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Leseprobe Dominic Sandbrook Weltgeschichte(n) - Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg Bestellen Sie mit einem Klick für 14,00 € Seiten: 368 Erscheinungstermin: 09. November 2021 Mehr Informationen zum Buch gibt es auf www.penguinrandomhouse.de

Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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Page 1: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

Leseprobe

Dominic Sandbrook

Weltgeschichte(n) - Zeit der Finsternis Der Zweite Weltkrieg

Bestellen Sie mit einem Klick fuumlr 1400 euro

Seiten 368

Erscheinungstermin 09 November 2021

Mehr Informationen zum Buch gibt es auf

wwwpenguinrandomhousede

Inhalte

Buch lesen

Mehr zum Autor

Zum Buch Weltgeschichte hautnah Die Geschichte des Zweiten Weltkrieges

global erzaumlhlt

In einer dunklen Vergangenheit voller Konflikt und Armut steigt der junge

Adolf Hitler auf zum Herrscher des Dritten Reiches der Beginn der

blutigsten und dramatischsten Zeit der Weltgeschichte

Die 10-jaumlhrige Niusia erlebt im Zweiten Weltkrieg die Invasion Polens mit

der daumlnische Student Vilhelm Lind hilft zahlreichen Juden bei der Flucht

und Anne Frank traumlumt von einem Leben jenseits ihres Versteckes In

anderen Teilen der Erde kaumlmpft Marinekoch Doris Miller in Pearl Harbor

Owen Campbell ein australischer Soldat befreit sich aus der

Gefangenschaft im Dschungel und die japanische Schuumllerin Setsuko

uumlberlebt die Atombombe auf Hiroshima

Historiker Dominic Sandbrook katapultiert die Leser mitten hinein in die

historischen Ereignisse Schauplaumltze und Einzelschicksale Das Ergebnis Ein

einzigartiges Gesamtbild des Zweiten Weltkrieges in einer fundierten

mitreiszligenden und dramatischen Erzaumlhlung fuumlr Leserinnen ab 10 Jahren

Alle Baumlnde der Weltgeschichten-Reihe

Koumlnig der Koumlnige Alexander der Groszlige

Zeit der Finsternis Der Zweite Weltkrieg

Autor

Dominic Sandbrook Dominic Sandbrook ist Historiker Autor Kolumnist

und Fernsehsprecher Er hat Buumlcher uumlber die

politische Geschichte Amerikas geschrieben und

steht kurz vor der Vollendung eines mehrbaumlndigen

Geschichtsbands uumlber Groszligbritannien in der

Nachkriegszeit Sein juumlngstes Buch raquoWho Dares

Dominic Sandbrook

Weltgeschichte(n)

Zeit der Finsternis Der Zweite Weltkrieg

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Bei diesem Buch wurden die durch das verwendete Material und die Produktion entstandenen CO2-Emissionen ausgeglichen indem der

cbj Verlag ein Projekt zur Aufforstung in Brasilien unterstuumltzt Weitere Informationen zu dem Projekt unter wwwClimatePartnercom14044-1912-1001

Penguin Random House Verlagsgruppe

FSCreg N001967

Fuumlr Arthur

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten so uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern

lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

1 Auflage 2021Copyright Text copy 2021 Dominic Sandbrook all rights reserved

Die englische Originalausgabe erschien 2021unter dem Titel raquoAdventures in Time The Second World Warlaquobei Particular Books einem Imprint von Penguin Press Londoncopy 2021 fuumlr die deutschsprachige Ausgabe bei cbj Kinder- und

Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str 28 81673 Muumlnchen

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenUumlbersetzung Knut Kruumlger

Lektorat Andreas RodeUmschlaggestaltung und -illustration Nele Schuumltz DesignSonja Gebhardt

mk bull Herstellung AJSatz KompetenzCenter Moumlnchengladbach

Druck GGP Media GmbHISBN 978-3-570-17908-6

Printed in Germany

wwwcbj-verlagde

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Inhalt

Prolog 6 Juni 1944 7

TEIL 1

IN DIE FINSTERNIS

1 Der Mann der Postkarten abmalte 17

2 Der groszlige Abenteurer 33

3 Die aufgehende Sonne 49

TEIL 2

DER STURM BRICHT LOS

4 Entfesselte Woumllfe 67

5 Blitzkrieg 82

6 Die kleinen Schiffe 98

7 Groszligbritannien allein 114

TEIL 3

MITTERNACHT

8 Codename Igel 133

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9 Unternehmen Barbarossa 150

10 In der Houmllle 166

11 Tora Tora Tora 182

12 Die Bahnstrecke des Todes 198

TEIL 4

ZEITENWENDE

13 Der Wuumlstenfuchs 217

14 Showdown in Stalingrad 233

15 Geheimsache Enigma 249

16 Wir werden nicht schweigen 265

17 Der Kampf um den Pazifik 281

TEIL 5

ENDSPIEL

18 Die Alliierten schlagen zuruumlck 299

19 Die Houmlhle des Ungeheuers 318

20 Enola Gay 334

21 Sieg 349

NACHWORT 362

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Prolog

6 Juni 1944

Waumlhrend ein peitschender Wind das dunkle Wasser des Aumlrmel-

kanals aufwuumlhlte bereitete sich ein staumlmmiger junger Mann auf

den wichtigsten Einsatz seines Lebens vor

Sein Name war Leonard Schroeder doch jeder nannte ihn

Max Er war fuumlnfundzwanzig Jahre alt und zu Hause warteten

seine Frau und sein kleiner Sohn auf ihn

Aber zuerst musste er seinen Job erledigen

Als Junge in den USA war Max gemobbt wurden was er nie

vergessen hatte Er wusste was es hieszlig wenn auf einem herum-

getrampelt wurde Wie es war sich verletzt und veraumlngstigt zu

fuumlhlen Jetzt konnte er der Welt ein fuumlr alle Mal zeigen dass die

Tyrannen letztendlich nicht gewinnen wuumlrden

Waumlhrend das Schiff durch die Nacht stampfte war Max auf

dem Weg zu seinem Brigadegeneral um letzte Anweisungen zu

erhalten Alles war bereit Eine enorme Anspannung lag in der

Luft

Der D-Day war gekommen die umfangreichste Landeoperation

aller Zeiten Tausende und Abertausende Amerikaner Briten

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und Kanadier vereinigten sich um sich der maumlchtigen deutschen

Kriegsmaschinerie entgegenzustellen

In wenigen Stunden wuumlrden sie an den Straumlnden der Norman-

die landen und ihr Leben riskieren um dem grausamsten Regi-

me der Weltgeschichte die Stirn zu bieten

Irgendjemand musste zuerst an Land gehen und das Schicksal

hatte dafuumlr den aus dem Bundesstaat Maryland stammenden

Captain Max Schroeder ausersehen

Jetzt da sie sich die Haumlnde schuumlttelten und einander viel Gluumlck

wuumlnschten legte ihm der Colonel den Arm um die Schultern

und sagte bewegt raquoAlso los machen wir Ihnen die Houmllle heiszliglaquo

Max war so aufgeregt dass er kaum ein Wort uumlber die Lippen

brachte Der historische Moment hatte ihm die Sprache ver-

schlagen Schlieszliglich entgegnete er nur raquoDann sehen wir uns am

Strand Colonellaquo

Auf dem Deck war es brechend voll Uumlberall waren schwei-

gende Maumlnner die im Dunkeln auf ihren Einsatz warteten Der

Regen prasselte herab Max houmlrte nichts anderes als das Droumlhnen

der Schiffsmotoren

Ploumltzlich erwachte ein Lautsprecher knisternd zum Leben Es

war die Stimme des Oberkommandierenden der ihnen eine letzte

Botschaft mit auf den Weg gab

raquoSoldaten Seeleute und Piloten der alliierten Streitkraumlftelaquo be-

gann die Stimme raquoUnsere groszlige Mission hat begonnen Die

Augen der Welt sind auf uns gerichtet Die Hoffnungen und

Gebete aller friedliebenden Menschen begleiten euchlaquo

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Nachdem der Lautsprecher verstummt war kehrte Max in Ge-

danken versunken in sein Quartier zuruumlck Eine Sache musste er

noch erledigen dann war er bereit

Er nahm einen Stift und schrieb seiner Frau einen Brief Mar-

garet und er kannten einander seit der Highschool Es war eine

Teenagerliebe gewesen doch jetzt wuumlrde er sie vielleicht niemals

wiedersehen

Er schrieb ihr wo er war und was er tat und dass er sie liebte

Dann machte er sich auf den Weg

Es war 230 Uhr am Morgen Die franzoumlsische Kuumlste huumlllte sich

in Dunkelheit

Schroeder stand neben seinen Maumlnnern an Deck und wartete

auf den Befehl das Landungsfahrzeug zu Wasser zu lassen Unter

seinem Helm hatte er als Gluumlcksbringer ein Foto seiner Frau

befestigt

Der Befehl kam Gebeugt unter der Last ihres Marschgepaumlcks

draumlngten die Maumlnner auf das kleinere Landungsfahrzeug das in

schwerer See heftig hin und her schwankte

raquoViel Gluumlck vierte Divisionlaquo schepperte es aus dem Laut-

sprecher

Ein Ruck dann waren sie unterwegs Maxrsquo Haumlnde schlossen

sich um sein Sturmgewehr Seine Maumlnner standen dicht an dicht

ihre Gesichter bleich vor Kaumllte und Anspannung

Stunden vergingen waumlhrend sie durch die Dunkelheit schau-

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kelten Um 430 Uhr zeichnete sich die Kuumlste der Normandie als

graue Linie vor ihnen ab

Um kurz vor sechs schimmerte im Osten das erste Licht der

Morgensonne auf

Sie houmlrten Gewehrsalven und Explosionen waumlhrend die

Schlachtschiffe der Alliierten die deutsche Verteidigungslinie

unter Beschuss nahmen Sie waren jetzt sehr nah dran

Dann kam die Landung Um genau 628 Uhr houmlrte Max das

Knirschen von Kies unter dem Schiffsrumpf

Die Rampe krachte nach unten seine Fuumlszlige setzten sich in

Bewegung und ploumltzlich watete er durchs truumlbe und kalte Was-

ser das ihm bis zu den Huumlften reichte In seinen Ohren gellte das

Gewehrfeuer Hinter ihm kaumlmpften sich seine Maumlnner durch die

Wellen Vor sich sah er einen niedrigen Damm aus Beton

Sein Herz pochte er taumelte weiter bis er schlieszliglich Sand

unter seinen Stiefeln spuumlrte ndash den Sand der Normandie Es war

ein grauer kuumlhler Morgen und Max Schroeder hatte gerade Ge-

schichte geschrieben

Aber daruumlber konnte er jetzt nicht nachdenken Er musste mit

seinen Maumlnnern moumlglichst schnell den Strand uumlberqueren um

dem feindlichen Feuer zu entgehen

Max keuchte sein Marschgepaumlck war vom Seewasser durch-

traumlnkt waumlhrend sie dem Damm entgegenliefen Er blieb kurz

stehen und schaute sich um Fast alle hatten es inzwischen an den

Strand geschafft Zum Gluumlck

Aber sie durften nicht warten Sie mussten weiter vorruumlcken

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am Damm vorbei hinein in die Duumlnen Die Deutschen hatten

das Gelaumlnde vermint doch Max hatte den Befehl sich nicht auf-

halten zu lassen

Als sie ins Landesinnere vordrangen verlieszlig ihn sein Gluumlck Er

wurde unter Beschuss genommen zwei Kugeln trafen seinen lin-

ken Arm

Obwohl das Blut seinen Aumlrmel durchdrang spuumlrte er keinen

Schmerz Er stand unter Schock auszligerdem hatte er einen Job zu

erledigen Er rief seinen Maumlnnern zu weiter vorzuruumlcken bis

zum ersten Dorf

Doch als sie dort ankamen wurde ihm klar wie schwer er

verletzt war Ploumltzlich wurde ihm schwindelig Sein Blick ver-

schwamm seine Beine knickten ein hellip

Dann wurde ihm schwarz vor Augen

Max erwachte Er lag in einem Zelt umgeben von Aumlrzten Einer

von ihnen beugte sich vor raquoWir muumlssen Ihren Arm amputierenlaquo

sagte eine Stimme

Dann verblasste das Bild ebenso wie Maxrsquo Bewusstsein

Licht Blinzelnd oumlffnete er die Augen

Er war wach Er war am Leben Er versuchte sich zu bewegen

und bemerkte dass sein linker Arm immer noch da war

Benommen sah er sich um Er war nicht mehr in Frankreich

Er war in England in einem Militaumlrkrankenhaus

Als Erstes ging ihm durch den Kopf dass er an die Front und

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zu seinen Maumlnnern zuruumlckkehren muumlsste doch die Aumlrzte sagten

ihm dies sei unmoumlglich Ihm stuumlnden mehrere Operationen be-

vor doch wenn er Gluumlck habe koumlnne sein Arm gerettet werden

Fuumlr ihn sei der Krieg beendet

Desillusioniert lieszlig er sich in das Kissen sinken So lange hatte

er sich auf seinen Einsatz vorbereitet und nun sollte alles vorbei

sein

Wenige Tage spaumlter brachte eine Krankenschwester ihm ein

paar Zeitungen doch er schuumlttelte nur den Kopf und wollte

nichts lesen

raquoSchauen Sie dochlaquo forderte sie ihn laumlchelnd auf raquoSie sind

zum Helden gewordenlaquo

Max Schroeder der erste Mann der an der Kuumlste der Nor-

mandie an Land ging und die Befreiung Frankreichs vom Nazi-

regime einleitete hat sich nie als Held betrachtet Als ein Zei-

tungsjournalist ihn ein halbes Jahrhundert spaumlter so bezeichnete

wollte er davon nichts wissen

raquoFuumlnf meiner Maumlnner haben damals in der Normandie ihr

Leben gelassenlaquo sagte er mit Entschiedenheit raquoSie allein sind

Heldenlaquo

Doch auch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist

die Geschichte von Max immer noch lebendig Die Geschichte

des jungen Manns der den Ozean uumlberquerte um einem frem-

den Land den Frieden zu bringen Die Geschichte des Mannes

der sich der Tyrannei entgegenstellte und raquoNeinlaquo sagte

Max hatte sich geirrt Er war tatsaumlchlich zum Helden ge-

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worden auch wenn er zu bescheiden war sich dies einzuge-

stehen

Doch in anderer Hinsicht hatte er voumlllig recht Er war einer

von zahllosen jungen Maumlnnern und Frauen die ihre Angst uumlber-

wanden und angesichts des Schreckens ihr Bestes taten

Der blutigste Konflikt der Weltgeschichte der Zweite Welt-

krieg hat den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts veraumlndert

Jagdbomber flogen uumlber britische Felder Panzer bekaumlmpften sich

auf der russischen Steppe Schlachtschiffe waren im Pazifik im

Einsatz Und im Herzen seiner zerstoumlrten Hauptstadt riss ein

hass erfuumlllter Mann sein ganzes dunkles Reich mit in den Ab-

grund

Vor allem war der Zweite Weltkrieg jedoch die Geschichte

von unzaumlhligen ganz normalen Menschen die gegen ihren Wil-

len in diesen Konflikt hineingezogen wurden

Der Schuljunge der gegen die feindlichen Bomber kaumlmpfte

Das Schulmaumldchen das sich mutig und entschlossen den auslaumln-

dischen Invasoren ent gegenstellte Die Seeleute die ihren Lands-

leuten zu Hilfe kamen Die Informatiker die nicht zu entschluumls-

selnde Codes knackten

Die Soldaten die sich durch Wuumlsten und Urwaumllder kaumlmpften

Die Matrosen die in staumlndiger Angst vor Torpedos lebten Die

Frauen die naumlchtelang in Fabriken arbeiteten Die Musiker die

spielten waumlhrend die Bomben einschlugen

Sie alle waren Heldinnen und Helden ndash und dieses Buch er-

zaumlhlt ihre Geschichte

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Als alles vorbei war hatten sie ganz unterschiedliche Erinnerun-

gen Doch in einem waren sie sich einig

Alles hatte mit einem jungen Mann begonnen der sein Geld

mit dem Abmalen von Postkartenmotiven verdiente

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Der Mann der Postkarten abmalte

Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune

Sonnenlicht glitzerte auf Daumlchern und Tuumlrmen der oumlsterreichi-

schen Hauptstadt Im beruumlhmten Vergnuumlgungspark dem Prater

erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel in dessen

roten Gondeln zufriedene Tagesausfluumlgler saszligen

Dreiszligig Gehminuten vom Prater entfernt in einer ruhigen nur

selten besuchten Straszlige saszlig ein junger Mann in einem spaumlrlich

beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab

Er war so unscheinbar dass die meisten von uns seinen Anblick

sofort wieder vergessen haumltten ein wenig kleiner als der Durch-

schnitt mit einem blassen ernsten Gesicht und kurzen dunklen

Haaren Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe

Das einzig Auffaumlllige in ihm waren seine Augen klar und un-

erschuumltterlich von fast hypnotischem Blau Wen er ansah der

konnte sich seinem Blick nicht entziehen

Nun da die Geraumlusche der Stadt durch das halb geoumlffnete

Fenster drangen war der Mann in seine Arbeit versunken waumlh-

rend sein Pinsel uumlber das Papier wanderte

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Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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22

Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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29

Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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33

2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 2: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

Inhalte

Buch lesen

Mehr zum Autor

Zum Buch Weltgeschichte hautnah Die Geschichte des Zweiten Weltkrieges

global erzaumlhlt

In einer dunklen Vergangenheit voller Konflikt und Armut steigt der junge

Adolf Hitler auf zum Herrscher des Dritten Reiches der Beginn der

blutigsten und dramatischsten Zeit der Weltgeschichte

Die 10-jaumlhrige Niusia erlebt im Zweiten Weltkrieg die Invasion Polens mit

der daumlnische Student Vilhelm Lind hilft zahlreichen Juden bei der Flucht

und Anne Frank traumlumt von einem Leben jenseits ihres Versteckes In

anderen Teilen der Erde kaumlmpft Marinekoch Doris Miller in Pearl Harbor

Owen Campbell ein australischer Soldat befreit sich aus der

Gefangenschaft im Dschungel und die japanische Schuumllerin Setsuko

uumlberlebt die Atombombe auf Hiroshima

Historiker Dominic Sandbrook katapultiert die Leser mitten hinein in die

historischen Ereignisse Schauplaumltze und Einzelschicksale Das Ergebnis Ein

einzigartiges Gesamtbild des Zweiten Weltkrieges in einer fundierten

mitreiszligenden und dramatischen Erzaumlhlung fuumlr Leserinnen ab 10 Jahren

Alle Baumlnde der Weltgeschichten-Reihe

Koumlnig der Koumlnige Alexander der Groszlige

Zeit der Finsternis Der Zweite Weltkrieg

Autor

Dominic Sandbrook Dominic Sandbrook ist Historiker Autor Kolumnist

und Fernsehsprecher Er hat Buumlcher uumlber die

politische Geschichte Amerikas geschrieben und

steht kurz vor der Vollendung eines mehrbaumlndigen

Geschichtsbands uumlber Groszligbritannien in der

Nachkriegszeit Sein juumlngstes Buch raquoWho Dares

Dominic Sandbrook

Weltgeschichte(n)

Zeit der Finsternis Der Zweite Weltkrieg

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 1Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 1 270921 0748270921 0748

Bei diesem Buch wurden die durch das verwendete Material und die Produktion entstandenen CO2-Emissionen ausgeglichen indem der

cbj Verlag ein Projekt zur Aufforstung in Brasilien unterstuumltzt Weitere Informationen zu dem Projekt unter wwwClimatePartnercom14044-1912-1001

Penguin Random House Verlagsgruppe

FSCreg N001967

Fuumlr Arthur

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten so uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern

lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

1 Auflage 2021Copyright Text copy 2021 Dominic Sandbrook all rights reserved

Die englische Originalausgabe erschien 2021unter dem Titel raquoAdventures in Time The Second World Warlaquobei Particular Books einem Imprint von Penguin Press Londoncopy 2021 fuumlr die deutschsprachige Ausgabe bei cbj Kinder- und

Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str 28 81673 Muumlnchen

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenUumlbersetzung Knut Kruumlger

Lektorat Andreas RodeUmschlaggestaltung und -illustration Nele Schuumltz DesignSonja Gebhardt

mk bull Herstellung AJSatz KompetenzCenter Moumlnchengladbach

Druck GGP Media GmbHISBN 978-3-570-17908-6

Printed in Germany

wwwcbj-verlagde

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Inhalt

Prolog 6 Juni 1944 7

TEIL 1

IN DIE FINSTERNIS

1 Der Mann der Postkarten abmalte 17

2 Der groszlige Abenteurer 33

3 Die aufgehende Sonne 49

TEIL 2

DER STURM BRICHT LOS

4 Entfesselte Woumllfe 67

5 Blitzkrieg 82

6 Die kleinen Schiffe 98

7 Groszligbritannien allein 114

TEIL 3

MITTERNACHT

8 Codename Igel 133

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 5Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 5 270921 0748270921 0748

9 Unternehmen Barbarossa 150

10 In der Houmllle 166

11 Tora Tora Tora 182

12 Die Bahnstrecke des Todes 198

TEIL 4

ZEITENWENDE

13 Der Wuumlstenfuchs 217

14 Showdown in Stalingrad 233

15 Geheimsache Enigma 249

16 Wir werden nicht schweigen 265

17 Der Kampf um den Pazifik 281

TEIL 5

ENDSPIEL

18 Die Alliierten schlagen zuruumlck 299

19 Die Houmlhle des Ungeheuers 318

20 Enola Gay 334

21 Sieg 349

NACHWORT 362

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7

Prolog

6 Juni 1944

Waumlhrend ein peitschender Wind das dunkle Wasser des Aumlrmel-

kanals aufwuumlhlte bereitete sich ein staumlmmiger junger Mann auf

den wichtigsten Einsatz seines Lebens vor

Sein Name war Leonard Schroeder doch jeder nannte ihn

Max Er war fuumlnfundzwanzig Jahre alt und zu Hause warteten

seine Frau und sein kleiner Sohn auf ihn

Aber zuerst musste er seinen Job erledigen

Als Junge in den USA war Max gemobbt wurden was er nie

vergessen hatte Er wusste was es hieszlig wenn auf einem herum-

getrampelt wurde Wie es war sich verletzt und veraumlngstigt zu

fuumlhlen Jetzt konnte er der Welt ein fuumlr alle Mal zeigen dass die

Tyrannen letztendlich nicht gewinnen wuumlrden

Waumlhrend das Schiff durch die Nacht stampfte war Max auf

dem Weg zu seinem Brigadegeneral um letzte Anweisungen zu

erhalten Alles war bereit Eine enorme Anspannung lag in der

Luft

Der D-Day war gekommen die umfangreichste Landeoperation

aller Zeiten Tausende und Abertausende Amerikaner Briten

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8

und Kanadier vereinigten sich um sich der maumlchtigen deutschen

Kriegsmaschinerie entgegenzustellen

In wenigen Stunden wuumlrden sie an den Straumlnden der Norman-

die landen und ihr Leben riskieren um dem grausamsten Regi-

me der Weltgeschichte die Stirn zu bieten

Irgendjemand musste zuerst an Land gehen und das Schicksal

hatte dafuumlr den aus dem Bundesstaat Maryland stammenden

Captain Max Schroeder ausersehen

Jetzt da sie sich die Haumlnde schuumlttelten und einander viel Gluumlck

wuumlnschten legte ihm der Colonel den Arm um die Schultern

und sagte bewegt raquoAlso los machen wir Ihnen die Houmllle heiszliglaquo

Max war so aufgeregt dass er kaum ein Wort uumlber die Lippen

brachte Der historische Moment hatte ihm die Sprache ver-

schlagen Schlieszliglich entgegnete er nur raquoDann sehen wir uns am

Strand Colonellaquo

Auf dem Deck war es brechend voll Uumlberall waren schwei-

gende Maumlnner die im Dunkeln auf ihren Einsatz warteten Der

Regen prasselte herab Max houmlrte nichts anderes als das Droumlhnen

der Schiffsmotoren

Ploumltzlich erwachte ein Lautsprecher knisternd zum Leben Es

war die Stimme des Oberkommandierenden der ihnen eine letzte

Botschaft mit auf den Weg gab

raquoSoldaten Seeleute und Piloten der alliierten Streitkraumlftelaquo be-

gann die Stimme raquoUnsere groszlige Mission hat begonnen Die

Augen der Welt sind auf uns gerichtet Die Hoffnungen und

Gebete aller friedliebenden Menschen begleiten euchlaquo

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9

Nachdem der Lautsprecher verstummt war kehrte Max in Ge-

danken versunken in sein Quartier zuruumlck Eine Sache musste er

noch erledigen dann war er bereit

Er nahm einen Stift und schrieb seiner Frau einen Brief Mar-

garet und er kannten einander seit der Highschool Es war eine

Teenagerliebe gewesen doch jetzt wuumlrde er sie vielleicht niemals

wiedersehen

Er schrieb ihr wo er war und was er tat und dass er sie liebte

Dann machte er sich auf den Weg

Es war 230 Uhr am Morgen Die franzoumlsische Kuumlste huumlllte sich

in Dunkelheit

Schroeder stand neben seinen Maumlnnern an Deck und wartete

auf den Befehl das Landungsfahrzeug zu Wasser zu lassen Unter

seinem Helm hatte er als Gluumlcksbringer ein Foto seiner Frau

befestigt

Der Befehl kam Gebeugt unter der Last ihres Marschgepaumlcks

draumlngten die Maumlnner auf das kleinere Landungsfahrzeug das in

schwerer See heftig hin und her schwankte

raquoViel Gluumlck vierte Divisionlaquo schepperte es aus dem Laut-

sprecher

Ein Ruck dann waren sie unterwegs Maxrsquo Haumlnde schlossen

sich um sein Sturmgewehr Seine Maumlnner standen dicht an dicht

ihre Gesichter bleich vor Kaumllte und Anspannung

Stunden vergingen waumlhrend sie durch die Dunkelheit schau-

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10

kelten Um 430 Uhr zeichnete sich die Kuumlste der Normandie als

graue Linie vor ihnen ab

Um kurz vor sechs schimmerte im Osten das erste Licht der

Morgensonne auf

Sie houmlrten Gewehrsalven und Explosionen waumlhrend die

Schlachtschiffe der Alliierten die deutsche Verteidigungslinie

unter Beschuss nahmen Sie waren jetzt sehr nah dran

Dann kam die Landung Um genau 628 Uhr houmlrte Max das

Knirschen von Kies unter dem Schiffsrumpf

Die Rampe krachte nach unten seine Fuumlszlige setzten sich in

Bewegung und ploumltzlich watete er durchs truumlbe und kalte Was-

ser das ihm bis zu den Huumlften reichte In seinen Ohren gellte das

Gewehrfeuer Hinter ihm kaumlmpften sich seine Maumlnner durch die

Wellen Vor sich sah er einen niedrigen Damm aus Beton

Sein Herz pochte er taumelte weiter bis er schlieszliglich Sand

unter seinen Stiefeln spuumlrte ndash den Sand der Normandie Es war

ein grauer kuumlhler Morgen und Max Schroeder hatte gerade Ge-

schichte geschrieben

Aber daruumlber konnte er jetzt nicht nachdenken Er musste mit

seinen Maumlnnern moumlglichst schnell den Strand uumlberqueren um

dem feindlichen Feuer zu entgehen

Max keuchte sein Marschgepaumlck war vom Seewasser durch-

traumlnkt waumlhrend sie dem Damm entgegenliefen Er blieb kurz

stehen und schaute sich um Fast alle hatten es inzwischen an den

Strand geschafft Zum Gluumlck

Aber sie durften nicht warten Sie mussten weiter vorruumlcken

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11

am Damm vorbei hinein in die Duumlnen Die Deutschen hatten

das Gelaumlnde vermint doch Max hatte den Befehl sich nicht auf-

halten zu lassen

Als sie ins Landesinnere vordrangen verlieszlig ihn sein Gluumlck Er

wurde unter Beschuss genommen zwei Kugeln trafen seinen lin-

ken Arm

Obwohl das Blut seinen Aumlrmel durchdrang spuumlrte er keinen

Schmerz Er stand unter Schock auszligerdem hatte er einen Job zu

erledigen Er rief seinen Maumlnnern zu weiter vorzuruumlcken bis

zum ersten Dorf

Doch als sie dort ankamen wurde ihm klar wie schwer er

verletzt war Ploumltzlich wurde ihm schwindelig Sein Blick ver-

schwamm seine Beine knickten ein hellip

Dann wurde ihm schwarz vor Augen

Max erwachte Er lag in einem Zelt umgeben von Aumlrzten Einer

von ihnen beugte sich vor raquoWir muumlssen Ihren Arm amputierenlaquo

sagte eine Stimme

Dann verblasste das Bild ebenso wie Maxrsquo Bewusstsein

Licht Blinzelnd oumlffnete er die Augen

Er war wach Er war am Leben Er versuchte sich zu bewegen

und bemerkte dass sein linker Arm immer noch da war

Benommen sah er sich um Er war nicht mehr in Frankreich

Er war in England in einem Militaumlrkrankenhaus

Als Erstes ging ihm durch den Kopf dass er an die Front und

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12

zu seinen Maumlnnern zuruumlckkehren muumlsste doch die Aumlrzte sagten

ihm dies sei unmoumlglich Ihm stuumlnden mehrere Operationen be-

vor doch wenn er Gluumlck habe koumlnne sein Arm gerettet werden

Fuumlr ihn sei der Krieg beendet

Desillusioniert lieszlig er sich in das Kissen sinken So lange hatte

er sich auf seinen Einsatz vorbereitet und nun sollte alles vorbei

sein

Wenige Tage spaumlter brachte eine Krankenschwester ihm ein

paar Zeitungen doch er schuumlttelte nur den Kopf und wollte

nichts lesen

raquoSchauen Sie dochlaquo forderte sie ihn laumlchelnd auf raquoSie sind

zum Helden gewordenlaquo

Max Schroeder der erste Mann der an der Kuumlste der Nor-

mandie an Land ging und die Befreiung Frankreichs vom Nazi-

regime einleitete hat sich nie als Held betrachtet Als ein Zei-

tungsjournalist ihn ein halbes Jahrhundert spaumlter so bezeichnete

wollte er davon nichts wissen

raquoFuumlnf meiner Maumlnner haben damals in der Normandie ihr

Leben gelassenlaquo sagte er mit Entschiedenheit raquoSie allein sind

Heldenlaquo

Doch auch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist

die Geschichte von Max immer noch lebendig Die Geschichte

des jungen Manns der den Ozean uumlberquerte um einem frem-

den Land den Frieden zu bringen Die Geschichte des Mannes

der sich der Tyrannei entgegenstellte und raquoNeinlaquo sagte

Max hatte sich geirrt Er war tatsaumlchlich zum Helden ge-

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 12Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 12 270921 0748270921 0748

13

worden auch wenn er zu bescheiden war sich dies einzuge-

stehen

Doch in anderer Hinsicht hatte er voumlllig recht Er war einer

von zahllosen jungen Maumlnnern und Frauen die ihre Angst uumlber-

wanden und angesichts des Schreckens ihr Bestes taten

Der blutigste Konflikt der Weltgeschichte der Zweite Welt-

krieg hat den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts veraumlndert

Jagdbomber flogen uumlber britische Felder Panzer bekaumlmpften sich

auf der russischen Steppe Schlachtschiffe waren im Pazifik im

Einsatz Und im Herzen seiner zerstoumlrten Hauptstadt riss ein

hass erfuumlllter Mann sein ganzes dunkles Reich mit in den Ab-

grund

Vor allem war der Zweite Weltkrieg jedoch die Geschichte

von unzaumlhligen ganz normalen Menschen die gegen ihren Wil-

len in diesen Konflikt hineingezogen wurden

Der Schuljunge der gegen die feindlichen Bomber kaumlmpfte

Das Schulmaumldchen das sich mutig und entschlossen den auslaumln-

dischen Invasoren ent gegenstellte Die Seeleute die ihren Lands-

leuten zu Hilfe kamen Die Informatiker die nicht zu entschluumls-

selnde Codes knackten

Die Soldaten die sich durch Wuumlsten und Urwaumllder kaumlmpften

Die Matrosen die in staumlndiger Angst vor Torpedos lebten Die

Frauen die naumlchtelang in Fabriken arbeiteten Die Musiker die

spielten waumlhrend die Bomben einschlugen

Sie alle waren Heldinnen und Helden ndash und dieses Buch er-

zaumlhlt ihre Geschichte

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Als alles vorbei war hatten sie ganz unterschiedliche Erinnerun-

gen Doch in einem waren sie sich einig

Alles hatte mit einem jungen Mann begonnen der sein Geld

mit dem Abmalen von Postkartenmotiven verdiente

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Der Mann der Postkarten abmalte

Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune

Sonnenlicht glitzerte auf Daumlchern und Tuumlrmen der oumlsterreichi-

schen Hauptstadt Im beruumlhmten Vergnuumlgungspark dem Prater

erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel in dessen

roten Gondeln zufriedene Tagesausfluumlgler saszligen

Dreiszligig Gehminuten vom Prater entfernt in einer ruhigen nur

selten besuchten Straszlige saszlig ein junger Mann in einem spaumlrlich

beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab

Er war so unscheinbar dass die meisten von uns seinen Anblick

sofort wieder vergessen haumltten ein wenig kleiner als der Durch-

schnitt mit einem blassen ernsten Gesicht und kurzen dunklen

Haaren Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe

Das einzig Auffaumlllige in ihm waren seine Augen klar und un-

erschuumltterlich von fast hypnotischem Blau Wen er ansah der

konnte sich seinem Blick nicht entziehen

Nun da die Geraumlusche der Stadt durch das halb geoumlffnete

Fenster drangen war der Mann in seine Arbeit versunken waumlh-

rend sein Pinsel uumlber das Papier wanderte

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Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 3: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

Dominic Sandbrook

Weltgeschichte(n)

Zeit der Finsternis Der Zweite Weltkrieg

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Bei diesem Buch wurden die durch das verwendete Material und die Produktion entstandenen CO2-Emissionen ausgeglichen indem der

cbj Verlag ein Projekt zur Aufforstung in Brasilien unterstuumltzt Weitere Informationen zu dem Projekt unter wwwClimatePartnercom14044-1912-1001

Penguin Random House Verlagsgruppe

FSCreg N001967

Fuumlr Arthur

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten so uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern

lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

1 Auflage 2021Copyright Text copy 2021 Dominic Sandbrook all rights reserved

Die englische Originalausgabe erschien 2021unter dem Titel raquoAdventures in Time The Second World Warlaquobei Particular Books einem Imprint von Penguin Press Londoncopy 2021 fuumlr die deutschsprachige Ausgabe bei cbj Kinder- und

Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str 28 81673 Muumlnchen

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenUumlbersetzung Knut Kruumlger

Lektorat Andreas RodeUmschlaggestaltung und -illustration Nele Schuumltz DesignSonja Gebhardt

mk bull Herstellung AJSatz KompetenzCenter Moumlnchengladbach

Druck GGP Media GmbHISBN 978-3-570-17908-6

Printed in Germany

wwwcbj-verlagde

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Inhalt

Prolog 6 Juni 1944 7

TEIL 1

IN DIE FINSTERNIS

1 Der Mann der Postkarten abmalte 17

2 Der groszlige Abenteurer 33

3 Die aufgehende Sonne 49

TEIL 2

DER STURM BRICHT LOS

4 Entfesselte Woumllfe 67

5 Blitzkrieg 82

6 Die kleinen Schiffe 98

7 Groszligbritannien allein 114

TEIL 3

MITTERNACHT

8 Codename Igel 133

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9 Unternehmen Barbarossa 150

10 In der Houmllle 166

11 Tora Tora Tora 182

12 Die Bahnstrecke des Todes 198

TEIL 4

ZEITENWENDE

13 Der Wuumlstenfuchs 217

14 Showdown in Stalingrad 233

15 Geheimsache Enigma 249

16 Wir werden nicht schweigen 265

17 Der Kampf um den Pazifik 281

TEIL 5

ENDSPIEL

18 Die Alliierten schlagen zuruumlck 299

19 Die Houmlhle des Ungeheuers 318

20 Enola Gay 334

21 Sieg 349

NACHWORT 362

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7

Prolog

6 Juni 1944

Waumlhrend ein peitschender Wind das dunkle Wasser des Aumlrmel-

kanals aufwuumlhlte bereitete sich ein staumlmmiger junger Mann auf

den wichtigsten Einsatz seines Lebens vor

Sein Name war Leonard Schroeder doch jeder nannte ihn

Max Er war fuumlnfundzwanzig Jahre alt und zu Hause warteten

seine Frau und sein kleiner Sohn auf ihn

Aber zuerst musste er seinen Job erledigen

Als Junge in den USA war Max gemobbt wurden was er nie

vergessen hatte Er wusste was es hieszlig wenn auf einem herum-

getrampelt wurde Wie es war sich verletzt und veraumlngstigt zu

fuumlhlen Jetzt konnte er der Welt ein fuumlr alle Mal zeigen dass die

Tyrannen letztendlich nicht gewinnen wuumlrden

Waumlhrend das Schiff durch die Nacht stampfte war Max auf

dem Weg zu seinem Brigadegeneral um letzte Anweisungen zu

erhalten Alles war bereit Eine enorme Anspannung lag in der

Luft

Der D-Day war gekommen die umfangreichste Landeoperation

aller Zeiten Tausende und Abertausende Amerikaner Briten

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8

und Kanadier vereinigten sich um sich der maumlchtigen deutschen

Kriegsmaschinerie entgegenzustellen

In wenigen Stunden wuumlrden sie an den Straumlnden der Norman-

die landen und ihr Leben riskieren um dem grausamsten Regi-

me der Weltgeschichte die Stirn zu bieten

Irgendjemand musste zuerst an Land gehen und das Schicksal

hatte dafuumlr den aus dem Bundesstaat Maryland stammenden

Captain Max Schroeder ausersehen

Jetzt da sie sich die Haumlnde schuumlttelten und einander viel Gluumlck

wuumlnschten legte ihm der Colonel den Arm um die Schultern

und sagte bewegt raquoAlso los machen wir Ihnen die Houmllle heiszliglaquo

Max war so aufgeregt dass er kaum ein Wort uumlber die Lippen

brachte Der historische Moment hatte ihm die Sprache ver-

schlagen Schlieszliglich entgegnete er nur raquoDann sehen wir uns am

Strand Colonellaquo

Auf dem Deck war es brechend voll Uumlberall waren schwei-

gende Maumlnner die im Dunkeln auf ihren Einsatz warteten Der

Regen prasselte herab Max houmlrte nichts anderes als das Droumlhnen

der Schiffsmotoren

Ploumltzlich erwachte ein Lautsprecher knisternd zum Leben Es

war die Stimme des Oberkommandierenden der ihnen eine letzte

Botschaft mit auf den Weg gab

raquoSoldaten Seeleute und Piloten der alliierten Streitkraumlftelaquo be-

gann die Stimme raquoUnsere groszlige Mission hat begonnen Die

Augen der Welt sind auf uns gerichtet Die Hoffnungen und

Gebete aller friedliebenden Menschen begleiten euchlaquo

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9

Nachdem der Lautsprecher verstummt war kehrte Max in Ge-

danken versunken in sein Quartier zuruumlck Eine Sache musste er

noch erledigen dann war er bereit

Er nahm einen Stift und schrieb seiner Frau einen Brief Mar-

garet und er kannten einander seit der Highschool Es war eine

Teenagerliebe gewesen doch jetzt wuumlrde er sie vielleicht niemals

wiedersehen

Er schrieb ihr wo er war und was er tat und dass er sie liebte

Dann machte er sich auf den Weg

Es war 230 Uhr am Morgen Die franzoumlsische Kuumlste huumlllte sich

in Dunkelheit

Schroeder stand neben seinen Maumlnnern an Deck und wartete

auf den Befehl das Landungsfahrzeug zu Wasser zu lassen Unter

seinem Helm hatte er als Gluumlcksbringer ein Foto seiner Frau

befestigt

Der Befehl kam Gebeugt unter der Last ihres Marschgepaumlcks

draumlngten die Maumlnner auf das kleinere Landungsfahrzeug das in

schwerer See heftig hin und her schwankte

raquoViel Gluumlck vierte Divisionlaquo schepperte es aus dem Laut-

sprecher

Ein Ruck dann waren sie unterwegs Maxrsquo Haumlnde schlossen

sich um sein Sturmgewehr Seine Maumlnner standen dicht an dicht

ihre Gesichter bleich vor Kaumllte und Anspannung

Stunden vergingen waumlhrend sie durch die Dunkelheit schau-

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kelten Um 430 Uhr zeichnete sich die Kuumlste der Normandie als

graue Linie vor ihnen ab

Um kurz vor sechs schimmerte im Osten das erste Licht der

Morgensonne auf

Sie houmlrten Gewehrsalven und Explosionen waumlhrend die

Schlachtschiffe der Alliierten die deutsche Verteidigungslinie

unter Beschuss nahmen Sie waren jetzt sehr nah dran

Dann kam die Landung Um genau 628 Uhr houmlrte Max das

Knirschen von Kies unter dem Schiffsrumpf

Die Rampe krachte nach unten seine Fuumlszlige setzten sich in

Bewegung und ploumltzlich watete er durchs truumlbe und kalte Was-

ser das ihm bis zu den Huumlften reichte In seinen Ohren gellte das

Gewehrfeuer Hinter ihm kaumlmpften sich seine Maumlnner durch die

Wellen Vor sich sah er einen niedrigen Damm aus Beton

Sein Herz pochte er taumelte weiter bis er schlieszliglich Sand

unter seinen Stiefeln spuumlrte ndash den Sand der Normandie Es war

ein grauer kuumlhler Morgen und Max Schroeder hatte gerade Ge-

schichte geschrieben

Aber daruumlber konnte er jetzt nicht nachdenken Er musste mit

seinen Maumlnnern moumlglichst schnell den Strand uumlberqueren um

dem feindlichen Feuer zu entgehen

Max keuchte sein Marschgepaumlck war vom Seewasser durch-

traumlnkt waumlhrend sie dem Damm entgegenliefen Er blieb kurz

stehen und schaute sich um Fast alle hatten es inzwischen an den

Strand geschafft Zum Gluumlck

Aber sie durften nicht warten Sie mussten weiter vorruumlcken

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am Damm vorbei hinein in die Duumlnen Die Deutschen hatten

das Gelaumlnde vermint doch Max hatte den Befehl sich nicht auf-

halten zu lassen

Als sie ins Landesinnere vordrangen verlieszlig ihn sein Gluumlck Er

wurde unter Beschuss genommen zwei Kugeln trafen seinen lin-

ken Arm

Obwohl das Blut seinen Aumlrmel durchdrang spuumlrte er keinen

Schmerz Er stand unter Schock auszligerdem hatte er einen Job zu

erledigen Er rief seinen Maumlnnern zu weiter vorzuruumlcken bis

zum ersten Dorf

Doch als sie dort ankamen wurde ihm klar wie schwer er

verletzt war Ploumltzlich wurde ihm schwindelig Sein Blick ver-

schwamm seine Beine knickten ein hellip

Dann wurde ihm schwarz vor Augen

Max erwachte Er lag in einem Zelt umgeben von Aumlrzten Einer

von ihnen beugte sich vor raquoWir muumlssen Ihren Arm amputierenlaquo

sagte eine Stimme

Dann verblasste das Bild ebenso wie Maxrsquo Bewusstsein

Licht Blinzelnd oumlffnete er die Augen

Er war wach Er war am Leben Er versuchte sich zu bewegen

und bemerkte dass sein linker Arm immer noch da war

Benommen sah er sich um Er war nicht mehr in Frankreich

Er war in England in einem Militaumlrkrankenhaus

Als Erstes ging ihm durch den Kopf dass er an die Front und

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zu seinen Maumlnnern zuruumlckkehren muumlsste doch die Aumlrzte sagten

ihm dies sei unmoumlglich Ihm stuumlnden mehrere Operationen be-

vor doch wenn er Gluumlck habe koumlnne sein Arm gerettet werden

Fuumlr ihn sei der Krieg beendet

Desillusioniert lieszlig er sich in das Kissen sinken So lange hatte

er sich auf seinen Einsatz vorbereitet und nun sollte alles vorbei

sein

Wenige Tage spaumlter brachte eine Krankenschwester ihm ein

paar Zeitungen doch er schuumlttelte nur den Kopf und wollte

nichts lesen

raquoSchauen Sie dochlaquo forderte sie ihn laumlchelnd auf raquoSie sind

zum Helden gewordenlaquo

Max Schroeder der erste Mann der an der Kuumlste der Nor-

mandie an Land ging und die Befreiung Frankreichs vom Nazi-

regime einleitete hat sich nie als Held betrachtet Als ein Zei-

tungsjournalist ihn ein halbes Jahrhundert spaumlter so bezeichnete

wollte er davon nichts wissen

raquoFuumlnf meiner Maumlnner haben damals in der Normandie ihr

Leben gelassenlaquo sagte er mit Entschiedenheit raquoSie allein sind

Heldenlaquo

Doch auch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist

die Geschichte von Max immer noch lebendig Die Geschichte

des jungen Manns der den Ozean uumlberquerte um einem frem-

den Land den Frieden zu bringen Die Geschichte des Mannes

der sich der Tyrannei entgegenstellte und raquoNeinlaquo sagte

Max hatte sich geirrt Er war tatsaumlchlich zum Helden ge-

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worden auch wenn er zu bescheiden war sich dies einzuge-

stehen

Doch in anderer Hinsicht hatte er voumlllig recht Er war einer

von zahllosen jungen Maumlnnern und Frauen die ihre Angst uumlber-

wanden und angesichts des Schreckens ihr Bestes taten

Der blutigste Konflikt der Weltgeschichte der Zweite Welt-

krieg hat den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts veraumlndert

Jagdbomber flogen uumlber britische Felder Panzer bekaumlmpften sich

auf der russischen Steppe Schlachtschiffe waren im Pazifik im

Einsatz Und im Herzen seiner zerstoumlrten Hauptstadt riss ein

hass erfuumlllter Mann sein ganzes dunkles Reich mit in den Ab-

grund

Vor allem war der Zweite Weltkrieg jedoch die Geschichte

von unzaumlhligen ganz normalen Menschen die gegen ihren Wil-

len in diesen Konflikt hineingezogen wurden

Der Schuljunge der gegen die feindlichen Bomber kaumlmpfte

Das Schulmaumldchen das sich mutig und entschlossen den auslaumln-

dischen Invasoren ent gegenstellte Die Seeleute die ihren Lands-

leuten zu Hilfe kamen Die Informatiker die nicht zu entschluumls-

selnde Codes knackten

Die Soldaten die sich durch Wuumlsten und Urwaumllder kaumlmpften

Die Matrosen die in staumlndiger Angst vor Torpedos lebten Die

Frauen die naumlchtelang in Fabriken arbeiteten Die Musiker die

spielten waumlhrend die Bomben einschlugen

Sie alle waren Heldinnen und Helden ndash und dieses Buch er-

zaumlhlt ihre Geschichte

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Als alles vorbei war hatten sie ganz unterschiedliche Erinnerun-

gen Doch in einem waren sie sich einig

Alles hatte mit einem jungen Mann begonnen der sein Geld

mit dem Abmalen von Postkartenmotiven verdiente

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17

1

Der Mann der Postkarten abmalte

Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune

Sonnenlicht glitzerte auf Daumlchern und Tuumlrmen der oumlsterreichi-

schen Hauptstadt Im beruumlhmten Vergnuumlgungspark dem Prater

erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel in dessen

roten Gondeln zufriedene Tagesausfluumlgler saszligen

Dreiszligig Gehminuten vom Prater entfernt in einer ruhigen nur

selten besuchten Straszlige saszlig ein junger Mann in einem spaumlrlich

beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab

Er war so unscheinbar dass die meisten von uns seinen Anblick

sofort wieder vergessen haumltten ein wenig kleiner als der Durch-

schnitt mit einem blassen ernsten Gesicht und kurzen dunklen

Haaren Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe

Das einzig Auffaumlllige in ihm waren seine Augen klar und un-

erschuumltterlich von fast hypnotischem Blau Wen er ansah der

konnte sich seinem Blick nicht entziehen

Nun da die Geraumlusche der Stadt durch das halb geoumlffnete

Fenster drangen war der Mann in seine Arbeit versunken waumlh-

rend sein Pinsel uumlber das Papier wanderte

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18

Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 4: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

Bei diesem Buch wurden die durch das verwendete Material und die Produktion entstandenen CO2-Emissionen ausgeglichen indem der

cbj Verlag ein Projekt zur Aufforstung in Brasilien unterstuumltzt Weitere Informationen zu dem Projekt unter wwwClimatePartnercom14044-1912-1001

Penguin Random House Verlagsgruppe

FSCreg N001967

Fuumlr Arthur

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten so uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern

lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

1 Auflage 2021Copyright Text copy 2021 Dominic Sandbrook all rights reserved

Die englische Originalausgabe erschien 2021unter dem Titel raquoAdventures in Time The Second World Warlaquobei Particular Books einem Imprint von Penguin Press Londoncopy 2021 fuumlr die deutschsprachige Ausgabe bei cbj Kinder- und

Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str 28 81673 Muumlnchen

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenUumlbersetzung Knut Kruumlger

Lektorat Andreas RodeUmschlaggestaltung und -illustration Nele Schuumltz DesignSonja Gebhardt

mk bull Herstellung AJSatz KompetenzCenter Moumlnchengladbach

Druck GGP Media GmbHISBN 978-3-570-17908-6

Printed in Germany

wwwcbj-verlagde

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Inhalt

Prolog 6 Juni 1944 7

TEIL 1

IN DIE FINSTERNIS

1 Der Mann der Postkarten abmalte 17

2 Der groszlige Abenteurer 33

3 Die aufgehende Sonne 49

TEIL 2

DER STURM BRICHT LOS

4 Entfesselte Woumllfe 67

5 Blitzkrieg 82

6 Die kleinen Schiffe 98

7 Groszligbritannien allein 114

TEIL 3

MITTERNACHT

8 Codename Igel 133

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9 Unternehmen Barbarossa 150

10 In der Houmllle 166

11 Tora Tora Tora 182

12 Die Bahnstrecke des Todes 198

TEIL 4

ZEITENWENDE

13 Der Wuumlstenfuchs 217

14 Showdown in Stalingrad 233

15 Geheimsache Enigma 249

16 Wir werden nicht schweigen 265

17 Der Kampf um den Pazifik 281

TEIL 5

ENDSPIEL

18 Die Alliierten schlagen zuruumlck 299

19 Die Houmlhle des Ungeheuers 318

20 Enola Gay 334

21 Sieg 349

NACHWORT 362

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7

Prolog

6 Juni 1944

Waumlhrend ein peitschender Wind das dunkle Wasser des Aumlrmel-

kanals aufwuumlhlte bereitete sich ein staumlmmiger junger Mann auf

den wichtigsten Einsatz seines Lebens vor

Sein Name war Leonard Schroeder doch jeder nannte ihn

Max Er war fuumlnfundzwanzig Jahre alt und zu Hause warteten

seine Frau und sein kleiner Sohn auf ihn

Aber zuerst musste er seinen Job erledigen

Als Junge in den USA war Max gemobbt wurden was er nie

vergessen hatte Er wusste was es hieszlig wenn auf einem herum-

getrampelt wurde Wie es war sich verletzt und veraumlngstigt zu

fuumlhlen Jetzt konnte er der Welt ein fuumlr alle Mal zeigen dass die

Tyrannen letztendlich nicht gewinnen wuumlrden

Waumlhrend das Schiff durch die Nacht stampfte war Max auf

dem Weg zu seinem Brigadegeneral um letzte Anweisungen zu

erhalten Alles war bereit Eine enorme Anspannung lag in der

Luft

Der D-Day war gekommen die umfangreichste Landeoperation

aller Zeiten Tausende und Abertausende Amerikaner Briten

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8

und Kanadier vereinigten sich um sich der maumlchtigen deutschen

Kriegsmaschinerie entgegenzustellen

In wenigen Stunden wuumlrden sie an den Straumlnden der Norman-

die landen und ihr Leben riskieren um dem grausamsten Regi-

me der Weltgeschichte die Stirn zu bieten

Irgendjemand musste zuerst an Land gehen und das Schicksal

hatte dafuumlr den aus dem Bundesstaat Maryland stammenden

Captain Max Schroeder ausersehen

Jetzt da sie sich die Haumlnde schuumlttelten und einander viel Gluumlck

wuumlnschten legte ihm der Colonel den Arm um die Schultern

und sagte bewegt raquoAlso los machen wir Ihnen die Houmllle heiszliglaquo

Max war so aufgeregt dass er kaum ein Wort uumlber die Lippen

brachte Der historische Moment hatte ihm die Sprache ver-

schlagen Schlieszliglich entgegnete er nur raquoDann sehen wir uns am

Strand Colonellaquo

Auf dem Deck war es brechend voll Uumlberall waren schwei-

gende Maumlnner die im Dunkeln auf ihren Einsatz warteten Der

Regen prasselte herab Max houmlrte nichts anderes als das Droumlhnen

der Schiffsmotoren

Ploumltzlich erwachte ein Lautsprecher knisternd zum Leben Es

war die Stimme des Oberkommandierenden der ihnen eine letzte

Botschaft mit auf den Weg gab

raquoSoldaten Seeleute und Piloten der alliierten Streitkraumlftelaquo be-

gann die Stimme raquoUnsere groszlige Mission hat begonnen Die

Augen der Welt sind auf uns gerichtet Die Hoffnungen und

Gebete aller friedliebenden Menschen begleiten euchlaquo

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9

Nachdem der Lautsprecher verstummt war kehrte Max in Ge-

danken versunken in sein Quartier zuruumlck Eine Sache musste er

noch erledigen dann war er bereit

Er nahm einen Stift und schrieb seiner Frau einen Brief Mar-

garet und er kannten einander seit der Highschool Es war eine

Teenagerliebe gewesen doch jetzt wuumlrde er sie vielleicht niemals

wiedersehen

Er schrieb ihr wo er war und was er tat und dass er sie liebte

Dann machte er sich auf den Weg

Es war 230 Uhr am Morgen Die franzoumlsische Kuumlste huumlllte sich

in Dunkelheit

Schroeder stand neben seinen Maumlnnern an Deck und wartete

auf den Befehl das Landungsfahrzeug zu Wasser zu lassen Unter

seinem Helm hatte er als Gluumlcksbringer ein Foto seiner Frau

befestigt

Der Befehl kam Gebeugt unter der Last ihres Marschgepaumlcks

draumlngten die Maumlnner auf das kleinere Landungsfahrzeug das in

schwerer See heftig hin und her schwankte

raquoViel Gluumlck vierte Divisionlaquo schepperte es aus dem Laut-

sprecher

Ein Ruck dann waren sie unterwegs Maxrsquo Haumlnde schlossen

sich um sein Sturmgewehr Seine Maumlnner standen dicht an dicht

ihre Gesichter bleich vor Kaumllte und Anspannung

Stunden vergingen waumlhrend sie durch die Dunkelheit schau-

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kelten Um 430 Uhr zeichnete sich die Kuumlste der Normandie als

graue Linie vor ihnen ab

Um kurz vor sechs schimmerte im Osten das erste Licht der

Morgensonne auf

Sie houmlrten Gewehrsalven und Explosionen waumlhrend die

Schlachtschiffe der Alliierten die deutsche Verteidigungslinie

unter Beschuss nahmen Sie waren jetzt sehr nah dran

Dann kam die Landung Um genau 628 Uhr houmlrte Max das

Knirschen von Kies unter dem Schiffsrumpf

Die Rampe krachte nach unten seine Fuumlszlige setzten sich in

Bewegung und ploumltzlich watete er durchs truumlbe und kalte Was-

ser das ihm bis zu den Huumlften reichte In seinen Ohren gellte das

Gewehrfeuer Hinter ihm kaumlmpften sich seine Maumlnner durch die

Wellen Vor sich sah er einen niedrigen Damm aus Beton

Sein Herz pochte er taumelte weiter bis er schlieszliglich Sand

unter seinen Stiefeln spuumlrte ndash den Sand der Normandie Es war

ein grauer kuumlhler Morgen und Max Schroeder hatte gerade Ge-

schichte geschrieben

Aber daruumlber konnte er jetzt nicht nachdenken Er musste mit

seinen Maumlnnern moumlglichst schnell den Strand uumlberqueren um

dem feindlichen Feuer zu entgehen

Max keuchte sein Marschgepaumlck war vom Seewasser durch-

traumlnkt waumlhrend sie dem Damm entgegenliefen Er blieb kurz

stehen und schaute sich um Fast alle hatten es inzwischen an den

Strand geschafft Zum Gluumlck

Aber sie durften nicht warten Sie mussten weiter vorruumlcken

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am Damm vorbei hinein in die Duumlnen Die Deutschen hatten

das Gelaumlnde vermint doch Max hatte den Befehl sich nicht auf-

halten zu lassen

Als sie ins Landesinnere vordrangen verlieszlig ihn sein Gluumlck Er

wurde unter Beschuss genommen zwei Kugeln trafen seinen lin-

ken Arm

Obwohl das Blut seinen Aumlrmel durchdrang spuumlrte er keinen

Schmerz Er stand unter Schock auszligerdem hatte er einen Job zu

erledigen Er rief seinen Maumlnnern zu weiter vorzuruumlcken bis

zum ersten Dorf

Doch als sie dort ankamen wurde ihm klar wie schwer er

verletzt war Ploumltzlich wurde ihm schwindelig Sein Blick ver-

schwamm seine Beine knickten ein hellip

Dann wurde ihm schwarz vor Augen

Max erwachte Er lag in einem Zelt umgeben von Aumlrzten Einer

von ihnen beugte sich vor raquoWir muumlssen Ihren Arm amputierenlaquo

sagte eine Stimme

Dann verblasste das Bild ebenso wie Maxrsquo Bewusstsein

Licht Blinzelnd oumlffnete er die Augen

Er war wach Er war am Leben Er versuchte sich zu bewegen

und bemerkte dass sein linker Arm immer noch da war

Benommen sah er sich um Er war nicht mehr in Frankreich

Er war in England in einem Militaumlrkrankenhaus

Als Erstes ging ihm durch den Kopf dass er an die Front und

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zu seinen Maumlnnern zuruumlckkehren muumlsste doch die Aumlrzte sagten

ihm dies sei unmoumlglich Ihm stuumlnden mehrere Operationen be-

vor doch wenn er Gluumlck habe koumlnne sein Arm gerettet werden

Fuumlr ihn sei der Krieg beendet

Desillusioniert lieszlig er sich in das Kissen sinken So lange hatte

er sich auf seinen Einsatz vorbereitet und nun sollte alles vorbei

sein

Wenige Tage spaumlter brachte eine Krankenschwester ihm ein

paar Zeitungen doch er schuumlttelte nur den Kopf und wollte

nichts lesen

raquoSchauen Sie dochlaquo forderte sie ihn laumlchelnd auf raquoSie sind

zum Helden gewordenlaquo

Max Schroeder der erste Mann der an der Kuumlste der Nor-

mandie an Land ging und die Befreiung Frankreichs vom Nazi-

regime einleitete hat sich nie als Held betrachtet Als ein Zei-

tungsjournalist ihn ein halbes Jahrhundert spaumlter so bezeichnete

wollte er davon nichts wissen

raquoFuumlnf meiner Maumlnner haben damals in der Normandie ihr

Leben gelassenlaquo sagte er mit Entschiedenheit raquoSie allein sind

Heldenlaquo

Doch auch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist

die Geschichte von Max immer noch lebendig Die Geschichte

des jungen Manns der den Ozean uumlberquerte um einem frem-

den Land den Frieden zu bringen Die Geschichte des Mannes

der sich der Tyrannei entgegenstellte und raquoNeinlaquo sagte

Max hatte sich geirrt Er war tatsaumlchlich zum Helden ge-

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13

worden auch wenn er zu bescheiden war sich dies einzuge-

stehen

Doch in anderer Hinsicht hatte er voumlllig recht Er war einer

von zahllosen jungen Maumlnnern und Frauen die ihre Angst uumlber-

wanden und angesichts des Schreckens ihr Bestes taten

Der blutigste Konflikt der Weltgeschichte der Zweite Welt-

krieg hat den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts veraumlndert

Jagdbomber flogen uumlber britische Felder Panzer bekaumlmpften sich

auf der russischen Steppe Schlachtschiffe waren im Pazifik im

Einsatz Und im Herzen seiner zerstoumlrten Hauptstadt riss ein

hass erfuumlllter Mann sein ganzes dunkles Reich mit in den Ab-

grund

Vor allem war der Zweite Weltkrieg jedoch die Geschichte

von unzaumlhligen ganz normalen Menschen die gegen ihren Wil-

len in diesen Konflikt hineingezogen wurden

Der Schuljunge der gegen die feindlichen Bomber kaumlmpfte

Das Schulmaumldchen das sich mutig und entschlossen den auslaumln-

dischen Invasoren ent gegenstellte Die Seeleute die ihren Lands-

leuten zu Hilfe kamen Die Informatiker die nicht zu entschluumls-

selnde Codes knackten

Die Soldaten die sich durch Wuumlsten und Urwaumllder kaumlmpften

Die Matrosen die in staumlndiger Angst vor Torpedos lebten Die

Frauen die naumlchtelang in Fabriken arbeiteten Die Musiker die

spielten waumlhrend die Bomben einschlugen

Sie alle waren Heldinnen und Helden ndash und dieses Buch er-

zaumlhlt ihre Geschichte

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Als alles vorbei war hatten sie ganz unterschiedliche Erinnerun-

gen Doch in einem waren sie sich einig

Alles hatte mit einem jungen Mann begonnen der sein Geld

mit dem Abmalen von Postkartenmotiven verdiente

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17

1

Der Mann der Postkarten abmalte

Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune

Sonnenlicht glitzerte auf Daumlchern und Tuumlrmen der oumlsterreichi-

schen Hauptstadt Im beruumlhmten Vergnuumlgungspark dem Prater

erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel in dessen

roten Gondeln zufriedene Tagesausfluumlgler saszligen

Dreiszligig Gehminuten vom Prater entfernt in einer ruhigen nur

selten besuchten Straszlige saszlig ein junger Mann in einem spaumlrlich

beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab

Er war so unscheinbar dass die meisten von uns seinen Anblick

sofort wieder vergessen haumltten ein wenig kleiner als der Durch-

schnitt mit einem blassen ernsten Gesicht und kurzen dunklen

Haaren Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe

Das einzig Auffaumlllige in ihm waren seine Augen klar und un-

erschuumltterlich von fast hypnotischem Blau Wen er ansah der

konnte sich seinem Blick nicht entziehen

Nun da die Geraumlusche der Stadt durch das halb geoumlffnete

Fenster drangen war der Mann in seine Arbeit versunken waumlh-

rend sein Pinsel uumlber das Papier wanderte

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Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 5: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

Inhalt

Prolog 6 Juni 1944 7

TEIL 1

IN DIE FINSTERNIS

1 Der Mann der Postkarten abmalte 17

2 Der groszlige Abenteurer 33

3 Die aufgehende Sonne 49

TEIL 2

DER STURM BRICHT LOS

4 Entfesselte Woumllfe 67

5 Blitzkrieg 82

6 Die kleinen Schiffe 98

7 Groszligbritannien allein 114

TEIL 3

MITTERNACHT

8 Codename Igel 133

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9 Unternehmen Barbarossa 150

10 In der Houmllle 166

11 Tora Tora Tora 182

12 Die Bahnstrecke des Todes 198

TEIL 4

ZEITENWENDE

13 Der Wuumlstenfuchs 217

14 Showdown in Stalingrad 233

15 Geheimsache Enigma 249

16 Wir werden nicht schweigen 265

17 Der Kampf um den Pazifik 281

TEIL 5

ENDSPIEL

18 Die Alliierten schlagen zuruumlck 299

19 Die Houmlhle des Ungeheuers 318

20 Enola Gay 334

21 Sieg 349

NACHWORT 362

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Prolog

6 Juni 1944

Waumlhrend ein peitschender Wind das dunkle Wasser des Aumlrmel-

kanals aufwuumlhlte bereitete sich ein staumlmmiger junger Mann auf

den wichtigsten Einsatz seines Lebens vor

Sein Name war Leonard Schroeder doch jeder nannte ihn

Max Er war fuumlnfundzwanzig Jahre alt und zu Hause warteten

seine Frau und sein kleiner Sohn auf ihn

Aber zuerst musste er seinen Job erledigen

Als Junge in den USA war Max gemobbt wurden was er nie

vergessen hatte Er wusste was es hieszlig wenn auf einem herum-

getrampelt wurde Wie es war sich verletzt und veraumlngstigt zu

fuumlhlen Jetzt konnte er der Welt ein fuumlr alle Mal zeigen dass die

Tyrannen letztendlich nicht gewinnen wuumlrden

Waumlhrend das Schiff durch die Nacht stampfte war Max auf

dem Weg zu seinem Brigadegeneral um letzte Anweisungen zu

erhalten Alles war bereit Eine enorme Anspannung lag in der

Luft

Der D-Day war gekommen die umfangreichste Landeoperation

aller Zeiten Tausende und Abertausende Amerikaner Briten

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und Kanadier vereinigten sich um sich der maumlchtigen deutschen

Kriegsmaschinerie entgegenzustellen

In wenigen Stunden wuumlrden sie an den Straumlnden der Norman-

die landen und ihr Leben riskieren um dem grausamsten Regi-

me der Weltgeschichte die Stirn zu bieten

Irgendjemand musste zuerst an Land gehen und das Schicksal

hatte dafuumlr den aus dem Bundesstaat Maryland stammenden

Captain Max Schroeder ausersehen

Jetzt da sie sich die Haumlnde schuumlttelten und einander viel Gluumlck

wuumlnschten legte ihm der Colonel den Arm um die Schultern

und sagte bewegt raquoAlso los machen wir Ihnen die Houmllle heiszliglaquo

Max war so aufgeregt dass er kaum ein Wort uumlber die Lippen

brachte Der historische Moment hatte ihm die Sprache ver-

schlagen Schlieszliglich entgegnete er nur raquoDann sehen wir uns am

Strand Colonellaquo

Auf dem Deck war es brechend voll Uumlberall waren schwei-

gende Maumlnner die im Dunkeln auf ihren Einsatz warteten Der

Regen prasselte herab Max houmlrte nichts anderes als das Droumlhnen

der Schiffsmotoren

Ploumltzlich erwachte ein Lautsprecher knisternd zum Leben Es

war die Stimme des Oberkommandierenden der ihnen eine letzte

Botschaft mit auf den Weg gab

raquoSoldaten Seeleute und Piloten der alliierten Streitkraumlftelaquo be-

gann die Stimme raquoUnsere groszlige Mission hat begonnen Die

Augen der Welt sind auf uns gerichtet Die Hoffnungen und

Gebete aller friedliebenden Menschen begleiten euchlaquo

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Nachdem der Lautsprecher verstummt war kehrte Max in Ge-

danken versunken in sein Quartier zuruumlck Eine Sache musste er

noch erledigen dann war er bereit

Er nahm einen Stift und schrieb seiner Frau einen Brief Mar-

garet und er kannten einander seit der Highschool Es war eine

Teenagerliebe gewesen doch jetzt wuumlrde er sie vielleicht niemals

wiedersehen

Er schrieb ihr wo er war und was er tat und dass er sie liebte

Dann machte er sich auf den Weg

Es war 230 Uhr am Morgen Die franzoumlsische Kuumlste huumlllte sich

in Dunkelheit

Schroeder stand neben seinen Maumlnnern an Deck und wartete

auf den Befehl das Landungsfahrzeug zu Wasser zu lassen Unter

seinem Helm hatte er als Gluumlcksbringer ein Foto seiner Frau

befestigt

Der Befehl kam Gebeugt unter der Last ihres Marschgepaumlcks

draumlngten die Maumlnner auf das kleinere Landungsfahrzeug das in

schwerer See heftig hin und her schwankte

raquoViel Gluumlck vierte Divisionlaquo schepperte es aus dem Laut-

sprecher

Ein Ruck dann waren sie unterwegs Maxrsquo Haumlnde schlossen

sich um sein Sturmgewehr Seine Maumlnner standen dicht an dicht

ihre Gesichter bleich vor Kaumllte und Anspannung

Stunden vergingen waumlhrend sie durch die Dunkelheit schau-

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kelten Um 430 Uhr zeichnete sich die Kuumlste der Normandie als

graue Linie vor ihnen ab

Um kurz vor sechs schimmerte im Osten das erste Licht der

Morgensonne auf

Sie houmlrten Gewehrsalven und Explosionen waumlhrend die

Schlachtschiffe der Alliierten die deutsche Verteidigungslinie

unter Beschuss nahmen Sie waren jetzt sehr nah dran

Dann kam die Landung Um genau 628 Uhr houmlrte Max das

Knirschen von Kies unter dem Schiffsrumpf

Die Rampe krachte nach unten seine Fuumlszlige setzten sich in

Bewegung und ploumltzlich watete er durchs truumlbe und kalte Was-

ser das ihm bis zu den Huumlften reichte In seinen Ohren gellte das

Gewehrfeuer Hinter ihm kaumlmpften sich seine Maumlnner durch die

Wellen Vor sich sah er einen niedrigen Damm aus Beton

Sein Herz pochte er taumelte weiter bis er schlieszliglich Sand

unter seinen Stiefeln spuumlrte ndash den Sand der Normandie Es war

ein grauer kuumlhler Morgen und Max Schroeder hatte gerade Ge-

schichte geschrieben

Aber daruumlber konnte er jetzt nicht nachdenken Er musste mit

seinen Maumlnnern moumlglichst schnell den Strand uumlberqueren um

dem feindlichen Feuer zu entgehen

Max keuchte sein Marschgepaumlck war vom Seewasser durch-

traumlnkt waumlhrend sie dem Damm entgegenliefen Er blieb kurz

stehen und schaute sich um Fast alle hatten es inzwischen an den

Strand geschafft Zum Gluumlck

Aber sie durften nicht warten Sie mussten weiter vorruumlcken

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am Damm vorbei hinein in die Duumlnen Die Deutschen hatten

das Gelaumlnde vermint doch Max hatte den Befehl sich nicht auf-

halten zu lassen

Als sie ins Landesinnere vordrangen verlieszlig ihn sein Gluumlck Er

wurde unter Beschuss genommen zwei Kugeln trafen seinen lin-

ken Arm

Obwohl das Blut seinen Aumlrmel durchdrang spuumlrte er keinen

Schmerz Er stand unter Schock auszligerdem hatte er einen Job zu

erledigen Er rief seinen Maumlnnern zu weiter vorzuruumlcken bis

zum ersten Dorf

Doch als sie dort ankamen wurde ihm klar wie schwer er

verletzt war Ploumltzlich wurde ihm schwindelig Sein Blick ver-

schwamm seine Beine knickten ein hellip

Dann wurde ihm schwarz vor Augen

Max erwachte Er lag in einem Zelt umgeben von Aumlrzten Einer

von ihnen beugte sich vor raquoWir muumlssen Ihren Arm amputierenlaquo

sagte eine Stimme

Dann verblasste das Bild ebenso wie Maxrsquo Bewusstsein

Licht Blinzelnd oumlffnete er die Augen

Er war wach Er war am Leben Er versuchte sich zu bewegen

und bemerkte dass sein linker Arm immer noch da war

Benommen sah er sich um Er war nicht mehr in Frankreich

Er war in England in einem Militaumlrkrankenhaus

Als Erstes ging ihm durch den Kopf dass er an die Front und

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zu seinen Maumlnnern zuruumlckkehren muumlsste doch die Aumlrzte sagten

ihm dies sei unmoumlglich Ihm stuumlnden mehrere Operationen be-

vor doch wenn er Gluumlck habe koumlnne sein Arm gerettet werden

Fuumlr ihn sei der Krieg beendet

Desillusioniert lieszlig er sich in das Kissen sinken So lange hatte

er sich auf seinen Einsatz vorbereitet und nun sollte alles vorbei

sein

Wenige Tage spaumlter brachte eine Krankenschwester ihm ein

paar Zeitungen doch er schuumlttelte nur den Kopf und wollte

nichts lesen

raquoSchauen Sie dochlaquo forderte sie ihn laumlchelnd auf raquoSie sind

zum Helden gewordenlaquo

Max Schroeder der erste Mann der an der Kuumlste der Nor-

mandie an Land ging und die Befreiung Frankreichs vom Nazi-

regime einleitete hat sich nie als Held betrachtet Als ein Zei-

tungsjournalist ihn ein halbes Jahrhundert spaumlter so bezeichnete

wollte er davon nichts wissen

raquoFuumlnf meiner Maumlnner haben damals in der Normandie ihr

Leben gelassenlaquo sagte er mit Entschiedenheit raquoSie allein sind

Heldenlaquo

Doch auch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist

die Geschichte von Max immer noch lebendig Die Geschichte

des jungen Manns der den Ozean uumlberquerte um einem frem-

den Land den Frieden zu bringen Die Geschichte des Mannes

der sich der Tyrannei entgegenstellte und raquoNeinlaquo sagte

Max hatte sich geirrt Er war tatsaumlchlich zum Helden ge-

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worden auch wenn er zu bescheiden war sich dies einzuge-

stehen

Doch in anderer Hinsicht hatte er voumlllig recht Er war einer

von zahllosen jungen Maumlnnern und Frauen die ihre Angst uumlber-

wanden und angesichts des Schreckens ihr Bestes taten

Der blutigste Konflikt der Weltgeschichte der Zweite Welt-

krieg hat den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts veraumlndert

Jagdbomber flogen uumlber britische Felder Panzer bekaumlmpften sich

auf der russischen Steppe Schlachtschiffe waren im Pazifik im

Einsatz Und im Herzen seiner zerstoumlrten Hauptstadt riss ein

hass erfuumlllter Mann sein ganzes dunkles Reich mit in den Ab-

grund

Vor allem war der Zweite Weltkrieg jedoch die Geschichte

von unzaumlhligen ganz normalen Menschen die gegen ihren Wil-

len in diesen Konflikt hineingezogen wurden

Der Schuljunge der gegen die feindlichen Bomber kaumlmpfte

Das Schulmaumldchen das sich mutig und entschlossen den auslaumln-

dischen Invasoren ent gegenstellte Die Seeleute die ihren Lands-

leuten zu Hilfe kamen Die Informatiker die nicht zu entschluumls-

selnde Codes knackten

Die Soldaten die sich durch Wuumlsten und Urwaumllder kaumlmpften

Die Matrosen die in staumlndiger Angst vor Torpedos lebten Die

Frauen die naumlchtelang in Fabriken arbeiteten Die Musiker die

spielten waumlhrend die Bomben einschlugen

Sie alle waren Heldinnen und Helden ndash und dieses Buch er-

zaumlhlt ihre Geschichte

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Als alles vorbei war hatten sie ganz unterschiedliche Erinnerun-

gen Doch in einem waren sie sich einig

Alles hatte mit einem jungen Mann begonnen der sein Geld

mit dem Abmalen von Postkartenmotiven verdiente

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Der Mann der Postkarten abmalte

Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune

Sonnenlicht glitzerte auf Daumlchern und Tuumlrmen der oumlsterreichi-

schen Hauptstadt Im beruumlhmten Vergnuumlgungspark dem Prater

erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel in dessen

roten Gondeln zufriedene Tagesausfluumlgler saszligen

Dreiszligig Gehminuten vom Prater entfernt in einer ruhigen nur

selten besuchten Straszlige saszlig ein junger Mann in einem spaumlrlich

beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab

Er war so unscheinbar dass die meisten von uns seinen Anblick

sofort wieder vergessen haumltten ein wenig kleiner als der Durch-

schnitt mit einem blassen ernsten Gesicht und kurzen dunklen

Haaren Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe

Das einzig Auffaumlllige in ihm waren seine Augen klar und un-

erschuumltterlich von fast hypnotischem Blau Wen er ansah der

konnte sich seinem Blick nicht entziehen

Nun da die Geraumlusche der Stadt durch das halb geoumlffnete

Fenster drangen war der Mann in seine Arbeit versunken waumlh-

rend sein Pinsel uumlber das Papier wanderte

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Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 6: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

9 Unternehmen Barbarossa 150

10 In der Houmllle 166

11 Tora Tora Tora 182

12 Die Bahnstrecke des Todes 198

TEIL 4

ZEITENWENDE

13 Der Wuumlstenfuchs 217

14 Showdown in Stalingrad 233

15 Geheimsache Enigma 249

16 Wir werden nicht schweigen 265

17 Der Kampf um den Pazifik 281

TEIL 5

ENDSPIEL

18 Die Alliierten schlagen zuruumlck 299

19 Die Houmlhle des Ungeheuers 318

20 Enola Gay 334

21 Sieg 349

NACHWORT 362

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7

Prolog

6 Juni 1944

Waumlhrend ein peitschender Wind das dunkle Wasser des Aumlrmel-

kanals aufwuumlhlte bereitete sich ein staumlmmiger junger Mann auf

den wichtigsten Einsatz seines Lebens vor

Sein Name war Leonard Schroeder doch jeder nannte ihn

Max Er war fuumlnfundzwanzig Jahre alt und zu Hause warteten

seine Frau und sein kleiner Sohn auf ihn

Aber zuerst musste er seinen Job erledigen

Als Junge in den USA war Max gemobbt wurden was er nie

vergessen hatte Er wusste was es hieszlig wenn auf einem herum-

getrampelt wurde Wie es war sich verletzt und veraumlngstigt zu

fuumlhlen Jetzt konnte er der Welt ein fuumlr alle Mal zeigen dass die

Tyrannen letztendlich nicht gewinnen wuumlrden

Waumlhrend das Schiff durch die Nacht stampfte war Max auf

dem Weg zu seinem Brigadegeneral um letzte Anweisungen zu

erhalten Alles war bereit Eine enorme Anspannung lag in der

Luft

Der D-Day war gekommen die umfangreichste Landeoperation

aller Zeiten Tausende und Abertausende Amerikaner Briten

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und Kanadier vereinigten sich um sich der maumlchtigen deutschen

Kriegsmaschinerie entgegenzustellen

In wenigen Stunden wuumlrden sie an den Straumlnden der Norman-

die landen und ihr Leben riskieren um dem grausamsten Regi-

me der Weltgeschichte die Stirn zu bieten

Irgendjemand musste zuerst an Land gehen und das Schicksal

hatte dafuumlr den aus dem Bundesstaat Maryland stammenden

Captain Max Schroeder ausersehen

Jetzt da sie sich die Haumlnde schuumlttelten und einander viel Gluumlck

wuumlnschten legte ihm der Colonel den Arm um die Schultern

und sagte bewegt raquoAlso los machen wir Ihnen die Houmllle heiszliglaquo

Max war so aufgeregt dass er kaum ein Wort uumlber die Lippen

brachte Der historische Moment hatte ihm die Sprache ver-

schlagen Schlieszliglich entgegnete er nur raquoDann sehen wir uns am

Strand Colonellaquo

Auf dem Deck war es brechend voll Uumlberall waren schwei-

gende Maumlnner die im Dunkeln auf ihren Einsatz warteten Der

Regen prasselte herab Max houmlrte nichts anderes als das Droumlhnen

der Schiffsmotoren

Ploumltzlich erwachte ein Lautsprecher knisternd zum Leben Es

war die Stimme des Oberkommandierenden der ihnen eine letzte

Botschaft mit auf den Weg gab

raquoSoldaten Seeleute und Piloten der alliierten Streitkraumlftelaquo be-

gann die Stimme raquoUnsere groszlige Mission hat begonnen Die

Augen der Welt sind auf uns gerichtet Die Hoffnungen und

Gebete aller friedliebenden Menschen begleiten euchlaquo

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Nachdem der Lautsprecher verstummt war kehrte Max in Ge-

danken versunken in sein Quartier zuruumlck Eine Sache musste er

noch erledigen dann war er bereit

Er nahm einen Stift und schrieb seiner Frau einen Brief Mar-

garet und er kannten einander seit der Highschool Es war eine

Teenagerliebe gewesen doch jetzt wuumlrde er sie vielleicht niemals

wiedersehen

Er schrieb ihr wo er war und was er tat und dass er sie liebte

Dann machte er sich auf den Weg

Es war 230 Uhr am Morgen Die franzoumlsische Kuumlste huumlllte sich

in Dunkelheit

Schroeder stand neben seinen Maumlnnern an Deck und wartete

auf den Befehl das Landungsfahrzeug zu Wasser zu lassen Unter

seinem Helm hatte er als Gluumlcksbringer ein Foto seiner Frau

befestigt

Der Befehl kam Gebeugt unter der Last ihres Marschgepaumlcks

draumlngten die Maumlnner auf das kleinere Landungsfahrzeug das in

schwerer See heftig hin und her schwankte

raquoViel Gluumlck vierte Divisionlaquo schepperte es aus dem Laut-

sprecher

Ein Ruck dann waren sie unterwegs Maxrsquo Haumlnde schlossen

sich um sein Sturmgewehr Seine Maumlnner standen dicht an dicht

ihre Gesichter bleich vor Kaumllte und Anspannung

Stunden vergingen waumlhrend sie durch die Dunkelheit schau-

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kelten Um 430 Uhr zeichnete sich die Kuumlste der Normandie als

graue Linie vor ihnen ab

Um kurz vor sechs schimmerte im Osten das erste Licht der

Morgensonne auf

Sie houmlrten Gewehrsalven und Explosionen waumlhrend die

Schlachtschiffe der Alliierten die deutsche Verteidigungslinie

unter Beschuss nahmen Sie waren jetzt sehr nah dran

Dann kam die Landung Um genau 628 Uhr houmlrte Max das

Knirschen von Kies unter dem Schiffsrumpf

Die Rampe krachte nach unten seine Fuumlszlige setzten sich in

Bewegung und ploumltzlich watete er durchs truumlbe und kalte Was-

ser das ihm bis zu den Huumlften reichte In seinen Ohren gellte das

Gewehrfeuer Hinter ihm kaumlmpften sich seine Maumlnner durch die

Wellen Vor sich sah er einen niedrigen Damm aus Beton

Sein Herz pochte er taumelte weiter bis er schlieszliglich Sand

unter seinen Stiefeln spuumlrte ndash den Sand der Normandie Es war

ein grauer kuumlhler Morgen und Max Schroeder hatte gerade Ge-

schichte geschrieben

Aber daruumlber konnte er jetzt nicht nachdenken Er musste mit

seinen Maumlnnern moumlglichst schnell den Strand uumlberqueren um

dem feindlichen Feuer zu entgehen

Max keuchte sein Marschgepaumlck war vom Seewasser durch-

traumlnkt waumlhrend sie dem Damm entgegenliefen Er blieb kurz

stehen und schaute sich um Fast alle hatten es inzwischen an den

Strand geschafft Zum Gluumlck

Aber sie durften nicht warten Sie mussten weiter vorruumlcken

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am Damm vorbei hinein in die Duumlnen Die Deutschen hatten

das Gelaumlnde vermint doch Max hatte den Befehl sich nicht auf-

halten zu lassen

Als sie ins Landesinnere vordrangen verlieszlig ihn sein Gluumlck Er

wurde unter Beschuss genommen zwei Kugeln trafen seinen lin-

ken Arm

Obwohl das Blut seinen Aumlrmel durchdrang spuumlrte er keinen

Schmerz Er stand unter Schock auszligerdem hatte er einen Job zu

erledigen Er rief seinen Maumlnnern zu weiter vorzuruumlcken bis

zum ersten Dorf

Doch als sie dort ankamen wurde ihm klar wie schwer er

verletzt war Ploumltzlich wurde ihm schwindelig Sein Blick ver-

schwamm seine Beine knickten ein hellip

Dann wurde ihm schwarz vor Augen

Max erwachte Er lag in einem Zelt umgeben von Aumlrzten Einer

von ihnen beugte sich vor raquoWir muumlssen Ihren Arm amputierenlaquo

sagte eine Stimme

Dann verblasste das Bild ebenso wie Maxrsquo Bewusstsein

Licht Blinzelnd oumlffnete er die Augen

Er war wach Er war am Leben Er versuchte sich zu bewegen

und bemerkte dass sein linker Arm immer noch da war

Benommen sah er sich um Er war nicht mehr in Frankreich

Er war in England in einem Militaumlrkrankenhaus

Als Erstes ging ihm durch den Kopf dass er an die Front und

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zu seinen Maumlnnern zuruumlckkehren muumlsste doch die Aumlrzte sagten

ihm dies sei unmoumlglich Ihm stuumlnden mehrere Operationen be-

vor doch wenn er Gluumlck habe koumlnne sein Arm gerettet werden

Fuumlr ihn sei der Krieg beendet

Desillusioniert lieszlig er sich in das Kissen sinken So lange hatte

er sich auf seinen Einsatz vorbereitet und nun sollte alles vorbei

sein

Wenige Tage spaumlter brachte eine Krankenschwester ihm ein

paar Zeitungen doch er schuumlttelte nur den Kopf und wollte

nichts lesen

raquoSchauen Sie dochlaquo forderte sie ihn laumlchelnd auf raquoSie sind

zum Helden gewordenlaquo

Max Schroeder der erste Mann der an der Kuumlste der Nor-

mandie an Land ging und die Befreiung Frankreichs vom Nazi-

regime einleitete hat sich nie als Held betrachtet Als ein Zei-

tungsjournalist ihn ein halbes Jahrhundert spaumlter so bezeichnete

wollte er davon nichts wissen

raquoFuumlnf meiner Maumlnner haben damals in der Normandie ihr

Leben gelassenlaquo sagte er mit Entschiedenheit raquoSie allein sind

Heldenlaquo

Doch auch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist

die Geschichte von Max immer noch lebendig Die Geschichte

des jungen Manns der den Ozean uumlberquerte um einem frem-

den Land den Frieden zu bringen Die Geschichte des Mannes

der sich der Tyrannei entgegenstellte und raquoNeinlaquo sagte

Max hatte sich geirrt Er war tatsaumlchlich zum Helden ge-

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worden auch wenn er zu bescheiden war sich dies einzuge-

stehen

Doch in anderer Hinsicht hatte er voumlllig recht Er war einer

von zahllosen jungen Maumlnnern und Frauen die ihre Angst uumlber-

wanden und angesichts des Schreckens ihr Bestes taten

Der blutigste Konflikt der Weltgeschichte der Zweite Welt-

krieg hat den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts veraumlndert

Jagdbomber flogen uumlber britische Felder Panzer bekaumlmpften sich

auf der russischen Steppe Schlachtschiffe waren im Pazifik im

Einsatz Und im Herzen seiner zerstoumlrten Hauptstadt riss ein

hass erfuumlllter Mann sein ganzes dunkles Reich mit in den Ab-

grund

Vor allem war der Zweite Weltkrieg jedoch die Geschichte

von unzaumlhligen ganz normalen Menschen die gegen ihren Wil-

len in diesen Konflikt hineingezogen wurden

Der Schuljunge der gegen die feindlichen Bomber kaumlmpfte

Das Schulmaumldchen das sich mutig und entschlossen den auslaumln-

dischen Invasoren ent gegenstellte Die Seeleute die ihren Lands-

leuten zu Hilfe kamen Die Informatiker die nicht zu entschluumls-

selnde Codes knackten

Die Soldaten die sich durch Wuumlsten und Urwaumllder kaumlmpften

Die Matrosen die in staumlndiger Angst vor Torpedos lebten Die

Frauen die naumlchtelang in Fabriken arbeiteten Die Musiker die

spielten waumlhrend die Bomben einschlugen

Sie alle waren Heldinnen und Helden ndash und dieses Buch er-

zaumlhlt ihre Geschichte

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Als alles vorbei war hatten sie ganz unterschiedliche Erinnerun-

gen Doch in einem waren sie sich einig

Alles hatte mit einem jungen Mann begonnen der sein Geld

mit dem Abmalen von Postkartenmotiven verdiente

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Der Mann der Postkarten abmalte

Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune

Sonnenlicht glitzerte auf Daumlchern und Tuumlrmen der oumlsterreichi-

schen Hauptstadt Im beruumlhmten Vergnuumlgungspark dem Prater

erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel in dessen

roten Gondeln zufriedene Tagesausfluumlgler saszligen

Dreiszligig Gehminuten vom Prater entfernt in einer ruhigen nur

selten besuchten Straszlige saszlig ein junger Mann in einem spaumlrlich

beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab

Er war so unscheinbar dass die meisten von uns seinen Anblick

sofort wieder vergessen haumltten ein wenig kleiner als der Durch-

schnitt mit einem blassen ernsten Gesicht und kurzen dunklen

Haaren Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe

Das einzig Auffaumlllige in ihm waren seine Augen klar und un-

erschuumltterlich von fast hypnotischem Blau Wen er ansah der

konnte sich seinem Blick nicht entziehen

Nun da die Geraumlusche der Stadt durch das halb geoumlffnete

Fenster drangen war der Mann in seine Arbeit versunken waumlh-

rend sein Pinsel uumlber das Papier wanderte

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Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 7: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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Prolog

6 Juni 1944

Waumlhrend ein peitschender Wind das dunkle Wasser des Aumlrmel-

kanals aufwuumlhlte bereitete sich ein staumlmmiger junger Mann auf

den wichtigsten Einsatz seines Lebens vor

Sein Name war Leonard Schroeder doch jeder nannte ihn

Max Er war fuumlnfundzwanzig Jahre alt und zu Hause warteten

seine Frau und sein kleiner Sohn auf ihn

Aber zuerst musste er seinen Job erledigen

Als Junge in den USA war Max gemobbt wurden was er nie

vergessen hatte Er wusste was es hieszlig wenn auf einem herum-

getrampelt wurde Wie es war sich verletzt und veraumlngstigt zu

fuumlhlen Jetzt konnte er der Welt ein fuumlr alle Mal zeigen dass die

Tyrannen letztendlich nicht gewinnen wuumlrden

Waumlhrend das Schiff durch die Nacht stampfte war Max auf

dem Weg zu seinem Brigadegeneral um letzte Anweisungen zu

erhalten Alles war bereit Eine enorme Anspannung lag in der

Luft

Der D-Day war gekommen die umfangreichste Landeoperation

aller Zeiten Tausende und Abertausende Amerikaner Briten

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und Kanadier vereinigten sich um sich der maumlchtigen deutschen

Kriegsmaschinerie entgegenzustellen

In wenigen Stunden wuumlrden sie an den Straumlnden der Norman-

die landen und ihr Leben riskieren um dem grausamsten Regi-

me der Weltgeschichte die Stirn zu bieten

Irgendjemand musste zuerst an Land gehen und das Schicksal

hatte dafuumlr den aus dem Bundesstaat Maryland stammenden

Captain Max Schroeder ausersehen

Jetzt da sie sich die Haumlnde schuumlttelten und einander viel Gluumlck

wuumlnschten legte ihm der Colonel den Arm um die Schultern

und sagte bewegt raquoAlso los machen wir Ihnen die Houmllle heiszliglaquo

Max war so aufgeregt dass er kaum ein Wort uumlber die Lippen

brachte Der historische Moment hatte ihm die Sprache ver-

schlagen Schlieszliglich entgegnete er nur raquoDann sehen wir uns am

Strand Colonellaquo

Auf dem Deck war es brechend voll Uumlberall waren schwei-

gende Maumlnner die im Dunkeln auf ihren Einsatz warteten Der

Regen prasselte herab Max houmlrte nichts anderes als das Droumlhnen

der Schiffsmotoren

Ploumltzlich erwachte ein Lautsprecher knisternd zum Leben Es

war die Stimme des Oberkommandierenden der ihnen eine letzte

Botschaft mit auf den Weg gab

raquoSoldaten Seeleute und Piloten der alliierten Streitkraumlftelaquo be-

gann die Stimme raquoUnsere groszlige Mission hat begonnen Die

Augen der Welt sind auf uns gerichtet Die Hoffnungen und

Gebete aller friedliebenden Menschen begleiten euchlaquo

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Nachdem der Lautsprecher verstummt war kehrte Max in Ge-

danken versunken in sein Quartier zuruumlck Eine Sache musste er

noch erledigen dann war er bereit

Er nahm einen Stift und schrieb seiner Frau einen Brief Mar-

garet und er kannten einander seit der Highschool Es war eine

Teenagerliebe gewesen doch jetzt wuumlrde er sie vielleicht niemals

wiedersehen

Er schrieb ihr wo er war und was er tat und dass er sie liebte

Dann machte er sich auf den Weg

Es war 230 Uhr am Morgen Die franzoumlsische Kuumlste huumlllte sich

in Dunkelheit

Schroeder stand neben seinen Maumlnnern an Deck und wartete

auf den Befehl das Landungsfahrzeug zu Wasser zu lassen Unter

seinem Helm hatte er als Gluumlcksbringer ein Foto seiner Frau

befestigt

Der Befehl kam Gebeugt unter der Last ihres Marschgepaumlcks

draumlngten die Maumlnner auf das kleinere Landungsfahrzeug das in

schwerer See heftig hin und her schwankte

raquoViel Gluumlck vierte Divisionlaquo schepperte es aus dem Laut-

sprecher

Ein Ruck dann waren sie unterwegs Maxrsquo Haumlnde schlossen

sich um sein Sturmgewehr Seine Maumlnner standen dicht an dicht

ihre Gesichter bleich vor Kaumllte und Anspannung

Stunden vergingen waumlhrend sie durch die Dunkelheit schau-

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kelten Um 430 Uhr zeichnete sich die Kuumlste der Normandie als

graue Linie vor ihnen ab

Um kurz vor sechs schimmerte im Osten das erste Licht der

Morgensonne auf

Sie houmlrten Gewehrsalven und Explosionen waumlhrend die

Schlachtschiffe der Alliierten die deutsche Verteidigungslinie

unter Beschuss nahmen Sie waren jetzt sehr nah dran

Dann kam die Landung Um genau 628 Uhr houmlrte Max das

Knirschen von Kies unter dem Schiffsrumpf

Die Rampe krachte nach unten seine Fuumlszlige setzten sich in

Bewegung und ploumltzlich watete er durchs truumlbe und kalte Was-

ser das ihm bis zu den Huumlften reichte In seinen Ohren gellte das

Gewehrfeuer Hinter ihm kaumlmpften sich seine Maumlnner durch die

Wellen Vor sich sah er einen niedrigen Damm aus Beton

Sein Herz pochte er taumelte weiter bis er schlieszliglich Sand

unter seinen Stiefeln spuumlrte ndash den Sand der Normandie Es war

ein grauer kuumlhler Morgen und Max Schroeder hatte gerade Ge-

schichte geschrieben

Aber daruumlber konnte er jetzt nicht nachdenken Er musste mit

seinen Maumlnnern moumlglichst schnell den Strand uumlberqueren um

dem feindlichen Feuer zu entgehen

Max keuchte sein Marschgepaumlck war vom Seewasser durch-

traumlnkt waumlhrend sie dem Damm entgegenliefen Er blieb kurz

stehen und schaute sich um Fast alle hatten es inzwischen an den

Strand geschafft Zum Gluumlck

Aber sie durften nicht warten Sie mussten weiter vorruumlcken

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am Damm vorbei hinein in die Duumlnen Die Deutschen hatten

das Gelaumlnde vermint doch Max hatte den Befehl sich nicht auf-

halten zu lassen

Als sie ins Landesinnere vordrangen verlieszlig ihn sein Gluumlck Er

wurde unter Beschuss genommen zwei Kugeln trafen seinen lin-

ken Arm

Obwohl das Blut seinen Aumlrmel durchdrang spuumlrte er keinen

Schmerz Er stand unter Schock auszligerdem hatte er einen Job zu

erledigen Er rief seinen Maumlnnern zu weiter vorzuruumlcken bis

zum ersten Dorf

Doch als sie dort ankamen wurde ihm klar wie schwer er

verletzt war Ploumltzlich wurde ihm schwindelig Sein Blick ver-

schwamm seine Beine knickten ein hellip

Dann wurde ihm schwarz vor Augen

Max erwachte Er lag in einem Zelt umgeben von Aumlrzten Einer

von ihnen beugte sich vor raquoWir muumlssen Ihren Arm amputierenlaquo

sagte eine Stimme

Dann verblasste das Bild ebenso wie Maxrsquo Bewusstsein

Licht Blinzelnd oumlffnete er die Augen

Er war wach Er war am Leben Er versuchte sich zu bewegen

und bemerkte dass sein linker Arm immer noch da war

Benommen sah er sich um Er war nicht mehr in Frankreich

Er war in England in einem Militaumlrkrankenhaus

Als Erstes ging ihm durch den Kopf dass er an die Front und

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zu seinen Maumlnnern zuruumlckkehren muumlsste doch die Aumlrzte sagten

ihm dies sei unmoumlglich Ihm stuumlnden mehrere Operationen be-

vor doch wenn er Gluumlck habe koumlnne sein Arm gerettet werden

Fuumlr ihn sei der Krieg beendet

Desillusioniert lieszlig er sich in das Kissen sinken So lange hatte

er sich auf seinen Einsatz vorbereitet und nun sollte alles vorbei

sein

Wenige Tage spaumlter brachte eine Krankenschwester ihm ein

paar Zeitungen doch er schuumlttelte nur den Kopf und wollte

nichts lesen

raquoSchauen Sie dochlaquo forderte sie ihn laumlchelnd auf raquoSie sind

zum Helden gewordenlaquo

Max Schroeder der erste Mann der an der Kuumlste der Nor-

mandie an Land ging und die Befreiung Frankreichs vom Nazi-

regime einleitete hat sich nie als Held betrachtet Als ein Zei-

tungsjournalist ihn ein halbes Jahrhundert spaumlter so bezeichnete

wollte er davon nichts wissen

raquoFuumlnf meiner Maumlnner haben damals in der Normandie ihr

Leben gelassenlaquo sagte er mit Entschiedenheit raquoSie allein sind

Heldenlaquo

Doch auch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist

die Geschichte von Max immer noch lebendig Die Geschichte

des jungen Manns der den Ozean uumlberquerte um einem frem-

den Land den Frieden zu bringen Die Geschichte des Mannes

der sich der Tyrannei entgegenstellte und raquoNeinlaquo sagte

Max hatte sich geirrt Er war tatsaumlchlich zum Helden ge-

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worden auch wenn er zu bescheiden war sich dies einzuge-

stehen

Doch in anderer Hinsicht hatte er voumlllig recht Er war einer

von zahllosen jungen Maumlnnern und Frauen die ihre Angst uumlber-

wanden und angesichts des Schreckens ihr Bestes taten

Der blutigste Konflikt der Weltgeschichte der Zweite Welt-

krieg hat den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts veraumlndert

Jagdbomber flogen uumlber britische Felder Panzer bekaumlmpften sich

auf der russischen Steppe Schlachtschiffe waren im Pazifik im

Einsatz Und im Herzen seiner zerstoumlrten Hauptstadt riss ein

hass erfuumlllter Mann sein ganzes dunkles Reich mit in den Ab-

grund

Vor allem war der Zweite Weltkrieg jedoch die Geschichte

von unzaumlhligen ganz normalen Menschen die gegen ihren Wil-

len in diesen Konflikt hineingezogen wurden

Der Schuljunge der gegen die feindlichen Bomber kaumlmpfte

Das Schulmaumldchen das sich mutig und entschlossen den auslaumln-

dischen Invasoren ent gegenstellte Die Seeleute die ihren Lands-

leuten zu Hilfe kamen Die Informatiker die nicht zu entschluumls-

selnde Codes knackten

Die Soldaten die sich durch Wuumlsten und Urwaumllder kaumlmpften

Die Matrosen die in staumlndiger Angst vor Torpedos lebten Die

Frauen die naumlchtelang in Fabriken arbeiteten Die Musiker die

spielten waumlhrend die Bomben einschlugen

Sie alle waren Heldinnen und Helden ndash und dieses Buch er-

zaumlhlt ihre Geschichte

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Als alles vorbei war hatten sie ganz unterschiedliche Erinnerun-

gen Doch in einem waren sie sich einig

Alles hatte mit einem jungen Mann begonnen der sein Geld

mit dem Abmalen von Postkartenmotiven verdiente

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Der Mann der Postkarten abmalte

Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune

Sonnenlicht glitzerte auf Daumlchern und Tuumlrmen der oumlsterreichi-

schen Hauptstadt Im beruumlhmten Vergnuumlgungspark dem Prater

erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel in dessen

roten Gondeln zufriedene Tagesausfluumlgler saszligen

Dreiszligig Gehminuten vom Prater entfernt in einer ruhigen nur

selten besuchten Straszlige saszlig ein junger Mann in einem spaumlrlich

beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab

Er war so unscheinbar dass die meisten von uns seinen Anblick

sofort wieder vergessen haumltten ein wenig kleiner als der Durch-

schnitt mit einem blassen ernsten Gesicht und kurzen dunklen

Haaren Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe

Das einzig Auffaumlllige in ihm waren seine Augen klar und un-

erschuumltterlich von fast hypnotischem Blau Wen er ansah der

konnte sich seinem Blick nicht entziehen

Nun da die Geraumlusche der Stadt durch das halb geoumlffnete

Fenster drangen war der Mann in seine Arbeit versunken waumlh-

rend sein Pinsel uumlber das Papier wanderte

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Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 8: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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und Kanadier vereinigten sich um sich der maumlchtigen deutschen

Kriegsmaschinerie entgegenzustellen

In wenigen Stunden wuumlrden sie an den Straumlnden der Norman-

die landen und ihr Leben riskieren um dem grausamsten Regi-

me der Weltgeschichte die Stirn zu bieten

Irgendjemand musste zuerst an Land gehen und das Schicksal

hatte dafuumlr den aus dem Bundesstaat Maryland stammenden

Captain Max Schroeder ausersehen

Jetzt da sie sich die Haumlnde schuumlttelten und einander viel Gluumlck

wuumlnschten legte ihm der Colonel den Arm um die Schultern

und sagte bewegt raquoAlso los machen wir Ihnen die Houmllle heiszliglaquo

Max war so aufgeregt dass er kaum ein Wort uumlber die Lippen

brachte Der historische Moment hatte ihm die Sprache ver-

schlagen Schlieszliglich entgegnete er nur raquoDann sehen wir uns am

Strand Colonellaquo

Auf dem Deck war es brechend voll Uumlberall waren schwei-

gende Maumlnner die im Dunkeln auf ihren Einsatz warteten Der

Regen prasselte herab Max houmlrte nichts anderes als das Droumlhnen

der Schiffsmotoren

Ploumltzlich erwachte ein Lautsprecher knisternd zum Leben Es

war die Stimme des Oberkommandierenden der ihnen eine letzte

Botschaft mit auf den Weg gab

raquoSoldaten Seeleute und Piloten der alliierten Streitkraumlftelaquo be-

gann die Stimme raquoUnsere groszlige Mission hat begonnen Die

Augen der Welt sind auf uns gerichtet Die Hoffnungen und

Gebete aller friedliebenden Menschen begleiten euchlaquo

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Nachdem der Lautsprecher verstummt war kehrte Max in Ge-

danken versunken in sein Quartier zuruumlck Eine Sache musste er

noch erledigen dann war er bereit

Er nahm einen Stift und schrieb seiner Frau einen Brief Mar-

garet und er kannten einander seit der Highschool Es war eine

Teenagerliebe gewesen doch jetzt wuumlrde er sie vielleicht niemals

wiedersehen

Er schrieb ihr wo er war und was er tat und dass er sie liebte

Dann machte er sich auf den Weg

Es war 230 Uhr am Morgen Die franzoumlsische Kuumlste huumlllte sich

in Dunkelheit

Schroeder stand neben seinen Maumlnnern an Deck und wartete

auf den Befehl das Landungsfahrzeug zu Wasser zu lassen Unter

seinem Helm hatte er als Gluumlcksbringer ein Foto seiner Frau

befestigt

Der Befehl kam Gebeugt unter der Last ihres Marschgepaumlcks

draumlngten die Maumlnner auf das kleinere Landungsfahrzeug das in

schwerer See heftig hin und her schwankte

raquoViel Gluumlck vierte Divisionlaquo schepperte es aus dem Laut-

sprecher

Ein Ruck dann waren sie unterwegs Maxrsquo Haumlnde schlossen

sich um sein Sturmgewehr Seine Maumlnner standen dicht an dicht

ihre Gesichter bleich vor Kaumllte und Anspannung

Stunden vergingen waumlhrend sie durch die Dunkelheit schau-

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kelten Um 430 Uhr zeichnete sich die Kuumlste der Normandie als

graue Linie vor ihnen ab

Um kurz vor sechs schimmerte im Osten das erste Licht der

Morgensonne auf

Sie houmlrten Gewehrsalven und Explosionen waumlhrend die

Schlachtschiffe der Alliierten die deutsche Verteidigungslinie

unter Beschuss nahmen Sie waren jetzt sehr nah dran

Dann kam die Landung Um genau 628 Uhr houmlrte Max das

Knirschen von Kies unter dem Schiffsrumpf

Die Rampe krachte nach unten seine Fuumlszlige setzten sich in

Bewegung und ploumltzlich watete er durchs truumlbe und kalte Was-

ser das ihm bis zu den Huumlften reichte In seinen Ohren gellte das

Gewehrfeuer Hinter ihm kaumlmpften sich seine Maumlnner durch die

Wellen Vor sich sah er einen niedrigen Damm aus Beton

Sein Herz pochte er taumelte weiter bis er schlieszliglich Sand

unter seinen Stiefeln spuumlrte ndash den Sand der Normandie Es war

ein grauer kuumlhler Morgen und Max Schroeder hatte gerade Ge-

schichte geschrieben

Aber daruumlber konnte er jetzt nicht nachdenken Er musste mit

seinen Maumlnnern moumlglichst schnell den Strand uumlberqueren um

dem feindlichen Feuer zu entgehen

Max keuchte sein Marschgepaumlck war vom Seewasser durch-

traumlnkt waumlhrend sie dem Damm entgegenliefen Er blieb kurz

stehen und schaute sich um Fast alle hatten es inzwischen an den

Strand geschafft Zum Gluumlck

Aber sie durften nicht warten Sie mussten weiter vorruumlcken

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am Damm vorbei hinein in die Duumlnen Die Deutschen hatten

das Gelaumlnde vermint doch Max hatte den Befehl sich nicht auf-

halten zu lassen

Als sie ins Landesinnere vordrangen verlieszlig ihn sein Gluumlck Er

wurde unter Beschuss genommen zwei Kugeln trafen seinen lin-

ken Arm

Obwohl das Blut seinen Aumlrmel durchdrang spuumlrte er keinen

Schmerz Er stand unter Schock auszligerdem hatte er einen Job zu

erledigen Er rief seinen Maumlnnern zu weiter vorzuruumlcken bis

zum ersten Dorf

Doch als sie dort ankamen wurde ihm klar wie schwer er

verletzt war Ploumltzlich wurde ihm schwindelig Sein Blick ver-

schwamm seine Beine knickten ein hellip

Dann wurde ihm schwarz vor Augen

Max erwachte Er lag in einem Zelt umgeben von Aumlrzten Einer

von ihnen beugte sich vor raquoWir muumlssen Ihren Arm amputierenlaquo

sagte eine Stimme

Dann verblasste das Bild ebenso wie Maxrsquo Bewusstsein

Licht Blinzelnd oumlffnete er die Augen

Er war wach Er war am Leben Er versuchte sich zu bewegen

und bemerkte dass sein linker Arm immer noch da war

Benommen sah er sich um Er war nicht mehr in Frankreich

Er war in England in einem Militaumlrkrankenhaus

Als Erstes ging ihm durch den Kopf dass er an die Front und

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zu seinen Maumlnnern zuruumlckkehren muumlsste doch die Aumlrzte sagten

ihm dies sei unmoumlglich Ihm stuumlnden mehrere Operationen be-

vor doch wenn er Gluumlck habe koumlnne sein Arm gerettet werden

Fuumlr ihn sei der Krieg beendet

Desillusioniert lieszlig er sich in das Kissen sinken So lange hatte

er sich auf seinen Einsatz vorbereitet und nun sollte alles vorbei

sein

Wenige Tage spaumlter brachte eine Krankenschwester ihm ein

paar Zeitungen doch er schuumlttelte nur den Kopf und wollte

nichts lesen

raquoSchauen Sie dochlaquo forderte sie ihn laumlchelnd auf raquoSie sind

zum Helden gewordenlaquo

Max Schroeder der erste Mann der an der Kuumlste der Nor-

mandie an Land ging und die Befreiung Frankreichs vom Nazi-

regime einleitete hat sich nie als Held betrachtet Als ein Zei-

tungsjournalist ihn ein halbes Jahrhundert spaumlter so bezeichnete

wollte er davon nichts wissen

raquoFuumlnf meiner Maumlnner haben damals in der Normandie ihr

Leben gelassenlaquo sagte er mit Entschiedenheit raquoSie allein sind

Heldenlaquo

Doch auch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist

die Geschichte von Max immer noch lebendig Die Geschichte

des jungen Manns der den Ozean uumlberquerte um einem frem-

den Land den Frieden zu bringen Die Geschichte des Mannes

der sich der Tyrannei entgegenstellte und raquoNeinlaquo sagte

Max hatte sich geirrt Er war tatsaumlchlich zum Helden ge-

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worden auch wenn er zu bescheiden war sich dies einzuge-

stehen

Doch in anderer Hinsicht hatte er voumlllig recht Er war einer

von zahllosen jungen Maumlnnern und Frauen die ihre Angst uumlber-

wanden und angesichts des Schreckens ihr Bestes taten

Der blutigste Konflikt der Weltgeschichte der Zweite Welt-

krieg hat den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts veraumlndert

Jagdbomber flogen uumlber britische Felder Panzer bekaumlmpften sich

auf der russischen Steppe Schlachtschiffe waren im Pazifik im

Einsatz Und im Herzen seiner zerstoumlrten Hauptstadt riss ein

hass erfuumlllter Mann sein ganzes dunkles Reich mit in den Ab-

grund

Vor allem war der Zweite Weltkrieg jedoch die Geschichte

von unzaumlhligen ganz normalen Menschen die gegen ihren Wil-

len in diesen Konflikt hineingezogen wurden

Der Schuljunge der gegen die feindlichen Bomber kaumlmpfte

Das Schulmaumldchen das sich mutig und entschlossen den auslaumln-

dischen Invasoren ent gegenstellte Die Seeleute die ihren Lands-

leuten zu Hilfe kamen Die Informatiker die nicht zu entschluumls-

selnde Codes knackten

Die Soldaten die sich durch Wuumlsten und Urwaumllder kaumlmpften

Die Matrosen die in staumlndiger Angst vor Torpedos lebten Die

Frauen die naumlchtelang in Fabriken arbeiteten Die Musiker die

spielten waumlhrend die Bomben einschlugen

Sie alle waren Heldinnen und Helden ndash und dieses Buch er-

zaumlhlt ihre Geschichte

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Als alles vorbei war hatten sie ganz unterschiedliche Erinnerun-

gen Doch in einem waren sie sich einig

Alles hatte mit einem jungen Mann begonnen der sein Geld

mit dem Abmalen von Postkartenmotiven verdiente

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Der Mann der Postkarten abmalte

Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune

Sonnenlicht glitzerte auf Daumlchern und Tuumlrmen der oumlsterreichi-

schen Hauptstadt Im beruumlhmten Vergnuumlgungspark dem Prater

erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel in dessen

roten Gondeln zufriedene Tagesausfluumlgler saszligen

Dreiszligig Gehminuten vom Prater entfernt in einer ruhigen nur

selten besuchten Straszlige saszlig ein junger Mann in einem spaumlrlich

beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab

Er war so unscheinbar dass die meisten von uns seinen Anblick

sofort wieder vergessen haumltten ein wenig kleiner als der Durch-

schnitt mit einem blassen ernsten Gesicht und kurzen dunklen

Haaren Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe

Das einzig Auffaumlllige in ihm waren seine Augen klar und un-

erschuumltterlich von fast hypnotischem Blau Wen er ansah der

konnte sich seinem Blick nicht entziehen

Nun da die Geraumlusche der Stadt durch das halb geoumlffnete

Fenster drangen war der Mann in seine Arbeit versunken waumlh-

rend sein Pinsel uumlber das Papier wanderte

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Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 9: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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Nachdem der Lautsprecher verstummt war kehrte Max in Ge-

danken versunken in sein Quartier zuruumlck Eine Sache musste er

noch erledigen dann war er bereit

Er nahm einen Stift und schrieb seiner Frau einen Brief Mar-

garet und er kannten einander seit der Highschool Es war eine

Teenagerliebe gewesen doch jetzt wuumlrde er sie vielleicht niemals

wiedersehen

Er schrieb ihr wo er war und was er tat und dass er sie liebte

Dann machte er sich auf den Weg

Es war 230 Uhr am Morgen Die franzoumlsische Kuumlste huumlllte sich

in Dunkelheit

Schroeder stand neben seinen Maumlnnern an Deck und wartete

auf den Befehl das Landungsfahrzeug zu Wasser zu lassen Unter

seinem Helm hatte er als Gluumlcksbringer ein Foto seiner Frau

befestigt

Der Befehl kam Gebeugt unter der Last ihres Marschgepaumlcks

draumlngten die Maumlnner auf das kleinere Landungsfahrzeug das in

schwerer See heftig hin und her schwankte

raquoViel Gluumlck vierte Divisionlaquo schepperte es aus dem Laut-

sprecher

Ein Ruck dann waren sie unterwegs Maxrsquo Haumlnde schlossen

sich um sein Sturmgewehr Seine Maumlnner standen dicht an dicht

ihre Gesichter bleich vor Kaumllte und Anspannung

Stunden vergingen waumlhrend sie durch die Dunkelheit schau-

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kelten Um 430 Uhr zeichnete sich die Kuumlste der Normandie als

graue Linie vor ihnen ab

Um kurz vor sechs schimmerte im Osten das erste Licht der

Morgensonne auf

Sie houmlrten Gewehrsalven und Explosionen waumlhrend die

Schlachtschiffe der Alliierten die deutsche Verteidigungslinie

unter Beschuss nahmen Sie waren jetzt sehr nah dran

Dann kam die Landung Um genau 628 Uhr houmlrte Max das

Knirschen von Kies unter dem Schiffsrumpf

Die Rampe krachte nach unten seine Fuumlszlige setzten sich in

Bewegung und ploumltzlich watete er durchs truumlbe und kalte Was-

ser das ihm bis zu den Huumlften reichte In seinen Ohren gellte das

Gewehrfeuer Hinter ihm kaumlmpften sich seine Maumlnner durch die

Wellen Vor sich sah er einen niedrigen Damm aus Beton

Sein Herz pochte er taumelte weiter bis er schlieszliglich Sand

unter seinen Stiefeln spuumlrte ndash den Sand der Normandie Es war

ein grauer kuumlhler Morgen und Max Schroeder hatte gerade Ge-

schichte geschrieben

Aber daruumlber konnte er jetzt nicht nachdenken Er musste mit

seinen Maumlnnern moumlglichst schnell den Strand uumlberqueren um

dem feindlichen Feuer zu entgehen

Max keuchte sein Marschgepaumlck war vom Seewasser durch-

traumlnkt waumlhrend sie dem Damm entgegenliefen Er blieb kurz

stehen und schaute sich um Fast alle hatten es inzwischen an den

Strand geschafft Zum Gluumlck

Aber sie durften nicht warten Sie mussten weiter vorruumlcken

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am Damm vorbei hinein in die Duumlnen Die Deutschen hatten

das Gelaumlnde vermint doch Max hatte den Befehl sich nicht auf-

halten zu lassen

Als sie ins Landesinnere vordrangen verlieszlig ihn sein Gluumlck Er

wurde unter Beschuss genommen zwei Kugeln trafen seinen lin-

ken Arm

Obwohl das Blut seinen Aumlrmel durchdrang spuumlrte er keinen

Schmerz Er stand unter Schock auszligerdem hatte er einen Job zu

erledigen Er rief seinen Maumlnnern zu weiter vorzuruumlcken bis

zum ersten Dorf

Doch als sie dort ankamen wurde ihm klar wie schwer er

verletzt war Ploumltzlich wurde ihm schwindelig Sein Blick ver-

schwamm seine Beine knickten ein hellip

Dann wurde ihm schwarz vor Augen

Max erwachte Er lag in einem Zelt umgeben von Aumlrzten Einer

von ihnen beugte sich vor raquoWir muumlssen Ihren Arm amputierenlaquo

sagte eine Stimme

Dann verblasste das Bild ebenso wie Maxrsquo Bewusstsein

Licht Blinzelnd oumlffnete er die Augen

Er war wach Er war am Leben Er versuchte sich zu bewegen

und bemerkte dass sein linker Arm immer noch da war

Benommen sah er sich um Er war nicht mehr in Frankreich

Er war in England in einem Militaumlrkrankenhaus

Als Erstes ging ihm durch den Kopf dass er an die Front und

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zu seinen Maumlnnern zuruumlckkehren muumlsste doch die Aumlrzte sagten

ihm dies sei unmoumlglich Ihm stuumlnden mehrere Operationen be-

vor doch wenn er Gluumlck habe koumlnne sein Arm gerettet werden

Fuumlr ihn sei der Krieg beendet

Desillusioniert lieszlig er sich in das Kissen sinken So lange hatte

er sich auf seinen Einsatz vorbereitet und nun sollte alles vorbei

sein

Wenige Tage spaumlter brachte eine Krankenschwester ihm ein

paar Zeitungen doch er schuumlttelte nur den Kopf und wollte

nichts lesen

raquoSchauen Sie dochlaquo forderte sie ihn laumlchelnd auf raquoSie sind

zum Helden gewordenlaquo

Max Schroeder der erste Mann der an der Kuumlste der Nor-

mandie an Land ging und die Befreiung Frankreichs vom Nazi-

regime einleitete hat sich nie als Held betrachtet Als ein Zei-

tungsjournalist ihn ein halbes Jahrhundert spaumlter so bezeichnete

wollte er davon nichts wissen

raquoFuumlnf meiner Maumlnner haben damals in der Normandie ihr

Leben gelassenlaquo sagte er mit Entschiedenheit raquoSie allein sind

Heldenlaquo

Doch auch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist

die Geschichte von Max immer noch lebendig Die Geschichte

des jungen Manns der den Ozean uumlberquerte um einem frem-

den Land den Frieden zu bringen Die Geschichte des Mannes

der sich der Tyrannei entgegenstellte und raquoNeinlaquo sagte

Max hatte sich geirrt Er war tatsaumlchlich zum Helden ge-

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worden auch wenn er zu bescheiden war sich dies einzuge-

stehen

Doch in anderer Hinsicht hatte er voumlllig recht Er war einer

von zahllosen jungen Maumlnnern und Frauen die ihre Angst uumlber-

wanden und angesichts des Schreckens ihr Bestes taten

Der blutigste Konflikt der Weltgeschichte der Zweite Welt-

krieg hat den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts veraumlndert

Jagdbomber flogen uumlber britische Felder Panzer bekaumlmpften sich

auf der russischen Steppe Schlachtschiffe waren im Pazifik im

Einsatz Und im Herzen seiner zerstoumlrten Hauptstadt riss ein

hass erfuumlllter Mann sein ganzes dunkles Reich mit in den Ab-

grund

Vor allem war der Zweite Weltkrieg jedoch die Geschichte

von unzaumlhligen ganz normalen Menschen die gegen ihren Wil-

len in diesen Konflikt hineingezogen wurden

Der Schuljunge der gegen die feindlichen Bomber kaumlmpfte

Das Schulmaumldchen das sich mutig und entschlossen den auslaumln-

dischen Invasoren ent gegenstellte Die Seeleute die ihren Lands-

leuten zu Hilfe kamen Die Informatiker die nicht zu entschluumls-

selnde Codes knackten

Die Soldaten die sich durch Wuumlsten und Urwaumllder kaumlmpften

Die Matrosen die in staumlndiger Angst vor Torpedos lebten Die

Frauen die naumlchtelang in Fabriken arbeiteten Die Musiker die

spielten waumlhrend die Bomben einschlugen

Sie alle waren Heldinnen und Helden ndash und dieses Buch er-

zaumlhlt ihre Geschichte

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Als alles vorbei war hatten sie ganz unterschiedliche Erinnerun-

gen Doch in einem waren sie sich einig

Alles hatte mit einem jungen Mann begonnen der sein Geld

mit dem Abmalen von Postkartenmotiven verdiente

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Der Mann der Postkarten abmalte

Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune

Sonnenlicht glitzerte auf Daumlchern und Tuumlrmen der oumlsterreichi-

schen Hauptstadt Im beruumlhmten Vergnuumlgungspark dem Prater

erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel in dessen

roten Gondeln zufriedene Tagesausfluumlgler saszligen

Dreiszligig Gehminuten vom Prater entfernt in einer ruhigen nur

selten besuchten Straszlige saszlig ein junger Mann in einem spaumlrlich

beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab

Er war so unscheinbar dass die meisten von uns seinen Anblick

sofort wieder vergessen haumltten ein wenig kleiner als der Durch-

schnitt mit einem blassen ernsten Gesicht und kurzen dunklen

Haaren Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe

Das einzig Auffaumlllige in ihm waren seine Augen klar und un-

erschuumltterlich von fast hypnotischem Blau Wen er ansah der

konnte sich seinem Blick nicht entziehen

Nun da die Geraumlusche der Stadt durch das halb geoumlffnete

Fenster drangen war der Mann in seine Arbeit versunken waumlh-

rend sein Pinsel uumlber das Papier wanderte

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Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 10: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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kelten Um 430 Uhr zeichnete sich die Kuumlste der Normandie als

graue Linie vor ihnen ab

Um kurz vor sechs schimmerte im Osten das erste Licht der

Morgensonne auf

Sie houmlrten Gewehrsalven und Explosionen waumlhrend die

Schlachtschiffe der Alliierten die deutsche Verteidigungslinie

unter Beschuss nahmen Sie waren jetzt sehr nah dran

Dann kam die Landung Um genau 628 Uhr houmlrte Max das

Knirschen von Kies unter dem Schiffsrumpf

Die Rampe krachte nach unten seine Fuumlszlige setzten sich in

Bewegung und ploumltzlich watete er durchs truumlbe und kalte Was-

ser das ihm bis zu den Huumlften reichte In seinen Ohren gellte das

Gewehrfeuer Hinter ihm kaumlmpften sich seine Maumlnner durch die

Wellen Vor sich sah er einen niedrigen Damm aus Beton

Sein Herz pochte er taumelte weiter bis er schlieszliglich Sand

unter seinen Stiefeln spuumlrte ndash den Sand der Normandie Es war

ein grauer kuumlhler Morgen und Max Schroeder hatte gerade Ge-

schichte geschrieben

Aber daruumlber konnte er jetzt nicht nachdenken Er musste mit

seinen Maumlnnern moumlglichst schnell den Strand uumlberqueren um

dem feindlichen Feuer zu entgehen

Max keuchte sein Marschgepaumlck war vom Seewasser durch-

traumlnkt waumlhrend sie dem Damm entgegenliefen Er blieb kurz

stehen und schaute sich um Fast alle hatten es inzwischen an den

Strand geschafft Zum Gluumlck

Aber sie durften nicht warten Sie mussten weiter vorruumlcken

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am Damm vorbei hinein in die Duumlnen Die Deutschen hatten

das Gelaumlnde vermint doch Max hatte den Befehl sich nicht auf-

halten zu lassen

Als sie ins Landesinnere vordrangen verlieszlig ihn sein Gluumlck Er

wurde unter Beschuss genommen zwei Kugeln trafen seinen lin-

ken Arm

Obwohl das Blut seinen Aumlrmel durchdrang spuumlrte er keinen

Schmerz Er stand unter Schock auszligerdem hatte er einen Job zu

erledigen Er rief seinen Maumlnnern zu weiter vorzuruumlcken bis

zum ersten Dorf

Doch als sie dort ankamen wurde ihm klar wie schwer er

verletzt war Ploumltzlich wurde ihm schwindelig Sein Blick ver-

schwamm seine Beine knickten ein hellip

Dann wurde ihm schwarz vor Augen

Max erwachte Er lag in einem Zelt umgeben von Aumlrzten Einer

von ihnen beugte sich vor raquoWir muumlssen Ihren Arm amputierenlaquo

sagte eine Stimme

Dann verblasste das Bild ebenso wie Maxrsquo Bewusstsein

Licht Blinzelnd oumlffnete er die Augen

Er war wach Er war am Leben Er versuchte sich zu bewegen

und bemerkte dass sein linker Arm immer noch da war

Benommen sah er sich um Er war nicht mehr in Frankreich

Er war in England in einem Militaumlrkrankenhaus

Als Erstes ging ihm durch den Kopf dass er an die Front und

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zu seinen Maumlnnern zuruumlckkehren muumlsste doch die Aumlrzte sagten

ihm dies sei unmoumlglich Ihm stuumlnden mehrere Operationen be-

vor doch wenn er Gluumlck habe koumlnne sein Arm gerettet werden

Fuumlr ihn sei der Krieg beendet

Desillusioniert lieszlig er sich in das Kissen sinken So lange hatte

er sich auf seinen Einsatz vorbereitet und nun sollte alles vorbei

sein

Wenige Tage spaumlter brachte eine Krankenschwester ihm ein

paar Zeitungen doch er schuumlttelte nur den Kopf und wollte

nichts lesen

raquoSchauen Sie dochlaquo forderte sie ihn laumlchelnd auf raquoSie sind

zum Helden gewordenlaquo

Max Schroeder der erste Mann der an der Kuumlste der Nor-

mandie an Land ging und die Befreiung Frankreichs vom Nazi-

regime einleitete hat sich nie als Held betrachtet Als ein Zei-

tungsjournalist ihn ein halbes Jahrhundert spaumlter so bezeichnete

wollte er davon nichts wissen

raquoFuumlnf meiner Maumlnner haben damals in der Normandie ihr

Leben gelassenlaquo sagte er mit Entschiedenheit raquoSie allein sind

Heldenlaquo

Doch auch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist

die Geschichte von Max immer noch lebendig Die Geschichte

des jungen Manns der den Ozean uumlberquerte um einem frem-

den Land den Frieden zu bringen Die Geschichte des Mannes

der sich der Tyrannei entgegenstellte und raquoNeinlaquo sagte

Max hatte sich geirrt Er war tatsaumlchlich zum Helden ge-

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worden auch wenn er zu bescheiden war sich dies einzuge-

stehen

Doch in anderer Hinsicht hatte er voumlllig recht Er war einer

von zahllosen jungen Maumlnnern und Frauen die ihre Angst uumlber-

wanden und angesichts des Schreckens ihr Bestes taten

Der blutigste Konflikt der Weltgeschichte der Zweite Welt-

krieg hat den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts veraumlndert

Jagdbomber flogen uumlber britische Felder Panzer bekaumlmpften sich

auf der russischen Steppe Schlachtschiffe waren im Pazifik im

Einsatz Und im Herzen seiner zerstoumlrten Hauptstadt riss ein

hass erfuumlllter Mann sein ganzes dunkles Reich mit in den Ab-

grund

Vor allem war der Zweite Weltkrieg jedoch die Geschichte

von unzaumlhligen ganz normalen Menschen die gegen ihren Wil-

len in diesen Konflikt hineingezogen wurden

Der Schuljunge der gegen die feindlichen Bomber kaumlmpfte

Das Schulmaumldchen das sich mutig und entschlossen den auslaumln-

dischen Invasoren ent gegenstellte Die Seeleute die ihren Lands-

leuten zu Hilfe kamen Die Informatiker die nicht zu entschluumls-

selnde Codes knackten

Die Soldaten die sich durch Wuumlsten und Urwaumllder kaumlmpften

Die Matrosen die in staumlndiger Angst vor Torpedos lebten Die

Frauen die naumlchtelang in Fabriken arbeiteten Die Musiker die

spielten waumlhrend die Bomben einschlugen

Sie alle waren Heldinnen und Helden ndash und dieses Buch er-

zaumlhlt ihre Geschichte

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Als alles vorbei war hatten sie ganz unterschiedliche Erinnerun-

gen Doch in einem waren sie sich einig

Alles hatte mit einem jungen Mann begonnen der sein Geld

mit dem Abmalen von Postkartenmotiven verdiente

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Der Mann der Postkarten abmalte

Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune

Sonnenlicht glitzerte auf Daumlchern und Tuumlrmen der oumlsterreichi-

schen Hauptstadt Im beruumlhmten Vergnuumlgungspark dem Prater

erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel in dessen

roten Gondeln zufriedene Tagesausfluumlgler saszligen

Dreiszligig Gehminuten vom Prater entfernt in einer ruhigen nur

selten besuchten Straszlige saszlig ein junger Mann in einem spaumlrlich

beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab

Er war so unscheinbar dass die meisten von uns seinen Anblick

sofort wieder vergessen haumltten ein wenig kleiner als der Durch-

schnitt mit einem blassen ernsten Gesicht und kurzen dunklen

Haaren Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe

Das einzig Auffaumlllige in ihm waren seine Augen klar und un-

erschuumltterlich von fast hypnotischem Blau Wen er ansah der

konnte sich seinem Blick nicht entziehen

Nun da die Geraumlusche der Stadt durch das halb geoumlffnete

Fenster drangen war der Mann in seine Arbeit versunken waumlh-

rend sein Pinsel uumlber das Papier wanderte

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Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 11: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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am Damm vorbei hinein in die Duumlnen Die Deutschen hatten

das Gelaumlnde vermint doch Max hatte den Befehl sich nicht auf-

halten zu lassen

Als sie ins Landesinnere vordrangen verlieszlig ihn sein Gluumlck Er

wurde unter Beschuss genommen zwei Kugeln trafen seinen lin-

ken Arm

Obwohl das Blut seinen Aumlrmel durchdrang spuumlrte er keinen

Schmerz Er stand unter Schock auszligerdem hatte er einen Job zu

erledigen Er rief seinen Maumlnnern zu weiter vorzuruumlcken bis

zum ersten Dorf

Doch als sie dort ankamen wurde ihm klar wie schwer er

verletzt war Ploumltzlich wurde ihm schwindelig Sein Blick ver-

schwamm seine Beine knickten ein hellip

Dann wurde ihm schwarz vor Augen

Max erwachte Er lag in einem Zelt umgeben von Aumlrzten Einer

von ihnen beugte sich vor raquoWir muumlssen Ihren Arm amputierenlaquo

sagte eine Stimme

Dann verblasste das Bild ebenso wie Maxrsquo Bewusstsein

Licht Blinzelnd oumlffnete er die Augen

Er war wach Er war am Leben Er versuchte sich zu bewegen

und bemerkte dass sein linker Arm immer noch da war

Benommen sah er sich um Er war nicht mehr in Frankreich

Er war in England in einem Militaumlrkrankenhaus

Als Erstes ging ihm durch den Kopf dass er an die Front und

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zu seinen Maumlnnern zuruumlckkehren muumlsste doch die Aumlrzte sagten

ihm dies sei unmoumlglich Ihm stuumlnden mehrere Operationen be-

vor doch wenn er Gluumlck habe koumlnne sein Arm gerettet werden

Fuumlr ihn sei der Krieg beendet

Desillusioniert lieszlig er sich in das Kissen sinken So lange hatte

er sich auf seinen Einsatz vorbereitet und nun sollte alles vorbei

sein

Wenige Tage spaumlter brachte eine Krankenschwester ihm ein

paar Zeitungen doch er schuumlttelte nur den Kopf und wollte

nichts lesen

raquoSchauen Sie dochlaquo forderte sie ihn laumlchelnd auf raquoSie sind

zum Helden gewordenlaquo

Max Schroeder der erste Mann der an der Kuumlste der Nor-

mandie an Land ging und die Befreiung Frankreichs vom Nazi-

regime einleitete hat sich nie als Held betrachtet Als ein Zei-

tungsjournalist ihn ein halbes Jahrhundert spaumlter so bezeichnete

wollte er davon nichts wissen

raquoFuumlnf meiner Maumlnner haben damals in der Normandie ihr

Leben gelassenlaquo sagte er mit Entschiedenheit raquoSie allein sind

Heldenlaquo

Doch auch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist

die Geschichte von Max immer noch lebendig Die Geschichte

des jungen Manns der den Ozean uumlberquerte um einem frem-

den Land den Frieden zu bringen Die Geschichte des Mannes

der sich der Tyrannei entgegenstellte und raquoNeinlaquo sagte

Max hatte sich geirrt Er war tatsaumlchlich zum Helden ge-

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worden auch wenn er zu bescheiden war sich dies einzuge-

stehen

Doch in anderer Hinsicht hatte er voumlllig recht Er war einer

von zahllosen jungen Maumlnnern und Frauen die ihre Angst uumlber-

wanden und angesichts des Schreckens ihr Bestes taten

Der blutigste Konflikt der Weltgeschichte der Zweite Welt-

krieg hat den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts veraumlndert

Jagdbomber flogen uumlber britische Felder Panzer bekaumlmpften sich

auf der russischen Steppe Schlachtschiffe waren im Pazifik im

Einsatz Und im Herzen seiner zerstoumlrten Hauptstadt riss ein

hass erfuumlllter Mann sein ganzes dunkles Reich mit in den Ab-

grund

Vor allem war der Zweite Weltkrieg jedoch die Geschichte

von unzaumlhligen ganz normalen Menschen die gegen ihren Wil-

len in diesen Konflikt hineingezogen wurden

Der Schuljunge der gegen die feindlichen Bomber kaumlmpfte

Das Schulmaumldchen das sich mutig und entschlossen den auslaumln-

dischen Invasoren ent gegenstellte Die Seeleute die ihren Lands-

leuten zu Hilfe kamen Die Informatiker die nicht zu entschluumls-

selnde Codes knackten

Die Soldaten die sich durch Wuumlsten und Urwaumllder kaumlmpften

Die Matrosen die in staumlndiger Angst vor Torpedos lebten Die

Frauen die naumlchtelang in Fabriken arbeiteten Die Musiker die

spielten waumlhrend die Bomben einschlugen

Sie alle waren Heldinnen und Helden ndash und dieses Buch er-

zaumlhlt ihre Geschichte

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Als alles vorbei war hatten sie ganz unterschiedliche Erinnerun-

gen Doch in einem waren sie sich einig

Alles hatte mit einem jungen Mann begonnen der sein Geld

mit dem Abmalen von Postkartenmotiven verdiente

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Der Mann der Postkarten abmalte

Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune

Sonnenlicht glitzerte auf Daumlchern und Tuumlrmen der oumlsterreichi-

schen Hauptstadt Im beruumlhmten Vergnuumlgungspark dem Prater

erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel in dessen

roten Gondeln zufriedene Tagesausfluumlgler saszligen

Dreiszligig Gehminuten vom Prater entfernt in einer ruhigen nur

selten besuchten Straszlige saszlig ein junger Mann in einem spaumlrlich

beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab

Er war so unscheinbar dass die meisten von uns seinen Anblick

sofort wieder vergessen haumltten ein wenig kleiner als der Durch-

schnitt mit einem blassen ernsten Gesicht und kurzen dunklen

Haaren Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe

Das einzig Auffaumlllige in ihm waren seine Augen klar und un-

erschuumltterlich von fast hypnotischem Blau Wen er ansah der

konnte sich seinem Blick nicht entziehen

Nun da die Geraumlusche der Stadt durch das halb geoumlffnete

Fenster drangen war der Mann in seine Arbeit versunken waumlh-

rend sein Pinsel uumlber das Papier wanderte

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Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 12: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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zu seinen Maumlnnern zuruumlckkehren muumlsste doch die Aumlrzte sagten

ihm dies sei unmoumlglich Ihm stuumlnden mehrere Operationen be-

vor doch wenn er Gluumlck habe koumlnne sein Arm gerettet werden

Fuumlr ihn sei der Krieg beendet

Desillusioniert lieszlig er sich in das Kissen sinken So lange hatte

er sich auf seinen Einsatz vorbereitet und nun sollte alles vorbei

sein

Wenige Tage spaumlter brachte eine Krankenschwester ihm ein

paar Zeitungen doch er schuumlttelte nur den Kopf und wollte

nichts lesen

raquoSchauen Sie dochlaquo forderte sie ihn laumlchelnd auf raquoSie sind

zum Helden gewordenlaquo

Max Schroeder der erste Mann der an der Kuumlste der Nor-

mandie an Land ging und die Befreiung Frankreichs vom Nazi-

regime einleitete hat sich nie als Held betrachtet Als ein Zei-

tungsjournalist ihn ein halbes Jahrhundert spaumlter so bezeichnete

wollte er davon nichts wissen

raquoFuumlnf meiner Maumlnner haben damals in der Normandie ihr

Leben gelassenlaquo sagte er mit Entschiedenheit raquoSie allein sind

Heldenlaquo

Doch auch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist

die Geschichte von Max immer noch lebendig Die Geschichte

des jungen Manns der den Ozean uumlberquerte um einem frem-

den Land den Frieden zu bringen Die Geschichte des Mannes

der sich der Tyrannei entgegenstellte und raquoNeinlaquo sagte

Max hatte sich geirrt Er war tatsaumlchlich zum Helden ge-

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worden auch wenn er zu bescheiden war sich dies einzuge-

stehen

Doch in anderer Hinsicht hatte er voumlllig recht Er war einer

von zahllosen jungen Maumlnnern und Frauen die ihre Angst uumlber-

wanden und angesichts des Schreckens ihr Bestes taten

Der blutigste Konflikt der Weltgeschichte der Zweite Welt-

krieg hat den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts veraumlndert

Jagdbomber flogen uumlber britische Felder Panzer bekaumlmpften sich

auf der russischen Steppe Schlachtschiffe waren im Pazifik im

Einsatz Und im Herzen seiner zerstoumlrten Hauptstadt riss ein

hass erfuumlllter Mann sein ganzes dunkles Reich mit in den Ab-

grund

Vor allem war der Zweite Weltkrieg jedoch die Geschichte

von unzaumlhligen ganz normalen Menschen die gegen ihren Wil-

len in diesen Konflikt hineingezogen wurden

Der Schuljunge der gegen die feindlichen Bomber kaumlmpfte

Das Schulmaumldchen das sich mutig und entschlossen den auslaumln-

dischen Invasoren ent gegenstellte Die Seeleute die ihren Lands-

leuten zu Hilfe kamen Die Informatiker die nicht zu entschluumls-

selnde Codes knackten

Die Soldaten die sich durch Wuumlsten und Urwaumllder kaumlmpften

Die Matrosen die in staumlndiger Angst vor Torpedos lebten Die

Frauen die naumlchtelang in Fabriken arbeiteten Die Musiker die

spielten waumlhrend die Bomben einschlugen

Sie alle waren Heldinnen und Helden ndash und dieses Buch er-

zaumlhlt ihre Geschichte

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Als alles vorbei war hatten sie ganz unterschiedliche Erinnerun-

gen Doch in einem waren sie sich einig

Alles hatte mit einem jungen Mann begonnen der sein Geld

mit dem Abmalen von Postkartenmotiven verdiente

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Der Mann der Postkarten abmalte

Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune

Sonnenlicht glitzerte auf Daumlchern und Tuumlrmen der oumlsterreichi-

schen Hauptstadt Im beruumlhmten Vergnuumlgungspark dem Prater

erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel in dessen

roten Gondeln zufriedene Tagesausfluumlgler saszligen

Dreiszligig Gehminuten vom Prater entfernt in einer ruhigen nur

selten besuchten Straszlige saszlig ein junger Mann in einem spaumlrlich

beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab

Er war so unscheinbar dass die meisten von uns seinen Anblick

sofort wieder vergessen haumltten ein wenig kleiner als der Durch-

schnitt mit einem blassen ernsten Gesicht und kurzen dunklen

Haaren Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe

Das einzig Auffaumlllige in ihm waren seine Augen klar und un-

erschuumltterlich von fast hypnotischem Blau Wen er ansah der

konnte sich seinem Blick nicht entziehen

Nun da die Geraumlusche der Stadt durch das halb geoumlffnete

Fenster drangen war der Mann in seine Arbeit versunken waumlh-

rend sein Pinsel uumlber das Papier wanderte

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Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 13: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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worden auch wenn er zu bescheiden war sich dies einzuge-

stehen

Doch in anderer Hinsicht hatte er voumlllig recht Er war einer

von zahllosen jungen Maumlnnern und Frauen die ihre Angst uumlber-

wanden und angesichts des Schreckens ihr Bestes taten

Der blutigste Konflikt der Weltgeschichte der Zweite Welt-

krieg hat den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts veraumlndert

Jagdbomber flogen uumlber britische Felder Panzer bekaumlmpften sich

auf der russischen Steppe Schlachtschiffe waren im Pazifik im

Einsatz Und im Herzen seiner zerstoumlrten Hauptstadt riss ein

hass erfuumlllter Mann sein ganzes dunkles Reich mit in den Ab-

grund

Vor allem war der Zweite Weltkrieg jedoch die Geschichte

von unzaumlhligen ganz normalen Menschen die gegen ihren Wil-

len in diesen Konflikt hineingezogen wurden

Der Schuljunge der gegen die feindlichen Bomber kaumlmpfte

Das Schulmaumldchen das sich mutig und entschlossen den auslaumln-

dischen Invasoren ent gegenstellte Die Seeleute die ihren Lands-

leuten zu Hilfe kamen Die Informatiker die nicht zu entschluumls-

selnde Codes knackten

Die Soldaten die sich durch Wuumlsten und Urwaumllder kaumlmpften

Die Matrosen die in staumlndiger Angst vor Torpedos lebten Die

Frauen die naumlchtelang in Fabriken arbeiteten Die Musiker die

spielten waumlhrend die Bomben einschlugen

Sie alle waren Heldinnen und Helden ndash und dieses Buch er-

zaumlhlt ihre Geschichte

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Als alles vorbei war hatten sie ganz unterschiedliche Erinnerun-

gen Doch in einem waren sie sich einig

Alles hatte mit einem jungen Mann begonnen der sein Geld

mit dem Abmalen von Postkartenmotiven verdiente

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Der Mann der Postkarten abmalte

Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune

Sonnenlicht glitzerte auf Daumlchern und Tuumlrmen der oumlsterreichi-

schen Hauptstadt Im beruumlhmten Vergnuumlgungspark dem Prater

erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel in dessen

roten Gondeln zufriedene Tagesausfluumlgler saszligen

Dreiszligig Gehminuten vom Prater entfernt in einer ruhigen nur

selten besuchten Straszlige saszlig ein junger Mann in einem spaumlrlich

beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab

Er war so unscheinbar dass die meisten von uns seinen Anblick

sofort wieder vergessen haumltten ein wenig kleiner als der Durch-

schnitt mit einem blassen ernsten Gesicht und kurzen dunklen

Haaren Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe

Das einzig Auffaumlllige in ihm waren seine Augen klar und un-

erschuumltterlich von fast hypnotischem Blau Wen er ansah der

konnte sich seinem Blick nicht entziehen

Nun da die Geraumlusche der Stadt durch das halb geoumlffnete

Fenster drangen war der Mann in seine Arbeit versunken waumlh-

rend sein Pinsel uumlber das Papier wanderte

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Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 14: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

Als alles vorbei war hatten sie ganz unterschiedliche Erinnerun-

gen Doch in einem waren sie sich einig

Alles hatte mit einem jungen Mann begonnen der sein Geld

mit dem Abmalen von Postkartenmotiven verdiente

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1

Der Mann der Postkarten abmalte

Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune

Sonnenlicht glitzerte auf Daumlchern und Tuumlrmen der oumlsterreichi-

schen Hauptstadt Im beruumlhmten Vergnuumlgungspark dem Prater

erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel in dessen

roten Gondeln zufriedene Tagesausfluumlgler saszligen

Dreiszligig Gehminuten vom Prater entfernt in einer ruhigen nur

selten besuchten Straszlige saszlig ein junger Mann in einem spaumlrlich

beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab

Er war so unscheinbar dass die meisten von uns seinen Anblick

sofort wieder vergessen haumltten ein wenig kleiner als der Durch-

schnitt mit einem blassen ernsten Gesicht und kurzen dunklen

Haaren Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe

Das einzig Auffaumlllige in ihm waren seine Augen klar und un-

erschuumltterlich von fast hypnotischem Blau Wen er ansah der

konnte sich seinem Blick nicht entziehen

Nun da die Geraumlusche der Stadt durch das halb geoumlffnete

Fenster drangen war der Mann in seine Arbeit versunken waumlh-

rend sein Pinsel uumlber das Papier wanderte

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Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 15: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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Der Mann der Postkarten abmalte

Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune

Sonnenlicht glitzerte auf Daumlchern und Tuumlrmen der oumlsterreichi-

schen Hauptstadt Im beruumlhmten Vergnuumlgungspark dem Prater

erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel in dessen

roten Gondeln zufriedene Tagesausfluumlgler saszligen

Dreiszligig Gehminuten vom Prater entfernt in einer ruhigen nur

selten besuchten Straszlige saszlig ein junger Mann in einem spaumlrlich

beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab

Er war so unscheinbar dass die meisten von uns seinen Anblick

sofort wieder vergessen haumltten ein wenig kleiner als der Durch-

schnitt mit einem blassen ernsten Gesicht und kurzen dunklen

Haaren Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe

Das einzig Auffaumlllige in ihm waren seine Augen klar und un-

erschuumltterlich von fast hypnotischem Blau Wen er ansah der

konnte sich seinem Blick nicht entziehen

Nun da die Geraumlusche der Stadt durch das halb geoumlffnete

Fenster drangen war der Mann in seine Arbeit versunken waumlh-

rend sein Pinsel uumlber das Papier wanderte

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Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Nur wenige Leute kannten seinen Namen Er wohnte im

Maumlnnerheim in der Meldemannstraszlige einer Unterkunft fuumlr all

diejenigen die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten

konnten Dort im Lesesaal malte er seine Bilder

Er war einundzwanzig Jahre alt In seinem Leben war kaum

einmal etwas Interessantes passiert was sich vermutlich auch nie-

mals aumlndern wuumlrde

Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in

Braunau am Inn erblickt einem verschlafenen Dorf an der

Grenze zwischen dem oumlsterreichischen und dem deutschen Kai-

serreich

Sein Vater war ein strenger und jaumlhzorniger Mann gewesen

der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und koumlrperlich ge-

zuumlchtigt hatte

Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft Ihr Foto hing zeit

seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes

Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch Er

spielte Raumluber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im

Kirchenchor Er las Geschichten uumlber Cowboys und Indianer und

traumlumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Waumlldern

Doch im Laufe der Jahre verduumlsterte sich der Himmel Sein

juumlngerer Bruder starb an den Masern Sein Vater wurde immer

launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit

Als der Junge elf Jahre alt war schickten ihn seine Eltern in

Linz der naumlchstgroumlszligeren Stadt zur Schule Er brauchte jeden Tag

eine Stunde fuumlr den Schulweg und kannte niemanden in Linz Es

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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fiel ihm schwer Freunde zu finden worunter auch seine schu-

lischen Leistungen litten

Allmaumlhlich verlor er jeden Ehrgeiz und traumlumte lieber von den

groszligen Helden der deutschen und oumlsterreichischen Geschichte

Eines Tages fragte ihn sein Vater was er im Leben erreichen

wolle Der Junge antwortete er wolle Kuumlnstler werden

raquoEin Kuumlnstler Nur uumlber meine Leichelaquo rief sein Vater

Als der Junge dreizehn war starb sein Vater unerwartet Jetzt

war er zumindest raquoder Mann im Hauslaquo und konnte tun und

lassen was ihm gefiel

Im Jahr 1905 im Alter von 16 Jahren uumlberredete er seine

Mutter von der Schule abgehen zu duumlrfen Tagsuumlber malte er die

Abende verbrachte er im Theater Er kleidete sich ganz in Schwarz

und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf

So vergingen zwei Jahre Aus dem Jungen wurde ein junger

Mann der der Welt beweisen wollte was in ihm steckte Im

Herbst zog er in die oumlsterreichische Hauptstadt

Wien war eine bunte schillernde Stadt mit Einwohnern ver-

schiedenster Herkunft Oumlsterreichische Offiziere stellten ihre

praumlchtigen weiszligen Uniformen zur Schau tschechische Politiker

debattierten in den Kaffeehaumlusern Juden in schwarzen Kaftanen

eilten zur naumlchsten Synagoge

Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fuumlhlte der junge Mann sich

verloren Lange hatte er davon getraumlumt an der Kunstakademie

zu studieren aber dann fiel er bei der Aufnahmepruumlfung durch

Seine Probezeichnungen wurden als raquoungenuumlgendlaquo bewertet

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 21Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 21 270921 0748270921 0748

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 22Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 22 270921 0748270921 0748

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 23Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 23 270921 0748270921 0748

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 24Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 24 270921 0748270921 0748

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 25Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 25 270921 0748270921 0748

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 28Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 28 270921 0748270921 0748

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 31Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 31 270921 0748270921 0748

und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 32Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 32 270921 0748270921 0748

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 34Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 34 270921 0748270921 0748

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 18: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter Nun war der

junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt

Zuruumlck in Wien schlenderte er durch die Parks voller Zorn

daruumlber dass die Welt ihm nicht das geben wollte was er von ihr

verlangte

Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater

Ein ums andere Mal sah und houmlrte er die Opern Richard Wagners

und war fasziniert von der germanischen Goumltter- und Sagenwelt

von Zwergen Drachen und Walkuumlren

In seinen Augen war er selbst ein groszliger germanischer Held

Eines Tages wuumlrde er uumlber die blutgetraumlnkten Koumlrper seiner

Feinde triumphieren

Die Realitaumlt verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung sei-

ner Traumlume Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakade-

mie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt Er hatte Schwierig-

keiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und hielt sich soeben

uumlber Wasser indem er im Maumlnnerwohnheim weiterhin Post kar-

tenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot

Aus Wochen wurden Monate aus Monaten Jahre

Im Fruumlhjahr 1913 beschloss der junge Mann sein Gluumlck auf

der anderen Seite der Grenze in Muumlnchen zu versuchen Aus

Oumlsterreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht Er hasste den

oumlsterreichischen Vielvoumllkerstaat vor allem die Juden und be-

trachtete sich lieber als Deutschen

Zunaumlchst malte er Bilder fuumlr Touristen doch nach einem Jahr

veraumlnderte sich alles

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Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 24Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 24 270921 0748270921 0748

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 25Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 25 270921 0748270921 0748

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 26Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 26 270921 0748270921 0748

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 27Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 27 270921 0748270921 0748

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 28Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 28 270921 0748270921 0748

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 29Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 29 270921 0748270921 0748

30

tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 30Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 30 270921 0748270921 0748

31

Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 31Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 31 270921 0748270921 0748

und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 32Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 32 270921 0748270921 0748

33

2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 33Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 33 270921 0748270921 0748

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 34Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 34 270921 0748270921 0748

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 35Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 35 270921 0748270921 0748

Page 19: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

21

Am 1 August 1914 erklaumlrte Deutschland Russland den Krieg

Der Erste Weltkrieg hatte begonnen Am naumlchsten Tag versam-

melten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von

Muumlnchen Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar

dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten

Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem

Krieg entgegen

Fuumlr die meisten jungen Maumlnner war der Erste Weltkrieg eine

Reise in die Houmllle Der nicht enden wollende Albtraum einer

Kriegsmaschinerie die rund 17 Millionen Menschen das Leben

kostete

Fuumlr den Mann der Postkartenmotive abmalte war er ein per-

soumlnlicher Wendepunkt Spaumlter erklaumlrte Adolf Hitler er sei am

Tag der Kriegserklaumlrung raquoauf die Knie gesunkenlaquo und habe raquodem

Himmel gedanktlaquo Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein

Leben eine Richtung gefunden

Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront wo Deutsche

Franzosen und Englaumlnder sich in tiefen Schuumltzengraumlben gegen-

uumlberlagen die sich wie Wunden durch den europaumlischen Konti-

nent zogen

Dort wurde er als Meldegaumlnger eingesetzt der den Soldaten an

der Front Meldungen und Befehle uumlbermittelte waumlhrend unter

ihm der Boden bebte und uumlber ihm die Granaten pfiffen Fast

jeden Tag starben Menschen um ihn herum

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 21Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 21 270921 0748270921 0748

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 24Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 24 270921 0748270921 0748

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 32Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 32 270921 0748270921 0748

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 35Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 35 270921 0748270921 0748

Page 20: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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Von nun an war er davon uumlberzeugt dass das Leben ein ein zi-

ger schrecklicher Kampf war Wer seine Feinde toumltete blieb am

Leben Doch wer Mitleid mit ihnen empfand wurde ebenfalls

getoumltet

Fuumlr seine Kameraden blieb der zum Gefreiten befoumlrderte

Hitler ein Auszligenseiter der niemals laumlchelte Sie nannten ihn raquoden

Kuumlnstlerlaquo

Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen Nachdem er trotz

schweren Geschuumltzfeuers eine Nachricht uumlberbracht hatte er-

hielt er das Eiserne Kreuz Im Oktober 1916 wurde er durch

einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet

Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer

Niederlage Zu Hause hungerten die Menschen und waren

demo ralisiert Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser

Im Oktober geriet Hitler als Meldegaumlnger in einen britischen

Senfgasangriff Es gelang ihm seine letzte Nachricht zu uumlberbrin-

gen doch am naumlchsten Morgen seien seine Augen raquoin gluumlhende

Kohlen verwandeltlaquo und um ihn her alles finster gewesen wie er

spaumlter schrieb

Zwei Wochen spaumlter erfuhr er im Lazarett dass Deutschland

zusammengebrochen war In den Straszligen draumlngten sich die Mas-

sen der Kaiser hatte abgedankt der Krieg war vorbei

In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und

vergoss ndash zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter ndash bittere

Traumlnen

Es war alles umsonst gewesen Waumlhrend er und seine Freunde

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 23Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 23 270921 0748270921 0748

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 25Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 25 270921 0748270921 0748

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 26Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 26 270921 0748270921 0748

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 21: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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sich aufgeopfert hatten waren ihnen Feiglinge und Verraumlter in

den Ruumlcken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen ndash so

dachte er voller Empoumlrung

Doch es sollte noch schlimmer kommen Als er aus dem Laza-

rett entlassen wurde versank Deutschland im Chaos Staatliche

Strukturen loumlsten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des

Alltags

Im auszligerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbei-

teten die Staatsfuumlhrer von Groszligbritannien Frankreich und den

USA einen Friedenvertrag aus der Deutschland zwang die

alleinige Verantwortung fuumlr den Ersten Weltkrieg zu uumlberneh-

men

Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahl-

reiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten Die Groumlszlige seiner

Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich be-

grenzt Auszligerdem musste Deutschland enorme Summen ndash so-

genannte Reparationen ndash an die Alliierten zahlen um fuumlr die im

Krieg erlittenen Schaumlden aufzukommen

Fuumlr Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine

Demuumltigung Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgaumlnge

in seiner neuen Heimat Muumlnchen

Als er dorthin zuruumlckkehrte war die Stadt nicht wiederzu-

erkennen In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt

herrschte eine aufgewuumlhlte hasserfuumlllte Atmosphaumlre

Im Fruumlhjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionaumlre die Raumlte-

republik aus wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 24Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 24 270921 0748270921 0748

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 27Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 27 270921 0748270921 0748

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 29Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 29 270921 0748270921 0748

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 30Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 30 270921 0748270921 0748

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 31Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 31 270921 0748270921 0748

und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 32Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 32 270921 0748270921 0748

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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eine neue Welt gleicher Menschen schaffen Doch das Experi-

ment dauerte nicht lange an

Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ ge-

sinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Frei-

korps brutal beendet Durch die Straszligen von Muumlnchen rann das

Blut

Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklaumlrungskommando

der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut Waumlhrend

das alte Deutschland in Truumlmmern lag wurden in dieser Zeit

viele neue Parteien gegruumlndet die um die Gunst der Bevoumllke-

rung buhlten Hitler wurde zu einer Versammlung der Deut-

schen Arbeiterpartei geschickt um herauszufinden was diese fuumlr

Ziele hatte

Am Abend des 12 September war er im Zentrum von Muumln-

chen unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor

das Sterneckerbraumlu eine bekannte Gastwirtschaft auf

In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute

versammelt Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein Ein

Mann betrat die Buumlhne und begann uumlber das zu sprechen was

seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland

Nachdem der Vortrag vorbei war stellte jemand eine Frage

Dann geschah etwas Auszligerordentliches

Ploumltzlich war Hitler auf den Beinen Und ehe er selbst wusste

wie ihm geschah brachen die Worte in einem wilden Strom aus

Wut und Verbitterung aus ihm heraus

Spaumlter erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt sei-

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ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 33Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 33 270921 0748270921 0748

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 34Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 34 270921 0748270921 0748

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 35Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 35 270921 0748270921 0748

Page 23: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

25

ner Worte Dafuumlr wussten alle noch sehr genau wie er gespro-

chen hatte Es war die zornige Abrechnung eines Manns ge wesen

dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und

der die Welt nun fuumlr sein Scheitern verantwortlich machte

Waumlhrend er sprach wurde es um ihn her immer stiller Alle

houmlrten ihm aufmerksam zu zunaumlchst uumlberrascht dann fasziniert

Als Hitler sich wieder setzte war der Raum mit Energie geladen

Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden Sein

Leben wuumlrde sich komplett aumlndern

Wenige Wochen spaumlter trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei

bei Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im ge-

samten Stadtgebiet sprach haumltte sich wohl niemand vorstellen

koumlnnen dass er sich einst zum Herrscher uumlber ganz Europa auf-

schwingen wuumlrde

Was bekamen die Leute von ihm zu houmlren wenn sie Parteiver-

anstaltungen in den groszligen Muumlnchner Wirtshaumlusern besuchten

Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr aumlhnlich Hitler

begann langsam und mit ruhiger Stimme Doch im Laufe seines

Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller seine

Augen blitzten eine Locke fiel ihm in die Stirn die am Ende

vom Schweiszlig glaumlnzte

Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein

und schrie seine Botschaft schlieszliglich in die Menge die vor

Begeisterung tobte

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 25Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 25 270921 0748270921 0748

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 26Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 26 270921 0748270921 0748

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 28Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 28 270921 0748270921 0748

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 24: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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Was sahen die Menschen in ihm Sie sahen einen Gefreiten

einen einfachen Soldaten der ihnen zurief was sie houmlren wollten

Seine Botschaft war simpel Deutschland sei betrogen worden

die politischen Fuumlhrer seien ihrem eigenen Volk in den Ruumlcken

gefallen und haumltten sich den schaumlndlichen Friedensvertrag von

Versailles aufzwingen lassen

Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung Die eigent-

lichen Schurken in diesem Spiel waren fuumlr Hitler die Juden

die angeblich die feigen Politiker kontrollierten Sie haumltten den

Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Unter-

gang des Deutschen Reichs angestrebt

Viele Menschen wussten dass dies eine Luumlge war noch dazu

eine sehr alte Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik

noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen Im Krieg hatten juuml-

dische Soldaten mit groszliger Tapferkeit gekaumlmpft Der Offizier der

Hitler fuumlr das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte war selbst Jude

Doch viele die Hitlers Reden lauschten glaubten ihm Nach

so vielen Demuumltigungen tat es gut jemandem die Schuld in die

Schuhe schieben zu koumlnnen

Fuumlr viele Maumlnner und Frauen in den Wirtshaumlusern zeichnete

sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab Denn ein

weiteres groszliges Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolu-

tion erschuumlttert ndash Russland Dort war die kommunistische Partei

an die Macht gelangt hatte die Zarenfamilie ermordet und ver-

sprochen eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen

Millionen von Russen waren bereits ermordet worden Der

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 29Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 29 270921 0748270921 0748

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 30Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 30 270921 0748270921 0748

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 31Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 31 270921 0748270921 0748

und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 33Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 33 270921 0748270921 0748

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 34Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 34 270921 0748270921 0748

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 35Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 35 270921 0748270921 0748

Page 25: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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Gedanke dass auch Deutschland kommunistisch werden koumlnnte

machte vielen Menschen Angst

Fuumlr Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen Die Angst

der Menschen half ihm seine Botschaft des Hasses zu verbreiten

Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher

Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in

Na tionalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP)

umbenannt 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei

Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken aumlhnelte

das Erscheinungsbild der Partei einer Armee mit Rangabzeichen

und Uniformen Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entwor-

fen Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weiszligen Kreis

auf rotem Grund Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abge-

winkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika be kannt

In Deutschland ging der Albtraum weiter Im Jahr 1923 war

die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert Ein Laib Brot

kostete zu dieser Zeit 163 Mark im Juni bereits 1630 Mark

Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe

233 Billionen Mark

Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen

verloren Die Mark war schlieszliglich so wenig wert dass die Leute

mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen

Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch

Geschaumlfte und Firmen wurden geschlossen selbst die Straszligen-

bahnen in den Staumldten stellten ihren Betrieb ein

Hitler glaubte dass seine Zeit nun gekommen sei Am Abend

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 26: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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des 8 November 1923 versammelte er seine Anhaumlnger im

Muumlnchner Buumlrgerbraumlukeller stellte sich auf einen Stuhl und

schoss mit seiner Pistole in die Decke Dies sei der Moment rief

er in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reiszligen und

Deutschland vor dem Untergang bewahren muumlssten Der so ge-

nannte Hitlerputsch hatte begonnen

Am naumlchsten Morgen zogen die Putschisten durch die Muumlnch-

ner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle Doch der Umsturz

schlug fehl Hitler konnte fliehen wurde jedoch am 11 Novem-

ber festgenommen und zu fuumlnf Jahren Haft in der Festung Lands-

berg verurteilt Nach neun Monaten wurde er raquowegen guter

Fuumlhrunglaquo vorzeitig entlassen

Entmutigt fuumlhlte er sich keineswegs sondern schrieb waumlhrend

der Haft sein Buch raquoMein Kampflaquo in dem er seine Vision von

der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte

Das Leben schrieb er sei ein Kampf ums Uumlberleben Die

Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen Die Deutschen

seien die raquoHerrenrasselaquo dazu ausersehen die Schmach des Ersten

Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher

uumlber Europa einzunehmen

Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter

die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas

gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begruumlndet hatten

Nun sah sich Hitler als derjenige der seine Armeen tief nach

Russland hineinfuumlhren wuumlrde um ein neues Reich im Osten zu

gruumlnden Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefuumlhl noch

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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2

Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 27: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

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Menschlichkeit Sie kannten nur das Recht des Staumlrkeren Der

Schwaumlchere hingegen muumlsse getoumltet und versklavt werden Und

fuumlr die Juden die er als raquoTodfeindlaquo des deutschen Volks bezeich-

nete wuumlrde es keine Gnade geben

Die Juden schrieb er seien an allem Ungluumlck der Deutschen

schuld Sie seien habgierig heimtuumlckisch und grausam und muumlss-

ten aus Deutschland entfernt werden ehe sie das Land zerstoumlrten

Der naumlchste Krieg muumlsse also im Zeichen einer totalen Ver-

nichtung der Juden stehen

In raquonormalenlaquo Zeiten waumlre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube

Ohren gestoszligen Die Leute haumltten sie als das erkannt was sie war

als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz als

wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen wuumltenden Mannes

Doch es waren keine normalen Zeiten Deutschland war ein

verbittertes und gebrochenes Land Nahezu jede Familie hatte

groszliges Leid und persoumlnliche Verluste erfahren Sobald Hitler aus

der Haft entlassen wurde hatte das Schicksal den Nazis eine

maumlchtige Hand gereicht

Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer

ploumltzlichen Panik ergriffen Der New Yorker Boumlrsencrash war der

Beginn einer Weltwirtschaftskrise in deren Verlauf viele Unter-

nehmen in Konkurs gingen der Welthandel zum Erliegen kam

und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren

In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Exis-

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 31Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 31 270921 0748270921 0748

und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 33Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 33 270921 0748270921 0748

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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tenz Die kuumlmmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht

Die Speisekammern leerten sich

Schon bald wurde uumlberall um Essen und Arbeit gebettelt An

Straszligenecken standen verlorene Gestalten die Schilder um den

Hals trugen raquoUumlbernehme JEDE Arbeitlaquo

Die Stimmung war angespannt und aggressiv Auf den Straszligen

der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straszligen-

schlachten mit Hitlers gefuumlrchteten SA-Truppen der paramili-

taumlrischen Kampforganisation der NSDAP

Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele

Deutsche ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die

kommunistische Bedrohung seien

Immer mehr Geschaumlftsleute unterstuumltzten die NSDAP auch

finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der

Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen

Die Sonne verblasste Die Blaumltter faumlrbten sich braun Der Schnee

kam

An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen Als die

Kirchenglocken das neue Jahr verkuumlndeten lebten Tausende

hungernd und frierend auf den Straszligen

In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen

entscheidenden Fehler

Seit Monaten hatten sie sich uumlber den richtigen Weg gestrit-

ten um Deutschland aus der Misere zu fuumlhren Jetzt boten diese

wohlhabenden gut vernetzten Maumlnner in ihrer Verzweiflung

Hitler an das Land zu regieren

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 30Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 30 270921 0748270921 0748

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 34Sandbrook_Weltgeschichte ndash Der Zweite Weltkriegindd 34 270921 0748270921 0748

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Sie betrachteten ihn als ihre Marionette Adolf Hitler so dach-

ten sie insgeheim sollte ruhig toben wie er wollte solange sie die

Faumlden in der Hand hielten Er sollte ihnen vor allem die Kom-

munisten vom Hals schaffen ndash danach wuumlrde sie auch ihn wieder

loswerden

So war ihr Kalkuumll doch sie ahnten nicht wie dieser Mann den

sie fuumlr ihre Zwecke einspannen wollten wirklich war

Am 30 Januar 1933 um 1130 Uhr wurde der Mann der einst

Postkartenmotive abgemalt hatte als neuer Reichskanzler des

Deutschen Reichs vereidigt

In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt

SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin Ihre

Helme glaumlnzten im Schein der Flammen ihre schweren Stiefel

droumlhnten wie Trommelschlaumlge raquoHeil Hitlerlaquo skandierten sie

Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an wie die Zu-

kunft aussehen wuumlrde

Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jaumlhrige Melita

Maschmann Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechun-

gen und war sicher dass er Deutschland zu alter Groumlszlige fuumlhren

wuumlrde

In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straszlige mitgenom-

men Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr

vorbeimarschierten empfand Melita ein raquobrennendes Verlangenlaquo

sich der neuen Bewegung anzuschlieszligen und ihr Leben in den

Dienst ihres Landes zu stellen

Dann loumlste sich ploumltzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe

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und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Page 30: Weltgeschichte(n) Zeit der Finsternis: Der Zweite Weltkrieg

und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht nur

wenige Meter von Melita entfernt

Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort doch Melita wurde

das Bild des am Boden liegenden blutenden Manns nicht mehr

los Es verfolgte sie tagelang wie sie spaumlter in ihren Erinnerungen

schrieb

Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur

doch er sollte nicht ihr letztes sein

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Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Der groszlige Abenteurer

Mehr als vierzig Jahre zuvor waren zwei Jungen eines Internats

auszligerhalb von London in ein Gespraumlch vertieft

Der Abendgottesdienst war vorbei und sie hatten ein wenig

freie Zeit In den Internatsraumlumen sprachen sie daruumlber was sie

nach dem Ende ihrer Schulzeit tun wuumlrden

Der eine Junge Sohn eines Geschaumlftsmanns sagte er wuumlrde

vielleicht Diplomat oder Banker werden Sein Freund der ein

rundliches neugieriges Gesicht hatte und ziemlich klein geraten

war hatte jedoch ganz andere Plaumlne

raquoVielleicht gehe ich zur Armeelaquo erklaumlrte er raquoSobald ich hier

raus bin warten groszlige Abenteuer auf mich helliplaquo

Sein Freund starrte ihn an Was meinte er nur damit

Eines Tages erklaumlrte der pausbaumlckige Junge wuumlrde sich Eng-

land gegen einen raquogewaltigen Angrifflaquo zur Wehr setzen muumlssen

raquoIch werde fuumlr die Verteidigung Londons zustaumlndig sein und ich

werde London und England vor einer Katastrophe bewahrenlaquo

sagte er mit ernster Stimme raquoEs wird mir zufallen die Hauptstadt

und das Britische Empire zu rettenlaquo

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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Dieses Gespraumlch fand im Jahr 1891 statt Der pausbaumlckige Jun-

ge war Winston Churchill und einst sollte die ganze Welt seinen

Namen kennen

Obwohl es beide nur ungern zugegeben haumltten Hitler und

Churchill hatten ein gemeinsames Hobby ndash sie malten gern

Beide hatten in Schuumltzengraumlben gekaumlmpft und beide hatten fruumlh

davon getraumlumt ihr Vaterland vor dem Untergang zu bewahren

Und so wie Hitlers Wut und Hass den Enttaumluschungen seiner

Jugendzeit entsprang wurde auch Churchill von seiner ungluumlck-

lichen Kindheit gepraumlgt

Churchills reiche aristokratische Eltern hatten ihm nie viel

Waumlrme entgegengebracht Mit sieben Jahren kam der Junge mit

dem verschmitzten und froumlhlichen Naturell auf sein erstes Inter-

nat wo er regelmaumlszligig geschlagen wurde

Sooft er seine Eltern auch bat ihn zu besuchen ndash sie kamen

nur sehr selten Sein Vater sagte ihm er sei faul und nutzlos ein

Versager auf ganzer Linie

Seine Mutter ignorierte ihn weitgehend In seinen Briefen

schrieb er offen daruumlber wie ungluumlcklich er sei doch sie schrieb

nur selten zuruumlck ndash sofern sie seine Briefe uumlberhaupt gelesen

haben mag

In dieser Situation haumltte der junge Winston genauso zerstoumlre-

rische Gedanken entwickeln koumlnnen wie Adolf Hitler Statt-

dessen betrachtete er jeden Tag als Moumlglichkeit seinen Eltern zu

beweisen dass sie sich in ihm irrten

Er gewann einen Preis fuumlr das Vortragen eines Gedichts und

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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wurde fuumlr seine Faumlhigkeiten im Fechten ausgezeichnet Er war

intelligent er hatte Mut und er stellte gern Unfug an Er hielt

sich sogar eine Bulldogge obwohl er wusste dass das gegen die

Regeln war

Eines Tages sagte der Internatsleiter ein strenger Furcht ein-

floumlszligender Mann zu ihm raquoChurchill ich habe allen Grund mit

dir unzufrieden zu seinlaquo Worauf der Junge postwendend ant-

wortete raquoUnd ich Sir habe allen Grund unzufrieden mit Ihnen

zu seinlaquo

So war Winston Churchill Er war mutig er war lustig ndash und

er war verwegen

Wie von ihm vorhergesagt sollte sein Leben ein groszliges Aben-

teuer werden Nach der Schule schloss er sich der Kavallerie an

kaumlmpfte in Indien und im Sudan Als Kriegsberichterstatter in

Suumldafrika wurde er inhaftiert worauf ihm eine spektakulaumlre

Flucht aus dem Gefangenenlager gelang

Er wurde ein konservativer Politiker wandelte sich zum Libe-

ralen kehrte dann aber wieder zu den Konservativen zuruumlck

Churchill bestimmte die Geschicke der Polizei der Marine der

Armee und des gesamten Koumlnigreichs Er schrieb Zeitungsartikel

und Geschichtsbuumlcher kehrte sogar fuumlr kurze Zeit zur Armee

zuruumlck und kaumlmpfte in den Schuumltzengraumlben des Ersten Weltkriegs

In gewisser Weise schien er nie richtig erwachsen zu werden

sondern blieb der verschmitzte Junge der nach Aufmerksamkeit

verlangte

Er trug seltsame Huumlte baute gern Mauern und beschaumlftigte

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