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10 Wozu Geschichte der Mathematik im Unterricht? – Und: wie? 1 10.1 Wozu Geschichte der Mathematik im Unterricht? Insbesondere ab den achtziger Jahren erschien eine beträchtliche Zahl an mathematikdidaktischen Publikationen mit Bezug zur Geschichte der Mathematik. Ein Grund dafür liegt wohl in der auf die „neue Mathematik“ der Sechzigerjahre folgende Trendwende, die zu einer weitgehenden Abkehr von (vermeintlich) bourba- kistischen Elementen in der Schulmathematik und zu einer Orientierung am gene- tischen Prinzip führte. Einen zweiten Grund sehe ich in der Entwicklung der Wissen- schaftstheorie seit den Sechzigerjahren und ihrem Einfluss auf die Mathematikdidaktik. Außerdem ist in den letzten Jahrzehnten (im Gegensatz etwa u den Nachkriegsjahren) auch vermehrt ein allgemeines Geschichtsbewusstsein zu bemerken (Denkmalschutz, Nostalgie). Viele AutorInnen sind überzeugt, dass durch eine verstärkte Berücksichtigung der Geschichte der Mathematik ein besseres Verständnis der Mathematik bei den SchülerInnen erreicht werden könne. Vor allem erhoffen sich einige bei ent- sprechender Verwendung der Mathematikgeschichte einen Unterricht, der auch den Sinn der Mathematik, das „Warum“ entsprechend berücksichtigt. (Vgl. etwa Jones 1978, S. 57.) Geschichte soll dazu beitragen, Mathematik als einen dynamischen Prozess zu erkennen, was oft im herkömmlichen Unterricht kaum sichtbar ist: ... there is no sense of history behind the teaching, so the feeling is given, that the whole system dropped down ready-made from the skies, to be used only by born jugglers." (Ausspruch eines amerikanischen Lehrers; vgl. Jones 1978.) "Traditional teaching of mathematics begins at points where the historical process ends and makes it increasingly difficult for pupils to come to grip with the field." (Rogers 1976, S. 306) Es ist auch bemerkenswert, dass die meisten populärwissenschaftlichen Bücher über Mathematik historische Bezüge aufweisen, und zwar schon zu Zeiten, als Geschichte der Mathematik im Unterricht praktisch noch nicht zur Diskussion stand. Einige kritische Meinungen Es gibt aber auch in einigen wenigen Publikationen skeptische Stimmen, was den Wert eines (unreflektierten) Einbaus von Geschichte der Mathematik im Unterricht anlangt. Freudenthal bezweifelt, dass die Kenntnis der Mathematikgeschichte das mathe- matische Verständnis eines jeden Schülers fördert. Er, der selbst äußerst interessiert 1 Gekürzte Fassung einiger Kapitel aus dem Buch: Kronfellner: Historische Aspekte im Mathematikunterricht. Eine didaktische Analyse mit unterrichtspraktischen Beispielen. HPT, Wien, 1998 Alle Literaturangaben beziehen sich auf dieses Buch.

10 Wozu Wie der...Freudenthal bezweifelt, dass die Kenntnis der Mathematikgeschichte das mathe-matische Verständnis eines jeden Schülers fördert. Er, der selbst äußerst interessiert

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10 Wozu Geschichte der Mathematik im Unterricht? – Und: wie?1 10.1 Wozu Geschichte der Mathematik im Unterricht? Insbesondere ab den achtziger Jahren erschien eine beträchtliche Zahl an mathematikdidaktischen Publikationen mit Bezug zur Geschichte der Mathematik. Ein Grund dafür liegt wohl in der auf die „neue Mathematik“ der Sechzigerjahre folgende Trendwende, die zu einer weitgehenden Abkehr von (vermeintlich) bourba-kistischen Elementen in der Schulmathematik und zu einer Orientierung am gene-tischen Prinzip führte. Einen zweiten Grund sehe ich in der Entwicklung der Wissen-schaftstheorie seit den Sechzigerjahren und ihrem Einfluss auf die Mathematikdidaktik. Außerdem ist in den letzten Jahrzehnten (im Gegensatz etwa u den Nachkriegsjahren) auch vermehrt ein allgemeines Geschichtsbewusstsein zu bemerken (Denkmalschutz, Nostalgie). Viele AutorInnen sind überzeugt, dass durch eine verstärkte Berücksichtigung der Geschichte der Mathematik ein besseres Verständnis der Mathematik bei den SchülerInnen erreicht werden könne. Vor allem erhoffen sich einige bei ent-sprechender Verwendung der Mathematikgeschichte einen Unterricht, der auch den Sinn der Mathematik, das „Warum“ entsprechend berücksichtigt. (Vgl. etwa Jones 1978, S. 57.) Geschichte soll dazu beitragen, Mathematik als einen dynamischen Prozess zu erkennen, was oft im herkömmlichen Unterricht kaum sichtbar ist: ... there is no sense of history behind the teaching, so the feeling is given, that the whole system dropped down ready-made from the skies, to be used only by born jugglers." (Ausspruch eines amerikanischen Lehrers; vgl. Jones 1978.) "Traditional teaching of mathematics begins at points where the historical process ends and makes it increasingly difficult for pupils to come to grip with the field." (Rogers 1976, S. 306) Es ist auch bemerkenswert, dass die meisten populärwissenschaftlichen Bücher über Mathematik historische Bezüge aufweisen, und zwar schon zu Zeiten, als Geschichte der Mathematik im Unterricht praktisch noch nicht zur Diskussion stand. Einige kritische Meinungen Es gibt aber auch in einigen wenigen Publikationen skeptische Stimmen, was den Wert eines (unreflektierten) Einbaus von Geschichte der Mathematik im Unterricht anlangt. Freudenthal bezweifelt, dass die Kenntnis der Mathematikgeschichte das mathe-matische Verständnis eines jeden Schülers fördert. Er, der selbst äußerst interessiert 1 Gekürzte Fassung einiger Kapitel aus dem Buch: Kronfellner: Historische Aspekte im Mathematikunterricht. Eine didaktische Analyse mit unterrichtspraktischen Beispielen. HPT, Wien, 1998 Alle Literaturangaben beziehen sich auf dieses Buch.

an der Mathematikhistorie ist, warnt davor, das eigene Interesse allen SchülerInnen zu verordnen. Er räumt allerdings ein: „Ich meine, es sei des Menschen würdig, die Vergangenheit seines Ge-schlechts, der Erde, der Welt differenziert zu begreifen, ... Darin sehe ich den Nutzen der Geschichte der Mathematik und ihrer Nachbargebiete: nicht der Mathematik zu dienen, sondern der Geschichte, nicht den Mathematiksinn, sondern den Geschichtssinn zu fördern. Aber vielleicht hilft es auch der Mathematik ein bisschen.“ (Freudenthal 1978, S. 77) Trotz eines positiven Grundtones gibt Nagaoka zu bedenken: " ... it is much more probable that students remain indifferent to mathematics itself even after having been taught in its historical development." (Nagaoka 1989, S. 176) Spalt (1987) räumt zwar ein, dass die in den diversen Publikationen in Zusammen-hang mit der Mathematikgeschichte vorgebrachten Ziele bis zu einem gewissen Grad legitim und erstrebenswert sind, befürchtet aber, dass damit eine Vernied-lichung, Verfälschung und ein Ausverkauf der Mathematikgeschichtsschreibung im engeren, wissenschaftlichen Sinn einhergeht. Am deutlichsten wird Felscher: „There is no need in Europe to water down the mathematical content by funny stories about history.“ (Historia matematica [=E-Mail-Diskussionsforum], 1.Dez.1999) 10.2 EXTERNE MATHEMATISCHE LEHRZIELE In den meisten Unterrichtsmodellen und Planungsschemata wird von einem Katalog von Lehrzielen (Lehrplan) ausgegangen, während Fragen der Begründung und Rechtfertigung dieser Ziele ausgeklammert (oder zumindest nicht explizit betont) werden. Im hier vorgestellten Modell eines historisch orientierten Mathematikunterrichts spielt diese Frage hingegen eine wesentliche Rolle. Dabei werden insbesondere auch Zielvorstellungen berücksichtigt, die teilweise außerhalb der Mathematik liegen. („Eigentlich bildend wird der Unterricht erst dadurch, dass er sich von seinem Fach distanziert.“ Wagenschein 1962, S. 79) Ich nenne solche Ziele „externe mathematische Lehrziele“. Sie sind etwa angesiedelt zwischen den allgemeinen Bildungszielen der Schule bzw. der Gesellschaft (vgl. etwa Bigalke 1976, u. a.) und den allgemeinen Lernzielen des Mathematikunterrichts, wie sie etwa von H. Winter formuliert wurden. (Vgl. Wittmann 1975, S. 37ff.) Der „Zweck“ dieser externen mathematischen Lehrziele (bzw. der Kommunikation über sie) ist das Thematisieren der Mathematik als Wissenschaft, ihrer Stellung innerhalb der Wissenschaften und ihrer Beziehung zu diesen. Dies soll auch eine „Selbstreflexion des Mathematikunterrichts“ als Ganzes, ein Sich-in-Frage-Stellen initiieren: Wozu gibt es überhaupt das Schulfach Mathematik?

Dazu ein Gedankenexperiment: Angenommen, Mathematik wäre noch kein Schul-fach. Damit die Annahme nicht allzu unrealistisch klingt, wollen wir etwa annehmen, dass Fertigkeiten im Bereich des elementaren Rechnens und geometrischen Zeich-nens bereits als schulische Ziele etabliert und akzeptiert sind. D. h., die folgenden Überlegungen beschränken sich im Wesentlichen auf die Sekundarstufe. Angesichts der häufigen Diskussionen über die Reduktion von Mathematikstunden haben Überlegungen zur Rechtfertigung des Mathematikunterrichts einen durchaus realen Charakter. Auslöser solcher Reduktionsdiskussionen sind nicht nur neue Fächer wie Informatik, sondern m. E. vielfach auch ein Mangel an der Fähigkeit und Bereitschaft, (mehr oder weniger) berechtigte Kritik am Mathematikunterricht zu akzeptieren und ernst zu nehmen und durch Selbstreflexion den Kritikern zuvorzukommen sowie flexibel und rasch zu reagieren. Also angenommen, Mathematik wäre noch kein Schulfach. Was würde für eine Ein-führung von Mathematik als Schulfach (bzw. für eine Erweiterung über das elemen-tare Rechnen und über elementares geometrisches Zeichnen hinaus) sprechen? Ein Versuch einer Antwort auf diese Frage hängt aufs Engste mit der häufig gestell-ten Frage zusammen: „Was ist Mathematik?“ bzw. „Was alles ist unter Mathematik zu subsumieren?“ Auch viele AutorInnen, die für einen Einbau historischer Elemente im Mathematik-unterricht plädieren, greifen sehr häufig diese Frage auf. (Vgl. Kapitel 2!) Einige Schlagworte sollen die Bandbreite des Phänomens „Mathematik“ aufzeigen: Mathematik ist: die Königin aller Wissenschaften eine (die wichtigste) Hilfswissenschaft die Wissenschaft von Strukturen eine Sammlung von Verfahren die Wissenschaft des Denknotwendigen die Wissenschaft aller wahren „Wenn-dann-Sätze“ eine soziale Konstruktion (vgl. Restivo 1988) eine Technologie (vgl. Maaß/Schlöglmann 1992) eine „Zwischenwelt des Verstandes“ (vgl. Fischer/Malle 1985, S. 337) eine Kunst die Wissenschaft ... das, was Mathematiker tun u. v. a. Diese Liste ließe sich – aus der Literatur und mit Phantasie – noch beliebig weiter ausdehnen. (Vgl. etwa Bos 1978, Bos/Mehrtens 1977, Budach 1974, Swetz 1984 u. v. a.) Mehr aber als einen groben Eindruck, dass Mathematik ein vielschichtiges Phänomen ist, vermag sie nicht zu vermitteln.

In Fischer/Malle (1978) wird versucht, diese Bandbreite (ansatzweise) an die Schul-mathematik im herkömmlichen Sinn zu adjungieren: „Wir sehen Mathematik als ein gesellschaftliches Gesamtphänomen an. Der Kern bleibt freilich das, was man im engeren Sinn unter Mathematik versteht. Allerdings werden Fragen nach der Genese, Heuristik, nach psy-chologischen, philosophischen, soziologischen Auswirkungen bzw. Vor-aussetzungen der Mathematik, wie auch jene nach den Anwendungen nicht ausgeklammert, sondern es werden diese Bereiche als integrierende Bestandteile der Wissenschaft angesehen, deren Einfluss auf die Mathematik (im engeren Sinn) nicht unberücksichtigt bleiben darf.“ (Fischer/Malle 1978, S. 8) Im Vergleich dazu gibt der Mathematikunterricht meist nur ein sehr einseitiges und verzerrtes Bild wieder. „Ob die Bedeutung der Mathematik als Wissenschaft ... tatsächlich da-durch erfasst werden kann, dass Kenntnisse der (Schul-)Mathematik ver-mittelt werden, erscheint zweifelhaft. Zumindest wäre zu prüfen, ob hier nicht andere Vorgehensweisen, etwa die direkte ,metamathematische‘ Behandlung der Geschichte der Mathematik und ihrer gesellschaftlichen Einflüsse, besser und schneller zum Ziel führen." (Dörfler et al. 1981, S. 99) Im Folgenden soll versucht werden aufzuzeigen, wie mit Hilfe der Geschichte der Mathematik im Unterricht ein reichhaltigeres Bild des „Phänomens Mathematik“ ge-boten werden kann. (Natürlich ist Geschichte der Mathematik nicht die einzige Mög-lichkeit in Hinblick auf dieses Ziel; andere Modelle – etwa ein anwendungsorientierter oder theorieorientierter Mathematikunterricht - können ebenfalls Beiträge in diese Richtung leisten. Mehr noch: Nur durch Berücksichtigung mehrerer solcher Modelle kann im Unterricht ein einigermaßen abgerundetes und nicht einseitiges Bild von Mathematik entstehen.) Als erster Schritt in Richtung einer Konkretisierung des Modells sollen im Folgenden solche externe mathematische Lehrziele angegeben werden, wobei der besseren Übersicht halber (und auch, um später plakative Schlagwörter zur Verfügung zu haben) diese Ziele in einige Gruppen unterteilt werden. Diese Einteilung ist weder zwingend, noch eindeutig, noch trennscharf: viele Detail-ziele könnten unter mehr als nur einer Überschrift subsumiert werden. 10.2.1 Wissenschaftstheoretische Ziele Historische Betrachtungen zur Entwicklung der Mathematik zeigen die Dynamik dieser Wissenschaft auf und tragen auf diese Weise zu einem adäquaten Bild von Wissenschaft – nicht nur der Mathematik – bei. Obwohl dieses Ziel über die Mathematik hinausreicht, ist es insbesondere für die Mathematik selbst von großer Bedeutung, da es besonders schwierig ist, die Dynamik der gegenwärtigen Mathe-matik einem größeren Personenkreis als nur den jeweiligen Spezialisten nahe zu bringen.

„Mathematikunterricht behandelt Sachverhalte, die zum größten Teil seit langem bekannt sind. Die Schüler lernen ein Kulturgut kennen, von dem sie den Eindruck der Abgeschlossenheit erhalten. ... Die Entwicklungs-fähigkeit der Mathematik erkennt praktisch kein Schüler.“ (Vollrath 1987, S. 374; Hervorhebungen im Original.) Wenngleich Vollrath damit nicht vordergründig ein Forcieren der Mathematikge-schichte im Auge hat, erscheint diese doch (neben anderem) geeignet, diesem Miss-stand ein wenig abzuhelfen. 10.2.2 Epistemologische Ziele „Wie soll eigentlich ein Abiturient die Frage beantworten: Worauf richtet sich das Erkenntnisinteresse der Mathematik? Was will der Mathematiker wissen? Die Antwort soll doch sicher nicht heißen: Er will wissen, welche Extremwerte ein gewisses Polynom hat, oder in welchem Punkt sich eine Gerade und eine Ebene im Raum schneiden. In dieser Beziehung haben wir eine fundamentale Diskrepanz zwischen der Mathematik und allen anderen Fächern. Weder der Musiklehrer noch der Deutschlehrer lassen sich von den Schwierigkeiten abschrecken: Die Schüler lernen an erst-klassigen Beispielen unserer kulturellen Tradition, ihren Geschmack zu bilden. Hier hat die Mathematik ein Defizit, in der Schule wie auch in weiten Bereichen des Hochschulunterrichts.“ (Artmann/Spalt/Gerecke 1987, S. 217f.) Auf Grund der extremen Spezialisierung der gegenwärtigen Mathematik ist es in der Schule praktisch nicht möglich, das Wesen und die Genese mathematischer Er-kenntnisse anhand der gegenwärtigen Forschung dem SchülerInnen plausibel zu machen. Durch Zurückgehen zu den historischen Wurzeln eines mathematischen Begriffs oder Teilgebiets können solche Erkenntnisprozesse dem Schüler / der Schülerin eher nahe gebracht werden. (Z. B.: Entstehung der Algebra aus dem systematischen Suchen nach Lösungsformeln bzw. aus der Frage nach der Lös-barkeit algebraischer Gleichungen; Entwicklung des Grenzwertbegriffs aus den Schwierigkeiten bei einer präzisen Fundierung der Analysis; ...) 10.2.3 Metamathematische Lernziele Die Einbeziehung der historischen Entwicklung eines Begriffs oder eines Teilgebiets eröffnet eine Möglichkeit zu einem besseren Verständnis dieses Begriffs bzw. dieses Teilgebiets. Die Fähigkeit, über Mathematik reden zu können, ist bei den meisten SchülerInnen unterentwickelt und wird mehr und mehr als ein wichtiges Ziel des Mathematikunterrichts gesehen. Im alten, ausführlichen Lehrplan für die österreichischen allgemein bildenden höheren Schulen stand etwa (und ist auch heute noch relevant): „Die Schüler sollen beispielsweise: Probleme des Definierens, Beweisens, der Exaktheit erkennen, ... die Veränderlichkeit mathematischer Begriffe in der historischen und in der per-sönlichen Entwicklung kennen lernen, ...

Einsichten in grundlegende wissenschaftliche Verfahrensweisen und Denkvorstel-lungen ... gewinnen.“ (Auch diese Ziele können natürlich nicht nur über die Geschichte der Mathematik angepeilt werden; vgl. etwa Neubrand 1990 oder Vollrath 1987.) Auch die bei einer nachträglichen Exaktifizierung eines Kapitels intendierte Vermitt-lung der Veränderlichkeit eines Begriffs kann durch begleitende historische Betrach-tungen als ein realer Prozess und nicht nur als ein „didaktischer Trick“ erkannt wer-den und gewinnt dadurch an Überzeugungskraft. Analoges gilt auch für allgemeine Lernziele wie Generalisieren, Abstrahieren, Formalisieren u. Ä.: anhand historischer Entwicklungen kann aufgezeigt werden, dass diese tatsächlich fundamentale Tätig-keiten sind. 10.2.4 Wissenschaftssoziologische Ziele Es sollte den SchülerInnen nicht nur klargemacht werden, dass Wissenschaften sich entwickeln, sondern auch, dass diese Entwicklungen nicht unabhängig von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verlaufen. Einige Beispiele dazu: Die ersten mathematischen Aktivitäten (im weitesten Sinne) entstanden in der Menschheitsgeschichte in der Phase des Überganges vom Jäger/Sammler zum Regenfeldbau. Die Sesshaftwerdung und später der Übergang zu größeren sozia-len Einheiten (Stadtstaaten, Großreiche) machten verschiedene organisatorische Maßnahmen notwendig, bei denen (Anfänge der) Mathematik eine Rolle spielten: Bewässerung, Nahrungsmittelbedarfberechnung bei größeren Vorhaben (Pyra-midenbau), Ausbau des Verkehrs, (Ansätze einer) Vereinheitlichung der Maße u. a. m. Im Gesellschaftssystem der Griechen wird (auf Grund des materiellen Wohl-standes einer gehobenen Schicht) Wissenschaft im heutigen Sinn salonfähig und möglich. Im Zuge der Ausbreitung des Islam kam es auch zu einer Verbreitung (und Weiterentwicklung) des antiken (mathematischen) Wissens. Die zunehmende Bedrohung Konstantinopels durch das Osmanische Reich im 14./15. Jahrhundert veranlasste viele byzantinische Gelehrte, nach Westen, ins-besondere nach Italien, abzuwandern, was nicht zuletzt auch Einfluss auf das Gedankengut der Renaissance sowie auf die Ausbildung des naturwissen-schaftlichen Weltbildes und der Mathematik ausübte. (Vgl. auch Kapitel 12.5.2!) Die Entdeckungsreisen zu Beginn der Neuzeit und der dabei erhoffte materielle Gewinn motivierten zu Entwicklungen und Verbesserungen auf den Gebieten der Kartographie und der Navigation, in der Folge dann auch zur Konstruktion ge-nauer Uhren, und weiter – über die theoretische Mechanik – zu einem Motiva-tionsschub für die Mathematik. Die Institutionalisierung des Mathematikers an Schulen und Universitäten im 18. und 19. Jahrhundert hat insbesondere auf dem Gebiet der (reinen) Mathe-matik zu raschen Fortschritten geführt. Mehrtens (1988, S. 31) spricht von einer Verknüpfung der kognitiven mit der sozialen Identität. Im Zuge der humboldtschen

Universitätsreform und des damals vorherrschenden Geistes des Neuhumanis-mus wurde die Mathematik der Griechen „wieder entdeckt“ und die axiomatische Methode Euklids zum Paradigma der Mathematik. (Vgl. Maaß 1988 und 1993!) In der Gegenwart sind neben den Universitäten auch die Industrie – nicht zuletzt die Rüstungsindustrie – für die Weiterentwicklung der Mathematik von (teilweise entscheidender) Bedeutung (z. B. Computer, Informatik, künstliche Intelligenz, Codierungstheorie, Kryptographie, Optimierung, ...; vgl. auch Booss/Høyrup 1984!) 10.2.5 Historische Ziele Das Aufzeigen der oben erwähnten Vernetzungen lässt auch die gegenseitige Be-dingtheit von politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Strukturen in Ver-gangenheit und Gegenwart – auch unabhängig von der Mathematik – erahnen und trägt somit zur Bildung eines originären Geschichtsbewusstseins bei. Somit kann im Mathematikunterricht auch ein Beitrag zu diesen, dem Geschichtsunterricht zuzu-rechnenden Zielen geleistet werden. (Vgl. später: fächerübergreifender Unterricht im weiteren Sinn; Kapitel 10.5.8!) 10.2.6 Kulturelle Ziele Viele Zielsetzungen anderer Fächer des üblichen Fächerkanons können als (ge-meinsames) Bemühen um ein Näherbringen kultureller Werte interpretiert werden: Literatur, Kunst, Musik, Philosophie, Religion, ... In vielen dieser Fächer ist die jeweilige historische Entwicklung ein wesentlicher Teil des zu vermittelnden Wissens: Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Musikgeschichte, Philosophiegeschichte, Reli-gionsgeschichte, ... . „Grundlegende Voraussetzungen und Randbedingungen einer Kultur le-gen fest, welche Formen von Wissen und Wissenschaft innerhalb eines Kulturkreises überhaupt akzeptiert werden.“ (Radbruch 1989, S. 129) Auch Mathematik ist Teil der Kultur; die Vermittlung ihrer Geschichte kann einen ebenso wertvollen Beitrag zu diesem globalen Ziel leisten. Im Oberstufenlehrplan steht: Kulturell - historischer Aspekt: Die maßgebliche Rolle mathematischer Erkenntnisse und Leistungen in der Entwicklung des europäischen Kultur- und Geisteslebens macht Mathematik zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Allgemeinbildung. Andererseits folgt aber daraus, dass die Geschichte der Mathematik nicht mehr (und nicht weniger) der Rechtfertigung bedarf als die oben erwähnten geschichtlichen Ent-wicklungen. (Die Vorstellung etwa eines Literaturunterrichts ohne jeglichen

historischen Bezug kann als ein Beispiel einer Verfremdung im Sinne des konstruktiven Realismus betrachtet werden.) 10.3 AFFEKTIVE ZIELE Unterricht, insbesondere der durch die traditionelle Leistungsbeurteilungspraxis determinierte Mathematikunterricht (vgl. Kapitel 4!), läuft Gefahr, dass er „durch Überbetonung von Objektivität auf eine technisch-rationale Komponente verküm-mert.“ (BMUKS 1987a, S. 5) „Die Beurteilungspraxis legt ... ihren Schwerpunkt nahezu ausschließlich auf kognitive Ziele.“ (A. a. O., S. 11) „Bloßer Unterricht ... sorgt seiner Intention nach für Wissen allein ... Bloßer Unterricht führt, wenn er sein Ziel erreicht, dahin, dass Heran-wachsende in ausgewählten sachlichen Bereichen etwas zu begreifen, zu beurteilen und zu bewerkstelligen vermögen. Im Übrigen überlässt er es dem Zufall bzw. dem Spiel der sozialen Kräfte, was jemand mit seinen Kenntnissen und Fähigkeiten nach und außerhalb der Schule anfangen mag. Demgegenüber ist ein erziehender Unterricht bestrebt, das vermittel-te Wissen und Können von vornherein in Einstellungen und Haltungen einzubinden.“ (Ruhloff 1992, S. 3) Einige AutorInnen, die für einen verstärkten Einbau historischer Elemente im Mathe-matikunterricht plädieren, versprechen sich davon (zumindest auch) Erfolge in Bezug auf die Einstellung der SchülerInnen zur Mathematik. Im Detail lassen sich die Vorschläge in folgende Gruppen einteilen. 10.3.1 Methodische Auflockerung Vor allem viele LehrerInnen erhoffen sich vom Einbau historischer Elemente im Mathematikunterricht, insbesondere von historischen Anekdoten, eine Auflockerung des Unterrichts. (Dies ist allerdings kein Spezifikum der Geschichte: jede andere Ab-wechslung im üblichen algorithmisch dominierten Unterricht würde einen ähnlichen Effekt bringen.) 10.3.2 Motivationale Aspekte Viele Publikationen vermitteln einen Eindruck, dass der Einbau historischer Elemente den Mathematikunterricht fast zwangsläufig verbessern, und zwar nicht nur ein adäquateres Bild von Mathematik vermitteln, sondern insbesondere auch Aufmerksamkeit, Interesse und Motivation der SchülerInnen steigern sowie eine positive Einstellung zur Mathematik erzeugen. Dies wird auch durch Ergebnisse von SchülerInnenbefragungen gestützt. (Vgl. etwa IREM 1988, S. 4–22 bis 4–28, 9–9f., 10–24f.) 10.3.3 Abbau psychischer Barrieren Swetz (1984) schreibt dem traditionellen Mathematikunterricht sogar die Schuld da-ran zu, dass viele SchülerInnen gegen die Mathematik psychische Barrieren auf-

bauen. Diese könnten durch stärkere Berücksichtigung der historischen Entwicklung abgebaut bzw. von vornherein hintangehalten werden. Außerdem erhofft sich Swetz von einer stärkeren Betonung der Geschichte, dass die Mathematik das Mystische verliert: die Mathematik erscheint eher bewältigbar, wenn man weiß, dass die Ma-thematik mehrere Jahrtausende Entwicklung hinter sich hat und dass auch große Mathematiker Fehler gemacht haben, (scheinbar) nahe liegende Lösungswege nicht gesehen oder Beweislücken nicht erkannt haben. 10.3.4 Akzeptanz von Mathematik durch „Patriotismus“ Erfahrungsgemäß haben jene Sportarten große Publizität bzw. erleben eine deut-liche Zunahme an allgemeinem Interesse, in denen Vertreter des eigenen Landes gerade große Erfolge erzielen (bzw. in jüngster Zeit erzielt haben). Diesen „Identifi-kationseffekt“ könnte man sich zunutze machen und insbesondere die Leistungen österreichischer Mathematiker hervorheben. (Vgl. dazu Nöbauer 1978 bzw. Kapitel 14!) Es gibt einige Beobachtungen in multikulturellen Schulen, wo die Erwähnung der Leistungen islamischer Mathematiker SchülerInnen aus diesem Kulturkreis (Flücht-lings- oder Gastarbeiterkinder) besonders motivierte. Ähnliches wurde von einem College in Brooklyn über StudentInnen berichtet, die von russischen Emigranten ab-stammen; sie fühlten sich durch die Nennung der Namen Kolmogorow oder Markow besonders angesprochen. 10.3.5 Kulturelle Integration Mathematik sollte als ein Kulturgut erfahren werden, vergleichbar mit anderen Gegenständen, deren Inhalte üblicherweise unter „Bildung“ subsumiert werden. Wenn es gelingt, Mathematik als integrierenden Bestandteil der Kultur zu erfahren, könnte vielleicht das oft beklagte unverhohlene Eingeständnis auch „gebildeter“ Menschen, wie schlecht sie in Mathematik gewesen seien, etwas hintangehalten werden. C. P. Snow, englischer Physiker und Romancier, hielt 1959 ein mehrfach zitiertes Referat mit dem Titel „The Two Cultures“. Darin stellte er besorgt fest, dass sich das geistige Leben der westlichen Gesellschaft in zwei entgegengesetzte Gruppen aufspalte: in die geisteswissenschaftliche Intelligenz und in die der Natur-wissenschaftler. Die Letzteren hätten „die Zukunft im Blut“, die Ersteren fühlen sich der Tradition verpflichtet, wollen an der überkommenen Kultur festhalten und seien damit „geborene Maschinenstürmer“. Damit gab er den alten Feindbildern Nahrung, und statt zum Dialog kam es zur Zementierung der wechselseitigen Vorurteile. Flegg sieht in der Geschichte der Mathematik eine Chance, dieses Auseinanderklaffen der beiden Kulturen hintanzuhalten (Flegg 1976, S. 307, Flegg 1978, S. 69) Die Geschichte der Mathematik könnte als gemeinsame Plattform für geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Interessen fungieren. Eine verstärkte Berücksichtigung der Geschichte der Mathematik im Unterricht könnte damit auch jenen Menschen (insbesondere SchülerInnen, aber auch fachfremden LehrerInnen), die sonst nur für humanistische Fächer Interesse zeigen, einen affektiven Zugang zur Mathematik eröffnen.

10.4 HINDERNISSE BEI DER PRAKTISCHEN REALISIERUNG MATHEMATIKHISTORISCHER UNTERRICHTSVORSCHLÄGE Die Idee, Geschichte der Mathematik stärker in den Unterricht einzubauen, ist nicht neu; bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden einige entsprechende Vorschläge gemacht. Betrachtet man andere Lehrplanreformvorschläge früherer Jahrzehnte, so sieht man, dass meist nur solche Änderungen tatsächlich vollzogen wurden, die ohne eine nennenswerte Änderung der Sichtweise von Mathematikunterricht in diesen integriert werden konnten. Solange ein neues Kapitel durch weitgehend kalkülhafte Aufgaben abgedeckt werden konnte, gab es keine prinzipiellen Probleme. Dort aber, wo solche Aufgaben von vornherein nicht gegeben bzw. nicht sinnvoll waren, wurden sie erfunden (z. B.: Bilde den Durchschnitt der Mengen der Buchstaben der Wörter „ANANAS“ und „MISSISSIPPI"!), oder die in dieses Konzept passenden Aufgaben setzten sich in einem evolutionsähnlichen Prozess durch und überwucherten die ursprünglichen Ziele (z. B.: Grenzwerte von Folgen mit rationalem Bildungsgesetz, logarithmische Gleichungen, Kurvendiskussionen, ...). Unterrichtsvorschläge aber, die nicht auf Kalkülniveau abgearbeitet werden können, fanden meist von vornherein keine Berücksichtigung und wurden wie so manche Präambel in Lehrplänen oder allgemeine Lehrziele des Mathematik-unterrichts als frommer, aber undurchführbarer Wunsch abgetan. Diesem verfahrensorientierten Mathematikunterricht liegt eine Ideologie zugrunde, derzufolge sich Mathematikunterricht als Summe von zu vermittelnden Rechenverfahren konstituiert. Man spricht von „Aufgabendidaktik“ (Lenné 1975, S. 50ff.). Diese Unterrichtsauffassung gestattet eine Kurzschrittigkeit, die zwar vom Standpunkt der Unterrichtsplanung sehr willkommen ist, aber nicht in der Lage ist, ein Gesamtbild von Mathematik, Einstellungen, Wertungen, ... zu vermitteln. Die Notwendigkeit, Noten geben zu müssen, und vor allem die oft einschneidenden Konsequenzen dieser Noten, führen zum Wunsch nach möglichst objektiven Beurteilungskriterien, die leicht und eindeutig zu begründen und zu rechtfertigen sind. Damit in Zusammenhang steht wieder die Ideologie, derzufolge Prüfungen durch eine entsprechend große Anzahl an Übungsaufgaben (nachweislich!) vorbereitet werden müssen, wobei aber nach Ansicht vieler LehrerInnen diese Übungsaufgaben den Prüfungsaufgaben nicht zu unähnlich, aber diesen auch nicht gleich sein dürfen. Diese Anforderungen werden vom den üblichen Kalkülaufgaben in idealer Weise erfüllt – womit sich der Kreis wieder schließt. Selbst einschneidende Reformversuche wie etwa die der Sechzigerjahre haben am Stil des Mathematikunterrichts kaum etwas verändert; umgekehrt hat aber die Macht der Tradition des Mathematikunterrichts es zuwege gebracht, die

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intendierten Ziele dieser Reformen in sein vorhandenes Korsett zu zwängen und damit zu pervertieren. Die Versuche, (mehr) Geschichte der Mathematik im Unterricht einzubauen, stehen nun vor demselben Problem. Bejaht man aber die Frage, ob es ein Ziel des Mathematikunterrichts sein soll, historisches Wissen zu vermitteln, so stellt sich das Problem, ob historische Inhalte in die Leistungsbeurteilung miteinbezogen werden sollen. Diese Frage wird von der überwiegenden Mehrheit von LehrerInnen bzw. LehramtsstudentInnen – z. T. vehement – verneint. Im Gegensatz dazu vertrete ich die These: Wenn Geschichte der Mathematik über eine marginale Rolle im Unterricht hin-ausgehen soll, so muss sie auch in der Leistungsbeurteilung (im weitesten Sinn des Wortes) berücksichtigt werden. Dies gilt nicht nur für die Geschichte der Mathematik, sondern allgemein: „Die meisten Ziele des Mathematikunterrichts, gleichgültig welcher Rich-tung, können überdies nur dann befriedigend umgesetzt werden, wenn es gelingt, sie in den (leidigen) Prüfungsbetrieb und in die Leistungsbeur-teilung zu integrieren. Prüfungsbeispiele müssen die Schwerpunktset-zungen des Unterrichts spiegeln.“ (Reichel 1991b, S. 158) Oder pointierter: Der Schwanz wedelt mit dem Hund. Die dabei häufig genannte Alternative, nämlich Geschichte der Mathematik zu forcieren, ohne diese in die Leistungsbeurteilung miteinzubeziehen, stößt auf folgendes Problem: Insbesondere schwächere SchülerInnen (und deren Eltern) opponieren häufig gegen ein solches „Abschweifen vom Wesentlichen“ und „Vernachlässigen des Übens der alles entscheidenden prüfungsrelevanten Auf-gaben“. Aber: das Wesentliche – was immer das ist – wird erst dazu gemacht, indem man ihm bei der Leistungsbeurteilung dieses Gewicht beimisst! Man sollte aber das Thema Leistungsbeurteilung auch einmal von der anderen Seite betrachten: wenn ein Schüler / eine Schülerin sich einen bestimmten Stoff aneignet (oder auch nur durch Aufmerksamkeit behält), so hat er m. E. ein Recht darauf, dass dieses Wissen bei der Leistungsbeurteilung berücksichtigt wird. Häufig wird das Argument vorgebracht, dass kalkülhafte Aufgaben die einzige Chance für schwächere SchülerInnen darstellen. Obwohl ich dies in vielen Fällen schlechtweg für eine billige Ausrede und einen Vorwand für anspruchslosen und leicht vorbereitbaren Unterricht halte, stelle ich die These auf, dass es sinnvoller wäre, diesen SchülerInnen eine möglichst breite Palette von Möglichkeiten, Leistungen nachzuweisen, anzubieten. Z. B.: Referate über

verschiedene Themen (nicht nur historische), schriftliche Ausarbeitungen, Herstellen von Querverbindungen zu anderen Fächern, ... In anderen Fächern ist eine solche breitere Palette schon viel häufiger anzutref-fen. In Physik ist es durchaus üblich, bei Prüfungen sowohl Rechnungen, Ablei-tungen, verbale Beschreibungen und dabei auch historische Themen zuzulas-sen (Weltbild der modernen Physik, geozentrisches/heliozentrisches Weltbild, Entwicklung der naturwissenschaftlichen Methode u. Ä.). 10.5 PRÄSENTATIONSFORMEN VON GESCHICHTE DER MATHEMATIK IM UNTERRICHT 10.5.1 Anekdoten Von LehrerInnen wird sehr häufig der Wunsch nach einer Sammlung von Anekdoten geäußert, die – insb. zur Auflockerung und zur Motivation – an passenden Stellen in den Unterricht eingebaut werden können. Als geradezu klassisches und vorbildhaftes Beispiel für solche Anekdoten wird dabei jene über die Entdeckung der Summenformel für endliche arithmetische Reihen durch C. F. Gauß genannt. Es gibt zwar viele mathematikhistorische Anekdoten, aber kaum welche, die – wie die oben erwähnte – in einem engen Konnex zu einem schulrelevanten Inhalt (im engsten Sinn des Wortes) stehen. Die meisten beschreiben eher Einstellungen oder Wertungen von einzelnen Mathematikern oder einer bestimmten Epoche. Allgemein kann zum „Wert“ dieser Anekdoten – abgesehen von ihrer Bedeutung als Auflockerung des Unterrichts – gesagt werden, dass man dabei wenigstens einmal gesprächsweise die Namen bedeutender (insb. auch österreichischer) Mathematiker kennen lernt. Außerdem erahnt man die z. T. starke emotionale Bindung vieler Mathematiker zu ihrem Fach. Einige Anekdoten haben teilweise biographischen Charakter, z. B. über Evariste Galois, über Pythagoras, über Tartaglia u. a. (Vgl. etwa Wussing/Arnold 1989; auch in populärwissenschaftlichen Werken wie etwa Karlson 1954 findet sich viel Anekdotisches.) Es besteht hier ein gleitender Übergang zu Biographien, sodass Anekdoten auch als Anregung zu einer intensiveren Beschäftigung mit den betreffenden Persönlichkeiten und damit mit Mathematikgeschichte dienen können. Ein paar Anekdoten findet man am Ende dieses Kapitels. 10.5.2 Historische Kurzinformationen Neben solchen Anekdoten könnten aber auch schon einzelne eingestreute Sätze, wie etwa: „Descartes bezeichnete die negativen Zahlen als ,falsch‘ und vermied ihren Gebrauch“ oder „Gauss hatte einen Horror vor dem Unendlichen“ (zitiert nach Jones 1978, S. 60) zum Nachdenken und Diskutieren über

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Mathematik und Mathematiker sowie über Wissens- und Wissenschaftsentwicklung anregen. Weiters sei noch erwähnt, dass auch bloße (größenordnungsmäßige) Zeitangaben manchmal interessante Fragen aufwerfen können. Z. B.: Parabelquadratur durch Archimedes (3. Jht. v. Chr.) – Beginn einer systematischen Entwicklung der Integralrechnung (17./18. Jht.): diese lange Zeitspanne gibt zu denken; was passierte in diesen 2000 Jahren? War diese Zeit wissenschaftsfeindlich? Wozu betrieb man Wissenschaft? Wer? Wo? Wie? Was bewirkte den Umschwung? ... Solche Bemerkungen könnten u. U. auch Ausgangspunkt für eine intensivere Beschäftigung mit dem betreffenden Thema sein. 10.5.3 Mathematische Zeitgeschichte Der übliche Mathematikunterricht suggeriert ein Bild einer starren, unveränderlichen Mathematik. Insbesondere gibt es in einem solchen Unterricht keine Möglichkeit, neue mathematische Entwicklungen zu thematisieren, da nur verfahrensmäßig Einübbares als im Unterricht behandelbar angesehen wird. (Vgl. Kapitel 4!) Um Mathematik als eine sich mehr denn je entwickelnde Wissenschaft erfahrbar zu machen, müsste man sich von der beschriebenen Ideologie – wenigstens teilweise – lösen und auch Themen zulassen, die einer verfahrensmäßigen Behandlung nicht zugänglich sind. Ebenso wie es in Physik üblich ist, die Grundgedanken der allgemeinen Relativitätstheorie oder der Quantenmechanik verbal zu vermitteln (und dies bei der Prüfung zu verlangen), sollte man auch in Mathematik entsprechende neuere Entwicklungen in dieser Art, also rein phänomenologisch, im Unterricht einbauen und so auf diese Weise einen Beitrag zur „Zeitgeschichte der Mathematik“ liefern: Beispiele: Nonstandard Analysis (siehe Kapitel 12.4) Kontinuumshypothese (Kapitel 14.1) Gödels Unvollständigkeitssatz (Kapitel 14.2) Fuzzy-Mengen, Fuzzy-Geometrie, Fuzzy-Logik (Kapitel 14.3) Der Beweis des „Großen Satzes von Fermat“ (Kapitel 14.4) Vier-Farben-Satz; Computerbeweise (Kapitel 14.5) Computertomographie, Radon-Transformation (Kapitel 14.6) Codierungstheorie, Kryptographie (Kapitel 14.7) Fraktale (Kapitel 13.13) Chaostheorie (vgl. Kirchgraber 1992) Industriemathematik (vgl. Maaß/Schlöglmann 1992)

Die phänomenologische Methode beschränkt sich natürlich nicht notwendigerweise auf die neueren Entwicklungen der Mathematik. Auch bereits „etablierte“ mathematische Teilgebiete könnten auf diese Weise den SchülerInnen (insbesondere gegen Ende der Sekundarstufe II) ansatzweise nahe gebracht werden; z. B.: Was ist das Lebesgue‘sche Integral? Wodurch unterscheidet sich dieser Begriff von dem bisher im Unterricht behandelten Integral? Was ist Maßtheorie? Warum wird sie oft in Zusammenhang mit Wahrscheinlichkeitstheorie genannt? Was ist Topologie? Mit welchen Fragen beschäftigt sie sich? U. v. a. 10.5.4 Vermittlung historischer Fakten via Rechenaufgaben Um auch im Rahmen eines aufgabenorientierten Mathematikunterrichts die Mathematikgeschichte zu forcieren, könnte man historische Problemstellungen und Lösungsmethoden in den Unterricht einbauen. Jede solche Aufgabe bzw. das durch sie vermittelte, wenn auch punktuelle Wissen könnte als „Konden-sationskern“ für eine intensivere Beschäftigung und ein umfassenderes historisches Wissen fungieren. Einige Beispiele sollen diese Möglichkeit illustrieren: schulmathematischer Inhalt historische Aufgabe a) Dezimalsystem Zahlsysteme der Ägypter und Babylonier b) Grundrechenalgorithmen Ägyptische Multiplikation und Division c) Bruchrechnen Ägyptische Bruchdarstellung d) lineare (Text-)Gleichungen Hau-Rechnungen der Ägypter e) ähnliche Dreiecke Berechnung des Erdumfanges durch Eratosthenes, Methoden zur Lösung der Winkeldreiteilung und der Würfelverdoppelung f) Kreis und Kreisteile Approximation von im Laufe der Zeiten, Möndchen des Hippokrates g) Aufstellen von Formeln (vollständige Induktion) Figurierte Zahlen h) quadratische Gleichungen Methode des Alkhwarizmi i) komplexe Zahlen komplexe Zahlen bei Cardano und Bombelli j) Kegelschnitte Delisches Problem der Würfelverdoppelung, Kreismethode des Descartes k) Differentialrechnung Extremwertmethode des Fermat, Parabeltangente nach Fermat, Leibniz‘sche Symbolik (Differentiale) l) Integralrechnung Cavalieri‘sches Prinzip, Cavalieris Indivisibilien

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Literaturhinweise: ad a: Barthel 1986; Kaiser/Nöbauer 1984, S. 77ff. ad b: Kaiser/Nöbauer 1984, S. 78–80 ad c: Barthel 1986; Kaiser/Nöbauer 1984, S. 78–80 ad d: Kaiser/Nöbauer 1984, S. 100f.; vgl. auch Wagenschein 1962, S. 88 ad e: Führer 1992, S. 129, Kaiser 1985, Kaiser/Nöbauer 1984, S. 130ff., S. 98–100; Priestley 1979, S. 40f. ad f: Ebbinghaus et al. 1992, S. 100–106; Engels 1977, Großer 1985; Kaiser/Nöbauer 1984, S. 145–148, 162–166; Kroll 1982; Mäder 1989 b; Wagner 1989; Wiesenbauer 1976 ad g: Wussing 1965, S. 83ff. ad h: Kronfellner/Peschek 1990, S. 5; Mäder 1989a ad i: Bürger et al. 1991, S. 308–310 ad j: Kapitel 13.1; Kaiser/Nöbauer 1984, S. 187; Reichel 1991a ad k: Kapitel 12 ad l: Bürger et al. 1992, S. 64, 65 Auch wenn der Einbau historischer Aufgaben im Unterricht der traditionellen Unterrichtsauffassung noch am ehesten entspricht, so ist dennoch eine Loslösung von einer weit verbreiteten Unterrichtstradition notwendig: es wäre unsinnig, den SchülerInnen von einer historischen Aufgabe zwecks Einübung weitere mehr oder weniger modifizierte Versionen vorzusetzen. Wenn man sich für die Darbietung solcher historischen Aufgaben entscheidet und diese (hoffentlich) auch in der Leistungsbeurteilung berücksichtigen will, so ist wohl nur die Rekapitulation der dargebotenen Version, nebst entsprechender inhaltlicher und historischer Argumentation, sinnvoll. Dies gilt allerdings nicht nur für den Fall historischer Inhalte: bei vielen anderen Gebieten sollten sich LehrerInnen gründlich überlegen, ob sie nur wegen des Fehlens von Übungsmöglichkeiten an Analogaufgaben ein interessantes Thema als nicht schulrelevant bzw. ununterrichtbar abtun; Beispiele dafür sind etwa das Beweisen oder das Bilden konkreter mathematischer Modelle. 10.5.5 Texte über die Entwicklung mathematischer Teilgebiete In Lehrbüchern findet man in zunehmendem Maße Passagen zu historischen Themen. Während in den Unterrichtswerken der Sekundarstufe I meist nur jeweils einige Sätze eingestreut sind, gibt es in Büchern für die Sekundarstufe II häufig eigene Kapitel zur Entwicklung eines mathematischen Teilgebiets, manchmal im Ausmaß von mehreren Seiten, meist im Anschluss an die herkömmliche Erarbeitung des betreffenden Teilgebietes. Z. B.: Entwicklung des Funktionsbegriffes: Bürger et al. 1989, S. 147–149 Historisches zur Trigonometrie: Bürger et al. 1990, S. 58–59 Geschichtliche Bemerkungen (zur Potenzrechnung): Reichel et al. 1990, S. 43–44

Historischer Rückblick (zu Logarithmen): Reichel et al. 1990, S. 231–232 Historisches zur Differentialrechnung: Bürger et al. 1991, S. 109–112 Historisches zur Integralrechnung: Bürger et al. 1992, S. 60–67 Entwicklung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs: Barth/Haller 1985, S. 70–82 Biographische Notizen: Barth/Haller 1985, S. 394–427 Einblicke in die Geschichte der Infinitesimalrechnung: Degen 1977b, S. 178–184 Geschichtliches zur Geometrie: Reidt/Wolff/Athen 1965, S. 254–262 u. Ä. Diese Abschnitte werden zwar von LehrerInnen – wie oft glaubhaft versichert wird – gerne und mit Interesse gelesen, haben aber nach Aussage derselben LehrerInnen keinen Einfluss auf deren Mathematikunterricht. (Ähnliche Erfahrungen konnten mehrfach mit LehrerInnenfortbildungsseminaren zu historischen Themen gemacht werden.) Der Grund ist wieder in der schon mehrfach erwähnten Unterrichtsideologie zu sehen, derzufolge der Mathema-tikunterricht nahezu ausschließlich im Abarbeiten von Aufgaben besteht, sondern auch – als Folge davon – darin, dass das Schulbuch praktisch ausschließlich als Aufgabensammlung benutzt wird. Es sind also nicht nur his-torische Themen kein Ziel des Mathematikunterrichts, sondern auch das Arbeiten mit (mathematischen) Texten, allgemein mit Fachliteratur sowie das Gewöhnen der SchülerInnen an ein eigenständiges Arbeiten werden von den meisten LehrerInnen nicht explizit und bewusst als Ziel ihres Unterrichts verfolgt. Dabei wäre es meist einfacher, die SchülerInnen anhand von histo-rischen Passagen oder anderer „Lesestoffe“ (z. B. reflektierende Betrachtungen über die Existenz bestimmter mathematischer Objekte, vgl. etwa Kronfellner/Peschek 1990, S. 29ff., Kronfellner/Peschek 1992, S. 77ff.) an das eigenständige Arbeiten mit Büchern zu gewöhnen als anhand des Durchdenkens eines mathematischen Inhalts im engeren Sinn (wie etwa Algo-rithmen, Rechenschemata, Beweise, Erarbeitungen mathematischer Begriffe, ...). 10.5.6 Längsschnitte – Vernetzungen Die zuvor erwähnten historischen Abschnitte in Schulbüchern sind praktisch immer im Zuge der begrifflichen und algorithmischen Aufarbeitung eines entsprechenden mathematischen Inhalts angesiedelt. Die innermathematische Systematik wird dabei nicht verlassen. Die innermathematische Systematik führt aber oft zu unverbundenen Wissensbrocken („Schubladendenken“) (obere Abbildung). Um zu einer stärke-ren Vernetzung (untere Abbildung) zu gelangen, ist es notwendig, die

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Dominanz der einen Systematik aufzuweichen und (mindestens) eine weitere Systematik (im Ansatz) zuzulassen bzw. zu verwenden. In anderen Schulfächern wird in zunehmendem Maße das Aufweichen der jeweils dominierenden Fachsystematik propagiert: im Geschichtsunterricht etwa soll die dominante chronologische Systematik in vermehrtem Maße durch die Behandlung von Längsschnitten er-gänzt werden, d. h. durch die Bearbeitung des-selben Themas in verschiedenen Zeitepochen. (Vgl. BMUKS 1987b, S. 1!) Im Physikunterricht der 6. Schulstufe lässt man sich – insb. zu Beginn – nicht von einer traditionellen Physik-Systematik einengen, sondern bespricht verschiedenste physikalische Effekte des täglichen Lebens. (Vgl. Lehrplan 1985, S. 218: „Begegnung mit Physik im Alltag“) In anderen Fächern war auch schon bisher das Verlassen der jeweils dominierenden Systematik unumgänglich (z. B. Musik: Musikgeschichte – Formenlehre, analog Deutsch, u. s. w.) Ein Beispiel für einen solchen Längsschnitt: Kronfellner: Kurven: Von den Kegelschnitten der griechischen Antike zur fraktalen Geometrie. Ein Beispiel für einen Längsschnitt. Didaktikhefte der Österreichischen Mathematischen Gesellschaft, Heft 29, 1998, S. 99 - 111 Weitere mögliche Themen: Die Entwicklung des Zahlbegriffs (vgl. Gericke 1970, Kaiser 1986, Reichel 1991c, Karlson 1954, S. 11–93) Das Lösen von Gleichungen: Die Geschichte der Algebra von der Hau-Rechnung der Ägypter bis zum abstrakten Gruppenbegriff (vgl. Karlson 1954, S. 176–230, Kaiser/Nöbauer 1984, S. 100–121, Mäder 1989a, 1992, Friedelmeyer/Volkert 1992, Scholz 1990) Primzahlen und Teilbarkeit von der Antike bis heute (vgl. Breuer 1988, Holvoet 1979, Kaiser 1986) Die Entwicklung der mathematischen Symbolik (vgl. Plane 1990) Rechenhilfsmittel (vgl. Kaiser/Nöbauer 1984, S. 29f., 37ff., 43f., 72f.) Beweisen und Exaktheit im Wandel der Zeiten (vgl. Kaiser/Kronfellner, Kleiner 1991) Die drei klassischen Probleme der Antike – Unmöglichkeitsbeweise (vgl. Kapitel 13; Jacobs 1987, S. 8ff., Scriba 1987, Kaiser/Nöbauer 1984, S. 148–150)

Die Entwicklung der nichteuklidischen Geometrien (vgl. Chabert 1992, Eves 1981, S. 63–87, Lorenzen 1985, Meschkowski 1991, S. 40–56, Schönbeck 1989, Schneider 1987, S. 153–163) Das Unendliche (vgl. Brieskorn 1974, S. 267ff., Courant/Robbins 1967, S. 62ff., Guilletmot/Daumas 1992, Lauwerier 1993, Maor 1991, Moreno/Waldegg 1991) Die Rolle der Anschauung (vgl. Volkerts 1992) u. s. w. Solche Themen können entweder in Form von Referaten oder schriftlichen Ausarbeitungen (vgl. Wagenschein 1962, S. 24!) den SchülerInnen, einzeln oder in Gruppen, aufgegeben werden. Themen dieser Art sind auch für Vorwissenschaftliche Arbeiten, für Ausarbeitungen im Zuge der Vorbereitung auf die mündliche Mathematikmatura sowie als Themen im Rahmen des Wahlpflichtfaches Mathematik geeignet. Da solche Längsschnitte teilweise „quer“ zur üblichen schulmathematischen Fachsystematik liegen, und daher über einen größeren Zeitraum verstreute Themen des Mathematikunterrichts betreffen, ist eine langfristige Unterrichtsplanung, zumindest ein „im Auge behalten“ dieser Möglichkeit notwendig. Auch sollten die SchülerInnen möglichst früh und behutsam an solche Aufgaben herangeführt werden. 10.5.7 Vermittlung historischen Wissens mittels (langfristiger) Unterrichtsplanung Historisches Wissen (in Ansätzen) kann auch durch einen (längerfristig geplanten) Unterricht vermittelt werden, der sich mehr oder weniger an der Entwicklung des betreffenden Begriffes oder Teilgebietes orientiert. (Toeplitz: „indirekte genetische Methode“) In diesem Falle eines historisch-genetischen Unterrichts „genügt“ dann prinzipiell der Hinweis, dass auch in der Geschichte der Ablauf (in etwa) so gewesen sei, um eine erste Idee einer historischen Entwicklung nahe zu bringen. (Toeplitz: „direkte genetische Methode“) (Vgl. Kap. 5: entwicklung des Funktionsbegriffs) 10.5.8 Fächerübergreifender Unterricht Es gibt z. T. extreme Auffassungen von fächerübergreifendem Unterricht: eine „enge“ Auffassung besagt etwa, dass fächerübergreifender Unterricht nur dort sinnvoll ist, wo ein einzelnes Unterrichtsfach bzw. dessen LehrerIn allein prinzipiell nicht in der Lage ist, ein gestecktes Unterrichtsziel zu erreichen. Ich neige eher zu einer möglichst weiten Auffassung: Fächerübergreifender Unterricht beginnt bereits damit, die Ziele anderer Fächer nicht gering zu schätzen, sondern sie als gleichwertig denen des eigenen

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Faches zu betrachten und, wo immer möglich, einen (und wenn auch nur kleinen) Beitrag in Richtung dieser Zielsetzungen zu leisten. Einige mögliche Themen für einen fächerübergreifenden Mathematikunterricht: Entwicklung von Gesellschaftssystemen (insb. in Ur- und Frühgeschichte) und – in Abhängigkeit davon – von Mathematik (Zahlen, Zahlensysteme, Rechenhilfsmittel; vgl. etwa Damerow/Lefèvre 1981; Karlson 1954, S. 94–175, Struik 1972, Wussing 1979) Das antike Griechenland; die Geburtsstunde der wissenschaftlichen Mathematik (Kropp 1968, Schönbeck 1988; van der Waerden 1966, Wussing 1979) Entdeckungsreisen und die Bedeutung der Mathematik für diese (Kaiser 1985) Ausbreitung des Islam – Verbreitung mathematischer Kenntnisse Renaissance, Barock, Aufklärung und der Aufschwung der Naturwissenschaften und der der Mathematik (insb. der Analysis; vgl. Kapitel 11.5!) u. v. a. Ebenso gibt es im Geschichtsunterricht Gelegenheiten zum Einbau mathematikhistorisch interessanter Fakten, etwa: Babylonier: Sexagesimalsystem (in unseren Zeit- und Winkelmaßen noch präsent!) Geschichte des Römischen Reiches: in Süditalien waren um 500 v. Chr. die Pythagoräer auch politisch aktiv. im 3. Jht. v. Chr.: Punische Kriege – Archi-medes' Beitrag zur Verteidigung der Stadt Syrakus Karl der Große: Palastschulen Italienische Stadtstaaten im 12. und 13. Jahrhundert: Geldwesen, Leonardo von Pisa, arabische Ziffern Arabischer Einfluss in Europa gegen Ende des ersten Jahrtausends: Übersetzerschulen in Nordspanien Universitäten im Mittelalter: Führende Rolle der Wiener Universität auf dem Gebiet der Mathematik im 15. Jahrhundert (Johannes von Gmunden, Georg von Peuerbach, Regiomontanus) Rechenmeister und die Popularisierung mathematischen Wissens (Adam Ries u. a.; vgl. etwa Wussing 1979, S. 126ff.) Europa in der nachnapoleonischen Zeit: Gauß' geodätische Vermessungen (die den Ausgangspunkt der Differentialgeometrie bildeten) erfolgten im Auftrag der Hannoveraner Regierung (vgl. Mainzer 1982, S. 259f.)

In Physik sollte man bei der Nennung der Namen Demokrit, Archimedes, Torricelli, Kopernikus, Kepler, Newton, ... auch deren mathematische Leistungen erwähnen. (Mathematik und Physik waren zu deren Zeiten noch nicht so strikt getrennte Wissenschaften wie heute.) Bei Schwingungen bietet sich das Eingehen auf die Pythagoräer und ihre Musiktheorie an. Die Besprechung des heliozentrischen Weltbildes und der Vorstellungen über die Gestalt der Erdkugel könnte durch die Bestimmung des Erdumfangs durch Eratosthenes bereichert werden. (Vgl. Kapitel 2!) Bei der Atomtheorie könnte der Konnex zu den Anfängen der Infinitesimalrechnung hergestellt werden: Demokrit ist nicht nur ein Vorläufer einer physikalisch-atomistischen Auffassung, sondern fand auf ähnlichen Überlegungen aufbauend „infinitesimale“ Begründungen für Lehrsätze über die Volumina von Kegel und Pyramide. Im Gegenstand Philosophie kann man bei der Besprechung der Leistungen des Aristoteles auf dessen Logik, deren Auswirkung auf den Wissenschaftsbegriff, die Konkretisierung in Euklids „Elementen“, sowie deren nachhaltigen Einfluss auf die Mathematik bis in die heutige Zeit eingehen. Ganz allgemein: Eine der wesentlichsten Aufgaben des Gegenstands Philosophie als „wissenschaftspropädeutische Ausbildung ... besteht darin, dass in ihm auch Grundfragen der Einzelwissenschaften thematisiert werden.“ (Steiner 1982, S. 61) In Griechisch sollten auch Auszüge aus Euklid gelesen werden. Bei aller Wert-schätzung für Homer ist nicht einzusehen, warum dieser oft insgesamt über ein Jahr lang gelesen wird, während Euklids „Elemente“, das nach der Bibel in der Kulturgeschichte des Menschen wahrscheinlich bedeutendste Buch, überhaupt keine Erwähnung findet. In früheren Jahrhunderten wurden Publikationen, auch mathematische, in latei-nischer Sprache verfasst. (Oresme, Newton, Kepler, Euler, u. v. a.) Sie könnten – und sollten – bei der Behandlung mittel- und spätlateinischer Texte im Latein-unterricht berücksichtigt werden. (Siehe etwa van Maanen 1995) In der Form des Goldenen Schnittes und der Perspektive hatte die Mathematik auch Einfluss auf die Kunst. Außerdem gibt es eine Reihe von Persönlichkeiten, von denen viele nicht wissen, dass sie sich auch mit Mathematik („hobbymäßig“) beschäftigt und gelegentlich mathematische Ergebnisse beigesteuert haben. Z. B.: Albrecht Dürer schrieb 1525 eine „Underweysung der messung mit dem Zirkel und richtscheyt“ (darin ist eine Näherungskonstruktion für die Winkeldreiteilung enthalten; vgl. Stowasser 1983). Paganini entdeckte, dass die Zahlen 1184, 1210 befreundete Zahlen sind. Der 20. Präsident der USA, James Garfield, fand einen Beweis für den pythagoräischen Lehrsatz. (Vgl. Kaiser/Nöbauer 1984, S. 127)

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10.5.9 Vorwissenschaftliche Arbeiten Als Thema für Vorwissenschaftliche Arbeiten eignen sich m. E. vor allem Längsschnitte, aber auch fächerübergreifende Themen oder auch Biographien. 10.5.10 Ein paar Anekdoten Wenn schon Anekdoten bei LehrerInnen zu den begehrtesten Präsentationsformen von Geschichte der Mathematik zählen, sollen auch hier der Vollständigkeit halber einige angeboten werden. Allen voran soll die berühmteste Anekdote in einer etwas ausführlicheren Form stehen. In der Braunschweiger Katharinen-Volksschule stellte Lehrer Büttner die Aufgabe, die Zahlen von 1 bis 60 zu addieren. Wer sie gelöst hatte, sollte seine Schiefertafel auf den Lehrertisch legen, Tafel auf Tafel; damit war ersichtlich, in welcher Reihenfolge die Schüler zu dem richtigen Ergebnis gelangt waren. Doch kaum war die Aufgabenstellung ausgesprochen, legte der neunjährige Carl Friedrich Gauß die Tafel auf den Tisch und sagte etwas verlegen: „Ligget se!“ (Da liegt sie!) Lehrer Büttner wollte schon verärgert zum Rohrstock greifen, hatte aber schließlich Mitleid mit dem zarten Knaben. Nach vielen Minuten war der Stoß der Schiefertafeln komplett. Der Lehrer nahm die unterste Tafel und staunte, als er nur das richtige Ergebnis „1830“ darauf vorfand. Hatte Gauß das Ergebnis erraten? Oder zufällig schon gekannt? „Wie kommst du auf dieses Ergebnis?“ Gauß erklärte, dass er sich die Zahlen von 1 bis 30 von links nach rechts angeschrieben vorgestellt habe und darunter, von rechts nach links die Zahlen von 31 bis 60. Zwei übereinanderstehende Zahlen ergaben als Summe 61. Und 30 mal 61 ergibt 1830. Nicht nur Gauß' Name, sondern auch der des Lehrers sowie die Worte „Ligget se“ gingen in die Wissenschaftsgeschichte ein. Büttner besorgte Gauß ein Mathematikbuch und sorgte sich um das mathematische Talent des Knaben. Bereits nach wenigen Wochen musste Büttner eingestehen, Gauß könne von ihm nichts mehr lernen. (Ahrens 1916, S. 2–6) Es gibt zwar viele mathematikhistorische Anekdoten, aber kaum welche, die – wie die oben erwähnte – in einem engen Konnex zu einem schulrelevanten Inhalt (im engsten Sinn des Wortes) stehen. Die meisten beschreiben eher Einstellungen oder Wertungen von einzelnen Mathematikern oder einer bestimmten Epoche. Einige Beispiele: Euklid soll von König Ptolemaios I nach einer bequemen Methode, Geometrie zu lernen, gefragt worden sein. Der antwortete: „Es gibt keinen Königsweg zur Geometrie.“ (van der Waerden 1966, S. 322)

Als ein Schüler nach relativ kurzem Studium geometrischer Sätze fragte, was er mit diesem Wissen verdienen kann, befahl Euklid einem Sklaven: „Gib ihm drei Obolen, denn der arme Mensch muss Geld verdienen mit dem, was er lernt.“ (van der Waerden 1966, S. 322) Bemerkungen: 1. Diese Anekdoten werden auch anderen Mathematikern der griechischen Antike zugeschrieben. 2. Ebenso interessant wie die Anekdoten selbst sind deren „ideologische Ausschlachtungen“ durch spätere AutorInnen. Während etwa Schönbeck 1989 die erste Anekdote als Ausdruck einer demokratischen Einstellung der Griechen empfindet, die sich hier in der Gleichheit aller Menschen manifestiert, wird in dem noch der kommunistischen Ideologie verpflichteten Buch von Wussing 1965 die zweite Geschichte als Hinweis auf die „Sklavenhaltergesellschaft“ und die Arroganz der Aristokratie bezeichnet. Neider versuchten, Pythagoras' Verdienst dadurch zu schmälern, dass sie seine Leistung auf Eingebungen der Götter zurückführten. Dementsprechend nötigten sie Pythagoras, als Dank für eine Idee zwanzig Ochsen zu opfern. Pythagoras wagte es nicht als gottlos dazustehen und fügte sich. Danach soll er gesagt haben: „Fortan müssen Ochsen vor jeder neuen Erkenntnis zittern.“ (Oetzel/Polte, S. 11) Dies wird auch als der wahre Grund dafür angesehen, dass die Pythagoreer, ein von Pythagoras gegründeter Geheimbund mit einer gewissen Ähnlichkeit zu einer religiösen Sekte, zur Geheimhaltung von neuen Erkenntnissen verpflichtet waren. Hippasos etwa geriet nach dem Tod des Pythagoras mit dem Bund der Pythagoreer in Konflikt, weil er Erkenntnisse zum Teil auch an Nicht-Pythagoreer weitergab. Er wurde aus dem Bund ausgestoßen und kam später bei einem Schiffbruch ums Leben. Die Pythagoreer betrachteten dies als Strafe für seinen Frevel. Isaac Newton wird als einfacher, bescheidener Mensch beschrieben. Wenn man ihn lobte, verwies er darauf, dass seine Erkenntnisse und Entdeckungen „nur“ die Vollendung von Arbeiten darstellen, die andere vor ihm begonnen hatten: „Wenn ich weiter als die meisten Menschen sehe, liegt das nur daran, dass ich auf den Schultern von Giganten stehe.“ (Heindl/Higatsberger 1982, S. 16) Der französische Mathematiker und Astronom Pierre Simon de Laplace hatte ein Werk über Himmelsmechanik veröffentlicht. Napoleon gratulierte: „Ein großartiges Werk, Marquis! Aber warum kommt in dem Buch über den Himmel das Wort Gott überhaupt nicht vor?“ Darauf soll Laplace geantwortet haben: „Dieser Hypothese bedurfte ich nicht!“ (Oetzel/Polte, S. 40)

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D'Alembert war einmal in eine Gesellschaft junger Aristokraten geraten, die sich mit ihren amourösen Abenteuern brüsteten. Nach einiger Zeit sagte er: „Meine Herren, als ich so alt war wie Sie, war meine Mätresse die Mathematik!“ (Heindl/Higatsberger 1982, S. 17) Professor F. N. Cole von der University of Columbia hielt im Oktober 1903 auf einer Tagung der American Mathematical Society einen „Vortrag“ mit dem Titel „On Factorization of Large Numbers“. Der als sehr schweigsam bekannte Cole berechnete, ohne ein Wort zu sprechen, die Zahl 2 167 (die so genannte 67. Mersenne‘sche Zahl): 2 167

= 147 573 952 589 676 412 927 Danach berechnete er das Produkt 193 707 721 761 838 257 287 und erhielt dasselbe Ergebnis wie oben. Großer Applaus setzte ein; die lang gesuchte Faktorisierung der 67. Mersenne‘schen Zahl war damit gefunden. Einige Jahre später erzählte Cole, dass ihn dieses Ergebnis „die Sonntage von drei Jahren“ gekostet habe. (Wiesenbauer 1986, S. 212; vgl. dazu auch „The Great Internet Mersenne Prime Search“, https://www.mersenne.org/) Der große Zahlentheoretiker Hardy besuchte seinen Kollegen Ramanujan im Spital und erwähnte, dass er mit einem Taxi mit der Nummer 1729 gekommen sei, und diese Zahl erscheine ihm als dumm. Darauf antwortete Ramanujan spontan: „Nein, im Gegenteil, denn 1729 ist die kleinste Zahl, die sich auf zwei verschiedene Arten als Summe zweier Kuben darstellen lässt.“ Derselbe Hardy soll einmal gesagt haben, ihn begeistere die Zahlentheorie deshalb so sehr, weil sie sicherlich nie anwendbar sein wird. Von dem Grazer Zahlentheoretiker Aigner behauptet man scherzhaft, aber treffend: Herr Aigner kennt jede Primzahl persönlich. Die Tochter des schon zu Lebzeiten berühmten österreichischen Mathematikers Johann Radon legte beim ebenso berühmten Edmund Hlawka eine Prüfung ab. Dieser fragte sie unter anderem über Maße. Sie beantwortete die Frage recht zufrieden stellend, nur ein Maß wollte ihr – trotz Hlawkas Drängen und Hilfen – nicht einfallen: das Radon-Maß. Bemerkungen: 1. Radon selbst verwendete in seinen Lehrveranstaltungen und Publikationen nie die Bezeichnung „Radon-Maß“.

2. Ein bewusstes Forcieren der Kenntnisse der Namen österreichischer Mathematiker könnte vielleicht bei SchülerInnen einen (partiellen) „Identifikationseffekt“ mit dem Fach Mathematik bewirken – entsprechend der Beobachtung, dass genau jene Sportarten in einer breiteren Öffentlichkeit präsent sind, in denen Österreicher zur Spitze gehören. Ch. Hermite schrieb 1893 in einem Brief an Stieltjes: „Ich wende mich mit Entsetzen und Schrecken ab von dieser bejammernswerten Plage von stetigen Funktionen, die überhaupt keine Ableitung besitzen.“ (Rüthing 1986, S. 15) Im Anschluss an einen Vortrag sagte Dedekind: „Ich stelle mir eine Menge vor wie einen geschlossenen Sack.“ Darauf richtete G. Cantor seine kollossale Figur auf und sagte (in Anspielung auf die durch die Antinomien entstandenen Probleme der Mengenlehre): „Eine Menge stelle ich mir vor wie einen Abgrund.“ David Hilbert wurde einmal von einer älteren Dame etwas umständlich über einen ehemaligen Mitarbeiter befragt. Als er wusste, wen sie meinte, sagte er: „Ach, den meinen Sie! Der ist längst nicht mehr bei mir. Der treibt sich irgendwo als Dichter und Philosoph herum. Für die Mathematik hatte er zu wenig Phantasie!“ Albert Einstein wurde einmal gefragt, warum er in seinem hohen Alter noch immer so oft am Institut (Institute for Advanced Studies in Princeton, USA) arbeitet. Er komme nur, sagte er, um das Privileg zu genießen, mit Kurt Gödel zu Fuß nach Hause gehen zu dürfen. (Oetzel/Polte, S. 77)