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Sebastian Pittl (Hg.) Ansätze – Herausforderungen – Perspektiven VERLAG FRIEDRICH PUSTET THEOLOGIE UND POSTKOLONIALISMUS WELTKIRCHE UND MISSION 10

10 · 2018. 8. 14. · [1822/23]; ders., Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte II, Hamburg 2018 [1824/25]). Den Rassismus dieser beiden Proponenten des deutschen Idealismus

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ISBN 978-3-7917-3007-3

Sebast ian Pitt l (Hg.)

Ansä tze – Heraus forderungen – Perspekt i ven

VERLAG FRIEDRICH PUSTETwww.verlag-pustet.de

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Die Auseinandersetzung mit Geschichte, Folgen und Neuformierungen von Kolonialismus stellt in weltkirchlicher Hinsicht eine zentrale Herausforderung dar. Postkoloniale Studien haben in den letzten Jahren entscheidende Anstöße zum besseren Verständnis dieser Phänomene geleistet, innerhalb der deutsch-sprachigen katholischen Theologie jedoch bislang wenig Resonanz gefunden. Der Band bietet eine systematische theologische Auseinandersetzung mit postkolonialen Theorien. Er beleuchtet die Erfahrungen unterschiedlicher weltkirchlicher Kontexte und bringt Ansätze post-, de- und antikolonialen Denkens in ein kritisches Gespräch.

Sebastian Pittl,Dr. theol., geb. 1984, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weltkirche und Mission in Frankfurt am Main.

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WELTKIRCHE UND MISSIONWELTKIRCHE UND MISSION 1010

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Weltkirche und Mission herausgegeben von Markus Luber Band 10 Sebastian Pittl (Hg.) Theologie und Postkolonialismus

Verlag Friedrich Pustet Regensburg

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Sebastian Pittl (Hg.)

Theologie und Postkolonialismus Ansätze – Herausforderungen – Perspektiven

Verlag Friedrich Pustet Regensburg

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. eISBN 978-3-7917-7208-0 (pdf) © 2018 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Umschlag: Martin Vollnhals, Neustadt a. d. Donau nach einem Entwurf von Tobias Keßler, Frankfurt eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich: ISBN 978-3-7917-3007-3 Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie unter www.verlag-pustet.de

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Inhalt

Vorwort ........................................................................................................................ 7

Für eine „Globalisierung der Hoffnung“. Zur Relevanz postkolonialen Denkens für Theologie und Missionswissenschaft – Einleitung (Sebastian Pittl)...................................................................................................... 9

Die Antiimperialismusbewegung in Lateinamerika als Wegbereiterin dekolonialen Denkens (Raúl Fornet-Betancourt) ................................................................................. 24

Other(s) Worlds Mysticism and Radicalism at the Fin de Siècle (Leela Gandhi) .................................................................................................... 60

“Rhodes Must Fall” Postcolonial Perspectives on Christian Mission (Musa W. Dube) ................................................................................................. 83

Postcolonial Theories and Asian Theologies (Felix Wilfred) .................................................................................................. 101

Aspekte einer Postkolonialen Theologischen Hermeneutik für die Missionswissenschaft (Marion Grau) ........................................................... 118

Weder Inklusion noch Exklusion Ein religionstheologischer Diskurs mit postkolonialen Theorien (Saskia Wendel) ................................................................................................ 139

Kritik am europäischen Kolonialismus am Ursprung der eurozentrischen Moderne (Juan Manuel Contreras Colín) ...................................................................... 156

“The Future is not Ours to See. ” Postkoloniale Perspektiven auf den religious turn in der (deutschen) Entwicklungszusammenarbeit (Claudia Jahnel) ................................................................................................ 168

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6 Inhalt

Missionshistoriographie post 1968. Postkoloniale Perspektiven avant la lettre (Clemens Pfeffer) ............................................................................................. 191

Ist Mission postkolonial? (Christiana Idika).............................................................................................. 219

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ......................................................... 232

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Fehler! Textmarke nicht definiert.

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Vorwort Die Entstehung der weltweiten christlichen Kirchen verweist auf den Kontext europäischer kolonialer Expansion. Das Verhältnis von christlicher Mission und europäischem Kolonialismus lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Doch es dürfte nicht schwer fallen, in den ehemaligen Missionskirchen „Kon-taktzonen“ oder „Dritte Räume“ zu erkennen, in denen die Themen postkolo-nialer Kritik greifbar werden. In Inkulturationsbewegungen und in Projekten lokaler und kontextueller Theologieentwicklung sind sie präsent. Die Topoi Identität, Geschichte und Sprache spielen eine Rolle, wenn auch die Semantik der Diskurse variiert. Eine besondere Qualität erhält die theologische Refle-xion in diesen sozialen Räumen dadurch, dass die Binarität von Subjekten und Objekten der kolonialen Prozesse durch die Bezugnahme von beiden Seiten auf die christliche Botschaft durchbrochen wird. Postkoloniale Analysen wer-den nicht einfach in die Theologie kopiert. Analog zur Vielgestaltigkeit post-kolonialer Theoriebildung geschieht die Inanspruchnahme des postkolonialen Instrumentariums durch christliche Theologen auf vielfältige Weise.

Das Ansinnen der Jahrestagung des Instituts für Weltkirche und Mission 2017 war es nicht, Weltkirchenkunde mit Blick auf die Kolonialgeschichte zu bieten, sondern danach zu fragen, was die postkoloniale Perspektive für das kirchliche Selbstverständnis und die Theologieentwicklung insgesamt bedeu-tet. Die epistemischen und hermeneutischen Fragen, die dabei aufgeworfen wurden, geben Anlass zu Rückfragen, inwiefern nach wie vor latente hegemo-niale kulturelle Vorstellungen die innerkirchlichen Bezugnahmen bestimmen – bis hinein in den akademischen Austausch – , selbst wenn grobe Stereotypisie-rungen tunlichst vermieden werden. Dass Theologie auch ein Kritikpotential besitzt und nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Legitimierung etablierter Dominanzverhältnisse zu betrachten ist, kommt zum Vorschein, wenn post-koloniale Theorie der Imperialismuskritik der Befreiungstheologie gewahr wird. Insofern bildet sich der gelungene Austausch in der Einsicht ab, dass die sozio-kulturelle und politisch-ökonomische Einbettung jedweder Positionie-rung zu veranschlagen ist. Die in diesem Band vereinigten Beiträge sind ent-sprechend als weiterer Baustein zur Vertiefung der interkulturellen theologi-schen Diskussion gedacht, die die Reihe „Weltkirche und Mission“ verfolgt.

Der vorliegende Band vereinigt verschiedene Stimmen und bildet einen Reichtum weltkirchlicher Szenarien ab, der während der Jahrestagung 2017 er-fahrbar wurde. Damit dieser Reichtum sich materialisieren konnte, bedurfte es der Mitwirkung einiger Personen. Zunächst danke ich den Autorinnen und Autoren für ihre Bereitschaft, ihre Reflexionen in diesem Band zu dokumen-tieren. Besondere Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang Prof. An-dreas Nehring und Dr. Simon Wiesgickl für die Möglichkeit, eine adaptierte Form des Textes von Prof. Claudia Jahnel in diesen Band aufnehmen zu kön-

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8 Vorwort

nen. Ein außerordentliches Verdienst hat sich Frau Alma Wallraff erworben, die mit großer Beharrlichkeit und Sorgfalt die Druckvorlage erstellt hat. Eben-falls sehr herzlich danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des IWM Dr. Roman Beck, Dr. Esther Berg-Chan, PD Dr. Klara Csiszar, Dr. Christiana Idika, Dr. Tobias Keßler und Dr. Markus Patenge sowie den studentischen Hilfskräften Ram Krishna Albers, Yasemin Jung und Marita Wagner für die Unterstützung bei der Durchführung der Tagung und die Mühe der Lektorie-rung der Beiträge. Ebenfalls zum Gelingen der Veranstaltung beigetragen ha-ben die Assistentinnen Barbara Clobes und Susanna Fischer. Ein ganz außer-ordentlicher Dank geht an Dr. Sebastian Pittl für seinen unermüdlichen Einsatz als Hauptverantwortlicher bei der Planung und Durchführung der Ta-gung und der gewissenhaften und ausdauernden Erstellung des Bandes. Schließlich danke ich Herrn Dr. Rudolf Zwank vom Pustet Verlag für die an-dauernde gute Zusammenarbeit und Begleitung der Reihe. Frankfurt am Main Markus Luber

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Für eine „Globalisierung der Hoffnung“

Zur Relevanz postkolonialen Denkens für Theologie und Missionswissenschaft

Einleitung

Sebastian Pittl

Die Auseinandersetzung mit Geschichte, Spätfolgen und Neuformierungen von Kolonialismus stellt eine in weltkirchlicher Hinsicht zentrale Herausforde-rung dar. Mehr als 85% des Globus haben eine koloniale Vergangenheit. Ne-ben den großen Kolonialimperien Englands und Frankreichs oder den zeitlich früheren Imperien Portugals und Spaniens finden sich unter den modernen kolonialen Akteuren auch die Niederlande, Belgien, Italien, Deutschland, Dä-nemark, die USA, Russland und Japan. Die Wunden dieser Zeit sind bis heute offen – wie sich nicht zuletzt in einer von VertreterInnen der Herero und Nama 2017 gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereichten Klage wie-der gezeigt hat.1 Dazu kommen neue Verletzungen durch einen aggressiven Neokolonialismus, der heute ebenfalls eine zentrale theologische Herausforde-rung darstellt. Als Beispiele braucht man bloß an den weltweiten Raubbau an Ressourcen durch internationale Konzerne zu denken; an den Druck, der von westlichen Ländern auf viele Staaten des „Südens“ ausgeübt wird, um Frei-handelsverträge abzuschließen, die die einheimischen Märkte zerstören; oder die Folgen des primär von den westlichen Staaten verursachten Klimawandels, unter denen in überproportionaler Weise gerade die Bevölkerungen der ärms-ten Länder leiden. Immer deutlicher wird auch, dass die „westliche“ Welt, wenn sie weiterhin an ihrer „imperialen Lebensweise“ festhalten will, aller Rhetorik von Humanität und Nachhaltigkeit zum Trotz, aus strukturellen Gründen dazu gezwungen ist, den Rest der Welt von diesem Wohlstands-

                                                            1 Die Klage bezieht sich auf Massaker, die deutsche Truppen während der Kolonialzeit in

Deutsch-Südwestafrika verübt haben. Zwischen 1904 und 1908 wurden in einer von Gene-ralleutnant Lothar von Throta geführten Niederschlagung von Aufständischen im heutigen Namibia geschätzte 65.000 Herero sowie 10.000 Nama ermordet. Die Ereignisse werden von Historikerinnen und Historikern heute als erster Genozid des 20. Jahrhunderts beur-teilt. Für ausführlichere Informationen und einen Literatur-Überblick zum Thema vgl. http://genocide-namibia.net/ [letzter Abruf: 02.04.2018].

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niveau auszuschließen.2 Die Ereignisse an den Grenzen der Europäischen Union, die heute weit in die Türkei und nach Afrika hineinreichen, sowie die geplante Mauer zwischen den USA und Mexiko veranschaulichen dies in dras-tischer Weise.

Ideengeschichtlich kann man darauf verweisen, dass das, was man heute die „westliche Moderne“ nennt, in seiner Genese so tief von den Strukturen und der Geschichte des Kolonialismus geprägt ist, dass es ohne eine Analyse desselben nicht angemessen verstanden werden kann. Nicht nur ist der Auf-stieg Europas zur führenden ökonomischen und militärischen Weltregion oh-ne die Kolonialgeschichte nicht denkbar3, auch wesentliche Elemente, die man heute als Errungenschaften einer modernen „westlichen“ Zivilisation betrach-tet, wie das Völkerrecht oder die Menschenrechte, haben ihren Ursprung in kolonialen Kontexten.4 In Figuren wie Kant und Hegel (aber auch Hume, Mill u. a.) zeigen sich darüber hinaus die verhängnisvollen Verflechtungen von Aufklärung und modernem Rassismus.5

Als legitimatorische Instanzen der europäischen Eroberungen und der ihr folgenden „civilizing mission“6, aber auch als Kritiker der Ermordung, Miss-handlung und Versklavung indigener Bevölkerungsgruppen waren das Chris-tentum und seine Missionare von Anfang an in die europäische Kolonialge-

                                                            2 Vgl. dazu Brand/Wissen: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im

globalen Kapitalismus (2017) sowie Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungs-gesellschaft und ihr Preis (2016). In analoger Weise trifft dies auch für das Konsumniveau der Ober- und oberen Mittelschichten der „Schwellen-“ und „Entwicklungsländer“ zu.

3 Vgl. Dussel: Política de la liberación? Historia mundial y crítica (2007). 4 Vgl. Schelkshorn: Entgrenzungen. Ein philosophischer Beitrag zum Diskurs über die Mo-

derne (2009). Die Studie ist aktuell wohl eine der differenziertesten Auseinandersetzungen mit den Ambivalenzen und interkulturellen Verflochtenheiten des Projekts der Moderne.

5 Vgl. Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft (2104), sowie Mignolo: The Darker Side of Western Modernity. Global Futures, Decolonial Options (2011). Besonders markante Bei-spiele sind die einschlägigen Aussagen Kants in seinen „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ und in den „Vorlesungen über die physische Geographie“ (1763/64) sowie Hegels wirkmächtige Einschätzungen zu Afrika und Lateinamerika in den „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ (Kant: AA II, 205–256; ders.: AA IX, 151–436; Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte I, Hamburg 2015 [1822/23]; ders., Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte II, Hamburg 2018 [1824/25]). Den Rassismus dieser beiden Proponenten des deutschen Idealismus anzuer-kennen, bedeutet nicht, dass eine postkoloniale Theologie nicht in Vielem auch gewinn-bringend an die kantische und hegelsche Philosophie anknüpfen kann. Hegels Analysen zur Dialektik der Herr-Knecht-Beziehung stellen, wie im Beitrag von Christiana Idika deutlich wird, einen zentralen Bezugspunkt postkolonialer Theorien dar. Saskia Wendel weist in ih-rem Beitrag darauf hin, dass eine postkolonial sensibilisierte Religionstheologie zur Begrün-dung ihres „depotenzierten Inklusivismus“ gewinnbringend auf Kant zurückgreifen kann.

6 Vgl. die päpstliche Bulle Inter Caetera II Papst Alexanders VI. (1493), die die noch zu „ent-deckenden“ und erobernden Gebiete außerhalb Europas zwischen dem spanischen und portugiesischen Reich aufteilte.

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Für eine „Globalisierung der Hoffnung“ 11

schichte verstrickt.7 Jüngere Studien haben verstärkt die ambivalente Rolle deutscher Missionsgesellschaften in Afrika untersucht.8 Deutlich wird dabei, dass die Tätigkeit der Missionare nicht nur die Gesellschaften außerhalb Eu-ropas massiv prägte, sondern auch wesentlich zur Formierung des Selbst- und Weltbildes in Europa beitrug.9 Auch gegenwärtig formen die missionarischen und entwicklungspolitischen Aktivitäten von Initiativen und Organisationen unterschiedlichster christlicher Konfessionen auf mannigfache Weise gesell-schaftliche, kulturelle und ökonomische Dynamiken innerhalb der globalisier-ten Moderne.10

Aus dem Gesagten wird deutlich, dass es sich bei dem Thema „Theologie und Postkolonialismus“ weder um eine Angelegenheit der Vergangenheit handelt noch um etwas, das bloß außereuropäische Kontexte betrifft. Der hier vorgelegte Band will denn auch – dies sei als ein erster Hinweis festgehalten – den Blick nicht nur auf Herausforderungen für die Länder und Kirchen des sogenannten „globalen Südens“ richten, sondern eine grundlegende Bedin-gung in den Blick nehmen, unter der sich heute de facto jede Begegnung von Menschen, Kulturen und Religionen vollzieht, auch hier in Europa.

Gleichzeitig verweist der Begriff „Postkolonialismus“ im vorliegenden Band auch auf einen sehr spezifischen Zugang, um sich mit dieser globalen Bedingung auseinanderzusetzen. Was man explizit als „Postkolonialismus“ (postcolonialism) oder „postkoloniale Studien“ (postcolonial studies) bezeichnet, ist eine Forschungsperspektive, die sich, ausgehend von den prominenten Stu-dien von Edward Said, Gayatri Spivak, Homi Bhaba11 und anderen, in den letzten Jahrzehnten zunächst vor allem im angelsächsischen Raum, und hier insbesondere an US-amerikanischen Universitäten etabliert hat.

                                                            7 Für die Kritik christlicher Missionare am Kolonialsystem vgl. in paradigmatischer Weise die

weiter unten erwähnten Figuren Antonio de Montesinos und Bartolomé de Las Casas. Die Ambivalenz des Wirkens christlicher Missionare hat an Hand mehrerer Detailstudien auch Marion Grau aufgezeigt. Vgl. dies.: Rethinking Mission in the Postcolony. Salvation, Society and Subversion (2011).

8 Vgl. exemplarisch Habermas/Hölzl (Hg.): Mission global. Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert (2014) sowie Rebekka Habermas: Skandal in Togo. Ein Kapitel deut-scher Kolonialherrschaft, Frankfurt am Main 2016.

9 Vgl. Pfeffer: Koloniale Repräsentationen Südwestafrikas im Spiegel der Rheinischen Mis-sionsberichte, 1842–1884, in: Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 12/22 (2012), S. 1–33.

10 Zunehmend bedeutende Akteure sind dabei pentekostale Kirchen. Vgl. exemplarisch Berg: Pentekostale Megakirchen im Nexus von Wirtschaft, Populärkultur und Gesellschaft. Ein Blick aus Singapur, in: Agan SVD (Hg.): Pentekostalismus – Pfingstkirchen. Akademie Völ-ker und Kulturen 2016/17 (2017), S. 107–137. Zur zunehmenden Hinterfragung kolonial geprägter Zuschreibungen innerhalb des „Entwicklungsdiskurses“ bei den „traditionellen“ christlichen Konfessionen vgl. den Beitrag von Claudia Jahnel in diesem Band.

11 Vgl. Said: Orientalism (1978); Bhabha: The Location of Culture (1994); Spivak: Can the Subaltern Speak? (1988).

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Proponentinnen und Proponenten der „postkolonialen Studien“ sind dabei – auch dies ist wichtig zu betonen – nicht die ersten, die sich kritisch mit dem westlichen Kolonialismus auseinandersetzen. Wie sich auch in diesem Band abbildet, reichen Analysen des und Widerstand gegen den Kolonialismus ins-besondere in den Kolonien selbst so weit zurück wie die Anfänge des europäi-schen Kolonialsystems. Prominente christliche Beispiele sind diesbezüglich die beiden Dominikaner Antonio de Montesinos und Bartolomé de las Casas, die bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts vehemente Kritik am sich etablie-renden spanischen Kolonialsystem übten,12 aber auch mannigfaltige indigene Widerstandsbewegungen13. Innerhalb der katholischen Kirche haben in den letzten Jahrzehnten insbesondere die verschiedenen Befreiungstheologien die Frage kolonialer und neokolonialer Strukturen thematisiert.

Mit den „postkolonialen Studien“ kommt es gegenüber diesen früheren Formen der Kolonialismuskritik zu einer zweifachen Verschiebung. Erstens verschiebt sich der Ort der Analyse und Kritik an westliche, zunächst vor al-lem US-amerikanische Universitäten, was in den letzten Jahrzehnten zweifel-los dazu beigetragen hat, dass das Thema Kolonialismus nun auch innerhalb der akademischen Welt des Westens neue Aufmerksamkeit erlangt hat.14

Zweitens verschiebt sich mit der kreativen Rezeption poststrukturalisti-scher Theorien der Fokus hin zu einer Analyse von Kolonialismus als einem primär diskursiven Phänomen. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der „postkolonialen Studien“ stehen zunächst einmal weniger ökonomische und politische Strukturen als die Konstruktion von Sinn- und Bedeutungssytemen, also Sprache, Texte und Diskurse.15

Der erfolgreichen Etablierung der „postkolonialen Studien“ in der angel-sächsischen akademischen Welt ist es wohl auch zu verdanken, dass nach der Jahrtausendwende ebenfalls in USA erste Ansätze „postkolonialer Theologie“ entwickelt wurden, zunächst vor allem innerhalb des protestantischen Be-

                                                            12 Vgl. Sievernich u. a. (Hg.): Conquista und Kolonisation. 500 Jahre Orden in Lateinamerika,

(1992). 13 Zum indigenen Widerstand gegen die Kolonialisierung in Lateinamerika zu Beginn des

16. Jahrhunderts vgl. den Beitrag von Contreras Colín in diesem Band. 14 Diese Entwicklung ist nicht ohne Kritik geblieben, birgt sie doch die Gefahr, die kritischen

„Stimmen vom Rand“ weiterhin auszublenden bzw. ihnen eine bloß untergeordnete Rolle zuzuweisen. Vgl. dazu Duggan: Erkenntnistheoretische Diskrepanz. Zur Entkolonialisie-rung des postkolonialen theologischen „Kanons“ (2013), S. 135–142 sowie: Sugirtharajah (Hg.): Still at the Margins. Biblical Scholarship Fifteen Years after the Voices from the Mar-gin (2008).

15 Zu Grunde liegt dem die Annahme, dass auch soziale, politische und ökonomische Prakti-ken wesentlich diskursiv geformt sind. Dies ist zweifellos richtig, dennoch scheint es heute notwendig, den vorherrschenden literaturwissenschaftlichen Fokus der postkolonialen Stu-dien verstärkt in ein interdisziplinäres Gespräch mit den Disziplinen der Ökonomie, Poli-tikwissenschaft u. a. zu bringen. Vgl. dazu beispielhaft Ziai (Hg.): Postkoloniale Politik-wissenschaft (2016) sowie Kerner: Postkoloniale Theorien – Zur Einführung (2012).

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Für eine „Globalisierung der Hoffnung“ 13

reichs.16 Die Rezeption postkolonialen Denkens innerhalb der deutschspra-chigen katholischen Theologie ist demgegenüber sehr zögerlich erfolgt.17 Im Gegenteil: Mit dem in den letzten beiden Jahrzehnten abnehmenden Interesse an „Befreiungstheologie“ scheint die Aufmerksamkeit für das Thema Kolo-nialismus innerhalb der deutschsprachigen katholischen Theologie sogar eher zurückgegangen zu sein.

Der vorliegende Band möchte dazu einen Kontrapunkt setzen. Dies aus drei Gründen: Erstens ist die Auseinandersetzung mit historischen und gegen-wärtigen Formen von (Neo-)Kolonialismus für eine Theologie, die angesichts der globalen Herausforderungen der Gegenwart (Migration und Flucht, Zer-störung des globalen Ökosystems, Neoimperialismus, Terrorismus und Fun-damentalismus etc.) sprachfähig bleiben will, heute von größerer Bedeutung als je zuvor. Zweitens kann die Perspektive der „postkolonialen Studien“ einen relevanten Beitrag zum Verständnis dieser Herausforderungen leisten, der von bisherigen Formen ihrer theologischen Bearbeitung (z. B. der befreiungstheo-logischen) gewinnbringend rezipiert werden kann. Drittens wird postkoloniale Theoriebildung von den Kirchen mit Kolonialgeschichte bei der Entwicklung lokaler Theologien zunehmend in Anspruch genommen, womit die Auseinan-dersetzung mit diesen Diskursen auch im Sinne der Förderung der innerkirch-lichen Verständigung zunehmend relevant wird.

Der Schwerpunkt dieses Bandes liegt darauf, die theologische und mis-sionswissenschaftliche Relevanz postkolonialer Diskurse in Bezug auf unter-schiedliche Kontexte und Themenkomplexe aufzuzeigen. Leitende Fragen sind dabei der Zusammenhang von (theologischem) Wissen und Macht, die Herausforderung der Entwicklung eines Missionsverständnisses unter postko-lonialen Bedingungen, die vielschichtigen Verflechtungen von Christentum, Moderne und Kolonialismus sowie die Konsequenzen, die sich aus einem Ernstnehmen der kolonialen und neokolonialen Erfahrungen für die Gottes-rede, das Verständnis der Bibel, die Religionstheologie sowie die kirchliche Pastoral und Entwicklungszusammenarbeit ergeben.

Um der Pluralität der unterschiedlichen weltkirchlichen Herausforderungs-situationen gerecht zu werden, aber auch um die Gefahr einer letztlich frucht-                                                            16 Der von Catherine Keller, Michael Nausner und Mayra Rivera herausgegebene Band „Post-

colonial Theologies. Divinity and Empire“ (2004) ist der erste, der den Begriff „Postkoloni-ale Theologie“ explizit im Titel trägt. Bereits zuvor erscheint der Begriff „postcolonial“ in den Schriften des Exegeten Rasiah S. Sugirtharajah. Vgl. ders.: Asian Biblical Hermeneutics and Postcolonialism. Contesting the Interpretations (1998).

17 Es gibt freilich Ausnahmen. Vgl. insbesondere Gruber: Theologie nach dem Cultural Turn. Interkulturalität als theologische Ressource (2013) sowie Rettenbacher: Interreligiöse Theo-logie – postkolonial gelesen (2013), S. 67–111. Aus dem protestantischen Bereich sind v. a. die beiden von Andreas Nehring und Simon Wiesgickl (Tielesch) herausgegebenen Bände zu nennen. Vgl. dies.: Postkoloniale Theologien I. Bibelhermeneutische und kulturwissen-schaftliche Beiträge (2013), sowie Postkoloniale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum (2018).

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losen Profilierung der verschiedenen Zugänge auf Kosten der jeweils anderen zu vermeiden,18 wurde bei der Konzeption des Bandes die Entscheidung ge-troffen, Positionen einer explizit „postkolonialen“ Theologie mit solchen zu verschränken, die sich zwar ebenfalls mit (neo-)kolonialen Strukturen aus-einandersetzen, dies aber mit Bezug auf andere theoretische und theologische Bezugspunkte als den klassisch „postkolonialen“ tun. Dadurch sollen Engfüh-rungen in den jeweiligen Ansätzen aufgebrochen und gegen die Gefahr ge-schichtlicher Amnesie die lange und breite Tradition der (bisweilen auch theo-retisch äußerst anspruchsvollen) antikolonialen Widerstandsbewegungen in den unterschiedlichen Kontexten in den Blick gebracht werden.19 Die Plurali-tät der Perspektiven post-, de- und antikolonialen Denkens sowie postkolonia-ler, befreiungstheologischer, indigener, interkultureller und anderer Theolo-gien soll dadurch sichtbar gemacht und zum Anlass für ein alle Seiten bereicherndes Gespräch werden. Die Integration unterschiedlicher disziplinä-rer und konfessioneller Blickwinkel eröffnet darüber hinaus eine interdiszipli-näre wie ökumenische und interkulturelle Perspektive.

Dem Band zu Grunde liegt eine Tagung, die im März 2017 am Institut für Weltkirche und Mission (IWM) an der Philosophisch-Theologischen Hoch-schule Sankt Georgen in Frankfurt am Main stattgefunden hat. Wie alle wis-senschaftlichen Veranstaltungen unterlag auch diese Tagung vielfachen kon-tingenten Bedingungen. Je nach Kontext, gewählten Schwerpunktsetzungen und eingeladenen Referentinnen und Referenten lässt sich das Thema „Theo-logie und Postkolonialismus“ jeweils anders akzentuieren. Postkoloniale Theo-rie ist darüber hinaus keine homogene „Lehre“, sondern eine auch in sich be-

                                                            18 Raúl Fornet-Betancourt mahnt in diesem Sinn in seinem Beitrag vor dem „modischen“

Bemühen, auf der „Höhe der Zeit“ zu sein, das auch dem „postkolonialen“ Diskurs biswei-len nicht fremd ist. Das „Neue“ und „Aktuelle“ wird in dieser Logik auf unkritische Weise mit dem „Kritischeren“, „Differenzierteren“, „Radikaleren“, also den vergangen Diskursen in irgendeiner Weise Überlegenen identifiziert. Unter der Hand waltet hier paradoxerweise dieselbe eindimensionale Vorstellung von Zeit und Entwicklung, die der postkoloniale Dis-kurs in anderen Zusammenhängen kritisiert. Postkoloniale Theologie wäre demnach kriti-scher als „Befreiungstheologie“, eine „dekoloniale“ Theologie radikaler als eine postkolo-niale etc. Ein Bewusstsein um die nie restlos aufzuklärenden blinden Flecken des jeweils eigenen Standpunkts verlangt notwendigerweise eine gewisse Demut gegenüber den theore-tischen Selbstdeutungen der Vergangenheit bzw. jeweils anderer Kontexte. Für die Ent-wicklung einer solchen Haltung ließe sich an Gianni Vattimos Begriff der „pietas“ anknüp-fen. (Vgl. Deibl: Menschwerdung und Schwächung. Annäherung an ein Gespräch mit Gianni Vattimo (2013), S. 117–124.) Zur teilweise polemisch geführten Auseinandersetzung zwischen „postkolonialen“ und „dekolonialen“ Theoretikerinnen und Theoretikern vgl. Cast-ro Varela/Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung (2015), S. 318–325.

19 Vgl. dazu insbesondere die Beiträge von Juan Manuel Contreras Colín und Raúl Fornet-Betancourt. Ein ebenfalls vergessenes Kapitel deutschsprachiger postkolonialer Theologie avant la lettre behandelt Clemens Pfeffer im vorletzten Beitrag des Bandes.

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Für eine „Globalisierung der Hoffnung“ 15

trächtlich heterogene, bisweilen sogar widersprüchliche „Assemblage“20 unter-schiedlicher Methoden und „Werkzeuge“, die von den spezifischen Heraus-forderungen ihrer jeweiligen Kontexte maßgeblich geformt werden. Dem ent-spricht, dass sich auch der vorliegende Band als eine Momentaufnahme versteht, die kein abschließendes Urteil über die postkoloniale Theorie oder die postkoloniale Theologie (im Singular) beansprucht, sondern ausgehend von ausgewählten Positionen und geschichtlichen Erfahrungen relevante Anknüp-fungspunkte für die theologische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Aspekten „postkolonialer“ Existenz innerhalb der globalisierten Moderne in den Blick zu bringen sucht. Deutlich werden dabei sowohl Überschneidungen und fruchtbare Berührungspunkte als auch Reibungsflächen zwischen den un-terschiedlichen Zugangsweisen und Erfahrungen. Diese weiterzuverfolgen ist eine Aufgabe für zukünftige Tagungen und Publikationen, zu denen der vor-liegende Band einen Anstoß zu geben hofft.

Im Folgenden sei ein kurzer Überblick über die einzelnen Beiträge gegeben: Die Beiträge von Raúl Fornet-Betancourt und Leela Gandhi beleuchten

anhand zweier unterschiedlicher Beispiele die heute oft vergessene Vielschich-tigkeit antiimperialistischer Kämpfe und Engagements auf dem Höhepunkt des westlichen Imperialismus gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahr-hunderts. Beide rücken dabei die Relevanz religiöser und spiritueller Momente in den Blick.

Fornet-Betancourt zeichnet am Beispiel dreier intellektueller Schlüsselfigu-ren (José Martí, Víctor Raúl Haya de la Torre und José Carlos Mariátegui) in exemplarischer Weise nach, wie sich im Lateinamerika des späten 19. Jahr-hunderts im Widerstand gegen einen zunehmend aggressiv auftretenden US-Imperialismus und ausgehend von pluralen kulturellen und sozialen Hinter-gründen eine länderübergreifende Solidarität ausbildete, die allmählich in die lateinamerikanische Antiimperialismus-Bewegung mündete. Fornet-Betancourt zeigt auf, wie sich diese Bewegung gleichermaßen gegen die militärische, öko-nomische und geistig-kulturelle Kolonisierung des Kontinents wandte. Die christliche Inspiration entscheidender Akteure dieser Bewegung wird deutlich in Figuren wie José Martí, der an Stelle der Übernahme der marxistischen Me-thoden des Klassenkampfs die Vision einer Liebe stellte, die auch im ent-schiedenen Widerstand gegen die koloniale Gewalt den Horizont der Ver-söhnung und der Restituierung der verloren gegangenen Humanität von Kolonisierten und (!) Kolonisatoren nicht aus den Augen verliert. In der Ana-lyse der Vielschichtigkeit zeitgenössischer Diskurse und ihres Fortwirkens                                                             20 Leela Gandhi hat in ihrem Vortrag im Rahmen der Tagung den poststrukturalistisch ge-

prägten Begriffen der „assemblage“ bzw. „bricolage“ den hinduistischen Begriff „jugaad“ zur Seite gestellt. Auch dieser verweist auf die überraschende und innovative Kombination heterogener Elemente in einer provisorischen Einheit, die für den Augenblick „funktio-niert“, nach Erfüllung ihres Zwecks bisweilen jedoch rasch wieder auseinanderfällt bzw. neuen Kombinationen Platz macht.

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durch die folgenden Jahrzehnte macht Fornet-Betancourt deutlich, inwiefern die Antiimperialismusbewegung des 19. Jahrhunderts nicht nur zentrale As-pekte des heutigen de- und postkolonialen Denkens in Lateinamerika vorweg-nimmt, sondern für dieses in vielfacher Weise nach wie vor inspirierend zu sein vermag.

Der Beitrag von Leela Gandhi21 untersucht die religiösen Motive anti-imperialistisch eingestellter Europäerinnen und Europäer während des vikto-rianischen Fin de Siècle. Im Zentrum stehen dabei Figuren wie Mirra Alfassa und Edward Carpenter, bei denen sich die Leidenschaft für den kolonisierten Anderen, militantes antiimperialistisches Engagement und nonkonforme Spi-ritualität verbinden. Mit Verweis auf die zeitgenössischen Forschungen des Religionsphilosophen William James und der 1882 in London gegründeten Society for Psychical Research zeichnet Gandhi den ideengeschichtlichen Hin-tergrund nach, vor dem die dissidenten mystischen und theosophischen Zirkel dieser Zeit nicht bloß als Auswuchs von Aberglaube, Verrücktheit und Infan-tilität, sondern auch als potentielle Orte anti-kolonialer politischer Subversivi-tät erscheinen konnten. Spiritualität erscheint in dieser Perspektive als Öff-nung für den Einbruch einer die Autonomie des souveränen Subjekts unterwandernden Pluralität. Gandhi zeichnet nach, wie diese anarchische Be-wegung in Figuren wie Carpenter und Alfassa verwoben ist mit der Infrage-stellung auch anderer, für den britischen Imperialismus konstitutiver Grenzen: Grenzen der Rasse, der Nation, der Klasse und der geschlechtlichen Identität. Um der Bedeutung des spirituellen Moments in den antiimperialen Engage-ments von Carpenter, Alfassa & Co gerecht zu werden, plädiert Gandhi für die Überwindung einer säkularistischen Engführung im Verständnis von Poli-tik. Nur durch eine Erweiterung der klassisch aufklärerischen Kategorien ließe sich die spirituelle Dimension antiimperialistischer Praktiken heute angemes-sen in den Blick bringen.

Musa Dube erkundet in ihrem Text die möglichen Wege einer „postkolo-nialen Mission“ in Bezug auf den gegenwärtigen afrikanischen Kontext. Ge-gen verharmlosende Deutungen, die einen Zusammenhang zwischen dem Wirken insbesondere protestantischer Missionare und der erfolgreichen Eta-blierung demokratischer Strukturen in verschiedenen afrikanischen Ländern herzustellen versuchen, verweist Dube auf die bleibende Ambivalenz des mis-sionarischen Erbes in Afrika. Am Beispiel der „Rhodes Must Fall“-Kampagne

                                                            21 Im Rahmen der Konferenz führte Leela Gandhi in einem „kritischen Manifest“ an sieben

entscheidende Wegkreuzungen gegenwärtiger postkolonialer Theoriebildung. Die Stichwör-ter „Assemblage“, „Unterdrückung“, „Theorie“, „Demokratie“, „Verzicht“, „Ethik“ und „Ratschlag für Könige“ dienten dabei als Anzeige von Problemkonstellationen, an die Gandhi spezifische Vorschläge für die Bestimmung des heterogenen Diskursensembles der „postkolonialen Studien“ knüpfte. Leela Gandhi sei dafür gedankt, dass sie für diesen Band ihre historisch-philosophische Studie zur Bedeutung religiöser Motive in dissidenten antiko-lonialen Netzwerken des späten viktorianischen Zeitalters zur Verfügung gestellt hat.

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in Südafrika 2014 veranschaulicht sie, wie das Erbe des Kolonialismus nach wie vor die afrikanischen Gesellschaften destabilisiert. Dube problematisiert darüber hinaus die Rolle vieler neopentekostaler Kirchen, die mit ihren „pros-perity gospels“ heute den ideologischen Rückhalt für die Etablierung eines neoliberalen Neokolonialismus bildeten – paradoxerweise ohne dabei der Ko-lonialismuskritik ausgesetzt zu sein, mit der sich die traditionellen christlichen Kirchen auseinanderzusetzen hätten. An ausgewählten Beispielen diskutiert sie neue Ansätze einer gender- und ökosensiblen postkolonialen Missionstheologie.

Der Beitrag von Felix Wilfred leistet einen Brückenschlag zwischen post-kolonialer Theorie und gegenwärtigen asiatischen Theologien. Dabei warnt Wilfred einerseits davor, die Kolonialgeschichte vorschnell als ein bereits erle-digtes Kapitel der Menschheitsgeschichte zu betrachten, und würdigt in die-sem Sinn die „postkolonialen Studien“ als einen Beitrag, die Erinnerung an den und die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus weiter zu vertiefen; andererseits kritisiert er umgekehrt aber auch deren Tendenz, sich in allzu ab-strakten theoretischen Diskursen zu verlieren. Die stärkere Verortung in der Praxis sozialer Bewegungen könne dazu beitragen, die „postkolonialen Stu-dien“ an konkrete emanzipative Bewegungen rückzubinden und würde sich umgekehrt auch befruchtend auf diese Bewegungen auswirken. Postkoloniale Theologien könnten sich in diesem Punkt von den verschiedenen Befreiungs-theologien inspirieren lassen.

Die gegenwärtige Herausforderungssituation einer postkolonialen Missions-wissenschaft zwischen ökologischer Krise, Formen des neoliberalen Neokolo-nialismus und dem Erstarken ethnonationalistischer Bewegungen ist das Thema des Beitrags von Marion Grau. Ihre Überlegungen rund um das Pro-jekt einer „intersektionellen postkolonialen konstruktiven theologischen Her-meneutik“ veranschaulichen die Ambivalenz von Kommunikations- und Übersetzungsprozessen zwischen Kolonisatoren, Missionaren und indigener Bevölkerung und führen schließlich zur Frage nach den tieferliegenden Ur-sachen des weißen, vorwiegend maskulinen (Neo-)Kolonialismus der Gegen-wart. Die Aufarbeitung „kolonialer“ Verletzungen im Verlauf der Christiani-sierung der europäischen Völker sowie die Schaffung neuer Identifikations-möglichkeiten für die vom Bedeutungsverlust des Modells „weißer Männlich-keit“ verunsicherten Männer werden dabei als zwei zumeist übersehene Aufgaben einer postkolonialen Missionswissenschaft deutlich.

Saskia Wendel veranschaulicht die theologische Fruchtbarkeit einer kriti-schen Auseinandersetzung mit postkolonialer Theorie auf dem Feld der Reli-gionstheologie. Wendel unterstreicht die Bedeutung, die postkolonialer Theo-rie in der Aufdeckung latenter Eurozentrismen zukommt, die sich selbst innerhalb der kritischen Stränge gegenwärtiger westlicher Theologie wie etwa der feministischen oder der politischen Theologie zeigten. Gleichzeitig mar-kiert sie mit Blick auf Gayatri Spivak Anfragen hinsichtlich des Begründungs-programms postkolonialer Theorie. Auf der Basis der Anerkennung einer

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freien, handlungs- und sprachmächtigen Subjektivität, die den Diskursen, in die sie hinein verwoben ist, nicht einfach schicksalhaft ausgeliefert ist, sondern sich dazu nochmals kritisch in Distanz zu bringen vermag, ließen sich die An-liegen postkolonialer Theorie jedoch gewinnbringend für den religionstheolo-gischen Diskurs fruchtbar machen. Wendel wirbt in diesem Sinn für einen „depotenzierten Inklusivismus“, in dem der Universalitätsanspruch religiöser Überzeugungen von Wahrheitsansprüchen klar zu unterscheiden ist und die Anerkennung einer prinzipiellen Gleichwertigkeit der handelnden und glau-benden Subjekte als Basis einer Vielfalt unterschiedlicher Lebensentwürfe ernst genommen wird.

Juan Manuel Contreras Colín analysiert am Beispiel des mexikanischen Ni-can mopohua, einem indigenen Text aus dem 16. Jahrhundert, die spirituellen Wurzeln der indigenen Kolonialismuskritik am Anfang des spanischen Kolo-nialsystems. Contreras Colín zeigt auf, dass sich im Nican mopohua eine indi-gene Kritik an den brutalen Ausformungen des Kolonialsystems zum Aus-druck bringt, die in ihrer Radikalität und visionären Kraft später nur mehr selten erreicht worden sei. Interessant sei zu beobachten, dass sich die indige-nen Autoren dabei nicht in radikale Opposition zu Europa setzten, sondern die kritischen Elemente der indigenen und der christlichen Tradition in einer kreativen Synthese verbänden. Die schöpferische Transformationsleistung dieser Synthese könne mit der Hellenisierung des Christentums in den ersten Jahrhunderten durchaus verglichen werden. Das „mexikanische Evangelium“ von Guadalupe schaffe es auf diese Weise, die Religion der Eroberer gegen diese selbst zu wenden und könne somit als erste Form einer indigenen Theo-logie der Befreiung in Lateinamerika gelten.

Claudia Jahnel leistet eine postkolonial inspirierte Auseinandersetzung mit der verstärkten Aufmerksamkeit für den Faktor „Religion“ in der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands. Deutlich wird dabei, dass die jüngst zu beobachtende Überwindung einer säkularistischen Engführung in entwicklungspolitischen Programmen zwar einerseits die bleibende Bedeutung religiöser Traditionen innerhalb der globalen Moderne ernst nimmt und zu einer positiven Würdigung ihrer Rolle in globalen Konflikten gelangt. Ande-rerseits würden darin jedoch auf subtile Weise auch koloniale Dichotomisie-rungen von Westen – Süden, Rationalität – Religion, Wissenschaft – Weisheit etc. fortgeschrieben werden. Jahnel zeigt auf, wie unter umgekehrten Vorzei-chen auch viele Post-Development Ansätze diesen Dichotomisierungen ver-fallen. Der Beitrag postkolonialer Theologie zur aktuellen Entwicklungsdebatte könne vor allem darin liegen, das kritische Potential der Religionen zur Imagi-nation anderer „Zukünfte“ jenseits der normierenden Zielvorstellungen offi-zieller Entwicklungspolitik freizulegen.

Clemens Pfeffer beleuchtet ein von der neueren Forschung meist verges-senes Beispiel deutschsprachiger postkolonialer Missionshistoriographie avant la lettre, namentlich die Forschungsprojekte, die rund um den evangelischen

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Missionswissenschaftler Hans Jochen Margull an der Evangelischen Theologi-schen Fakultät der Universität Hamburg während der 70er-Jahre entstanden. Pfeffer zeichnet nach, wie der Einfluss der Studentenbewegung sowie der transnationale Austausch mit antikolonialen Befreiungsbewegungen Margull und seine Schüler zu einer grundlegenden Reformulierung zentraler Parameter christlicher Mission führten, die viele Anliegen postkolonialer Theologie vor-wegnimmt. Deutlich wird dabei, dass die Hamburger Missionsforschung der 70er-Jahre der heutigen, vor allem am angelsächsischen Diskurs orientierten postkolonialen deutschen Missionsgeschichtsschreibung in Vielem ein Vorbild sein kann – sowohl in Bezug auf die gesellschaftspolitische Verantwortung historischer Missionsforschung als auch als Beispiel eines nach vielen Seiten orientierten, interdisziplinären Dialogs, der in engem Austausch mit sozialen Bewegungen außer- und innerhalb Europas steht.

Der Beitrag von Christiana Idika untersucht abschließend eine überra-schende Analogie, die sich zwischen dem Postkolonialismus und einem Ver-ständnis von Mission im Lichte der Missio Dei herstellen lässt. Könne man den Kolonialismus im Anschluss an Aimé Césaire als einen Machtkomplex be-schreiben, der zur Dehumanisierung von Kolonisierten und Kolonisatoren führt, so lenke ein Verständnis von Mission im Sinne der Missio Dei den Blick auf die Zerstörung der Gottebenbildlichkeit des Menschen durch den Sünden-fall. Idika analysiert den inneren Zusammenhang, der zwischen diesen beiden Formen des Verlusts des Menschlichen besteht, und beleuchtet, inwiefern so-wohl der Postkolonialismus als auch die christliche Mission auf je eigenen Wegen auf die Restituierung der zerstörten menschlichen Würde zielen. Unter der Perspektive der Missio Dei wird dabei eine befreiend-erlösende Grund-struktur christlicher Mission freigelegt, in deren Mittelpunkt Anerkennung, Versöhnung und Heil(ig)ung stehen.

Diese Einleitung sei mit einem Hinweis auf das erste „postkoloniale“ Pon-tifikat der Kirchengeschichte beschlossen. Papst Franziskus, ein Papst vom „Ende der Welt“22, hat in den letzten Jahren nicht nur in einer Reihe bemer-kenswerter symbolischer Gesten die „Ränder“ der globalisierten Welt in das Zentrum einer Institution eingeschrieben, die lange Zeit beansprucht hat, die höchste Repräsentationsinstanz sowohl weltlicher als auch geistiger Macht zu sein;23 er hat dabei – in bisweilen drastischen Bildern – auch die Herrschafts-

                                                            22 So der aus Argentinien stammende Papst Franziskus in seinen Grußworten unmittelbar

nach seiner Wahl zum Papst 2013: „Ihr wisst, es war die Aufgabe des Konklaves, Rom einen Bischof zu geben. Es scheint, meine Mitbrüder, die Kardinäle, sind fast bis ans Ende der Welt gegangen, um ihn zu holen.“ (Vgl. Acta Apostolicae Sedis 4–5/2013, 363.) Für einen „postkolonialen“ Blick auf das Pontifikat von Franziskus vgl. die Beiträge in Panotto (Hg.): Pope Francis in postcolonial reality. Complexities, ambiguities and paradoxes (2015).

23 Vgl. Pittl: Von Rom nach Lampedusa: Die Exzentrizität der Kirche im „Zentrum“ Europa, in: Quart (2/2014), S. 13–14 sowie ders.: Lampedusa als Ort der Theologie. Eine topologi-sche Interpretation des Pontifikats Papst Franziskus’ (2015), S. 141–166.

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und Exklusionsstrukturen des neoliberalen „Imperiums“ unserer Tage kriti-siert. Bereits 2013, noch vor den großen Migrationsbewegungen von 2015, sprach er auf Lampedusa von einer „Globalisierung der Gleichgültigkeit“, die die Menschen unempfindlich werden lasse gegenüber dem Leiden und den „Schreien der anderen“.24 Wiederholt hat er in den letzten Jahren und Mona-ten auch das Bild eines sich stückweise ausbreitenden „Dritten Weltkriegs“ verwendet. Treibende Kraft dieses „Krieges“, unter dem vor allem die „Schwächsten“ und „Letzten“ zu leiden hätten, sei ein „ganzes Netz von Inte-ressen, […] das Geld [… und] die imperiale oder die konjunkturelle Macht“.25 Dieser zerstörerischen Dynamik stellt Franziskus die Vision einer „Globalisie-rung der Hoffnung“ entgegen.26 Diese sei etwas, was primär „unter den Ar-men“, in postkolonialer Sprache würde man sagen den „Subalternen“, als den eigentlichen Subjekten von Veränderung wachse. Die Globalisierung der Hoffnung ist für Franziskus notwendigerweise vielgestaltig wie es auch die Menschen und Kulturen dieser Erde sind.

                                                            24 Papst Franziskus: Predigt auf dem Sportplatz „Arena“ in Salina, 8. Juli 2013. Vgl. Acta

Apostolicae Sedis 8/2013, S. 653–656. 25 Vgl. Papst Franziskus: Pressekonferenz auf dem Rückflug von Bangui nach Rom, 30. No-

vember 2015, abrufbar unter: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/ 2015/november/documents/papa-francesco_20151130_repubblica-centrafricana-conferenza-stampa.pdf [letzter Abruf: 22.03.2018] sowie Papst Franziskus: Interview in „La Repubbli-ca“, 13.04.2017.

26 „Die Globalisierung der Hoffnung, die in den Völkern aufkeimt und unter den Armen wächst, muss an die Stelle der Globalisierung der Ausschließung und der Gleichgültigkeit treten“. (Vgl. Papst Franziskus, Ad Participes II Conventus Mundialis Motuum Popularium in urbe Sancta Cruce de Serra (in Bolivia), in: Acta Apostolicae Sedis 8/2015, 769–782, 770.) Das Zitat stammt aus einer in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Ansprache im Rahmen des zweiten weltweiten Treffens von „Volksbewegungen“ im bolivianischen Santa Cruz am 9. Juli 2015. Die Ermutigung des Papstes an die Vertreterinnen und Vertreter der Volksbewegungen ist ein anschauliches Beispiel der Anerkennung dessen, was in postkolo-nialer Sprache „agency“ der „Subalternen“ genannt wird: „Was kann ich, ein Cartonero, eine Catadora, ein Müllsucher, eine Müllsortiererin angesichts so vieler Probleme tun, wenn ich kaum genug zum Essen verdiene? Was kann ich Handwerker, Straßenhändler, Fernfahrer, ausgeschlossener Arbeiter tun, wenn ich nicht einmal Arbeitsrechte habe? Was kann ich Bäuerin, ich Indio, ich Fischer tun, wenn ich kaum der Unterwerfung durch die großen Genossenschaften widerstehen kann? Was kann ich von meinem Elendsviertel, meiner Bruchbude, meinem Dörfchen, meiner Barackensiedlung aus tun, wenn ich täglich diskri-miniert und ausgegrenzt werde? Was kann dieser Student, dieser Jugendliche, dieser Vor-kämpfer, dieser Missionar tun, der durch die Stadtviertel und die Gegenden läuft mit dem Herzen voller Träume, doch nahezu ohne irgendeine Lösung für seine Probleme? – Sie können viel tun, sie können viel tun! Sie, die Unbedeutendsten, die Ausgebeuteten, die Ar-men und Ausgeschlossenen, können viel und tun viel. Ich wage, Ihnen zu sagen, dass die Zukunft der Menschheit großenteils in Ihren Händen liegt, in Ihren Fähigkeiten, sich zu-sammenzuschließen und kreative Alternativen zu fördern, […] Lassen Sie sich nicht ein-schüchtern! Sie sind Aussäer von Veränderung.“ (Ebd., S. 771–772.)

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Es scheint nicht unangebracht, die Relevanz einer zeitgemäßen katholi-schen Missionstheologie auch daran zu messen, inwieweit sie in der Lage ist, einen Beitrag zu einer solchen „Globalisierung der Hoffnung“ zu leisten. Eine postkolonial informierte Missionstheologie wird versuchen, diesen Beitrag in Demut zu leisten, ohne naive Ansprüche auf Reinheit und Unschuld, sondern im Bewusstsein um die kolonialen Verstrickungen in Vergangenheit und Ge-genwart sowie im Bemühen um Solidarität mit den Armen und Ausgeschlos-senen gleich welcher konfessioneller oder religiöser Zugehörigkeit. Christliche Hoffnung lässt sich zweifelsohne nicht auf Befreiung aus ökonomischer, poli-tischer und symbolischer Marginalisierung reduzieren. Dass sie diese trans-zendiert, bedeutet aber nicht, dass sie sich dazu gleichgültig verhalten kann. Wie der spanisch-salvadorianische Jesuit Ignacio Ellacuría vor nun bereits mehr als 30 Jahren bemerkte, transzendiert christliche Hoffnung das inner-weltliche Engagement um Gerechtigkeit, Befreiung und Versöhnung gerade dadurch, dass es – im wahrsten Sinn von „trans-cendere“ – an diesem Enga-gement nicht vorbei-, sondern durch es hindurchgeht, es also antreibt, korri-giert und erst so zuletzt auch überschreitet.27 Dazu, dass diese Bewegung ge-lingt, möchte auch der vorliegende Band einen Beitrag leisten.

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                                                            27 Vgl. Ellacuría: Geschichtlichkeit des christlichen Heils (1995), S. 313–360, 318. Aufgegrif-

fen hat diesen Gedanken Mayra Rivera in: The Touch of Transcendence. A Postcolonial Theology of God (2007).

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Die Antiimperialismusbewegung in Lateinamerika als Wegbereiterin dekolonialen Denkens

Raúl Fornet-Betancourt

1. Zum Anfang ein Zitat

„Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. […] Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der ein-brechenden Dämmerung ihren Flug“.1

Warum dieses Zitat am Anfang? Weil mir diese Aussage Hegels über die Phi-losophie den Rahmen für den Hinweis gibt, mit dem ich meinen Vortrag be-ginne möchte.2 Es ist folgender: Philosophien, aber auch christliche Theolo-gien, jedenfalls wenn diese mit Gustavo Gutiérrez als „zweiter Akt“ verstanden werden,3 arbeiten mit Begriffen, für deren Entwicklung als Mo-mente des „Gedankens der Welt“, den sie in der Gestalt reflexiver Erkenntnis der Wirklichkeit zum Ausdruck bringen wollen, sie doch den hohen Preis der historischen „Verspätung“ bezahlen.

Warum aber gerade dieser Hinweis am Anfang meines Vortrags? Weil im Mittelpunkt der Debatte auf dieser Tagung ein Begriff bzw. ein Denkansatz („Postkolonialismus“) steht, der, wenn ich es richtig sehe, einen deutlichen Anspruch auf hermeneutische, methodologische und erkenntnistheoretische „Neuheit“ erhebt, und zwar mit der suggestiven Rede, wissenschaftliche For-

                                                            1 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1970), S. 27–28. 2 Der Text geht auf den Vortrag zurück, den der Verfasser für die Jahrestagung 2017 („Mis-

sionstheologie und Postkolonialismus. Herausforderungen – Ansätze – Kritik“) des Insti-tuts für Weltkirche und Mission (IWM) in Frankfurt am Main vorbereitete.

3 Vgl. Gutiérrez: Teología de la liberación. Perspectivas (1971), S. 28ff. Dort bezieht sich Gutiérrez ausdrücklich auf die erwähnte Stelle bei Hegel, wenn er festhält: “Puede decirse de la teología lo que afirmaba Hegel de la filosofía: sólo se levanta al crepúsculo.” („Man kann von der Theologie das sagen, was Hegel von der Philosophie sagte: sie stehe erst bei der Dämmerung auf“; Übersetzung aus dem Spanischen – sofern nicht anders angegeben auch im Folgenden – von R. F.-B.).