategie bildende finanzpolitische Instrument einer Erhö-hung der Kaufkraft durch Vergrößerung der im nationalökonomischenSystem kursierenden Geldmenge mittels allgemeinen Äquivalents, dasebenso herrschaftseigener wie wirtschaftsfremder Quelle entstammt, im

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Prinzip auch ist, es unterliegt einer entscheidenden einschränkenden

Bedingung beziehungsweise hat, wenn es nicht unter dieser einschrän-kenden Bedingung eingesetzt wird, einen großen Haken: Die Wertsummedes von der Staatsmacht neu ins Wirtschaftssystem eingeschleusten all-gemeinen Äquivalents darf der in dem Mehrprodukt, das der kapitalisti-sche Produktionsapparat jeweils hervorbringt, verkörperten Wertsummehöchstens und nur entsprechen, darf sie bei Strafe einer inflationärenEntwicklung auf keinen Fall übersteigen!

Schleust nämlich der Staat mehr allgemeines Äquivalent aus thesau-rischer Quelle in den Wirtschaftskreislauf ein, als dem neugeschaffenenWert des gesellschaftlichen Gesamtprodukts, dem geschöpften Mehr-wert, entspricht, so verändert er das Verhältnis zwischen Geldmenge und

Gütermenge, genauer gesagt, zwischen dem Gesamt des sächlichen, inmaterialen Gütern verkörperten Werts und der Summe des als Ausdruck beziehungsweise Maßstab des sächlichen Werts fungierenden und letzte-ren auf dem Markt zu repräsentieren dienenden pekuniären Gegenwertsoder allgemeinen Äquivalents. Der Staat vermehrt dann die Summe desGegenwerts im Vergleich mit dem Gesamt des Sachwerts und bewirktdamit zwangsläufig, dass auf die einzelnen materialen Güter oder Wert-verkörperungen, aus denen letzteres sich zusammensetzt, anteilig mehrvon ersterer als vorher entfällt.

Das aber hat unmittelbare Folgen für die kommerzielle Einschätzung

der Sachwerte, ihre Wertstellung auf dem Markt, ihre Erscheinung alsAustauschobjekte. Schließlich dient ja das allgemeine Äquivalent alsMaßstab oder Ausdruck, der die materialen Güter als Sachwerte ebensosehr auf dem Markt repräsentiert wie für den Markt taxiert, und wenndieser Maßstab größer wird, an Dimension gewinnt, dieser Wertausdrucksich vermehrt und expandiert, dann haben an solcher dimensionalen Ver-größerung nolens volens auch die durch den Maßstab taxierten materia-len Güter teil und teilt sich diese Expansion des Wertausdrucks den durchihn repräsentierten Sachwerten mit. Weil dank der – bezogen auf denin den materialen Gütern verkörperten Mehrwert – unverhältnismäßighohen Einspeisung von thesaurischen Anteilen in den Wertmittelfundus

des Wirtschaftssystems mehr allgemeines Äquivalent, mehr Geld auf dieeinzelnen Sachwerte entfällt, mehr Wertausdruck für sie zur Verfügungsteht, sind sie mehr davon wert, nehmen sie mehr von dem Wertaus-druck, dem Geld, für sich in Anspruch. Sie werden, kurz gesagt, teurer,steigen im Preis.

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Der Preis nämlich ist nichts anderes als der Sachwert in allgemeinem

Äquivalent gemessen, in Geld ausgedrückt, das heißt, der Sachwert, wieer in der Münze des Marktes erscheint, wie ihn das Austauschsystemdes Marktes repräsentiert. Der Preis ist der Sachwert, vermittelt durchdie Größe des für seine Taxierung im Austauschsystem qua allgemeinesÄquivalent zuständigen Maßstabs beziehungsweise die Menge des fürseine Repräsentation auf dem Markt qua Geld verfügbaren Wertaus-drucks. Je nachdem, wie sich die Größenrelation zwischen Maßstab undGemessenem, das Mengenverhältnis zwischen den Sachwerten und ih-rem Wertausdruck ändert, je nachdem also, ob die Sachwerte im Vergleichmit dem sie im kommerziellen Austausch repräsentierenden allgemei-nen Äquivalent zahlreicher oder rarer werden, beziehungsweise ob die

Menge des die Sachwerte auf dem Markt ausdrückenden Geldes ab- oderzunimmt, steigen oder sinken die Preise. Im vorliegenden Fall geht esum eine durch unstatthafte etatistische Aktivitäten bewirkte übermäßigeVermehrung des allgemeinen Äquivalents oder Zunahme der Geldmenge– mit der notwendigen Folge steigender Preise.

Mathematisch oder real, das heißt, rein für sich oder als innersystemati-sches Phänomen genommen, ist dieser Anstieg der Preise bedeutungslos,ändert sich durch ihn nichts. Die Sachwerte bleiben die gleichen, die inden materialen Gütern verkörperten Werte bleiben in ihrem Verhältniszueinander von jener Preisentwicklung unberührt. Das Einzige, was sich

ändert, ist eben die Größe des Maßstabes, in dem sie auf dem Markterscheinen, das Volumen des Ausdrucks, der sie im Austausch reprä-sentiert. So gewiss dieser Maßstab oder Ausdruck die Werte zweckskommerziellen Austauschs oder äquivalentvermittelter Vermarktung inPreise übersetzt, so gewiss lässt er sie in der Konsequenz seiner eigenenVergrößerung und Vermehrung angewachsen und expandiert erscheinen beziehungsweise repräsentiert er sie, negativ gefasst und der objektivenScheinbarkeit der Veränderung Rechnung tragend, aufgebläht, inflatio-niert. Mathematisch oder real also ändert sich, noch einmal gesagt, durchdiese Maßstabsvergrößerung, dieses Anwachsen des Ausdrucksvolu-mens nichts an den Sachwerten, bleiben die in den materialen Gütern, den

Austauschobjekten verkörperten Werte in ihrem Verhältnis zueinander,ihrer systemischen Bestimmtheit, davon unberührt.

Praktisch oder sozial freilich, das heißt, bezogen auf die Gesellschaft,die sich des Marktsystems als einer Versorgungseinrichtung, einer Ver-mittlungsinstanz für ihre subsistenzielle beziehungsweise konsumtive

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Reproduktion bedient, stellt sich diese Expansion oder Aufblähung des

markteigenen Maßstabs und kommerziellen Ausdrucks der in den mate-rialen Gütern verkörperten Werte als durchaus folgenreich heraus, underweist sie sich in der Tat als der große Haken bei der qua Etatismus prak-tizierten ultimativen und nämlich für die Realisierung nicht nur von mehrWert in genere, sondern des Mehrwerts in specie Sorge tragenden Lösungdes durch die Produktivität und Ausbeutungsrate des kapitalistischenProduktionsapparats heraufbeschworenen Absatzproblems. Praktischoder sozial genommen, ist nämlich das allgemeine Äquivalent, das Geld, ja nicht nur nomineller Maßstab, kommerzieller Wertausdruck, sondernebenso sehr auch funktionelles Austauschvehikel, reelles Zahlungsmittel.Das heißt, es erfüllt nicht nur den systematischen Zweck, das Austausch-verhältnis zwischen den ebenso zahlreichen wie vielfältigen materialenGütern oder Waren als nominelle Wertform, abstraktes Äquivalent, zu bemessen und auszudrücken, sondern ihm fällt ebenso sehr auch dieAufgabe zu, als materiales Wertmittel, konkretes Geld, den Austauschselbst zu vermitteln und durchzuführen.

Wie viel von dem materialisierten Wertmittel, dem Geld, dem Ein-zelnen per Lohn, Gehalt, Honorar oder Rente, das heißt, durch direkte beziehungsweise indirekte Vergütungen aus der kapitalistisch organi-sierten Wertschöpfung oder durch direkte beziehungsweise indirekteZuwendungen aus dem etatistisch eingesetzten Staatssäckel zufließt und

wie viel von dem Geld sich also in den Händen des Einzelnen befindet,entscheidet über seine objektiven Ansprüche an den Markt, seine Verfü-gung über auf dem Markt zirkulierende Sachwerte, kurz, seine Kaufkraft,entscheidet mit anderen Worten darüber, wie viel von den auf dem Marktversammelten materialen Gütern er kaufen und sich aneignen, als sub-sistenzielle beziehungsweise konsumtive Befriedigungsmittel in seinenBesitz bringen kann.

Eben diese, ihm qua Geld gegebene Kaufkraft aber wird nun durcheine etatistisch herbeigeführte übermäßige, den vom kapitalistischen Pro-duktionsapparat neugeschöpften Mehrwert übersteigende Erhöhung der

Geldmenge beeinträchtigt und gemindert! Wenn, wie oben konstatiert,aufgrund jener Vergrößerung der Geldmenge proportional mehr Geldauf die jeweiligen materialen Sachwerte, die Waren, entfällt, wenn alsoder Geldwert oder Preis der einzelnen Ware steigt und letztere mehrGeld erfordert, um – aus Sicht des Marktes – ihren Wert zu realisieren

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 beziehungsweise – aus Sicht der Subsistierenden und Konsumierenden –

als Befriedigungsmittel eintauschbar zu sein, dann bedeutet das zwangs-läufig eine Minderung der dem Subsistierenden oder Konsumierendenqua Geldwert gegebenen Kaufkraft, bedeutet es eine Entwertung desallgemeinen Äquivalents, über das er verfügt, des Geldes in seiner Hand.Der durch die Vergrößerung der Geldmenge bewirkten Erhöhung des no-minellen Geldwerts der Sachwerte, den steigenden Preisen der materialenGüter, entspricht auf der Seite des Geldes selbst dessen Entwertung, seinVerlust an reeller Kaufkraft.

Der praktische oder durchaus empirische Grund für diese systemati-sche oder quasimathematische Korrelation liegt auf der Hand. Die eta-tistische Strategie der absolutistischen Herrschaft dient ja letztlich dazuund resultiert darin, die Zahl der Konsumenten zu vergrößern bezie-hungsweise ihre Kaufkraft zu erhöhen. Solange das in angemessenerProportion zur Vermehrung der materialen Güter beziehungsweise zurZunahme des in ihnen verkörperten Sachwerts geschieht, bleibt das fürden Preis der materialen Güter, den Geldwert der Sachwerte ohne Folgen.Erhöht nun aber die Herrschaft in Verfolgung ihrer etatistischen Strategiedie Kaufkraft disproportional zu den vorhandenen materialen Gütern,vermehrt sie die Geldmenge stärker, als die Summe der Sachwerte sichvergrößert, so sorgt sie nolens volens dafür, dass vermehrte beziehungs-weise vergrößerte Ansprüche an den Markt sich dort mit einer weniger

stark vermehrten oder vergrößerten Menge materialer Güter konfrontiertfinden beziehungsweise dass mehr an – jene Ansprüche repräsentieren-dem – Geldwert vorhanden ist, als an – in materialen Gütern, die dieAnsprüche zu befriedigen taugen, verkörpertem – Sachwert zur Verfü-gung steht, mit der gleichermaßen empirisch und logisch notwendigenKonsequenz, dass der in materialen Gütern jeweils verkörperte Sach-wert mehr konsumtiven Anspruch beziehungsweise mehr den Anspruchrepräsentierenden Geldwert an sich zieht und auf sich versammelt als zu-vor und dass deshalb umgekehrt dem mittels Geldwert repräsentierten,in Geldform vorgetragenen Anspruch des einzelnen Konsumenten an

den Markt weniger in materialen Gütern verkörperter Sachwert als zuvorzusteht und am Ende auch zufällt.Nichts anderes als dieses, durch die unverhältnismäßige Vergrößerung

der Geldmenge bewirkte und nicht durch ein entsprechendes Wachs-tum der Sachwerte gerechtfertigte Mehr an konsumtiven Anspruch, an

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Nachfrage von Seiten der Konsumenten, drückt sich in den steigenden

Preisen aus, und nichts anderes als diese, die Kehrseite der Medaille bildende und durch die relative Verringerung der gegen Geld eintausch- baren Sachwerte, die vergleichsweise Verknappung des Güterangebotsvon Seiten des Marktes, bewirkte Minderung des Anspruchs, den derMarkt dem einzelnen Konsumenten erfüllen kann, schlägt sich im Verlustan Kaufkraft, in der Geldentwertung nieder.

Praktisch oder sozial gesehen, hat also ein übermäßiger Einsatz des fi-nanzpolitischen Instruments, das im Rahmen ihrer etatistischen Strategiedie absolutistische Herrschaft mit dem Ziel einer den sächlichen Produkti-onsleistungen des kapitalistischen Apparats vollständig Genüge tuendenStärkung der gesellschaftlichen Konsumkraft in Anwendung bringt, näm-lich die von Staats wegen betriebene und den produktiven Wertzuwachs,das Mehr an Sachwert, das der kapitalistische Produktionsapparat her-vorbringt, übersteigende Erhöhung der für den Konsum verfügbarenGeldmenge aus thesaurischen Quellen, in der Tat gravierende Folgen.Über das Ziel einer Egalisierung des sächlichen Wertzuwachses hinaus-schießend, hat diese über die konsumtive Seite erfolgende übermäßigeEinspeisung systemexternen allgemeinen Äquivalents in den Wirtschafts-kreislauf steigende Preise und Geldentwertung, kurz, eine inflationäreEntwicklung zur notwendigen Konsequenz und schwächt damit diesubsistenzielle beziehungsweise konsumtive Position aller kraft ihres

Arbeitslohns, ihres Gehalts, ihrer Honorare oder ihrer Rente dem kom-merziellen Distributionssystem eingegliederten und von ihm abhängigenMarktteilnehmer.

Weil sie alle durch die rein geldwertvermittelte, bloß der etatistischenZuwendung weiteren allgemeinen Äquivalents geschuldete und durchkeinen Zuwachs an materialen Gütern, Sachwertverkörperungen, ge-rechtfertigte staatliche Rekrutierung neuer Konsumenten beziehungs-weise Stärkung vorhandener Kaufkraft in ihren eigenen, durch das Geldin ihrer Hand repräsentierten Ansprüchen an den Markt reduziert undeinschränkt werden, weil jene, bloß durch die Expansion der Geldmen-

ge effektuierte Erweiterung des Konsumentenkreises beziehungsweiseVerstärkung der konsumtiven Ansprüche für sie alle mittels des Mecha-nismus steigender Preise eine Entwertung des in ihrer Hand befindlichenallgemeinen Äquivalents zur Folge hat, sie alle in ihrer durch ihren Lohn,ihr Gehalt, ihr Honorar oder ihre Rente repräsentierten Konsumkraft

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 beeinträchtigt und schwächt, verschlechtert sich ihre subsistenzielle Lage,

sinkt ihr Konsumniveau und bezahlen sie die Zeche, die der Staat durchden übertriebenen Einsatz jenes raffiniertesten der der etatistischen Stra-tegie zur Hebung des inländischen Konsums zur Verfügung stehendenfinanzpolitischen Instrumente macht, begleichen sie die Schuld, die dieabsolutistische Herrschaft durch ihre der Rücksicht auf die Wertschöp-fung sich entschlagende Geldmengenpolitik anhäuft.

Sie alle müssen dafür büßen, wenn der Staat bei seinem etatistischenBemühen, nicht bloß aus eigenen, fiskalischen Mitteln ganz generell denKonsum im eigenen Land zu verbessern, sondern mehr noch aus eigenen,thesaurischen Quellen die konsumtive Realisierung speziell des Wert-zuwachses, den der kapitalistische Produktionsapparat jeweils erzielt,sicherzustellen, kein Maß kennt und nämlich durch eine übermäßigeVermehrung der potenziellen Konsumenten beziehungsweise Steigerungder nominellen Kaufkraft die reelle Subsistenz des einzelnen Marktteil-nehmers beziehungsweise seinen aktuellen Konsum beschneidet.

Und nicht etwa nur die vom Markt bereits subsistenziell Zehrenden be-ziehungsweise konsumtiv Nutznießenden finden sich durch jene mittelsstaatlicher Finanzpolitik betriebene übermäßige, sprich, zur Vermehrungder Sachwerte unverhältnismäßige Zunahme der qua Geldwert geltendgemachten Ansprüche an den Markt beeinträchtigt und geschädigt, son-dern auch und sogar die Begünstigten selbst, diejenigen also, die dank

der staatlichen Geldmengenpolitik Ansprüche an den Markt erringenund sich als Marktteilnehmer neu etablieren, können ihres Erfolges nichteigentlich froh sein und sehen sich letztlich betrogen, teils, weil die no-minelle Kaufkraft, die der Staat ihnen verschafft, ja nicht weniger derEntwertung unterliegt als die aller anderen Marktteilnehmer und sie alsofeststellen müssen, dass sie weniger gewinnen als erhofft, teils und vor al-lem, weil bei fortgesetzter inflationärer Geldmengenpolitik sie sich im Nuden übrigen Marktteilnehmern beigesellt und dem haargenau gleichenSchicksal einer unaufhaltsamen Verschlechterung ihrer subsistenziellenLage beziehungsweise eines progressiven Verfalls ihres Konsumniveaus

ausgeliefert finden.Tatsächlich ist eine inflationär-etatistische Geldmengenpolitik, die alsständiges finanzpolitisches Instrument eingesetzt und zur Routine wird,der sicherste Weg ins Verderben des Gemeinwesens, ein unaufhaltsamerProgress in einen Zustand der aus ökonomischer Not beziehungsweise

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Knappheit geborenen sozialen Verelendung beziehungsweise Deklassie-

rung, in den sich der weit überwiegende Teil der Gesellschaft, der bür-gerliche Mittelstand ebenso wie die lohnarbeitende Volksmasse versetztfinden und der auf Dauer gar nicht verfehlen kann, allen Untertanengeistund Bürgersinn, alle gesellschaftliche Loyalität gegenüber der absolutisti-schen Herrschaft und ihrer Staatsform zu zerstören und eine allgemeineUnruhe und Unzufriedenheit zu schüren, die sich irgendwann in Auf-ruhr und Gewalttat, in sei’s anarchistisch, sei’s solidarisch bewaffnetemWiderstand gegen das absolutistische Regime und seinen Staat entladenmuss.

Soviel Tatkraft und Ingenium die absolutistische Herrschaft bei der Förderungihres Hauptgeldgebers, des kapitalistischen Markt- und Produktionssystems,auch beweist, ihre eigene Reichtumsverwendung ist nicht vom Verwertungsprin-zip, sondern vom archaischen Gebot demonstrativen Konsums bestimmt. Ebendeshalb greift sie die Möglichkeit einer Förderung des gesellschaftlichen Konsumsdurch eine thesaurisch fundierte Geldmengenpolitik begierig auf und treibt siequasi zwangsläufig in den inflationären Exzess.

Angesichts der letztlich sie selbst, ihre Existenz, betreffenden tödlichenGefahren, die ein übermäßiger Einsatz jenes finanzpolitischen Instru-

ments einer Ausweitung beziehungsweise Stärkung der gesellschaftli-chen Konsumkraft durch die Einspeisung von allgemeinem Äquivalentaus systemfremd-staatseigener, thesaurisch-herrschaftlicher Quelle insWirtschaftssystem birgt, hätte also die absolutistische Herrschaft allenerdenklich guten Grund, Maß zu halten und durch strikte Beschränkungdes Geldmengenzuflusses auf den Zuwachs an materialem Produkt, dieenge Bindung der im Wirtschaftssystem zirkulierenden Geldwertsummean die vom System produzierte Menge an Sachwert jedes mit jenemInstrument verknüpfte inflationäre Risiko wie die Pest zu meiden. Undtechnisch-bürokratisch wäre das der absolutistischen Herrschaft auch oh-

ne weiteres möglich, da das thesaurische allgemeine Äquivalent, das Geldaus systemexternen Quellen, ja keineswegs beziehungsweise längst nichtmehr in seiner Naturalgestalt, als ungeprägtes Edelmetall, und deshalbim Prinzip unkontrolliert in das System gelangt, sondern im Großen undGanzen nurmehr in Münzform zirkuliert und die Herrschaft durch das

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Münzrecht, das sie besitzt, die Münzhoheit, die sie ausübt, die Einspei-

sung von neugeprägtem allgemeinem Äquivalent in den Geldkreislauf selbstherrlich vorzunehmen oder jedenfalls maßgeblich zu steuern, kurz,zentral zu kanalisieren und zu verwalten vermag.

Natürlich kommt noch hinzu, dass es, zumal in Zeiten, in denen diestatistische Begleitung und Erfassung des volkswirtschaftlichen Lebensdurch den Staat noch in den Kinderschuhen steckt und dieser beilei- be noch nicht über das fiskalische und elektronische Instrumentariumverfügt, das ihm mittlerweile erlaubt, dem kapitalen Subjekt perma-nent den Puls zu fühlen und über sein Befinden akribisch zu wachen –dass es also unter diesen Umständen für die absolutistische Herrschaft,rein empirisch betrachtet, kein Leichtes wäre, das jeweilige reale Wirt-schaftswachstum zu ermitteln, um das geforderte Äquilibrium zwischenVermehrung der Geldmenge und Zunahme der Sachwerte in die Tatumsetzen zu können. Indes wäre bei ein wenig gutem Willen diese Klippewohl umschiffbar, da die absolutistische Herrschaft hierfür nichts weitertun müsste, als ein perfektes Äquilibrium zwischen Quantum des Geld-werts und Menge des Sachwerts gar nicht erst anzustreben, sondern ihreetatistische Einspeisung thesaurischen allgemeinen Äquivalents in denökonomischen Kreislauf von vornherein so behutsam und zurückhaltendzu gestalten, dass sie gar nicht erst in die Gefahr einer inflationsträchtigübermäßigen Erhöhung der Geldmenge geriete, und im Übrigen dann

die durch eine solch behutsame Geldmengenpolitik nicht zu leistendevollständige konsumtive Egalisierung des vom kapitalistischen Apparat jeweils geschöpften produktiven Zuwachses oder Mehrwerts den zuretatistischen Fixierung auf den Binnenmarkt alternativen, wenn auch imFalle der europäischen Kontinentalstaaten in genere und Frankreichs inspecie nicht hinlänglich effektiven Absatzstrategien sei’s einer merkan-tilistisch auf die Nachbarn zielenden, sei’s einer expansionistisch nachÜbersee ausgreifenden Außen- beziehungsweise Kolonialhandelspolitikzu überlassen.

Dieser gute Wille freilich ist bei der absolutistischen Herrschaft schlech-

terdings nicht vorhanden: Was ihr technisch-bürokratisch ohne weiteresmöglich wäre, liegt ihr politisch-praktisch unerreichbar fern. Hier nämlichkommt zum Tragen, dass sie zwar mit der neuen, bürgerlichen, auf derTotalisierung des Marktsystems und der kapitalistischen Durchdringungder Produktionssphäre, die diese Totalisierung impliziert, aufbauenden

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Ökonomie im Bunde steht, dass aber gleichermaßen die Essenz ihres

Daseins und das Gesetz ihres Handelns keineswegs die kommerziel-le Wertakkumulation, die Anhäufung von Reichtum zu dem einzigenZweck der Anhäufung weiteren Reichtums, sondern vielmehr die kon-sumtive Affirmation von Welt, die als Sanktionierung und Bekräftigungder irdischen Dinge und menschlichen Verhältnisse wohlverstandene Ver-wendung beziehungsweise Verschwendung von Reichtum zur Bannungund Neutralisierung der, wie in aller politischen Herrschaft, so auch inihr lauernden und eben jene irdischen Dinge und menschlichen Verhält-nisse mit Entwirklichung und Entwertung bedrohenden Indifferenz undNegativität ist.

Wie alle traditionelle Herrschaft, so ist auch noch die absolutistischeganz und gar geprägt von und befangen in der für sie konstitutiven(und im Verlaufe dieser Studie bereits mehrfach erläuterten) Aufgabe,den von der Gesellschaft erzeugten Reichtum und Überfluss, der ihr,der Herrschaft, mit abgründiger Zwangsläufigkeit zufällt, gegen die ihminnewohnende Tendenz, sich zum Symbol oder Vorweis eines toto coeloanderen Seins und Beginnens zu entwirklichen und zu entwerten, durchdemonstrativen Konsum, ostentativen Verbrauch in seiner diesseitig-unmittelbaren Wirklichkeit, seinem mundan-eigenen Wert zu beschwörenund vorzuführen. Dass der Modus, in dem der Überfluss ihr zufällt, derMechanismus, durch den Reichtum in ihre Verfügung gelangt, sich mitt-

lerweile gewandelt hat und in der Hauptsache nicht mehr unmittelbartributärer, sondern distributär vermittelter Natur ist, nicht mehr in derdirekten, fronwirtschaftlich-extraktiven Enteignung der von den Unterta-nen geschaffenen Güter, sondern in einer indirekten, marktwirtschaftlich-transaktiven Abschöpfung der von ihnen geschöpften Werte besteht,kurz, nicht mehr als sozial sanktionierte Ausbeutung, sondern als kom-merziell kontrahierter Austausch erscheint, dass sie, noch einmal andersgesagt, den Reichtum, der ihr ihren demonstrativen Konsum, ihre os-tentative Verschwendung ermöglicht, im Wesentlichen oder jedenfalls inwachsendem Maße nicht mehr via directa einer aus der personalen Verfü-

gung über Arbeitskraft Nutzen ziehenden Herrschaftsordnung, sondernmodo obliquo eines aus der Organisation des materialen Austauschsder Arbeitsprodukte Gewinn schöpfenden Wirtschaftssystems erlangt –dies impliziert zwar gleichermaßen institutionell und funktionell einenachdrückliche Veränderung der Herrschaft selbst und lässt sie jenen

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 beschriebenen Wandlungsprozess durchlaufen, der sie aus einer feudal-

dynastischen Ordnungsmacht zu einer zentral-bürokratischen Regie-rungsgewalt werden lässt, sie aus dem gekrönten Haupt eines föderalis-tisch-organischen Staatskörpers zu dem macht, was sie nunmehr ist, zumsouveränen Herrn eines zentralistisch-mechanischen Staatsapparats.

Aber so sehr sich ihre institutionelle und funktionelle Form wandelt,an ihrem habituellen und intentionalen Verhältnis zur Substanz ihresBestehens, zum Reichtum, ändert sich dadurch nichts! Nach wie vor fängtsie mit dem Reichtum und Überfluss, den ihr der Markt beziehungsweiseder vom Markt generierte und ausgebrütete kapitalistische Produktions-apparat zuwendet, ganz und gar anderes an als der Markt und seine

Produktionsmaschinerie selbst, nutzt ihn mitnichten für die Verwertungund Vermehrung seiner selbst zwecks immer weiterer Selbstverwertungund Selbstvermehrung, sondern durchaus nur, um ihn im traditionellmit Herrschaft verknüpften Sinne, nämlich zum Zwecke eines öffentlichdemonstrierten Weltgenusses und einer rituell zelebrierten Lust am Lebenzu verwenden und zu verschwenden.

Dabei ist sich die absolutistische Herrschaft im Klaren darüber, dass ih-re eigene Stellung und ihr persönliches Wohlbefinden mit dem Wohlerge-hen und Gedeihen ihres wichtigsten Unterstützers und Hauptfinanziers,des sich durch Kapitalisierung der Produktionssphäre zum maßgeblichen

gesellschaftlichen Reproduktionsmechanismus totalisierenden kommer-ziellen Systems, steht und fällt. Sie weiß sehr wohl, dass sie nurmehrals stille Teilhaberin dieses ökonomischen Systems, empirisch betrachtet,überleben kann und, systematisch gesehen, eine Existenzberechtigunghat. Und eben deshalb ist sie auch von Anfang an, will heißen, schonin der ihrem eigenen Aufstieg korrespondierenden Formationsphase jenes zum kapitalistischen mutierenden kommerziellen Systems nachKräften bemüht, die ihr als stiller Teilhaberin zufallende Aufgabe einerpolitischen Beförderung und Absicherung des ökonomischen Prozesseszu erfüllen, und beweist dabei, was die Schaffung der für den Prozess

günstigsten Voraussetzungen und förderlichsten Bedingungen betrifft,eine Intelligenz und Lernfähigkeit, durch die sie zeigt, dass sie der Logikkapitalistischer Verwertung durchaus zu folgen und Rechnung zu tragenvermag, und die sie in der Tat als höchst geeigneten politisch-personalenPartner des ökonomisch-realen Subjekts Kapital ausweist.

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Angefangen von der Aufhebung städtischer Freiheiten, der Zerschlagung

von Zunftordnungen, der Veräußerung und Verpachtung von Gerechtsa-men, Schürfrechten und Nutzungsrechten beziehungsweise der Verlei-hung von Handelsmonopolen, der Durchsetzung niedriger Löhne undder Einrichtung von Arbeitshäusern bis hin zur kolonialen Expansionund den als Merkantilismus firmierenden handelspolitischen Maßnah-men tut die absolutistische Herrschaft alles, um zuerst der nachträglichals ursprüngliche Akkumulation identifizierten beschleunigten und ver-stärkten Massierung und Konzentration von Handelskapital Vorschub zuleisten und dann der durch Investition des akkumulierten Handelskapi-tals in die personalen und realen Bedingungen gesellschaftlicher Arbeit betriebenen kapitalistischen Umgestaltung der Produktionssphäre, derEtablierung einer als Ausgeburt des Marktes auf der Trennung der Produ-zenten von ihren Arbeitsmitteln und ihrer Verwandlung in Arbeitskräfte,Lohnarbeiter basierenden Wertschöpfung durch das kapitale Subjekt zumErfolg zu verhelfen.

Das alles aber tut die absolutistische Herrschaft und dieses Verständ-nis für die Notwendigkeiten und Unabdingbarkeiten eines erfolgreichverlaufenden kommerziellen beziehungsweise kapitalen Akkumulations-prozesses beweist sie stets nur im Blick auf einen Reichtum, in Erwartungeines Überflusses, den sie fern aller weiteren Akkumulationsperspektive,frei von jeglicher Verwertungsabsicht ausschließlich dazu verwendet, ih-

rem demonstrativen Konsum zu frönen, ihre ostentative Verschwendungzu betreiben. Ihre ganze, von Einsicht in die kommerzielle Verwertungs-logik zeugende tatkräftige Unterstützung und zielstrebige Förderung jener kapitalistischen Entwicklung, der sie selbst ihre Entstehung undStellung verdankt, zielt letztlich auf den ihr per Steuern und Abgabenzufließenden Anteil an den Gewinnen des neuen Produktionsapparatsund seines Marktes, mit dem das kapitale Subjekt ihren Sukkurs undBeistand honoriert und den sie eben dem aller Verwertungslogik insGesicht schlagenden demonstrativen Konsum, eben dem ostentativ ver-schwenderischen Verzehr zuführt, der die Substanz ihres Daseins bildet

und in dem allein sie ihre archaische Bestimmung findet, ihre mytholo-gische Sichselbstgleichheit hat. So gesehen, bleibt für die absolutistischeHerrschaft, all ihrer konstruktiven Mitwirkung und das Verständnis fürdie Erfordernisse kommerzieller Verwertungslogik, das sie beweist, zumTrotz, das sich verwertende Kapital doch immer bloßes, von allem ihm

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eigenen Selbstzweckanspruch weit entferntes Mittel zum Zweck des

für anderes zu verwendenden und – aus der Perspektive des Kapitalsselbst also – zu verschwendenden Reichtums und steht und fällt mit derErfüllung dieses – aus der Kapitalperspektive – heteronomen Zwecks undeitlen Beginnens.

Eben deshalb, weil das auf nichts weiter als auf seine erweiterte Repro-duktion gerichtete kommerzielle System und sein automobiler Antrieb,der kapitalistische Produktionsapparat, für die absolutistische Herrschaftnichts weiter sind als Mittel zum konsumtiven Zweck einer repräsen-tativen Verwendung beziehungsweise Verschwendung dessen, was dasSystem ihr als ihren herrschaftlichen Anteil am kapitalen Ertrag über-lässt, kommt es sie aber nun auch besonders hart an, das zu tun, was dieals Etatismus apostrophierte Strategie ihr abverlangt, und nämlich denZweck, ihren herrschaftlichen Ertrag und fiskalischen Gewinn, wiederumins Mittel, in ein finanzpolitisches Instrument, einen wirtschaftswirk-samen Faktor zu verkehren, sprich, den ihr per Steuern und Abgabenzufließenden Teil des kapitalen Gewinns ihrem Repräsentationsaufwand beziehungsweise ihrer Verschwendungssucht zu entziehen und den oben beschriebenen Umverteilungsbemühungen zuzuwenden, ihn mit demZiel einer Stärkung der gesellschaftlichen Konsumkraft in den Ausbaudes Staatsapparats und die damit direkt und indirekt betriebene Schaf-fung eines bürgerlichen Mittelstands, einer dank relativen Wohlstands der

Konsumentin vom Dienst, der Oberschicht, beispringenden und bei derBewältigung der Absatzprobleme, mit denen die Produktivität und Aus- beutungsrate des kapitalistischen Produktionsapparats den Markt heim-sucht, zur Seite stehenden neuen Abnehmer- und Verbraucherschicht zustecken.

So leicht ihr die politische Unterstützung des kapitalen Subjekts inForm von sozialstrategischen, gesetzgeberischen und ordnungspoliti-schen Maßnahmen und Verfügungen von der Hand geht, so schwertut sie sich doch mit ihrem ökonomischen Beistand, dem in Gestalt vonGehältern, Honoraren und Renten aus der eigenen Schatulle zu leistenden

Beitrag, den die nach Maßgabe ihrer etatistischen Strategie wachsendeZahl von Beamten und Staatsbediensteten nebst deren zivilem Anhangihr abverlangt. Deshalb ist ja auch, wie oben vermerkt, die absolutistischeHerrschaft weit entfernt davon, ihren gesamten Etat für jene Umvertei-lungsbemühungen zur Disposition zu stellen, und beschränkt vielmehr in

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der Absicht, sich in ihrem luxuriösen und verschwenderischen Lebensstil,

ihrem demonstrativen Konsum, unter keinen Umständen stören, sondernäußerstenfalls auf einem bestimmten Niveau arretieren zu lassen, ihrenBeitrag auf das progressive Mehr an Staatseinnahmen, das fiskalischePlus, das ihr der expandierende kapitalistische Staatsapparat beschert.

Genau diese ihre tief verwurzelte und nämlich im archaischen Grundihres Daseins verankerte Unlust, mehr, als mit dem demonstrativen Kon-sumanspruch, den sie selber erhebt, vereinbar, in ihre auf die Hebung dergesellschaftlichen Konsumkraft abgestellte Umverteilungsstrategie zustecken, lässt der absolutistischen Herrschaft nun aber jene oben als Krö-nung der finanzpolitischen Aktivitäten, die sie qua Etatismus entfaltet,vorgestellte thesaurisch fundierte Geldmengenpolitik als ein Geschenkdes Himmels oder – angesichts des durch und durch mundanen Cha-rakters des Absolutismus vielleicht besser gesagt! – der in der höfisch-theatralischen Mythologie der Zeit omnipräsenten Glücksgöttin Fortunaerscheinen.

Dass ihr die weitgehende Verfügungsmacht über das auf ihren heimi-schen und kolonialen Hoheitsgebieten geschürfte beziehungsweise alsKriegsbeute erlangte Edelmetall und die per Münzhoheit vollständigeEntscheidungsgewalt darüber, ob, wann und in welchem Umfang dasEdelmetall in der Funktion von allgemeinem Äquivalent in den Wirt-schaftskreislauf eingespeist und der dort bereits zirkulierenden Geld-

menge hinzugefügt wird, ermöglichen, Konsumkraft aus thesaurischenQuellen zu schöpfen, drängt sich ihr als die Lösung all der Probleme undKopfschmerzen auf, die ihr die Gleichzeitigkeit ihres eigenen Anspruchsauf möglichst ungeschmälert demonstrativen Konsum und verschwen-derischen Luxus und der etatistischen Aufgabe bereitet, einen Beitragzur Lösung der Absatzprobleme des kapitalistischen Produktionsappa-rats durch Schaffung neuer, kaufkräftiger, mittelständischer Gruppen zuleisten. Mittels jener herrschaftseigen-thesaurischen Geldquelle kann sieder Aufgabe, für neue gesellschaftliche Konsumkraft zu sorgen, nach-kommen, ohne hierfür die aus der Wirtschaft fließenden Steuern und

Abgaben, den in der Hauptsache kapitalgenerierten Etat in Anschlag bringen und damit ihren aus letzterem finanzierten demonstrativen Kon-sum beschneiden und einschränken zu müssen.

Dass die absolutistische Herrschaft, dem archaischen Sinn ihres Daseinsgehorchend und gleichermaßen getrieben und geblendet von ihrem dem

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kommerziellen Akkumulationsstreben ebenso diametral widerstreiten-

den wie mittlerweile existenziell verpflichteten Umgang mit gesellschaft-lichem Reichtum, die thesaurische Geldquelle als Chance zur ungeschmä-lerten Aufrechterhaltung ihres verschwenderischen Lebensstils, wo nichtgar zur ungezügelten Eskalation ihrer Prunksucht und ihres Luxus wahr-nimmt und nutzt, verändert nun freilich die Stellung und Funktion, die jener aus dem Thesaurus gespeisten Einleitung von allgemeinem Äqui-valent in den Wirtschaftskreislauf im Rahmen der etatistischen Strategiezur Lösung von Absatzproblemen durch Steigerung der landesinternenKaufkraft zukommt. Die thesaurisch fundierte Geldschöpfung hört mehrund mehr auf, die bloße Ergänzung zur fiskalisch vermittelten Umver-teilung zu sein, als die sie anfänglich in Erscheinung tritt, und avanciertzum vollgültigen Ersatz für letztere.

Weil, wie gesehen, eine etatistisch betriebene bessere Verteilung dervorhandenen gesellschaftlichen Kaufkraft unter den gegebenen Umstän-den bedeutet, dass die absolutistische Herrschaft ihren demonstrativenKonsum und luxuriösen Lebensstil einschränken oder jedenfalls ein-frieren muss, um einen Teil des in Form von Steuern und Abgaben ihrzufallenden Anteils am Gewinn des kapitalistischen Produktionsapparatsund seines Vertriebssystems, des Marktes, in den Aufbau einer kon-sumtiv wirksamen bürgerlichen Staatsbürokratie nebst mittelständischerDienstleisterklientel stecken zu können, und weil der absolutistischen

Herrschaft aber kaum etwas schwerer fällt und stärker wider die Naturgeht als dieser Verzicht auf die gewohnte Hofhaltung und Verschwen-dung beziehungsweise auf die Möglichkeit, letztere der Steigerung ihrerfiskalischen Einnahmen entsprechend immer opulenter zu gestalten undauf die Spitze zu treiben – weil dies so ist, gelangt sie, die absolutisti-sche Herrschaft, geradezu zwangsläufig dazu, jenes von der staatlichenFinanzpolitik zwecks Stärkung der gesellschaftlichen Konsumkraft zu-sätzlich zur Umverteilung ersonnene Instrument einer aus dem Thesau-rus bestrittenen Geldschöpfung aus einem Zusatz, einem Supplement,zu einem Ersatz, einem Substitut werden zu lassen, kurz, es als ein all-

vermögendes Passepartout in Gebrauch zu nehmen, das ihr gestattet,ihre Umverteilungsanstrengungen überhaupt einzustellen und auf jedesproduktivitäts- und ausbeutungsbedingte Absatzproblem, mit dem derkapitalistisch fundierte Markt den Staat konfrontiert, mit immer demgleichen etatistischen Allheil- und Wundermittel einer aus thesaurischen

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Quellen geleisteten Dotierung des Staatsapparats im Besonderen und

Begleichung der staatlichen Verbindlichkeiten im Allgemeinen und einerdadurch bewirkten Erhöhung der dem Wirtschaftssystem verfügbarenGeldmenge zu begegnen.

Damit freilich kann die absolutistische Herrschaft gar nicht verfehlen,früher oder später und eher früher als später die oben angegebene undmit der thesaurischen Geldschöpfung untrennbar verknüpfte Kautel zuverletzen und nämlich mehr allgemeines Äquivalent, mehr geldlichenWert in das Marktsystem einzuspeisen, als dem durch den Produkti-onsapparat erzielten sächlichen Wertzuwachs entspräche. Weil sie ja,um ihren aufwändigen Lebensstil und verschwenderischen Konsumungeschmälert fortsetzen oder gar noch übertrumpfen zu können, jeneLeistungen in Sachen Stärkung der gesellschaftlichen Kaufkraft, die sie bis dahin durch Umverteilung bereits vorhandenen und nämlich auf fiskalischem Wege in ihre Hände gelangten allgemeinen Äquivalentserzielt hat, jetzt allesamt, soweit sie sich nicht aufs Schuldenmachenverlegt, auf dem Wege der Geldschöpfung, der Beschaffung neuen, denherrschaftlichen Schätzen entnommenen allgemeinen Äquivalents erbrin-gen muss, ist angesichts der Fülle von pekuniären Verpflichtungen, mitdenen der bereits ins Leben gerufene Staatsapparat und die durch diekapitalistische Entwicklung gebotene Fortsetzung der in der Erzeugunggesellschaftlicher Kaufkraft durch Mittelstandsförderung bestehendenetatistishen Strategie sie konfrontieren, ganz unvermeidlich, dass sie dasdurch den Wertzuwachs bei der Produktion gesetzte Maß überschreitetund durch eine übermäßige Vergrößerung der Geldmenge die generel-le Proportion zwischen Geldwert und Sachwert verschiebt und in eineSchieflage bringt.

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Gegen die Folgen ihrer inflationären Geldmengenpolitik bietet die absolutistische

 Herrschaft, aus Trägheit und weil sie am wenigsten von ihnen betroffen ist,immer wieder das als Heilmittel missverstandene Gift eben dieser Politik auf.Vom kapitalen Subjekt und seinen Repräsentanten lässt sich ein korrektiverEinfluss auf die Herrschaft nicht erwarten, weil erstens eine Inflation, solange sienicht galoppiert, den kapitalen Akkumulationsprozess gar nicht stört und weilzweitens die Herrschaft beim kapitalen Subjekt hoch verschuldet ist und dies demletzteren ideale Bedingungen für eine von herrschaftlicher Bevormundung freie,liberalistisch ungehemmte Entfaltung seines Produktions- und Marktsystemsbietet.

Die Folge ist das oben erläuterte und als zwei Seiten einer Medaillewohlverstandene Doppelphänomen steigender Preise und sinkenderKaufkraft, ist mit anderen Worten eine inflationäre Entwicklung unddamit die Verschlechterung der ökonomischen Lage und der sozialenVerhältnisse, des Lebensstandards und der Existenzbedingungen alleram volkswirtschaftlichen Leben Beteiligten, der Gehaltsempfänger undRentenbezieher nicht weniger als der Lohnarbeitenden. So gewiss die derLösung des Absatzproblems durch das Passepartout einer deckungslosenErhöhung der Geldmenge geschuldete inflationäre Entwicklung, derKomplementärprozess aus steigenden Preisen und sinkender Kaufkraft,den Anspruch des Einzelnen an den Markt verringert und seine Kaufkraft

schwächt, so gewiss bedroht sie ihn aktuell (wenn er ein ohnehin bereitsam Rande des Existenzminimums subsistierender Lohnarbeiter ist) odertendenziell (wenn er als Angehöriger des Mittelstands in relativem Wohl-stand lebt) mit sinkendem Lebensstandard und Statusverlust, letztlichalso mit ökonomischer Not und sozialem Elend.

Und das gilt, wie gesagt, für alle, auch für diejenigen, die unmittel- bar Nutznießer jener Geldmengenpolitik sind und durch letztere in denBesitz von allgemeinem Äquivalent gelangen, sprich, Ansprüche an denMarkt erwerben, weil sie ja das allgemeine Äquivalent nur um den Preisseiner gleichzeitigen relativen Entwertung gewinnen, ihre neuen An-

sprüche an den Markt mit deren gleichzeitiger relativer Diskontierung bezahlen müssen. Und es gilt auch und sogar für die absolutistischeHerrschaft selbst und ihre noble Klientel, ihre höfische Gesellschaft, weil ja jene ungedeckte Aufstockung des Etats aus thesaurischen Quellen auf ihn als ganzen zurückschlägt und den konsumtiven Spielraum auch des

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Hofes einschränkt, die Kaufkraft auch der Etatmittel, die die Herrschaft

für ihren Luxus und ihre Verschwendung zur Verfügung hat, mindert.Diese Tatsache der die Lebensbedingungen aller Mitglieder der Gesell-schaft und also auch sie selbst, ihren eigenen repräsentativen Lebensstil,in Mitleidenschaft ziehenden Teuerung und Geldentwertung, die jenezum Wachstum der Sachwerte unverhältnismäßige Geldschöpfung austhesaurischen Quellen nach sich zieht, müsste nun eigentlich der abso-lutistischen Herrschaft ein Licht aufstecken und ihr klar machen, dass jenes finanzpolitische Instrument einer Erhöhung der Geldmenge, alspauschaler Ersatz für jegliche Umverteilungsanstrengung und mithinim Übermaß gebraucht, kein gangbarer Weg zur Lösung der durch dieProduktivität und Ausbeutungsrate des kapitalistischen Produktions-apparats heraufbeschworenen Absatzprobleme ist und letztlich die Ge-sellschaft nur in einen Zustand allgemeiner materialer Not und sozialerZerrüttung stürzen kann.

Sie müsste es – wäre da nicht der unselige Umstand, dass der Speer,der die Wunde schlägt, sie auch immer wieder zu heilen verspricht, dass,weniger metaphorisch gefasst, jene thesaurische Geldmengenerhöhung,die die inflationäre Minderung der Kaufkraft verschuldet, sich der Herr-schaft auch immer gleich wieder als probates Mittel anbietet, die ge-minderte Kaufkraft wiederherzustellen. Wenn die übermäßige staatlicheGeldschöpfung, wie das gesellschaftliche Subsistenz- beziehungsweise

Konsumniveau in genere, so auch das herrschaftliche Luxusleben inspecie beeinträchtigt, hat es die Herrschaft ja in der Hand, diese Beein-trächtigung durch eine neuerliche Geldschöpfung zu kompensieren undwettzumachen. Zwar erweist sich das Therapeutikum nur zu rasch alseine neue Dosis inflationären Gifts und bringt nämlich die neuerlicheGeldschöpfung die Minderung der Kaufkraft und die daraus resultie-renden ökonomischen Nöte und sozialen Probleme in verschärfter Formzurück, aber jedes Mal greift die ihrer Verschwendungssucht verfalle-ne oder, besser gesagt, dem Wiederholungszwang des demonstrativenKonsums, in dem sie den Sinn ihres Lebens findet, gehorchende abso-

lutistische Herrschaft zwecks Kompensation des Schadens wieder zumgleichen schadenstiftenden palliativen Opiat.Die Alternative hierzu wäre, dass die absolutistische Herrschaft auf 

Kosten ihrer eigenen Lebensführung, um den Preis einer Einschränkungdes demonstrativ-verschwenderischen Konsums ihrer selbst und der

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von ihr dotierten höfischen Oberschicht, zur Umverteilungspraxis zu-

rückkehrte und reelle, aus Steuern und Abgaben gespeiste Etatmittel dereigenen Verwendung oder vielmehr Verschwendung entzöge, um sie derStärkung der gesellschaftlichen Konsumkraft durch den Ausbau und dieFörderung eines staatlich generierten Mittelstands zuzuwenden. Zu die-sem Kraftakt aber ist die ebenso sehr objektiv durch das allzeit verfügbareAllheilmittel beziehungsweise Rauschgift thesaurischer GeldschöpfungVerführte wie subjektiv durch ihre Sucht beziehungsweise ihren Wie-derholungszwang Getriebene zu schwach. Ehe sie den fatal bequemenWeg der Aufblähung der Geldmenge verlässt und sich schließlich derdringend nötigen Ausgabendiät und Änderung ihres Lebensstils unter-zieht, nutzt sie lieber ad infinitum, will heißen, bis zum bitteren Ende,die scheinbare Heilkraft des als finanzpolitisches Instrument ins Spielgebrachten herrschaftlichen Schatzes und verstrickt sich und die Gesell-schaft immer tiefer in jene Spirale aus Teuerung und Entwertung, jeneninflationären Strudel, der gar nicht verfehlen kann, immer größere Teileder Gesellschaft ökonomisch zu ruinieren und sozial zu deklassieren.

Und natürlich kann die Herrschaft ihrer Sucht auch und nicht zu-letzt deshalb so unbeirrt frönen, ihrem Wiederholungszwang deshalb sounbekümmert nachgeben, weil sie von den Folgen ihrer Geldschöpfungs-politik am wenigsten betroffen ist oder sie jedenfalls am vergleichsweisewenigsten spürt, teils, weil sie quasi am Anfang der Nahrungskette steht

und der scheinbare Segen, der vergiftete Gewinn der thesaurischen Ein-speisung in den Wirtschaftskreislauf erst einmal bei ihr, der Einspeiserin,positiv ankommt, ihrem Konsum aufhilft, ehe die eingespeisten Geldmit-tel dann im Fortgang ihre negative Wirkung entfalten und sich in demMaße, wie sie sich im Kreislauf verteilen, als letzteren zerrüttendes infla-tionäres Gift erweisen, teils, weil angesichts des Umfangs des höfischenEtats, der Größenordnung der der absolutistischen Herrschaft zu Gebotestehenden Kaufkraft, deren jeweilige inflationäre Schwächung immer nurein durch eine neue Giftdosis leicht vergessen zu machender Nadelstich bleibt und nicht als der schmerzhafte Einschnitt in die Lebensverhältnisse

spürbar wird, als den der bürgerliche Mittelstand jene Geldentwertungund Teuerung erlebt, beziehungsweise als der durch Mark und Bein ge-hende Angriff auf die Existenz, als den die Lohnarbeiterschaft sie erleidet.

Während bei der Lohnarbeiterschaft und dem bürgerlichen Mittelstanddie inflationär bedingten Einbußen bei der Subsistenz beziehungsweise

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Einschränkungen beim Konsum rasch ans nackte Leben gehen bezie-

hungsweise am sozialen Status rütteln, bleiben sie bei der absolutistischenHerrschaft und ihrer Klientel Beeinträchtigungen des Lebensstandardsund Konsumniveaus, die zweifellos unwillkommen sind, aber doch sowenig ins Gewicht fallen, dass sie zwar neue irregeleitete finanzpolitischeBemühungen, sie aus der Welt zu schaffen, provozieren, nicht aber zueinem ernsthaften Umdenken, einer wesentlichen Richtungsänderung inder eigenen Lebensführung motivieren können.

Kraft gleichermaßen ihrer privilegierten Stellung in der Nahrungsketteund des exorbitanten Volumens ihres demonstrativen Konsums, ihrerrepräsentativen Verschwendung bleibt die absolutistische Herrschaftmit ihrer Klientel dem gesellschaftlichen Konkurrenzdruck, dem mittelsallgemeinen Äquivalents ausgetragenen Wettstreit um die materialenRessourcen, den ihre ungezügelte Geldschöpfungspolitik auslöst be-ziehungsweise anheizt, weitgehend entzogen. Sie sonnt sich in einerErfahrungslosigkeit, die Folgen ihres eigenen Tuns betreffend, genießtim Blick auf die wirtschaftlichen Nöte und sozialen Verwerfungen, dieihr zum Zerrbild seiner selbst entstellter Etatismus heraufbeschwört,eine Realitätsferne, der nichts adäquater Ausdruck verleiht als der mut-maßlich gar nicht zynisch gemeinte Rat, mit dem die Absolutissima denHinweis auf den Hunger der armen Leute beantwortet: Sie möchten dochKuchen essen, wenn es ihnen an Brot mangele!

Verschärft wird die Situation und unaufhaltsamer die Spirale infla-tionärer Zerrüttung noch dadurch, dass der ökonomische Teilhaber derpolitischen Machthaberin, das mit der absolutistischen Herrschaft kol-laborierende kommerzielle beziehungsweise kapitale Subjekt, als dieeinzige Instanz, die über genug Einfluss und Gewicht verfügte, um dieabsolutistische Herrschaft zur Ordnung zu rufen und zur Raison zu brin-gen, sie auf den Tugendpfad einer mit den subsistenziellen Bedürfnissender lohnarbeitenden Bevölkerung und dem Wohlergehen des mittel-ständischen Bürgertums besser vereinbaren staatlichen Finanzpolitikzurückführen, es versäumt, ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen,

ihren Einfluss geltend zu machen.Zwar sehen die Repräsentanten des kapitalen Subjekts, seine manufak-turellen und ansatzweise auch bereits industriellen Unternehmer ebensowie seine kommerziellen Sachwalter, seine Großhändler und Marktfüh-rer, im Unterschied zur absolutistischen Herrschaft selbst durchaus das

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Verfehlte einer ausschließlich auf Geldschöpfung statt wesentlich auf 

Umverteilung setzenden etatistischen Strategie und nehmen wahr, welchschlimme Folgen, wie viel ökonomische Not und sozialen Unmut jeneverfehlte Strategie heraufbeschwört, aber gegen letztere Front zu machenund der absolutistischen Herrschaft die Stirn zu bieten, scheuen sie sich.Ihre Konfliktscheu hat in der Hauptsache zwei Gründe, deren einer sichals bloß zureichende Bedingung, als konzessiver Zustand betrachten lässt,während der andere schon eher den Tatbestand einer wirkenden Ursache,eines treibenden Motivs erfüllt.

Erstens nämlich nimmt, rein ökonomisch betrachtet, das kapitalistischeSystem in seinen Wachstumsbedingungen und seiner Entfaltungsper-spektive gar keinen Schaden durch jene geldschöpfungsbedingt inflatio-näre Entwicklung. Was letztere bewirkt, ist ja, wie oben gezeigt, keineVeränderung des auf dem Markt versammelten und seiner Realisierungharrenden Sachwerts, sondern bloß eine Ausweitung der marktspezfi-schen Form, die der Sachwert im Zuge seiner Realisierung, seiner kom-merziellen Einlösung erhält, des als Preis erscheinenden Geldwerts, inden er durch den kommerziellen Austausch transformiert wird, ist alsonicht etwa eine Verminderung oder Schrumpfung des Werts, den dieGüter des Markts in der Konsequenz der für ihre Hervorbringung er- brachten Arbeitsleistung verkörpern, sondern bloß eine Vergrößerungoder Aufblähung des Maßstabes, an dem sich der verkörperte Wert be-

misst und nach dessen Maßgabe er in seine sichselbstgleiche Gestalt, inGeld, überführt wird. Und diese Maßstabsvergrößerung, diese Aufblä-hung des Geldwerts hat, wie ebenfalls gezeigt, einzig und allein zur Folgeund ist de facto gleichbedeutend damit, dass die Menge beziehungsweisedas Volumen der konsumtiven Ansprüche an den Markt zunehmen,dass mit anderen Worten mehr Konsumenten beziehungsweise mancheKonsumenten verstärkt Zugriff auf das auf dem Markt versammelteGüterangebot erhalten.

Sozial gesehen oder aus Sicht der Konsumenten hat das nun zwar dieunter den Stichworten Preissteigerung und Geldentwertung beschriebene

ungute Konsequenz, dass auf den Einzelnen ein geringerer Teil des Güter-angebots entfällt und seine Subsistenz zunehmend gefährdet wird bezie-hungsweise sein Lebensstandard fortlaufend sinkt. Rein ökonomisch odersub specie des kapitalen Verwertungsprozesses betrachtet indes spielt daskeine Rolle, da ja auch die durch übermäßige Geldschöpfung vermehrten

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konsumtiven Ansprüche an den Markt, wenn sie im Austausch gegen

das allgemeine Äquivalent, mittels dessen sie sich geltend machen, ein-gelöst werden, zur Realisierung des wenngleich maßstabsvergrößertenWerts einschließlich des darin enthaltenen Mehrwerts führen, den dasGüterangebot verkörpert, und mithin in reell unveränderter Funktion,wenn auch nominell aufgebauschter Dimension jene Transformation desdem ursprünglich investierten Geldwert entspringenden mehrwertigenSachwerts in letzterem äquivalenten neuerlichen Geldwert stattfindet, dieVoraussetzung für neuerlichen Mehrwert implizierende Wertschöpfungs-prozesse ist und insofern dem kapitalen Akkumulationsprozess so liebund teuer ist wie er sich selbst.

Solange die durch die herrschaftlich-thesaurische Geldschöpfung aus-gelöste inflationäre Entwicklung ein einigermaßen gemessenes, zeitlichRaum für neue Wertschöpfungsprozesse lassendes Tempo einhält undnicht in einen derart rasenden Galopp verfällt, dass der durch den vor-herigen Wertschöpfungsvorgang erzielte mehrwertige Geldwert jeweils bereits entwertet ist, noch ehe er in die personalen und realen Bedin-gungen für einen neuen Wertschöpfungsdurchlauf hat investiert werdenkönnen – solange also die Inflation das Wirtschaftsleben nicht mit einersolch galoppierenden Schwindsucht heimsucht, kann sie dem kapitalenSubjekt gleichgültig sein und hat, rein ökonomisch betrachtet, letzte-

res keinen Grund, auf die Gefahr eines ernsthaften Konflikts mit derStaatsmacht hin gegen sie einzuschreiten und auf die Beseitigung ihrerim übermäßigen Gebrauch des Geldschöpfungsinstruments durch dieabsolutistische Herrschaft bestehenden Ursache zu dringen.

Zu diesem, unter dem Gesichtspunkt des Eigeninteresses der Repräsen-tanten des kapitalen Subjekts, sprich, unter strikt ökonomischen Aspek-ten, qua Fehlanzeige fehlenden Grund, gegen die inflationäre Finanz-politik der absolutistischen Herrschaft Front zu machen, kommt nunaber noch ein wenn schon nicht im Sinne reeller Auswirkungen auf den betrieblichen Verwertungsprozess, so immerhin doch in der Bedeutung

finanzieller Folgen für den persönlichen Vermögensstand das Eigeninter-esse jener Kapitalagenten durchaus berührender und qua Kontraindika-tion vorhandener Grund hinzu, auf eine Intervention bei der Herrschaftzu verzichten und im Blick auf deren finanzpolitische Eskapaden eineLaissez-faire-Haltung zu praktizieren. Gemeint ist der Umstand, dass die

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absolutistische Herrschaft bei ihrem kapitalistischen Alliierten und Kom-

pagnon hoch in der Kreide steht. Von ihrer demonstrativen Konsumwutund Verschwendungssucht wie auch von ihrer unbezwinglichen Lust zumilitärischen Abenteuern angetrieben, vermag die Herrschaft nämlichschlechterdings nicht, mit ihrem in Form von Steuern und Abgaben ihrzufallenden Anteil am kapitalen Gewinn hauszuhalten, und kann sichnicht einmal mit den zusätzlichen Finanzmitteln begnügen, die ihr –wenn auch jeweils nur vorübergehend – ihre inflationäre Geldschöpfungin die Hände zaubert, sondern bildet darüber hinaus die Gewohnheitaus, bei ihrem Kompagnon, dem kapitalen Subjekt beziehungsweise des-sen Repräsentanten, Kredite und Darlehen aufzunehmen, sprich, gegenZinsen und Zahlungs- beziehungsweise Rückzahlungsversprechen Geldzu leihen. Diese ihre Schuldenmacherei wird ihr so sehr zum Habitus,nimmt solche Ausmaße an und resultiert in der Anhäufung solch gewal-tiger Summen, dass an eine tatsächliche Rückzahlung, eine Begleichungder von der Herrschaft eingegangenen Verbindlichkeiten, eine effektiveEntschuldung des in der Person des Souveräns verkörperten Staats baldschon gar nicht mehr zu denken ist.

Immerhin aber möchte das kapitale Subjekt die dem politischen Partnergeliehenen Gelder nicht einfach als verlorene Kosten abschreiben, wes-halb es erstens formell an seinen Forderungen festhält und diese durchForschreibung der Verbindlichkeiten und Umschuldungen bekräftigt und

zweitens reell auf der Zahlung von Zinsen für die gewährten Darlehenund Kredite besteht. Schon diese Zinszahlungen freilich kann unter dengegebenen Umständen ihrer sonstigen finanziellen “Verpflichtungen”,ihres konsumtiven Aufwands beziehungsweise ihrer demonstrativenVerschwendung einerseits und ihrer etatistischen Umverteilungs- oder, besser gesagt, Spendieraktivitäten andererseits, die Herrschaft nurmehrauf Basis ihrer inflationären Geldschöpfungsstrategie leisten.

Würde das kapitale Subjekt in Wahrnehmung seiner Gläubigerrol-le die Herrschaft zur Zahlung ihrer Kredit- und Darlehenszinsen nö-tigen, gleichzeitig aber darauf dringen, dass die Schuldnerin zu einer

soliden Finanzierungspolitik zurückfände und ihren Verbindlichkeitenausschließlich mittels ihrer fiskalischen Einnahmen und einer strikt amWertzuwachs des Sozialprodukts orientierten Geldschöpfung nachkäme,die Herrschaft würde, indem sie sich damit vor die Wahl gestellt fän-de, entweder ihren Konsum einzuschränken oder in ihren etatistischen

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Bemühungen um die Mittelstandsförderung, sprich, die Erhöhung der ge-

sellschaftlichen Kaufkraft, nachzulassen beziehungsweise diese einzustel-len, sich, ihrem archaischen Naturell, ihrem im Verhältnis zur Rationalitätdes kommerziellen Akkumulationsprinzips anachronistischen Charakterentsprechend, ohne Frage für letzteres entscheiden. Damit aber wäre demkapitalen Subjekt beziehungsweise den es repräsentierenden Gläubigernder verschuldeten Herrschaft, den Unternehmern der kapitalistischenProduktionsstätten und Betreibern des Marktes, nicht geholfen, da sie denGewinn, den sie auf der einen Seite durch die auf seriöse Weise geleistetenZinszahlungen verbuchten, auf der anderen Seite wieder einbüßten, da ja die Einstellung der staatlichen Förderungsbemühungen in Sachengesellschaftliche Kaufkraft die leidigen, durch die Produktivität undAusbeutungsrate des kapitalistischen Apparats heraufbeschworenenAbsatzprobleme verschärfte und das kapitale Subjekt bei der Realisierungdes von seinem Apparat produzierten mehrwertigen Werts mit Verlustenoder gar veritablen Einbrüchen und Krisensituationen bedrohte.

So gewiss demnach die absolutistische Herrschaft unentrinnbar in derSchuldenfalle sitzt, so gewiss müssen ihre Gläubiger, wollen sie nichtihre finanziellen Ansprüche an die Herrschaft vollständig verloren geben,dieser freie Hand bei der Aufstellung und Verwendung ihres Etats lassenund beide Augen zudrücken, wenn sie in unvertretbarem und mit soli-der Haushaltsführung nicht zu vereinbarendem Maße zum Instrument

thesaurischer Geldschöpfung ihre Zuflucht nimmt.Der im Begriff der Schuldenfalle implizierte Hinweis auf die Ausweg-

losigkeit der von der absolutistischen Herrschaft in der Maßlosigkeitihres Savoir vivre herbeigeführten desolaten Lage der Staatsfinanzenweckt nun freilich den Verdacht, dass es dem kapitalen Subjekt bei seinerLaissez-faire-Haltung gegenüber den finanzpolitischen Eskapaden derHerrschaft nicht rein und allein um Zinsen und die Zahlungsfähigkeit sei-ner Schuldnerin geht. Dieser Verdacht bestätigt sich, wenn man genauerhinsieht und feststellt, dass irgendwann die Zinslast solche Dimensionenerreicht hat, dass die Herrschaft sie auch mit Hilfe einer inflationären

Geldschöpfungspolitik nicht mehr zu schultern vermag und sich ge-zwungen sieht, bei ihrem Gläubiger, dem kapitalen Subjekt, neue Krediteund Darlehen aufzunehmen, nur um die laufenden Zinsen aus den altenzahlen zu können. Dass das kapitale Subjekt ohne jede Hoffnung auf eineschließliche Tilgung der von ihm der Herrschaft gewährten Darlehen und

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Kredite, wenigstens doch die Zinsen einstreichen will und deshalb bereit

ist, die von der Herrschaft zwecks Begleichung ihrer Verbindlichkeitenverfolgte unseriöse Finanzpolitik zu tolerieren, mag ja noch halbwegsverständlich erscheinen. Dass es aber solch scheinverständliches Motivfür seine Laissez-faire-Haltung nun selber ad absurdum führt, indem es bereit ist, auch diese ihm von der Herrschaft gezahlten Zinsen letztlichaus der eigenen Tasche beizusteuern, muss, ökonomisch betrachtet, fürschieren Irrsinn gelten.

Warum sollte das kapitale Subjekt eine Herrschaft stützen, die es soteuer zu stehen kommt, warum sollte es ihr eine Finanzpolitik, bei deres immer nur persönlich draufzahlt, durchgehen lassen? Wären seineRepräsentanten und Hauptagenten angesichts der finanzpolitischen Aus-sichtslosigkeit der Lage nicht besser beraten, wenn sie ihre ökonomischeMachtstellung und den politischen Einfluss, den diese ihnen verleiht,dazu nutzten, auf die Gefahr eines ernsthaften staatspolitischen Zerwürf-nisses und konstitutionellen Konflikts hin die absolutistische Herrschaftzu grundlegenden, ihre Etatgestaltung im Allgemeinen und ihre Ausga- benpolitik im Besonderen betreffenden Reformen zu drängen und alsolieber ein Ende mit Schrecken in Kauf zu nehmen, als einem Schreckenohne Ende zuzuschauen.

Genau diese ihre ökonomische Machtstellung indes ist es, was daskapitale Subjekt von einem solch entschiedenen Eingreifen abhält. Es

verdankt sie ja nicht zuletzt jener exorbitanten Schuldenlast, die die abso-lutistische Herrschaft angehäuft hat, dem Würgegriff, in dem dank jenerSchuldenlast es als Gläubiger die herrschaftliche Schuldnerin hält. JeneSchuldenlast sorgt dafür, dass sich das etablierte Verhältnis zwischen denBündnispartnern, zwischen absolutistischer Herrschaft und kapitalemSubjekt, zugunsten des letzteren verschiebt und die Herrschaft nicht mehrnur im Eigeninteresse, sprich, um der Ausstattung ihres Etats willen, denAusbau des kapitalistischen Produktionsapparats aus eigenen Stückenzu fördern bereit, sondern mehr noch um ihrer Selbsterhaltung willen,sprich, um den Staatsbankrott zu vermeiden, dem kapitalen Subjekt beim

Ausbau seines Apparats freie Hand zu lassen und quasi eine Generalvoll-macht einzuräumen gezwungen ist. Seine quasi persönliche, durch seineRepräsentanten und Agenten wahrgenommene Gläubigerposition er-möglicht mit anderen Worten dem kapitalen Subjekt, sich der politischenKontrolle, der Bevormundung durch den Staat, weitgehend zu entziehen

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und eine liberalistische Wirtschaftspolitik zu betreiben, eine von gesell-

schaftlichen Rücksichten nicht weniger als von staatlichen Ansprüchenweitgehend entbundene Akkumulationstätigkeit zu entfalten.Wie sollte das kapitale Subjekt der Perspektive eines solchermaßen

entfesselten Kapitalisierungsprozesses wohl widerstehen können? Wiesollte es wohl zögern, dafür den Preis jener Schuldenlast zu zahlen, dendie Herrschaft auf seine Kosten anhäuft, und in Kauf zu nehmen, dasses sich dabei um verlorene Kosten handelt, dass es jene Schulden letzt-lich abschreiben muss? Ökonomisch abschreiben muss es diese Kosten,diese Ausgaben für der Herrschaft gewährte Darlehen und eingeräumteKredite, in dem Sinn, dass es keinen Sou davon wiedersieht und, um denStaatskonkurs zu verhindern, selbst die Zinszahlungen noch aus eigenerTasche bestreiten muss. Aber indem es das tut, kann es sie eben in einemdurchaus affirmativen, ihm genehmen Sinne politisch abschreiben, sie,wenn man so will, als Werbungskosten verbuchen und sie nämlich nut-zen, um sein Bündnis mit der absolutistischen Herrschaft in einen gegen-über der letzteren geltend zu machenden Knebelvertrag zu überführen,sprich, zur Grundlage einer ihm von der Herrschaft in ökonomischenDingen nolens volens übertragenen Generalprokura, einer im Blick auf die kapitalistische Umrüstung der gesellschaftlichen Produktionssphäreso gut wie unbeschränkten Handlungsvollmacht werden zu lassen.

Von der einzigen Macht im Staat also, die weder fronwirtschaftlicher

Untertan noch bürgerliche Kreatur der absolutistischen Herrschaft, son-dern das ökonomische Revers ihrer politischen Existenz und in diesemSinne ihr Geschäftspartner und Kompagnon ist und die von daher Ein-fluss auf die absolutistische Herrschaft nehmen und mit dem Ziel einerEindämmung ihrer haltlosen Verschwendungssucht und einer Revisionihrer verantwortungslosen Finanzpolitik Druck auf sie ausüben könnte –von dieser Macht im Staat also, dem kapitalen Subjekt beziehungsweiseseinen manufakturellen, industriellen und kommerziellen Repräsentan-ten, steht nicht zu erwarten, dass sie die entsprechende Initiative ergreifenund sich engagieren. Solange die durch die übermäßige Geldschöpfung

der Herrschaft provozierte inflationäre Entwicklung sich im Rahmeneiner bloßen Maßstabsvergrößerung des Geldwerts der kapitalistischenProduktion hält und nicht ein solches Tempo und ein solches Ausmaßannimmt, dass die galoppierende Entwertung die für die Wertschöpfunggrundlegende Investitionstätigkeit beeinträchtigt und durchkreuzt, sieht

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das kapitale Subjekt den Zweck seines Daseins, den Akkumulations-

prozess, von jener Entwicklung unbetroffen und keinen Grund, gegendie von der absolutistischen Herrschaft betriebene Pervertierung undZweckentfremdung der etatistischen Politik Front zu machen.

Selbst wenn die Repräsentanten des kapitalen Subjekts Anstoß an densozialen, die Subsistenz der arbeitenden Unterschicht ebenso wie denKonsum des bürokratischen oder freiberuflichen Mittelstands betreffen-den Folgen des staatlichen Fehlverhaltens nehmen, wie kämen sie, diedoch bei ihrer in Sachen Lohnarbeit verfolgten Ausbeutungsstrategienicht die mindeste Rücksicht auf die sozialen Folgen dieser ihrer Strate-gie nehmen, dazu, sich zum Richter über die absolutistische Herrschaft

aufzuschwingen und dabei die politisch-ökonomische Machtposition, dieihre Rolle als Großgläubigerin des absolutistischen Staats zusätzlich zuuntermauern dient und die ihnen, wenn auch um den Preis der erwähn-ten hohen Werbungskosten, ideale Bedingungen für die kapitalistischeVereinnahmung und Durchdringung der gesamten gesellschaftlichenReproduktion bietet, aufs Spiel zu setzen?

Durch seinen etatistischen Auf- und Ausbau wird funktionell und sozial derStaatsapparat zu einer bürgerlichen Einrichtung. Dennoch weiß sich der inStaat geworfene bürgerliche Mittelstand als Kreatur der absolutistischen Herr-

schaft, und erst die verfehlte Finanzpolitik der Herrschaft mit ihren inflationärenFolgen bringt das Bürgertum in Harnisch und untergräbt seine kreatürlicheLoyalität. Dass auch das Volk unter jener verfehlten Finanzpolitik leidet, bedeu-tet allerdings nicht automatisch, dass bürgerlicher Mittelstand und Volk eine

 gemeinsame Front gegen die Herrschaft bilden können, da die beiden Gruppen,ökonomisch gesehen, in entgegengesetzten Lagern stehen.

So gesehen, scheint also kein Kraut gegen die fortschreitende Ver-schlechterung der ökonomischen Lage und sozialen Verhältnisse breites-ter Bevölkerungsschichten gewachsen, und scheint das Verhängnis einer

durch ihre archaische Verschwendungssucht, die ein höchst modernerReichtum jeden Halt verlieren lässt, und durch ihren Mangel an ökonomi-schem Verstand und finanziellem Augenmaß die Gesellschaft in den Ruintreibenden Herrschaft seinen Lauf nehmen zu müssen, scheint niemandda, der diese in ihrem etatistischen Bemühen um eine Sicherstellung

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kontinuierlichen kapitalistischen Wirtschaftswachstums bei gleichzeitiger

Gewährleistung ihres eigenen, ebenso exorbitanten wie demonstrati-ven Konsums entgleiste Herrschaft auf ihrer abschüssigen Bahn in denschließlichen Staatsbankrott und die mit ihm besiegelte gesellschaftlicheVerelendung und Auflösung aufhalten könnte.

So scheint es – aber der Scheint trügt! In Wahrheit hat sich die abso-lutistische Herrschaft längst und eigenhändig ihre Nemesis geschaffen –in Gestalt nämlich jener bürgerlich-mittelständischen Gruppen, die nachdem Vorbild des vom kapitalen Subjekt zwecks Steuerung und Kontrol-le seines Produktions- und Distributionsapparats ins Leben gerufenen,zwischen Lohnarbeiterschaft und Kapitalrepräsentanten situierten unddemgemäß relativ gut dotierten administrativen Mitarbeiterstabs sie,die Herrschaft, ihrerseits schafft und mit denen sie, wie gezeigt, ihrenetatististischen Beitrag zur Steigerung der gesellschaftlichen Konsum-kraft und Lösung oder jedenfalls Linderung der dem kapitalen Subjektaufgrund seiner Produktivkraft und Ausbeutungsrate permanent insHaus stehenden Absatzprobleme leistet – einen Beitrag, der dank derzivilen Dienstleister, die jener gut dotierte bürgerliche Mittelstand nunseinerseits in Brot setzt und als sekundäres Element seinen Reihen ein-gliedert, durchaus ins Gewicht fällt und über längere Strecken als dieBeschwerden, die das Wachstum des kapitalistischen Produktionsappa-rats begleiten, beseitigendes Mittel oder mindestens linderndes Palliativ

seine Wirkung tut.Wie der von Kapitals wegen ins Leben gerufene Mitarbeiterstab wer-

den dabei auch die ihm nachgebildeten, von Staats wegen etabliertenmittelständischen Gruppen nicht einfach nur wegen der ökonomischenBedeutung, die ihnen im Rahmen der etatistischen Unterstützung des ka-pitalistischen Wertrealisierungsgeschäfts zukommt, wegen ihrer Rolle alsKonsumenten also, alimentiert und finanziert, sondern sie werden gleich-zeitig und aus Sicht des im Rahmen seiner Kompetenz ökonomischeMaßnahmen wahrnehmungsmäßig auf ihre politischen Implikationen re-duzierenden Staats vordringlich oder sogar ausschließlich für öffentliche

Aufgaben entschädigt und remuneriert, die sie im Auftrag des Staates er-füllen, für amtliche Leistungen, die sie in Diensten des Staates erbringen.Wie oben ausgeführt, ist die etatistische Strategie einer Stärkung der

gesellschaftlichen Konsumkraft durch Schaffung eines relativ gut dotier-ten bürgerlichen Mittelstands in der Tat das Revers einer Münze, deren

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Avers der Auf- und Ausbau des Staatsapparats ist – eine Ausweitung

und Differenzierung der bürokratischen Einrichtungen der Gesellschaft,die keineswegs einen bloßen politischen Vorwand für eine rein ökono-mische Maßnahme darstellen, sondern auch für sich genommen sinnvoll beziehungsweise notwendig und nämlich Reaktion auf die Entstehungwirtschaftlicher Zentren und städtischer Ballungsgebiete, das Bevölke-rungswachstum, die kommerzielle, kommunikative und transportativeVerflechtung des Landes sind, die mit der kapitalistischen Entwicklungder Gesellschaft einhergehen, und auf die dadurch bedingte Zunahmeund Vervielfältigung der von der Allgemeinheit wahrzunehmenden or-ganisatorischen, planerischen, ordnungspolitischen und kontrollspezifi-

schen Aufgaben.Dieser im gesellschaftspolitischen Prinzip, wenn auch vielleicht nichtin dem etatistisch begründeten, seiner ökonomischen Überdeterminie-rung geschuldeten Umfang, in dem die Herrschaft ihn implementiert,durchaus gerechtfertigte Auf- und Ausbau des Staatsapparats verändertnun aber sozial nicht weniger als funktionell dessen Beschaffenheit undZusammensetzung.

Funktionell wächst sich das traditionell auf einer weitgehend regio-nalen Selbstverwaltung, die von ehrenamtlichen Amtswaltern versehenwird, basierende kleine Corpus staatlicher Repräsentanz zu einem ge-

waltigen Organismus aus, den seine Mechanik, seine den Mangel aneinem organisch-ubiquitären Nervensystem zu kompensieren bestimm-te Organisation in Gestalt von systematisch geordneten Kompetenzenund hierarchisch gestaffelten Instanzen als das, was er ist, als Apparaturausweist, wobei dieser Übergang vom auf der Gesellschaft thronendenCorpus zum die Gesellschaft durchwaltenden Apparat sich im Wesent-lichen in der Weise vollzieht, dass die im Rahmen der traditionellenSelbstverwaltung ehrenamtlich tätigen Amtswalter und Würdenträgeraußerhalb eines nur erst als Regierung, als Führungsorgan der Gesell-schaft figurierenden Staats sich durch bestallte und besoldete Beamte und

Staatsdiener innerhalb eines hiernach als Verwaltung, als gesellschaftli-cher Steuerungsmechanismus firmierenden Staats verdrängt und ersetztfinden, womit – ganz im Einklang mit der Entwicklung des Absolutismusund in der Tat letztere aus verwaltungstechnischer Sicht schlicht beschrei- bend – der sich als Apparat neu etablierende Staatskörper die bis dahin

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von ihm relativ unabhängigen und dem innergesellschaftlichen Machtge-

füge überlassenen Ordnungsfunktionen der Gesellschaft ebenso sehr ansich zieht und in sich aufhebt, wie er umgekehrt und im unmittelbarenGegenzug sich der Gesellschaft als ihre maßgebende Ordnungsmacht,ihr eigenstes bürokratisches Gefüge, wenn schon nicht anzuverwandeln,zu innervieren vermag, so jedenfalls doch einzubilden, zu assimilierenversteht.

Sozial betrachtet, bedeutet nun aber diese funktionelle Ersetzung derin ihren jeweiligen lokalen beziehungsweise regionalen Gesellschaftsfor-mationen verankerten und ihnen vorstehenden Amtsträger und Honora-tioren durch vom Staat bestallte und besoldete Beamte und Funktionäreeine Verdrängung und Ablösung der, gemäß dem Machtgefüge und denAbhängigkeitsverhältnissen vor Ort, traditionell der Oberschicht ange-hörenden, Adel und Patriziat repräsentierenden, ersteren durch aus denunteren Schichten, den bürgerlichen, handwerklichen und bäuerlichenGruppen, die als Dritter Stand firmieren, ausgelesene Personen, die sichals aus dem Volk rekrutierte Bürgerliche von ihren adligen und patri-zischen Kollegen beziehungsweise Vorgängern standesgesellschaftlichstrikt unterscheiden und die ihre sie mitsamt ihrem zivilen Anhang alsneuen Mittelstand, als quasi Bürgerliche erster Klasse, um nicht zu sagen,von Geblüt, kurz, als Bourgeoisie, ausweisende Stellung ausschließlichihrem Dienst am Staat, ihrer Zugehörigkeit zum Staatapparat und den

verwaltungstechnischen beziehungsweise dienstleistungsspezifischenFunktionen verdanken, die sie im Rahmen beziehungsweise im Umkreisdes letzteren erfüllen, weshalb sie naturgemäß den sozial ebenso wieökonomisch in anderen, außerstaatlichen Zusammenhängen fundierten,sprich, standesgesellschaftlich etablierten Amtsträgern und Honoratiorenleicht den bürokratischen Rang ablaufen und nicht nur wegen ihrer imZuge des Auf- und Ausbaus des Staatsapparats rasch zunehmendenZahl, sondern auch aufgrund des Engagements und der Effektivität, diesie beweisen, und der Erfolge, die sie erzielen, mehr und mehr maßge- bend für den Staatsdienst werden und, ihre adligen und patrizischen

Kollegen aus ihm verdrängend, dem Staatsapparat ein immer stärker bürgerlich-mittelständisches Gepräge verleihen.Der mit dem Auf- und Ausbau des Staatsapparats Hand in Hand ge-

hende soziale Wechsel in dessen Zusammensetzung vollzieht sich umsodurchschlagender und reibungsloser, als die adligen und patrizischen

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Amtsträger ihre fortschreitende Verdrängung und Dysfunktionalisie-

rung durch die neuen bürgerlichen Bürokraten und die deren Aufstieg begleitenden zivilen Dienstleister im Zweifelsfall gar nicht als sozialeBeeinträchtigung erfahren beziehungsweise als funktionellen Verlustempfinden, sondern eher als Entlastung, als Befreiung von lästigen öf-fentlichen Pflichten gewahren und, gestützt auf ihren außerstaatlichenFundus und ihren ständischen Status, ihr persönliches Vermögen undihr familiäres Ansehen, sich entweder dem höfisch-repräsentativen Le- ben beigesellen oder in den provinzlerisch-kontemplativen Ruhestandzurückziehen, kurz, in der einen oder anderen Form einem angenehmenMüßiggang oder willkommenen Zeitvertreib frönen.

Quasi mit Duldung, wo nicht gar bereitwilliger Zustimmung der tra-ditionell aus der adlig-patrizischen Oberschicht rekrutierten Amtswalterfindet so uno actu mit dem Auf- und Ausbau des Staatsapparats einPersonalwechsel statt, an dessen Ende die absolutistische Herrschaft ihrestaatlich-politische Macht nicht mehr auf ihresgleichen, den ihr stän-disch verbundenen, wo nicht gar dynastisch verschwägerten Adel nebstdem ihm als Juniorpartner zugeordneten städtischen Patriziat stützt,sondern auf einen ihr von Haus aus fremden bürgerlichen Mittelstand,der sich aus dem gemeinen Volk, der kommunalen und zum geringe-ren Teil auch ruralen Untertanenschaft rekrutiert und dessen Anspruchauf einen dem Reichtum und Rang der Herrschaft und ihres adligen

Anhangs wenn schon nicht vergleichbaren, so jedenfalls doch entferntnacheifernden Wohlstand und Status einzig und allein in seiner Fähigkeitgründet, den ihm von der Herrschaft mehr und mehr übertragenen bezie-hungsweise überlassenen Staat, jenen ebenso sehr sich differenzierendenwie expandierenden Apparat zur Kontrolle, Wartung und Steuerung desim Zuge der kapitalistischen Entwicklung numerisch wachsenden, inseiner organischen Zusammensetzung sich wandelnden und in seinersystematischen Struktur sich immer weiter verschränkenden Gemeinwe-sens effektiver zu betätigen und zu betreiben, als die Herrschaft und ihrständischer Anhang das könnten.

Unter der Hand des absolutistischen Herrschaftsverhältnisses findet jene in der Abtretung staatlicher Funktionen und der Übertragung bü-rokratischer Kompetenzen bestehende Machtverschiebung von einergesellschaftlichen Klasse auf die andere statt, die in der Folge von dertriumphierenden bürgerlichen Klasse als Herr-Knecht-Dialektik gefeiert

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wird – als Dialektik deshalb, weil im Dienste am Herrn, im eifrigen Be-

mühen, den Herrn zu entlasten und sein Wohlergehen zu befördern, dervom Herrn Abhängige, der Knecht, sich kapazitiert und eine durch dieDienstleistung, durch seine Arbeit für den Herrn, vermittelte Selbstän-digkeit und Selbstmächtigkeit gewinnt, während den Herrn, dem derKnechtsdienst seine Unabhängigkeit und seinen Wohlstand sichert, dieseihm von fremder Hand verschaffte Unabhängigkeit mehr und mehr vonder Wirklichkeit abschneidet und ins Abseits rückt und dieser ihm durchdie Arbeit des andern zufallende Wohlstand zunehmend lähmt und inPassivität und Trägheit versinken lässt – mit dem Ergebnis, dass in demMaße, in dem der Knecht seine Unentbehrlichkeit und die Wirksamkeitseines Daseins, sprich, seine eigene Wirklichkeit unter Beweis stellt, ergleichzeitig den Nachweis für die Entbehrlichkeit des Herrn, für dessenan seiner Funktionslosigkeit und Inkompetenz sich bemessende und mitÜberflüssigkeit synonyme Unwirklichkeit führt.

Der von den bürgerlichen Lobpreisern jener Herr-Knecht-Dialektik be-schworene Anschein einer quasi automatischen Verdrängung und Ablö-sung des obsoleten Herrn durch den emanzipierten Knecht freilich trügtoder trifft jedenfalls im historisch vorliegenden Fall nicht zu. Dass der denStaatsapparat mehr und mehr okkupierende und betreibende bürgerlicheMittelstand der absolutistischen Herrschaft unentbehrlich wird, bedeutetkeineswegs, dass er in der unmittelbaren Konsequenz deren Entbehrlich-

keit inne wird, sie als überflüssig zu betrachten lernt.Schließlich ist es die absolutistische Herrschaft, die ihm zu Amt und

Würden verhilft, ihn in Gnaden als Staatsdiener annimmt und ihm zumDank für die Ausübung seiner bürokratischen Funktionen sein gesicher-tes Auskommen und seine gehobene Stellung verschafft, ihn für seinestaatserhaltenden Leistungen alimentiert und honoriert. Eben weil, waser hat und was er ist, mit seinem Dienst an dem von der absolutistischenHerrschaft, vom Souverän, der natürliche Person ist, verkörperten Staatsteht und fällt, weil er im Unterschied zu seinen ebenso dezentralen wieehrenamtlichen adligen beziehungsweise patrizischen Vorgängern über

keinen vom Staat unabhängigen ökonomischen Fundus beziehungsweisesozialen Rückhalt verfügt, ist er im strengen Sinne Kreatur der Herr-schaft, ein von der Herrschaft auf den Plan gerufenes Geschöpf, und weißsich ihr existenziell verbunden, weiß sein Schicksal mit ihrem Bestandverknüpft.

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Dass sie mitsamt ihrem Stand in genere und ihrem Hof in specie als stiller

Teilhaber des die gesellschaftliche Arbeit ausbeutenden kapitalen Sub- jekts von dessen Gewinnen zehrt und also auf Kosten einer kraft kommer-zieller Funktion manufakturell beziehungsweise industriell reorganisier-ten, sprich, kapitalisierten Gesellschaft einem historisch-repräsentativenMüßiggang oder vielmehr einer archaisch-demonstrativen Verschwen-dung frönt, mag jenem bürgerlichen Mittelstand zwar praktisch unver-nünftig oder auch moralisch anstößig erscheinen, aber insofern diesesabsolutistisch-herrschaftliche Verhalten ihm zugleich die Karriere ermög-licht, ihm die Gelegenheit gibt, sich als gesellschaftlich nützlich bezie-hungsweise als von Staats wegen unentbehrlich in Szene zu setzen undsozial nicht minder als ökonomisch in Position zu bringen, lässt er es ohneEinschränkung gelten und akzeptiert es als Konstitutiv einer Welt, diesich anders vorzustellen, ihm sein kreatürliches Eigeninteresse verbietet.

Das freilich ändert sich in dem Maße, wie seine Schöpferin, die abso-lutistische Herrschaft, durch ihre geschilderte verfehlte Haushaltsfüh-rung, ihre die etatistische Strategie einer Stärkung der gesellschaftlichenKaufkraft ins falsche Extrem unverhältnismäßiger thesaurischer Geld-schöpfung treibende inflationäre Finanzpolitik den durch ihre exorbitanteSchuldenmacherei ohnehin bereits zerrütteten Staatshaushalt immer wei-ter aufbläht und auf diese Weise die Währung entwertet, den Geldwerteinem fortschreitenden Verfall ausliefert. Diese von seiner Schöpferin, der

absolutistischen Herrschaft, betriebene inflationäre Politik nämlich er-fährt das Geschöpf, der bürgerliche Mittelstand, als unmittelbaren Angriff auf seine Person und als zentrale Bedrohung seines Status; sie unter-gräbt, indem sie seine Konsumkraft schmälert, seinen Lebensstandard beeinträchtigt, gleichermaßen seine materiale Existenz und seine sozialeStellung; sie stellt damit die Loyalität, die das Geschöpf seiner Schöpferinschuldet und ihr gegenüber auch durchaus empfindet, auf eine Pro- be, die bei anhaltender Belastung des Verhältnisses durch jene verfehlteFinanzpolitik keine noch so große Gefolgstreue zu bestehen vermag.

Dass die absolutistische Herrschaft das relativ bequeme und gehobene

Dasein, das sie jenen dadurch zum Mittelstand avancierenden bürger-lichen Gruppen durch ihre etatistische Wirtschaftsförderungsstrategieverschafft, durch das im Prinzip gleiche, nur aber jetzt ohne Sinn undVerstand eingesetzte und ins inflationäre Extrem getriebene Mittel auchwieder zu untergraben und zu verschlagen Miene macht – diese, wie

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man will, Launenhaftigkeit oder Boshaftigkeit, mit der die Schöpferin

ihrem Geschöpf begegnet, mag ein Hiob mit Geduld ertragen – der staats- bürgerliche Mittelstand des absolutistischen Frankreich bringt solcheLangmut nicht auf! Wie sollte er auch wohl? Dem Viehzüchter Hiob bleibt bei allen Heimsuchungen doch immerhin seine territoriale Verankerung,sein fester Grund und Boden, während den Grund und Boden jener bürgerlichen Staatsdiener einzig und allein ihr Gehalt, die etatistischeVergütung, die sie für dem Staat geleistete Dienste empfangen, mithineben der Geldwert bildet, den die Finanzpolitik der absolutistischenHerrschaft einem fortlaufenden Entwertungsprozess überantwortet –womit nach der alttestamentarischen Devise “Der Herr hat’s gegeben, der

Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt!” der Mittelstanddie Materie, in der er gründet und die ihn erhält, als das reine Nichtserfährt, aus dem er geschaffen ist.

Aber der Mittelstand ist, wie gesagt, kein Hiob und weit entfernt da-von, den Namen des Herrn zu loben, seine Schöpferin, die absolutistischeHerrschaft, für ihre inflationäre Finanzpolitik zu preisen. Vielmehr bringtihn das Schindluder, das die absolutistische Herrschaft, wie auch immerunabsichtlich, mit seiner Existenz treibt, in Harnisch, weckt sein wach-sendes Ressentiment, erregt seinen immer unbändigeren Unwillen. Esentzweit ihn, den nachgerade staatstragenden Teil der Gesellschaft, mit

ihr, der vom Staat getragenen Krönung der Gesellschaft, der ihr auf-gesetzten Krone, und bringt in dem Maße, wie es beide entzweit, ihm,dem Mittelstand, einerseits seine staatstragende Funktion, sprich, seineUnentbehrlichkeit für den Bestand des Staats, und andererseits sie, dieHerrschaft, als bloßen Aufsatz, als ein bloßes Schmuck- und Beiwerkzu Bewusstsein – ein Korollar, ohne das der Staat, die Herrschaft sansphrase oder als reine, seiner repräsentativen Präsenz beraubte, adminis-trative Effizienz, zwar seiner Krone ledig und im metaphorischen Sinneenthauptet zurückbliebe, aber doch als voll funktionsfähiges Corpusdastünde, als ein Apparat, ein Vehikel, ein Staatsschiff, dem zur arché

früherer Zeiten letztlich nichts weiter fehlte, als die persona, die göttlicheoder königliche Galionsfigur, die es bannkräftig hochzuhalten pflegte,um mittels des ihnen altvertrauten Bildes den Ungeheuern der Tiefe,den ebenso vergeltungs- wie beharrungssüchtigen Mächten der Vergan-genheit, Kontinuität und Normalität vorzugaukeln und sie über seinen

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tatsächlichen historischen Fortgang, seine ozeanische Fahrt in die Zukunft

im Unklaren zu lassen beziehungsweise hinwegzutäuschen.Diese Ungeheuer der Tiefe, diese Mächte der Vergangenheit hat frei-lich mittlerweile das kapitale Subjekt dadurch, dass es den Ozean zueiner Wasserstraße verengt, die Unermesslichkeit des stürmischen Mee-res zur Unaufhaltsamkeit eines fortreißenden Stromes kanalisiert hat,der Gesellschaft so gründlich aus dem Gesichtskreis gerückt, dass derSinn und Nutzen, den sie der königlichen Galionsfigur, dem personalenApotropäon verliehen, de facto hinfällig ist und der von der absolutisti-schen Herrschaft, seiner Schöpferin, enttäuschte, weil sie ebenso wohl alsseine Verderberin erfahrende bürgerliche Mittelstand keinerlei archaisch-mythologisch motivierte Bedenken mehr tragen muss, jene als einenebenso kostspieligen wie dysfunktionalen Luxus, den die Gesellschaftsich leistet, ins Auge zu fassen, sprich, als eine obsolete Einrichtung aufsKorn zu nehmen, die nicht nur funktionell überflüssig und entbehrlich ist,sondern ohne die, weil sie eine reelle Belastung und Quelle ökonomischerNöte und sozialen Niedergangs darstellt, das Land mit Sicherheit besserfährt.

Allerdings ist der Harnisch, in den die absolutistische Herrschaft den bürgerlichen Mittelstand bringt, noch kein Schwert, ist das Ressenti-ment, das sie in ihm weckt, noch kein offenes Aufbegehren, der Unwille,den sie in ihm erregt, noch kein erklärter Wille. Will heißen, wie sehr

auch der staatstragende Mittelstand mit der absolutistischen Herrschaftfunktionell entzweit, wie sehr er innerlich mit ihr zerfallen sein mag,institutionell oder äußerlich bleibt er doch Kreatur der letzteren, bleibter ihr durch eben den Staatsapparat, eben den bürokratischen Funk-tionszusammenhang, durch den er sich von ihr systematisch löst undemanzipiert, zugleich empirisch untergeben und verhaftet – soweit undsolange nämlich das Volk, die aus den unteren Schichten bestehendeMasse der Bevölkerung, die dem absolutistischen Staat untertane Gesell-schaft in Reinkultur, den vom Mittelstand okkupierten und betriebenenStaat als eigenstes Organ der Herrschaft, als einen naturgemäß zur Person

des Souveräns gehörenden Organismus, kurz, beide als konstitutionelleEinheit, als wie Haupt und Leib organisch verbundene Monarchie ansiehtund gewahrt.

Soweit und solange dies der Fall ist, muss jedes das Ressentimentals Emotion zum Ausdruck bringende Aufbegehren des Mittelstands

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gegen die Herrschaft, jede den Unwillen als Willen zum Tragen brin-

gende Maßnahme, die der Mittelstand gegen die Herrschaft ergreift, alsVerbrechen gegen die Konstitution, Frevel gegen das Habeas corpus desSouveräns höchstselbst, mithin als Meuterei und Rebellion erscheinenund muss damit rechnen, entweder auf den gesammelten Widerstand desals treue Untertanen des Herrschers perennierenden Volkes zu treffen undkurzerhand niedergeschlagen und geahndet zu werden oder zumindestgeteilte Aufnahme zu finden und in einen blutigen gesellschaftlichenKonflikt, einen veritablen Bürgerkrieg zu münden.

Hier trifft es sich nun gut und kommt dem unwilligen Mittelstandzupass, dass auch die Masse der Bevölkerung, die breiten Volksschichtender vom Grundzins und vom Pachtwesen ausgebeuteten Bauern undTagelöhner und vor allem aber der ganz und gar von der Geldwirtschaftabhängigen städtischen Handwerker und Lohnarbeiter Leidtragende derinflationären Finanzpolitik der absolutistischen Herrschaft sind und sichdurch die progressive Geldentwertung, den wenn schon nicht galop-pierenden, so doch aber beharrlich schleichenden Verfall der Kaufkraft,in ihrer Subsistenz, ihrem materialen Leben und sozialen Dasein nichtminder als der bürgerliche Mittelstand faktisch beeinträchtigt und per-spektivisch bedroht finden. Und nicht nur nicht minder, sondern sogarstärker noch finden sie sich beeinträchtigt und bedroht, da ja die materialeKaufkraft, über die sie verfügen, und das soziale Niveau, auf dem sie

sich bewegen, ohnehin weit niedriger liegt als beim vergleichsweise gutdotierten und honorierten bürgerlichen Mittelstand, da es bei ihnen mitanderen Worten nicht erst um den Lebensstandard, sondern gleich um dienackte Subsistenz geht, und es deshalb auch weit weniger braucht, um siein Not und Elend zu stürzen, sie unter das materiale Existenzminimumzu drücken und vollständiger Deklassierung zu überantworten, sie zumPariadasein des Bettlertums und lumpenproletarischen Vegetierens zuverdammen.

Auch die breiten Volksschichten also stellt die Finanzpolitik der ab-solutistischen Herrschaft vor gleichermaßen existenzielle und soziale

Probleme, und auch ihre Loyalität, ihre Untertanentreue wird demgemäßauf eine harte und letztlich nicht zu bestehende Probe gestellt. So gesehen,scheint es dem bürgerlichen Mittelstand, wenn er seinen Unwillen in Wil-lensakte ummünzt, seine Ressentiments in Aufbegehren überführte, anBeistand von unten nicht fehlen zu müssen, scheint der Boden für einen

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allgemeinen, gesellschaftsweiten Aufstand gegen das ebenso neuerdings

verhasste wie althergebrachte Regime durch letzteres selbst ebenso sicherwie gründlich bereitet.Freilich sind, genauer besehen, die ökonomische Notlage und das so-

ziale Elend der breiten Volksschichten doch etwas dezidiert anderes alsdie Gefahr der Verarmung und Deklassierung, der sich der bürgerli-che Mittelstand ausgesetzt findet, und sind von dieser nicht nur demquantitativen Ausmaß und der chronischen Dringlichkeit nach, sondernauch und vor allem ursächlich, will heißen, hinsichtlich der für sie ver-antwortlichen Faktoren verschieden. Wie gezeigt, sind die Not und dasElend der städtischen und ländlichen Volksschichten ja primär und inder Hauptsache Konsequenz der Produktivität und Ausbeutungsrate,die mit Unterstützung und Förderung der absolutistischen Herrschaft,seiner stillen Teilhaberin, das kapitale Subjekt, sekundiert vom agrari-schen Pachtwesen, seinem Ableger auf dem Boden der Grundrente, in derProduktionssphäre durchsetzt und damit zu einer Grundkondition desLebens des mit der materialen Reproduktion der Gesellschaft befasstenBevölkerungsteils macht.

Die Produktivität und die Ausbeutungsrate der vom kapitalen Sub- jekt als ein Wertschöpfungsprozess auf Lohnarbeitsbasis reorganisier-ten gesellschaftlichen Produktion sind es, die die mit letzterer befasste,lohnarbeitende Volksmasse zunehmend an den Rand des Subsistenzmini-

mums drücken und sozial verelenden lassen, die sie also in eine Notlageversetzen, angesichts derer und vor deren Hintergrund die durch dieetatistischen Capricen und finanzpolitischen Eskapaden der Herrschaft,ihre inflationäre Geldmengenpolitik und Schuldenmacherei, verursach-ten zusätzlichen subsistenziellen Beschwerden und kommunalen Nötehöchstens und nur noch als die Spitze des Eisbergs, das Tüpfelchen auf dem i erscheinen. Wollten die Volksschichten also ernsthaft ihre mate-riale Lage verbessern und sich aus ihrem sozialen Elend befreien, siemüssten gegen das kapitale Subjekt nicht minder als gegen die absolutis-tische Herrschaft aufbegehren, müssten beide im Verein, als den Verein,

den sie ja bilden, als die Geschäftspartner und Komplizen, die sie sind,attackieren und zu beseitigen suchen.Das aber kann nun beileibe nicht die Meinung und Absicht des bür-

gerlichen Mittelstands sein. Sowohl direkt, in Gestalt der vom kapita-len Produktionsapparat selbst angestellten Administratoren, als auch

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indirekt, in Gestalt der in Staatsdienst genommenen, im Staatsapparat

 beamteten Bürokraten, sowie der durch die städtischen Ballungszentren,die die kapitalistische Entwicklung generiert, auf den provinziellen Plangerufenen Großpächter und schließlich der von allen drei Gruppierungenherangezogenen und unterhaltenen freiberuflichen Dienstleister, ist der bürgerliche Mittelstand abhängig von der Wertschöpfung des kapita-listischen Produktionsapparats, zehrt er mit anderen Worten von denGewinnen, die das kapitale Subjekt mittels Produktivität und Ausbeu-tung der gesellschaftlichen Arbeit erzielt.

Wenn der bürgerliche Mittelstand die absolutistische Herrschaft fürüberflüssig erkennt und los werden will, dann beileibe nicht in der Ab-

sicht, sich auch des kapitalistischen Produktionssystems zu entledigen,das unter der Ägide der absolutistischen Herrschaft entstanden und großgeworden ist und im Begriff steht, zum allumfassenden gesellschaftli-chen Reproduktionsmechanismus zu avancieren, sondern einzig undallein, um jene absolutistische Ägide, jenen aus der feudalen Vorzeitüberkommenen politischen Schutzschirm, unter dem die ökonomischeUmwälzung der feudalen Produktionsverhältnisse sich vollzogen hat undden mittlerweile aber seine finanzpolitischen Eskapaden und Fehlleis-tungen als einen die Gesellschaft teuer zu stehen kommenden Parasiten,einen gesellschaftsschädigenden Blutsauger erweisen – um also jene ab-

solutistische Ägide zu beenden und aus der Welt zu schaffen und letztereoffen und frei für eine Weiterentwicklung des kapitalistischen Produk-tionssystems zu machen, die sich hiernach nolens volens unter seiner,des bürgerlichen Mittelstands, politischen Lenkung und bürokratischenAufsicht, sprich, unter der Maßgabe und Kontrolle der de facto bereitsdie Verwaltung des Staatsapparats kaum weniger als den Betrieb des Pro-duktionsapparats wahrnehmenden Elite des Dritten Standes vollziehenmuss.

Der bürgerliche Mittelstand will also zwar dem zu Leibe rücken, wasdurch seine inflationäre Haushaltspolitik gleichermaßen ihm selbst und

den breiten Volksschichten das Leben schwer macht und den Lebensge-nuss versauert, aber nur, um eben die kapitalistische Wirtschaftsführungzu befördern und zur vollen Entfaltung kommen zu lassen, die, währendsie ihm, dem Mittelstand, zum Vorteil gereicht und Wohlstand beschert,für die breiten Volksschichten vielmehr die primäre Beschwer bildet, das

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zentrale Übel, im Vergleich mit dem das Ungemach, das ihnen jene in-

flationäre Politik der Herrschaft bereitet, kaum mehr als eine zusätzlicheBeeinträchtigung, ein sekundäres Handikap darstellt.

Die inflationären Nöte, denen die absolutistische Herrschaft die Gesellschaftaussetzt, stiftet nicht mehr als eine begrenzte Interessenkoinzidenz zwischenbürgerlichem Mittelstand und lohnarbeitendem Volk. Auf diesem schmalen Grateinen Schulterschluss, eine gemeinsame antiherrschaftliche Front zu erreichen,ist Aufgabe der bürgerlichen Intelligenz. Mittels ökonomischer Analyse undPrognose lässt sich das nicht erreichen, da auf diesem Weg eine Offenlegungdes kapitalen Grundwiderspruchs der Gesellschaft unvermeidlich wäre. Die

Lösung des Problems besteht in der so genannten Aufklärung, darin mit ande-ren Worten, dass die bürgerliche Intelligenz gleichzeitig mit der Erhebung dermarginalen Interessenkoinzidenz zwischen Bürgertum und Volk zum zentralenThema eine Verschiebung ihrer Kritik an der absolutistischen Herrschaft vomPolitisch-Ökonomischen aufs Politisch-Historische vornimmt.

Es zeigt sich so, dass der Unterschied zwischen der Lage des admi-nistrativ und professionell tätigen bürgerlichen Mittelstands und derSituation der materielle Arbeit verrichtenden Bevölkerungsteile im All-gemeinen und der Lohnarbeiterschichten im Besonderen sich nicht ineiner bloß graduellen Differenz beziehungsweise einem quantitativenAbstand erschöpft, sondern in einer essentiellen Diskrepanz beziehungs-weise einem qualitativen Gegensatz besteht. So gewiss der bürgerlicheMittelstand sei’s direkt, durch seine Funktion im kapitalistischen Pro-duktionsapparat, sei’s indirekt, durch sein Engagement im Staatsapparat,Nutznießer eben der Produktivitätssteigerungen und Ausbeutungsratenist, als deren Opfer die arbeitende Bevölkerung sich wiederfindet, sogewiss es mit anderen Worten der der Lohnarbeit um den Preis einerprogressiven subsistenziellen Deprivation und sozialen Verelendungder Arbeitenden abgewonnene Mehrwert ist, an dem sei’s direkt vonKapitals, sei’s indirekt von Staats wegen der bürgerliche Mittelstand

partizipiert und aus dem ihm seine vergleichsweise wohlhäbige Existenzfinanziert beziehungsweise alimentiert wird, so gewiss stehen beide,Mittelstand und Arbeiterschaft, in verschiedenen oder, genauer gesagt,entgegengesetzten Lagern, und ist die Beschwer, die die von der abso-lutistischen Herrschaft um der Aufrechterhaltung ihres demonstrativen

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Konsums, ihres Luxuslebens willen verfolgte inflationäre Finanzpolitik

 beiden bringt, nicht mehr als eine marginale Gemeinsamkeit, eine coinci-dentia oppositorum in dem präzisen, wenn auch unüblichen Sinn, dassdie generell obwaltende, systematische Opposition durch kontingente,dem historischen Zufall geschuldete, punktuelle Übereinstimmung einenSchein von plötzlichem intentionalem Einklang und interessengemein-schaftlicher Solidarität gewinnt.

Wie soll auf dem schmalen Grat dieser Koinzidenz ein Schulterschluss,eine praktisch wirksame und haltbare Verbindung zwischen den in ent-gegengesetzten Lagern positionierten Gruppen statthaben können, wiesoll der unmutträchtige Schein von Interessengemeinschaft, den jene

marginale Koinzidenz erzeugt, mehr sein können, als er ist – wie soll erhandlungsmächtige Wirklichkeit, Basis für eine gegen die absolutistischeHerrschaft gerichtete und ebenso gesellschaftlich geschlossene wie poli-tisch entschiedene Widerstands- und gegebenenfalls Aufstandsbewegungwerden können? Wie soll es mit anderen Worten dem bürgerlichen Mit-telstand gelingen, dem fronenden beziehungsweise lohnarbeitenden Volkdie durch die Verschwendungssucht und das Luxusleben der Herrschaftverschuldete Teuerung, die ökonomischen und sozialen Auswirkungender inflationären Finanzpolitik der Herrschaft, als gemeinsames, Bür-gertum und Volk gleichermaßen betreffendes Problem und Anliegen

hinlänglich dringlich und Aufmerksamkeit heischend vorzustellen, umdas Volk die systematische Kluft und den strukturellen Gegensatz, diees vom Bürgertum trennen, aus den Augen verlieren oder gar nicht erstwahrnehmen zu lassen, mithin es so zu disponieren beziehungsweise zumanipulieren, dass es sich bereit findet, durch seinen Konsens und seineKollaboration dem bürgerlichen Unwillen die nötige gesellschaftlicheWillenskraft, dem zur Emotion, zur Erregung sich innerlich verlaufen-den Ressentiment des Bürgertums die Stoßrichtung einer zum äußerenAufruhr fortschreitenden allgemeinen Motion und Massenbewegung zuverleihen?

Wie anders soll dem bürgerlichen Mittelstand dieser Schulterschlussmit seinem systematischen Gegenüber, seinem strukturellen Opponentengelingen als dadurch, dass er die marginale Koinzidenz zum zentralenThema aufwertet, dass er also das die inflationäre Entwicklung, unterder sie beide, Bürgertum und Volk leiden, verschuldende ständische

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Luxusleben der absolutistischen Herrschaft beziehungsweise ihre hö-

fische Verschwendungssucht zur Wurzel allen gesellschaftlichen Übelserklärt, mit deren Ausrottung und Beseitigung das gegenwärtige Wohlund künftige Gedeihen aller übrigen Gruppen der Gesellschaft, sämtli-cher sozialer Schichten unterhalb des herrschaftlichen Hofes und seinesständischen Anhangs, stehe oder falle? Und das tut der bürgerliche Mit-telstand auch beziehungsweise lässt er seine Sprecher und Wortführer,die ihm zu Gebote stehende Intelligenz, tun. Diesen Weg einer Aufwer-tung der marginalen Interessenkoinzidenz zwischen Volk und Bürgertumzum zentralen, alles andere überschattenden oder, besser gesagt, unterden Teppich kehrenden Programmpunkt beschreiten die bürgerlichenIntellektuellen, die der Unwille und das Ressentiment ihrer Gesellschafts-schicht wie Pilze aus der Erde oder, besser gesagt, wie Brennnesseln insKraut schießen lässt.

Mit ebenso viel Elan wie Schärfe prangern die bürgerlichen Intellektu-ellen den luxurierenden Müßiggang und das verschwenderische Schma-rotzertum des metropolitanen Hofes und seines provinziellen Anhangsals das gesellschaftliche Übel par excellence an, mit ebenso viel Eloquenzwie Insistenz führen sie aus, wie gut beraten die bürgerliche Gesellschaftwäre, diesen Klotz an ihrem Bein beziehungsweise Wasserkopf auf ihrenSchultern los zu werden, wie viel besser es allen an der bürgerlichenGesellschaft konstruktiv Beteiligten, allen Schichten mithin unterhalb des

als Oberschicht figurierenden Adels und hohen Klerus ginge, wenn dieseOberschicht aus dem Spiel wäre und nicht mehr länger mit den beschrie- benen fatalen Folgen für das Wirtschaftsleben der Gesellschaft von ande-ren produzierten beziehungsweise akquirierten Reichtum, Ressourcen,die unter kapitalistischer Leitung und bürokratischer Aufsicht das Volkproduziert, mit schierer, durch das Mäntelchen des Gewohnheitsrechtskaum kaschierter Gewalt an sich risse und ohne funktionelle Rechtferti-gung, sprich, ohne selber eine erkennbare gesellschaftliche Gegenleistungzu erbringen und praktische Nützlichkeit zu beweisen, verprasste.

Angesichts der daraus logischerweise folgenden Aufgabe freilich, die

von der Ausschaltung der absolutistischen Herrschaft und ihrer ständi-schen Klientel zu erwartende Besserstellung der Gesamtheit der mittlerenund unteren Gesellschaftsschichten zu demonstrieren und herauszuar- beiten, wie und in welchen Hinsichten das gemeine Wesen von der Aus-schaltung des herrschaftlichen Schmarotzers profitieren und die damit

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einhergehende Einsparung gesellschaftlicher Ressourcen dem Gemein-

wohl, dem Wohlergehen aller förderlich sein und zum Vorteil gereichenmüsste – angesichts dieser nahe liegenden Aufgabe gerät, wie der den Tonder Auseinandersetzung mit der absolutistischen Herrschaft angebendeHaupt- und Staatskritiker Jean-Jacques Rousseau exemplarisch deutlichmacht, die bürgerliche Intelligenz ins Stocken und verliert quasi denFaden.

Statt den gewünschten Nachweis zu führen und ein Bild von der künf-tigen Gesellschaft zu entwerfen, wie sie nach der Beseitigung des herr-schaftlichen Wasserkopfs blüht und gedeiht und eine ebenso einträchtigewie selbstmächtige Entwicklung nimmt, wechselt Rousseau unvermitteltdie Stoßrichtung und zeigt jene befreite Gesellschaft als ein der unwie-derbringlichen Vergangenheit angehörendes Vor- und Musterbild, zeigt jenes Gedeihen und Wohlbefinden aller Mitglieder der Gesellschaft, jeneEintracht und Selbstmächtigkeit der Gesamtheit der Bürger als durchdie luxurierende Herrschaft, die die Gesellschaft sich geleistet hat, durchden herrschaftlichen Luxus, dem sie Raum gegeben hat, ein- für allemalverspielt und ad acta gelegt, weil solches generelle Gedeihen und sol-che soziale Eintracht ausschließlich sub conditione eines einfachen, vonReichtum und Überfluss freien und in den Anforderungen täglicher Le- bensnot und tätigen Zusammenwirkens, in unmittelbarer Reproduktion,subsistenzieller Arbeit aufgehenden Gemeinwesens denkbar seien.

Gesellschaftskritik verwandelt sich unter der Hand in Zivilisations-kritik, die Vorstellung, wie es wäre, wenn die Herrschaft mit ihrem re-präsentativen Lebensstil und ihrer Verschwendungssucht nicht mehrdas Wirtschaftsleben der Gesellschaft belastete, geht unversehens überin die Darstellung, wie es war, als das Wirtschaftsleben der Gesellschaftnoch hinlänglich auf die einfache Reproduktion und bloße Subsistenz beschränkt blieb, um noch keine Basis für herrschaftliche Verschwen-dungssucht und Extravaganz zu bieten, um also noch nicht jenen Reich-tum und Überfluss hervorzubringen, der die Gesellschaft ein- für allemalihrer alten Gedeihlichkeit und Eintracht entreißt und sie unwiderruflich

aufspaltet in jene, die den Reichtum mit Beschlag belegen, den Über-fluss genießen, und in jene, die ihn produzieren und durch ihr Tun undVollbringen den anderen zu Diensten und untertan sind.

Dieser jähe Perspektivenwechsel, der unvermittelte Übersprung vonder zeitkritischen Wahrnehmung dessen, was sein wird oder inskünftig

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möglich ist, zur kulturkritischen Betrachtung dessen, was war und un-

wiederbringlich verloren ist, hat seine unschwer erkennbare Logik. Er istResultat und Ausdruck der Tatsache, dass sich eine konsequent ökono-mische Analyse der gesellschaftlichen Situation, sprich, eine Präsentationder gegenwärtig, unter der Ägide des Absolutismus, der Gesellschaftzu schaffen machenden wirtschaftlichen Zwänge und Belastungen undeine darauf fußende Projektion der bei Beendigung und Abschaffung derabsolutistischen Herrschaft dem Wirtschaftsleben der Gesellschaft win-kenden Spielräume und Entfaltungsmöglichkeiten, für die um den Schul-terschluss zwischen bürgerlichem Mittelstand und Volksmasse bemühte bürgerliche Intelligenz verbietet, weil nichts weiter dabei herauskom-men könnte als die Offenlegung und Ostentation des im kapitalistischenSystem einer zugleich intensiven und extensiven Ausbeutung gesell-schaftlicher Arbeitskraft bestehenden eigentlichen und grundlegendenökonomischen Zwangsmechanismus und Belastungsfaktors, eines Me-chanismus und Faktors, der, weil er ausschließlich der Volksmasse Zwangantut und zu ihren Last geht und dem bürgerlichen Mittelstand im Ge-genteil zum Vorteil gereicht oder, besser gesagt, ihm seine wohlhäbigeExistenz und seinen konsumtiven Lebensstil sichert, schwerlich geeignetist, beide durch einen derart fundamentalen ökonomischen Widerspruchgetrennte Parteien zum Schulterschluss und gemeinsamen Kampf gegendie Herrschaft anzuspornen und zusammenzuführen.

So gewiss eine konsequente ökonomische Analyse und Prognose dergesellschaftlichen Situation zutage fördern müsste, dass die etatistischverfehlte und allen gesellschaftlichen Gruppen das Leben erschwerendeFinanzpolitik der absolutistischen Herrschaft nur eine sekundäre Fol-ge- oder Begleiterscheinung des primären und ausschließlich zu Lastender Masse des Volks gehenden kapitalistischen Wertschöpfungsprozes-ses ist, so gewiss muss die bürgerliche Intelligenz Abstand von solchkonsequenter analytischer Prognostik nehmen.

Während sie so aber durch ihre gesellschaftlich-ideologische Funktion,ihren bürgerlichen Beruf, gehalten ist, die ökonomische Wahrheit hinter

der etatistischen Fassade, das kapitalistische Wesen hinter der absolutis-tischen Erscheinung nicht zur Kenntnis zu nehmen und zu verdrängen,verbietet ihr gleichzeitig die intellektuelle Ehrlichkeit, ihre persönlicheSelbstachtung, die unterdrückte Wahrheit, das verdrängte Wesen durchoffene Schönfärberei und Lüge, sprich, durch das Märchen von einer

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nach der Beseitigung des angeblichen Grundübels der Gesellschaft, dem

Wegfall der absolutistischen Herrschaft, dem ganzen Gemeinwesen, allenMitgliedern der Gesellschaft ins Haus stehenden Lebens im Reichtumund Schwelgens im Überfluss zu ersetzen.

Aus diesem ihrem Dilemma, nicht die Wahrheit sagen zu dürfen undaber auch nicht lügen zu können, befreit sich die bürgerliche Intelligenz inder Person ihres exemplarischen Vertreters Rousseau auf gut platonischeWeise, nämlich dadurch, dass sie die bestimmte Negation, die sie übt,in eine umfassende Negativität überführt, dass sie mit anderen Wortenin ihre Kritik an der absolutistischen Herrschaft die am kapitalistischenSystem stillschweigend mit einschließt, ihre vernichtende Analyse derim Wortsinne überflüssigen Herrschaft unausgesprochen auf die denherrschaftlichen Überfluss produzierende Wirtschaft sich erstrecken lässtund so, indem sie im Stellvertreterobjekt, dem Real, auch gleich die Sa-che selbst, das Kapital, negiert und wegdenkt, schließlich in positiverWendung eine Gemeinschaft prospektieren beziehungsweise projizierenkann, die alle politisch-ökonomischen Probleme der bestehenden Ge-sellschaft mit einem Schlage hinter sich gelassen hat und deshalb ihreVergesellschaftung, ihre Sozialordnung als eine von keinen materialenUnterschieden oder sächlichen Ungleichheiten und daraus resultierendenobjektiven Schieflagen und ökonomischen Zwängen mehr beeinträchtigteund durchkreuzte und sei’s unmittelbar dem Gemeinwillen entspringen-

de, sei’s der Indoktrination durch einen weisen Einheitsstifter von obengeschuldete vertragliche Übereinkunft der beteiligten Subjekte unterein-ander ins Werk zu setzen vermag.

Der Preis freilich für diese umstandslose Überführung der ökonomi-schen Analyse oder Diagnose in eine anthropologische Prognose oderTherapie, deren Dreh- und Angelpunkt die Eskamotierung oder pauscha-le Abfertigung des kapitalen Hauptproblems via Fixierung auf dessengouvernementale Nebenerscheinung ist – der Preis dafür ist eine progno-stizierte beziehungsweise als heil präsentierte Gesellschaft, die sich allenempirischen Verhältnissen, allen gegenwärtigen Problemen jäh entrückt

und in ein uneinholbar fernes Jenseits verschlagen zeigt, die sich alsUtopie in eben dem Wortsinne erweist, dass sie nicht von dieser Weltist, sei’s weil sie, wie der mythologischem Ursprungsdenken verhaftetePlatonismus postuliert, eine in systematischer Transzendenz zur irdischenEmpirie perennierende, unerreichbar erhabene Idealwelt darstellt, sei’s

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weil sie, wie der von christlicher Heilsgeschichte geprägte Rousseauis-

mus konstruiert, als eine im historischen Antezedens zum gegenwärtigenZustand verharrende, unwiederbringlich verlorene Vorwelt dasteht.Was immer aber auch die Meriten oder Mängel jener die Gesellschafts-

kritik in Zivilisationskritik umschlagen lassenden und hierbei die Progno-se einer besseren Gesellschaft ins Epitaph auf deren unwiederbringlichesVergangensein verkehrenden ökonomischen Analyse der absolutistischenHerrschaft sein mögen – eines ist jedenfalls gewiss: Zum Schulterschlusszwischen bürgerlichem Mittelstand und Volksmasse, zur Bildung einergemeinsamen und durch die Gemeinsamkeit handlungsfähigen Frontgegen die Herrschaft taugt sie nicht. Wie sollte sie auch, da sie unterdem Zwang, die hinter der Camouflage der staatlich-absolutistischenInstitution sich entfaltende wirtschaftlich-kapitalistische Konstitution derGesellschaft auszublenden und nicht zur Sprache kommen zu lassen,von jedem Gedanken an eine praktische Einflussnahme auf die ökonomi-schen Verhältnisse und ihre Entwicklung Abstand nehmen, sprich, jedeZukunftsperspektive, jegliche Aussicht auf eine Veränderung der materi-ellen Lage und Verbesserung der subsistenziellen Verhältnisse abdankenund mithin ebenso sehr der bürgerlichen Selbstlähmung das Wort redenwie dem Volk die Ergebung in eine als unumkehrbarer Verfallsprozessohne heilsgeschichtliches Ende-gut-alles-gut angelegte und auf seinemRücken ausgetragene Zivilisationsgeschichte nahelegen muss.

 Jenen Schulterschluss herzustellen und zu diesem Zweck die enge,aus der herrschaftlichen Finanzpolitik resultierende Interessenkoinzi-denz zwischen Bürgertum und Volk zu einer ebenso tragfähigen wieumfänglichen antiherrschaftlichen Basis auszubauen, ist aber der Auftrag,den die bildungsbürgerliche Intelligenz von ihrer Klasse, dem bürgerli-chen Mittelstand, erhalten hat. Um diesen ihren Auftrag nun dennochzu erfüllen, nimmt die bürgerliche Intelligenz, abermals unter Führungihres einzelgängerischen Stichwortgebers Rousseau, jene Korrektur inihrer Herrschaftskritik vor, die den Akzent vom Politisch-Ökonomischenaufs Politisch-Historische verschiebt und damit in den Hauptstrom je-

ner allgemeinen, gegen die kulturellen, habituellen und konfessionellenAtavismen der Herrschaft und ihres ständischen Anhangs gerichtetenund schon seit längerem betriebenen bürgerlichen Zensurtätigkeit ein-schwenkt, die unter dem Namen Aufklärung in die Geschichte eingegan-gen ist.

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Statt das Luxusleben und die Verschwendungssucht der Herrschaft und

ihr dafür maßgebendes finanzpolitisches Schalten und Walten für dieMisere der Gesellschaft im Allgemeinen und die Beschwernisse der nichtder herrschaftlichen Klientel angehörigen gesellschaftlichen Gruppen imBesonderen verantwortlich zu machen, statt sich also bei ihrer Gesell-schaftskritik auf die empirisch-ökonomische Situation zu konzentrieren,springt die Intelligenz quasi einen Schritt zurück und nimmt die histo-rischen Bedingungen jener Situation, die das Bestehen der Herrschaft begründende ständisch-soziale Tradition aufs Korn, um ihr die Schuld ander Not und dem Elend der nicht zur herrschaftlichen Klasse zählendenMitglieder der Gesellschaft zu geben. Nicht das politisch-ökonomischeTun, die praktische Funktion der Herrschaft prangert sie an, sondern ihrpolitisch-soziales Sein, ihre historische Konstitution. Und nicht das, wasdurch ihr ökonomisches Tun die Herrschaft den übrigen Mitgliedern derGesellschaft als empirisch-bedürftigen Menschen, als sich zu erhaltengezwungenen gesellschaftlichen Subjekten an Schaden zufügt, sondernden Tort, den die herrschaftliche Klasse durch ihr politisches Sein denübrigen Mitgliedern der Gesellschaft als systemisch-bestimmten Wesen,als sich zueinander zu verhalten gehaltenen staatsbürgerlichen Personenantut, erklärt die Intelligenz zum Stein des Anstoßes und in der Tat zurWurzel allen Übels.

Dabei besteht der Tort, den die ständisch fundierte Herrschaft den

übrigen Mitgliedern der Gesellschaft antut, im Wesentlichen und erstensin ihrem Herrschaftsanspruch als solchem, darin mit anderen Worten,dass sie letztere als von Natur oder genealogisch-hereditär abhängigvon ihr, sprich, als ihr untertan, behauptet, dass sie die unvermittelt per-sönliche Verfügung oder Befehlsgewalt über sie beansprucht und sie soaber daran hindert, sie selbst, für sich seiende, selbstbestimmte Personenzu sein. Auch wenn dieser, in schierer Genealogie, in rein hereditäremHerkommen begründete und also einer Geschichte und Tradition, die zurNatur oder Institution versteinert ist, entspringende Herrschaftsanspruchgar nicht – oder jedenfalls gar nicht mehr – die generelle Geltung besitzt,

die ihm von der bürgerlichen Intelligenz im Zuge ihrer zur Aufklärungentstellten Gesellschaftskritik attestiert wird, und zumal in den von derkapitalistischen Entwicklung transformierten städtischen Zentren längsteiner ebenso sehr oder stärker noch von Eigentumsverhältnissen und derAusübung funktioneller Macht geprägten zivilen Gesellschaftsordnung

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Platz gemacht hat, ist er doch aber noch präsent und im Falle von Kon-

flikten zwischen ständischem und zivilem System virulent genug, umihn als das Gesamt der Gesellschaft angehende und bedrückende undin ihrem Mangel an empirischer Plausibilität oder objektiver Begründ- barkeit offenkundige Willkürherrschaft, als sinnlosem Traditionalismus,schierer historischer Kontingenz geschuldeten Despotismus geltend ma-chen und dabei auf Zustimmung und Beifall auch bei dem durch dieetatistischen Exzesse der Herrschaft in seiner politischen Loyalität, seinerUntertanentreue erschütterten Volk rechnen zu können.

Dieser als Despotismus angeprangerte Zustand personaler Unfreiheit,den die absolutistische Herrschaft und ihr ständischer Anhang durchihren nach Maßgabe seiner historischen Obsoletheit, seines hohlen Tradi-tionalismus empirisch grundlosen – und, wenngleich längst nicht mehrauf ganzer Linien aufrecht erhaltenen, so doch aber auch keineswegs bereits in jeder Hinsicht abgedankten – Anspruch auf Befehlsgewalt überdie übrigen Mitglieder der Gesellschaft und auf persönliche Verfügungüber deren Leistungen und Dienste schaffen, hat nun aber zweitens dieKonsequenz, für ein Verhältnis sozialer Diskriminierung oder realer Un-gleichheit zu sorgen. So gewiss die ständische Herrschaft persönlicheMacht und unmittelbare Gewalt über die übrigen Mitglieder der Gesell-schaft auszuüben beansprucht, so gewiss sie behauptet, höher als sie,ihnen übergeordnet zu sein, so gewiss behauptet sie auch, besser oder

edler als sie zu sein, und nimmt in Anspruch, im Verhältnis zu ihnensozialen Vorrang und materiale Vorrechte zu genießen. Der personaleDespotismus der ständischen Herrschaft, ihr Anspruch auf die Verfügungüber die Leistungen und Dienste aller Personen, die nicht von Standsind, kurz, aller Gemeinen, impliziert zwangläufig sozialen Aristokratis-mus, den Anspruch auf den prärogativen Nutzen und den privilegiertenGenuss jener gesellschaftlichen Leistungen und Dienste.

Und die in der personalen Ungleichheit des Despotismus beschlossenesoziale Diskriminierung des Aristokratismus hat nun zu böser Letzt oderzum Dritten den Effekt einer als Egoismus wirksamen kommunalen

Verantwortungslosigkeit. Weil die über das Handeln und die Arbeit derübrigen Mitglieder persönlich verfügende und willkürlich entscheiden-de ständische Herrschaft die Folgen solchen Handelns und die Früchtesolcher Arbeit vorzugsweise für sich selbst reklamiert beziehungswei-se ausschließlich im Blick auf den Nutzen, den sie persönlich davon

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hat, gelten lässt, ist Egoismus, eine mit Rücksichtslosigkeit synonyme

Selbstsucht beziehungsweise ein jeden Gemeinschaftssinns spottenderEigennutz, das notwendige Resultat. Ein Resultat, das dadurch doppeltverheerend wirkt, dass wegen ihres dem Despotismus entspringendenAristokratismus, wegen ihres Anspruchs also, ein prärogativ besseres,privilegiert edleres Menschsein zu verkörpern, die ständische Herrschaftgar nicht umhin kann, mit ihrer Selbstsucht und ihrem Eigennutz, mitihrem Mangel an Gemeinsinn und ihrer Verantwortungslosigkeit imKommunalen auf die übrigen Mitglieder der Gesellschaft normativenEinfluss zu nehmen, im Sinne der eigenen asozialen Selbstsucht undzuchtlosen Libertinage prägend auf sie einzuwirken beziehungsweise

abzufärben.Das dreifältige Laster also des Despotismus, des Aristokratismus unddes Egoismus legt die bürgerliche Intelligenz der ständischen Herrschaftzur Last; sie präsentiert es als die Wurzel des alles Siechtum der Ge-sellschaft verschuldenden und nach sich ziehenden dreifachen Übelspersonaler Unfreiheit, sozialer Ungleichheit und kommunaler Verant-wortungslosigkeit, und seine Ausrottung und Beseitigung erklärt siezur conditio sine qua non jeglicher gesellschaftlicher Gesundung, sprich,zur unabdingbaren Voraussetzung für die Herbeiführung eines rein po-litisch gefassten Zustands, eines als abstrakt-allgemeine Konstitution

verbindlichen assoziativen Strukturrahmens, ohne den die Gesellschaftunter keinen Umständen gedeihen, beim besten Willen nicht die Kraftund Geschlossenheit finden könne, den wie auch immer gearteten Wegzur Gesundung einzuschlagen und die dafür erforderliche Lösung dermaterialen Gebrechen und sozialen Konflikte anzustreben, die sie sichunter der Ägide der absolutistischen Herrschaft zugezogen hat.

So wahr es der bürgerlichen Intelligenz gelingt, die ständische Herrsch-sucht, Überheblichkeit und Eigenliebe als das Grundübel auszumachen,das die gesamte Gesellschaft in seinem Bann hält, lähmt und an derselbsttätigen und eigenverantwortlichen Heilung ihrer sonstigen Gebre-

chen und Lösung ihrer internen Zwiste hindert, so wahr vermag sie alle,wie immer empirisch-reell im Gegensatz und Widerspruch zueinanderstehenden gesellschaftlichen Gruppen unter der Fahne des systematisch-prinzipiellen Erfordernisses einer Beseitigung zuerst und vor allem jenesGrundübels zu versammeln.

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Ex negativo der alle anderen gesellschaftlichen Probleme ebenso sehr an

Grundsätzlichkeit überbietenden wie an Dringlichkeit in den Schattenstellenden, kurz, maßgebenden Bedeutung, die die bürgerliche Intelligenzdem ständisch-herrschaftlichen Despotismus, Aristokratismus und Egois-mus für die strukturelle Verfassung und Ausrichtung der gegenwärtigenGesellschaft beimisst, erscheint die Abschaffung der durch jene diaboli-sche Trinität verschuldeten ausnehmenden Unfreiheit, Ungleichheit undVerantwortungslosigkeit und deren Ersetzung durch eine alle Mitgliederder Gesellschaft umfassende persönliche Selbstbestimmung, gesellschaft-liche Gleichbehandlung und gemeinschaftliche Solidarität, kurz, durchFreiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, als unabweisliche Vorausset-

zung jeglicher, die gesellschaftliche Zukunft betreffenden funktionellenVeränderung und Neuorientierung.Die als Aufklärung apostrophierte Ablösung ihrer Herrschaftskritik

von jeglicher Betrachtung des mittlerweile eingewurzelten und allemAnschein nach unaufhebbaren ökonomischen Funktionszusammenhangsund ihre ausschließliche Fokussierung auf den überkommenen und offen-kundig obsoleten politischen Strukturrahmen erlaubt es der bürgerlichenIntelligenz also tatsächlich, auf dem schmalen Grat ihrer durch die etatis-tische Misswirtschaft der absolutistischen Herrschaft bewirkten Interes-senkoinzidenz einen Schulterschluss zwischen bürgerlichem Mittelstand

und Volksmasse herbeizuführen, der verbindlich und haltbar genug ist,um ein gemeinsames Vorgehen gegen die absolutistische Herrschaft,eine die letztere ironischerweise der Rolle ihrer einstigen Gegnerin, derhistorischen Fronde, überführende und zum nun ihrerseits entbehrlichenKlotz am Bein aller weiteren gesellschaftlichen Entwicklung erklärendehandlungsfähige Front zu ermöglichen.

Indem sie das, was, ökonomisch betrachtet, nur ein von der Geschich-te in die Gegenwart eingebrachtes Zusatzproblem zum gegenwärtigenHauptproblem der kapitalistisch organisierten Reproduktion der Ge-sellschaft ist, auf seine historischen Voraussetzungen, die als Despotis-

mus, Aristokratismus und Egoismus analysierte Herrschaftlichkeit alssolche reduziert und diese abstrahiert von ihren ökonomischen Funktio-nen ins Auge gefasste historische Hypothek zu einem Politikum erstenRanges, einem alles übrige, alle sonstigen gesellschaftlichen Problemeund Konflikte wenn schon nicht en detail bestimmenden, so doch aber

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grosso modo bedingenden, beziehungsweise wenn schon nicht entschei-

dend disponierenden, so jedenfalls doch grundlegend konditionierendenStrukturrahmen erhebt, schafft es die bürgerliche Aufklärung, jenes zumprimären Politikum ebenso sehr systematisch abstrahierte wie histo-risch elaborierte sekundäre Skandalon überkommener Herrschaftlichkeitfür jedermann unübersehbar ins Rampenlicht zu rücken und seiner Be-seitigung uneingeschränkte Priorität zuzuweisen, seine Abschaffungals conditio sine qua non der Lösung aller anderen, bis auf weiteres als