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1 Sam, der Tukan, erteilt mir eine Lektion 19 Der Tag, an dem ich erkannte, dass es an der Zeit war, das Heft in die Hand zu nehmen 900° – eine abgefahrene Erfolgsstory Tony Hawk Copyright © 2011 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim ISBN 978-3-527-50593-7

1 Sam, der Tukan, erteilt mir eine Lektion - Wiley-VCH · Hier bin ich auf meinem allerersten Skateboard zu sehen, das mein Bruder Steve mir geschenkt hat. dukte von Froot Loops sind

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1 Sam, der Tukan, erteilt mir eine Lektion

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Der Tag, an dem ich erkannte,dass es an der Zeit war, dasHeft in die Hand zu nehmen

900° – eine abgefahrene Erfolgsstory Tony HawkCopyright © 2011 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, WeinheimISBN 978-3-527-50593-7

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Im Jahr 1998 wurde ich nach New York eingeladen, um derFirma Froot Loops, deren süße Cornflakes meine Skater-freunde und ich schachtelweise zu essen pflegten, dabei zuhelfen, ihr Image aufzupolieren. Eingeladen ist eigentlichnicht das richtige Wort: Eine Marketingagentur bezahlte michdafür, dass ich mit anderen »Extremsportlern« an einer gro-ßen Coming-out-Party teilnahm, bei der angekündigt werdensollte, dass das Maskottchen der Froot Loops, Sam, der Tukan,jetzt auch ein Extremsportler war. (Das Wort »Extrem« wurdeerst später auf die Liste unerwünschter Wörter gesetzt.)

Am Abend vor der Veranstaltung traf ich mich mit demBMX-Helden Dave Mirra und dem verrückten Olympia-Ski-rennfahrer Johnny Moseley bei einem Medientraining mitden Bossen der Agentur. Sie wollten, dass wir bei den Presse-interviews glaubwürdig rüberkamen und so über Sam, denTukan, sprachen, als würde er wirklich existieren und Skate-board fahren. »Ihr solltet das Federvieh mal bei einemMcTwist sehen«, so auf die Art. Leider versäumten sie, Vor-sichtsmaßnahmen gegen die unbeabsichtigte Erwähnung vonKonkurrenzprodukten zu treffen.

Die ganze Sache dauerte nur ein paar Stunden und sie zahl-ten mir dafür 50 000 Dollar, was damals für mich ein HaufenGeld war. Die Skateboard-Branche war gerade dabei, sich vonder Flaute der frühen 1990er-Jahre zu erholen, und ich warein frischgebackener Vater, der als Skateboard-Profi gerademal so über die Runden kam und Mitbesitzer einer ums

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Überleben kämpfenden Skateboard-Firma war. Also sagte ichmir, dass der Verdienst ein paar alberne Stunden wert sei.

Als wir am nächsten Morgen zu den Chelsea Piers kamen,wimmelte es dort von Menschen – Medienleute und über 100Schulkinder. Die Kinder trugen alle T-Shirts mit Froot-Loops-Aufdruck und keiner von ihnen war Skateboarder, ja offen-sichtlich nicht einmal Fan dieser Sportart; irgendjemand hattesie hierhergekarrt, weil er glaubte, dass ihre Anwesenheit demGanzen einen Anstrich jugendlicher Energie verleihen würde.

Wir machten ein paar Interviews, bei denen wir uns meistan das vorgeschriebene Skript hielten und über Sam, denTukan, sprachen, als sei er tatsächlich ein Held des Action-sports. Wir redeten darüber, was er doch für ein vielseitigerSportler sei, der auf der Straße, im Schnee und in den Half-pipes auf dem Board stand. Ohne Protektoren, nur mitFurchtlosigkeit und Federn.

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An den Chelsea Piers gab es damals eine große Halfpipeund Dave und ich machten für das Publikum ein paar Vorfüh-rungen, die von Johnny kommentiert wurden. Es gab aller-dings ein Problem: Skateboard- und BMX-Tricks haben merk-würdige Namen (Stale Fish, Madonna, Slob Air, Can-Can,Tailwhip) und Johnny kannte keinen einzigen davon. Alsoimprovisierte er und glaubte, es wäre eine gute Idee, sie nachbeliebig ausgewählten Cornflakes-Sorten zu benennen: »Dakommt Tony mit einem riesigen Cheerio!« Und: »Dave fährteinen perfekten Grape-Nut.« So auf die Art. Das Problemdabei war, dass Cheerios und Grape-Nuts Konkurrenzpro-

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Hier bin ich auf meinemallerersten Skateboard zusehen, das mein BruderSteve mir geschenkt hat.

dukte von Froot Loops sind. Das kam bei den Marketingbos-sen nicht besonders gut an.

Ich weiß nicht, was das Ganze dem Image von Sam, demTukan, gebracht hat, aber ich weiß mit Sicherheit, dass esmeinem eigenen Image nicht geholfen hat. Auf dem Rück-flug nach Kalifornien beschloss ich: Dies ist das letzte Malgewesen, dass ich irgendeiner Firma, die meinen Namen odermein Image benutzen will, um ihre Produkte besser zu ver-kaufen, die Kontrolle überlasse. Es stellte sich heraus, dassdas eine gute Entscheidung war – in vielerlei Hinsicht.

In der Zwickmühle zwischen Economy und First Class

Skateboarding ist ein merkwürdiger Beruf, wahrscheinlichweil es nie dazu gedacht war, ein Beruf zu sein. Noch Jahr-zehnte nach der Geburt des Sports wurde es von den meisten

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Amerikanern als Modeerscheinung, als Zeitvertreib für Kin-der oder als Spaßveranstaltung abgetan. Diese herablassendeHaltung trieb ernsthafte Skateboarder immer mehr in denUntergrund, wo sie sich voll entfalten konnten und sich darü-ber freuten, als Punker oder Anhänger einer Gegenkulturangesehen zu werden. Sie wussten, wie schwierig es ist, einBoard zu beherrschen, und wie viel Befriedigung es bringt;sie waren nicht auf Bestätigung von oben angewiesen. Einge-fleischte Skateboarder waren (und sind immer noch) echtePuristen. Sie fahren Skateboard, weil sie es lieben, nicht weilsie nach Anerkennung streben oder Geld brauchen. Und des-wegen hänge ich auf tückische Art und Weise zwischen zweiWelten; ich balanciere auf einem Drahtseil, das zwischen zweigegensätzlichen Kräften gespannt ist, und werde von beidenSeiten beargwöhnt. Jahrelang nahmen nur wenige Erwach-sene meine Karriere ernst. Auch jetzt runzeln Geschäftsleuteim Flugzeug noch die Stirn, wenn ich mein Skateboard in dieFirst Class mitnehme. Gleichzeitig wird es immer einebestimmte Gruppe von Skateboardern geben, die mich alsVerräter ansehen. Die machen mir im selben Flugzeug dieHölle heiß, weil ich nicht hinten bei ihnen in der Economysitze. Aber ich lasse mich von den Neidern nicht mehr sostressen wie früher. Die meisten von ihnen haben mich niepersönlich kennengelernt und haben keinen blassen Schim-mer davon, wie sehr ich Skateboarding liebe, wie viel Zeit ichimmer noch damit verbringe und wie essenziell es für meinSelbstgefühl ist.

Im Grunde genommen handelt dieses Buch davon – oderzumindest hoffe ich, dass es davon handelt –, wie manBerühmtheit vermarktet und für Skateboarding wirbt, ohnedie Sportart zu verraten. Für mich beginnt und endet alles mitmeinem Skateboard und mit den vielen Freunden, die ichdurch diesen Sport gewonnen habe. Wenn ich zwischen zweiGeschäften hin- und hergerissen bin, scheine ich michimmer für das zu entscheiden, was meinen Freunden undmir die größten Chancen bietet, Skateboard zu fahren.

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Ein Indy-Air bei einer unserer Vorfüh-rungen während der Secret SkateparkTour in Missoula, Montana

Ich bin mir sehr bewusst, dass ich nicht nur berühmtgeworden bin und viel Geld verdiene, weil ich in meinemSport besonders gut war, sondern weil ich auch außerordent-lich viel Glück hatte. Es ist in meinem Berufsleben mehr alseinmal vorgekommen, dass ich zufällig zur rechten Zeit amrechten Ort war. Ich fing mit dem Skateboarding an, als dererste Trend vorbei war, und wurde genau zu dem ZeitpunktProfi, als es Mitte der 1980er-Jahre einen neuen Boomerlebte. Ich landete im berühmtesten Skateboard-Team jenerZeit, Powell Peralta’s Bones Brigade, und verdiente mit 16Jahren mehr Geld als meine Highschool-Lehrer.

Als die Skateboard-Branche in den frühen 1990er-Jahrenins Koma fiel, fuhr ich immer noch fast jeden Tag auf meinerVert-Rampe. Und deshalb entwickelte ich mich immer weiter.Als der Sportsender ESPN 1995 die X-Games ins Leben riefund zum ersten Mal ein Fernsehkanal landesweit über Skate-boarding berichtete, gab es nur eine Handvoll von Vert-Skate-boardern, die noch am Start waren, und ich war einer von

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ihnen. Im ersten Jahr widmeten die Produzenten der Showmir unverhältnismäßig viel Sendezeit, was dazu führte, dassich das »Gesicht« der X-Games wurde.

Und dann gelang mir 1999 im fünften Jahr der X-Gamesein Manöver, das ich vorher jahrelang nicht geschafft hatte(der 900er, eine zweieinhalbfache Drehung um die Körper-längsachse). Ich hatte lang und hart an diesem Trick gearbei-tet, aber an diesem Tag kam mir ein glücklicher Zufall zuHilfe: Ich machte den 900er vor einem riesigen Fernsehpu-blikum, weil Skateboarding eine der wenigen Sportarten ist,bei dem die zuständigen Leute dem Sportler auch dann nochzusätzliche Versuche vor laufender Kamera zugestehen, wenndie Zeit eigentlich schon abgelaufen ist.

Im selben Jahr brachte Activision mein erstes Videospielauf den Markt, Tony Hawk’s Pro Skater, das zu einem der größ-ten Franchise-Spiele des Jahrzehnts werden sollte. DasZusammentreffen dieser drei Ereignisse – die X-Games, der900er, der Verkauf von Millionen von Videospielen mit mei-nem Konterfei – verlieh meinem Namen, besonders unterjungen Menschen, einen Bekanntheitsgrad, von dem ich nie-mals zu träumen gewagt hätte. Mein Agent sagte mir damals,dass mein »Q-Score« als Sportler (ein maßgeblicher offiziellerBewertungsmaßstab für den Bekanntheitsgrad und dieBeliebtheit von Prominenten bei den amerikanischen Konsu-menten) bei der Jugend an zweiter Stelle hinter Michael Jor-dan rangiere.

Dass die Welt verrückt spielte, wurde mir endgültigbewusst, als ich 2003 zu den Nickelodeon Kid’s ChoiceAwards eingeladen wurde, weil die Zuschauer des Sendersmich zu ihrem Lieblingssportler gewählt hatten. Die anderendrei Finalisten waren Kobe Bryant, Shaquille O’Neal undTiger Woods. (Ein Skateboarder schlägt Kobe, Shaq undTiger? Unfassbar!)

Von da an schwirrte mir ständig eine Liedzeile aus demalten Song der Talking Heads durch den Kopf: »Und vielleichtfragst du dich: ›Wie bin ich eigentlich hier gelandet?‹«

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Durch diese Frage kann man etwas lernen. Und genau daswürde ich den First-Class-Passagieren auch erklären, wennirgendeiner von ihnen mal über mein Skateboard hinweg-schauen und mich um Rat fragen würde: Bilde dir niemalswas auf deinen beruflichen Erfolg ein, denn das Blatt kannsich schnell wenden.

Regel Nummer eins: Mach keine Listen

Und für alle Kinder und Jugendlichen, die auch gern ler-nen würden, wie man vielleicht eines Tages ein cooler Erste-Klasse-Passagier wird, hier noch ein paar kleine Ratschläge:

1. Wenn du deine Leidenschaft einmal entdeckt hast, dannsteh dazu. Hör nicht auf das, was Gleichaltrige oder Kar-riereberater sagen.

2. Rebelliere nicht um der Rebellion willen. Rebellion sollteüberhaupt keine Rolle spielen. Wenn die Leute das, wasdu liebst und am besten kannst, als rebellisch ansehen,dann akzeptiere deinen inneren Che Guevara. Aber lassdir von niemandem, der zu wissen meint, was geradeangesagt ist, deine Träume diktieren. Denk einfach sodarüber: Wenn man deine Leidenschaft als Massenge-schmack oder Blödsinn abtut, ist deine Auflehnungumso mutiger. Tu es, weil du es liebst, und nicht, weil dudir Gedanken darüber machst, was andere – Lehrer,Freunde, die heiße Emo-Braut, die in der Mittagspauseallein bei den Fahrradständern sitzt – über dich denkenkönnten.

3. Egal was du dir ausgesucht hast: Wenn du es wirklichliebst, dann setze alles daran, außerordentlich gut darinzu werden.Das heißt, eine Menge Zeit dafür zu investieren. Sei stolzdarauf, wenn man dich für besessen hält.

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4. Wenn du gut geworden bist, dann versuche, ein Niveauzu erreichen, das dir die Anerkennung deiner Kollegenauf diesem Gebiet einbringt. Sei innovativ. Ein Pionierunter Pionieren zu sein – das hebt dich von der Mengeab.

5. Wenn das alles funktioniert und du Erfolg hast, dannbleib dran, und bleib bescheiden. Werde nicht selbstge-fällig und ruh dich auf keinen Fall auf deinen Lorbeerenaus. Erkenne die Begabung deiner Konkurrenten, Kolle-gen und künftigen Nachfolger an und würdige sie.Lerne, zu bewundern statt zu missgönnen.

6. Werde Mentor. Befass dich mit den Typen, die dichunweigerlich irgendwann ersetzen werden, und ermu-tige sie. Je höher du auf der Karriereleiter steigst, destomehr musst du dich bewusst darum bemühen, Zeit aufder Straße zu verbringen. Und predige nicht. Such lie-ber nach Kindern, die genau das tun, was du in ihremAlter gemacht hast, und sei bescheiden genug, dir vonihnen erzählen zu lassen, was jetzt abgeht.

7. Berücksichtige alles, was von Bedeutung ist, wäge diewiderstreitenden Argumente ab (das Bestreben, auf dereinen Seite die Gewinne zu steigern und auf der ande-ren Seite deiner Kunst oder deinen Wurzeln oder wasauch immer treu zu bleiben), behalte einen klaren Kopfund vertraue auf dein Bauchgefühl.

8. Hab keine Angst davor, Risiken einzugehen, aber verge-wissere dich, dass du gute Anwälte hast, bevor du estust.

9. Wenn du zu viel Geld im Portemonnaie hast, dann gibetwas zurück.

10. Hör niemals auf, Skateboard zu fahren.

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