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Journal für Generationengerechtigkeit 11. Jahrgang · Ausgabe 2/2011 ISSN 1617-1799 Thema: Möglichkeiten und Grenzen kooperativer Problemlösungen in der Parteiendemokratie

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Journal fürGenerationengerechtigkeit

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Thema: Möglichkeiten und Grenzen

kooperativer Problemlösungen

in der Parteiendemokratie

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42 Journal für Generationengerechtigkeit11. Jahrgang · Ausgabe 2/2011

Die Gutachter dieser Ausgabe(in alphabetischer Reihenfolge):

Dieses Heft druckt die drei bestplatzierten Arbeiten des Genera-tionengerechtigkeits-Preises 2009/10 der SRzG ab, ergänztdurch zwei weitere, die die Redaktion ausgewählt hat. Die Aus-wahl der Preisträger erfolgte durch eine Fachjury ohne inhaltli-che Beteiligung der SRzG. Die Jury bestand aus Prof. Dr. FrankDecker (Universität Bonn), Prof. Dr. Eckhart Jesse (TU Chem-nitz), Prof. Dr. Uwe Jun (Universität Trier), PD Dr. Reichart-Dreyer (Freie Universität Berlin) und Prof. Dr. Josef Schmid(Universität Tübingen).

Prof. Dr. Frank Decker ist Professor am Seminar für PolitischeWissenschaft der Universität Bonn. Von März 2002 bis Juni2005 war er Geschäftsführender Direktor des Seminars.

Prof. Dr. Eckhard Jesse ist Professor an der TU Chemnitz, woer den Lehrstuhl für politische Systeme und politische Institu-tionen inne hat. Seit 2007 ist er Vorsitzender der DeutschenGesellschaft für Politikwissenschaft.

Prof. Dr. Uwe Jun ist Universitätsprofessor der Politikwissen-schaft für den emenbereich westliche Regierungssysteme unddas Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland an derUniversität Trier. Er ist Sprecher des Arbeitskreises Parteien derDeutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft.

PD Dr. Ingrid Reichart-Dreyer ist Privatdozentin am Fachbe-reich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien UniversitätBerlin (Otto-Stammer-Zentrum).

Prof. Dr. Josef Schmid ist Professor am Institut für Politikwis-senschaft der Universität Tübingen. Zurzeit bekleidet er dasAmt des Dekans der Wirtschafts- und SozialwissenschaftlichenFakultät.

Inhaltsverzeichnis

Thema: Möglichkeiten und Grenzen kooperativerProblemlösungen in der Parteiendemokratie

Editorial 3

Regieren in Krisenzeiten: Der Bundesrat im deutschen Bundesstaat. Verlängerter Arm der Parteizentralen oder Wahrer der Länderinteressen? 44von Mathias Bauer

Die Vetospielertheorie nach George Tsebelis am Beispiel der deutschen Parteiendemokratie. 49 von Lennart Grumer

Bedingungen generationengerechter Politik in der deutschen Parteiendemokratie –Formen direkter Demokratie als Blockadelöser? 54 von Dr. Eike-Christian Hornig

Dem Parteienwettbewerb die Beuteorientierung nehmen. Plädoyer für eine Direktwahl der Minister 59 von Volker Best

Deliberative Governancearenen. Die Überwindung kooperativer Problemlösungen in der deutschen Parteiendemokratie 65 von Mathias König und Wolfgang König

Rezensionen

Raymond Geuss:Kritik der politischen Philosophie – Eine Streitschrift. 70 Rezensiert von Franziska Plümmer und Hans-Ulrich Kramer

Silke Helfrich / Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter 72 Rezensiert von Verena Farhadian

Tim Jackson: Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt. Hans Diefenbacher / Roland Zieschank: Woran sich Wohlstand wirklich messen lässt. 74Rezensiert von Boris Kühn

ImpressumHerausgeber: Prof. Dr. Dr. Jörg Tremmel - JuniorprofessorInstitut für PolitikwissenschaftWirtschafts- und Sozialwissenschaftliche FakultätEberhard Karls Universität Tübingen Tel.: +49(0)7071-2975296Email: [email protected]: Jörg TremmelRedaktion: Verena Farhadian, Hans-Ulrich KramerLayout: Angela Schmidt, OblaDesignDruck: LokayDruck, Königsberger Str. 3, 64354 Reinheim

Das Journal für Generationengerechtigkeit (JfGG) erscheinthalbjährlich und publiziert Artikel, nachdem sie ein Peer-Re-view Verfahren durchlaufen haben. Das Editorial-Board setztsich aus 50 internationalen Experten zusammen, die auszehn verschiedenen Ländern stammen und neun Disziplinenrepräsentieren. Der Einzelpreis pro Heft beträgt 30 Euro. Die in das Heft eingestreuten Zitate wurden von der Redak-tion ausgewählt, nicht von den Autoren.Im Sinne einer geschlechtsneutralen Sprache wird im Heftdie männliche und die weibliche Wortform abgewechselt.

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usgabe 2/2011 dokumentiert den5. Generationengerechtigkeits-Preiszu dem ema „Möglichkeiten

und Grenzen kooperativer Problemlösungenin der deutschen Parteienlandschaft“.1 Ausallen Einsendungen wurden fünf (davon diedrei Preisträger Hornig, Best und die Brü-der König)2 ausgewählt, um sie einem grö-ßeren Publikum zugänglich zu machen.Die Aufgabenstellung des Preises war durch-aus komplex: Streit – wie auch immer defi-niert – gehört zu einer Demokratie dazu. „Jemehr Streit, desto höher die Qualität derDemokratie“ – das wäre allerdings eine ver-kürzte Formel. Denn zweifellos kann eineOpposition um der Opposition willen eineDemokratie lähmen. „Je weniger Streit,desto besser funktioniert die Demokratie“stimmt aber auch nicht, sonst wären wirschnell bei Einparteiensystemen angekom-men. Zwar gab es für den emenbereichmit Blick auf andere Länder wie etwa dieSchweiz mit ihrer Konkordanzdemokratiegenug empirische Rohmasse, doch solltensich die Beiträge auf das deutsche politischeSystem beziehen. Denn Deutschland hat einbesonders komplexes System der politischenEntscheidungsfindung, mit erheblichenVeto-Möglichkeiten für verschiedene Ak-teure. Bei entgegengesetzten Mehrheitenoder abweichenden Länderinteressen kannzunächst der Bundesrat die Gesetzesvorlagender Bundestagsmehrheit blockieren, schließ-lich kann das Bundesverfassungsgericht denDaumen senken und auch der Bundespräsi-dent weigert sich gelegentlich, ein Gesetz inKraft treten zu lassen. Dazu kommen noch,vor allem auf Landesebene, Elemente direk-ter Demokratie, die den Gesetzgebungspro-zess ebenfalls beeinflussen, gelegentlich auchstoppen. Noch nie wurde für den Generationenge-rechtigkeits-Preis ein so dezidiert politikwis-senschaftliches ema gewählt wie diesesMal. Laut Aufgabenstellung des Preises galtes, umsetzbare Lösungen für mehr Sachori-entierung und weniger Blockaden in derdeutschen Politik zu entwickeln. Damit, sodie Hoffnung, sei den Interessen heutigerWähler, als auch künftiger Generationenbesser gedient als mit kleinlichem Parteitak-tieren.Zwei der hier in gekürzter Form abgedruck-

ten Arbeiten beschäftigen sich mit der Rolledes Bundesrates in Deutschland. In seinemAufsatz Der Bundesrat - Verlängerter Arm derParteizentralen oder Wahrer der Länderinter-essen beschäftigt sich Mathias Bauer mit derFrage, ob der Bundesrat tatsächlich als ver-längerter Arm der Parteizentralen fungiertoder ob er seine Entscheidungen nicht weitstärker von Länderinteressen abhängigmacht, als dies vermutet wird. Bauer kommtin seiner Untersuchung zu dem Ergebnis,dass seit 1949 lediglich 2 Prozent der zustimmungspflichtigen Gesetzesvorlagenendgültig von der Länderkammer blockiertwurden, und resümiert folglich: „Das Vor-urteil von der Blockade-Institution Bundes-rat lässt sich somit anhand der Zahlen klarwiderlegen.“ Allerdings bringt die Regierungviele kontroverse Gesetze gar nicht erst ein,um so einer Abstimmungsniederlage zu ent-gehen.Einen anderen Ansatz wählt Lennart Gru-mer. In seinem Aufsatz Die Vetospielertheorienach George Tsebelis am Beispiel der deutschenParteiendemokratie testet er die in der Poli-tikwissenschaft sehr prominente Vetospie-lertheorie von Tsebelis an der deutschenWirklichkeit und kommt dabei zu dem Er-gebnis, dass sie einige Schwächen aufweist.Die eorie definiert ‚Vetospieler’ als jedenindividuellen und kollektiven Akteur, des-sen Zustimmung erforderlich ist, um im Be-reich der Legislative Veränderungen amStatus quo vorzunehmen. Tsebelis klassifi-ziert den deutschen Bundesrat als Vetospie-ler, berücksichtigt dabei aber laut Grumernicht, dass der Bundestag ein Veto des Bun-desrates bei Einspruchsgesetzen überstim-men kann.Eike-Christian Hornig geht in seiner Arbeitder Frage nach, ob bestimmte Formen di-rekter Demokratie als Blockadelöser wirkenkönnen. Nach seiner Darstellung changie-ren Parteien zwischen ‚problem-solving’ und‚bargaining’, was man wohl mit ‚sachorien-tiertem Problemlösen’ und ‚machtbestimm-ten bzw. taktischem Handeln’ übersetzenkann. Hornig systematisiert alle Formen vonVolksabstimmungen und kommt zu demErgebnis, dass vor allem obligatorische Re-ferenden parteipolitische Blockaden lösenkönnten. Sie sollen eine Entscheidung her-beiführen, wenn es für Verfassungsänderun-

gen zwar eine einfache, aber keine Zwei-Drittel-Mehrheit gibt.Ebenfalls das Volk befragen, aber in einemganz anderen Zusammenhang, möchte Vol-ker Best. Er benennt Reformvorschläge wiedas Schweizer Konkordanzmodell, die Ver-längerung der Legislaturperiode, die Zu-sammenlegung von Landtagswahlen undneue Abstimmungsregeln im Bundestag,und schlägt schließlich in seinem Artikel dieDirektwahl der Bundesminister vor, umdem Parteienwettbewerb die Schärfe zu neh-men. Dem Kabinett würden so wahrschein-lich stets Minister beider großer Parteienund nach Ansicht von Best auch der kleine-ren Parteien angehören. Da die direkt ge-wählten Minister nicht mehr von ‚ihren’Parteien gestützt werden müssten, würdensich Koalitionen entlang von sachlichen,nicht personellen Positionen bilden. Da sichdie Ministerdirektwahl nicht mit der Richt-linienkompetenz verträgt, plädiert Best fürdie Abschaffung des Amt des Bundeskanz-lers.Im letzten Beitrag dieses Heftes befassen sichMathias und Wolfgang König mit ‚delibera-tiven Governancearenen’. Ausführlich erläu-tern sie, wie mit dem innovativenInstrument der ‚Planungszelle’ in Rhein-land-Pfalz normale Bürger in politische Pro-zesse eingebunden wurden. SolcheVerfahren können die in Misskredit geratene‚Verfahrensdemokratie’ um deliberative Ele-mente ergänzen und damit die Akzeptanzpolitischer Entscheidungen erhöhen. Mitder im Fernsehen übertragenen Sach- undFachschlichtung unter der Leitung von Hei-ner Geißler wird so etwas Ähnliches im Mo-ment auch bei Stuttgart 21 versucht.

Viel Spaß beim Lesen!

Prof. Dr. Dr. Jörg Tremmel - Junior-Prof.Eberhard-Karls-Universität TübingenInstitut für Politikwissenschaft

Editorial

A

43Journal für Generationengerechtigkeit11. Jahrgang · Ausgabe 2/2011

1 Der Preis wird von der Stiftung Apfelbaum finanziert, die ihn auch angeregt hat.2 Die Auswahl der Preisträger erfolgte durch eine Fachjury ohne inhaltliche Beteiligung der SRzG. Die Jury bestand ausProf. Dr. Frank Decker (Universität Bonn), Prof. Dr. Eckhart Jesse (TU Chemnitz), Prof. Dr. Uwe Jun (Universität Trier),PD Dr. Reichart-Dreyer (Freie Universität Berlin) und Prof. Dr. Josef Schmid (Universität Tübingen).

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Regieren in Krisenzeiten: Der Bundesrat im deutschen Bundesstaat. Verlängerter Arm der Parteizentralen oder Wahrer der Länderinteressen?von Mathias Bauer

usammenfassung: Das Grundgesetzlegt fest, dass der deutsche Föderalis-mus seinen Niederschlag im Zwei-

Kammersystem findet. Anders als imBundestag treten im Bundesrat nicht die Par-teien in den Vordergrund, sondern 16 Landes-regierungen. Der Bundesrat erscheint Vielenanfällig für parteipolitisch motivierte Instru-mentalisierungen. Der Wandel des Parteiensy-stems, hin zum Fünfparteiensystem, setzt dieFähigkeit voraus, Mehrheiten für Gesetze jenseits der klassischen Koalitionsmuster zu or-ganisieren. Nicht weniger als sieben unter-schiedliche Regierungskonstellationen waren2010 gleichzeitig in den Ländern vorhanden.Somit sind folgende Fragen zu beantworten:Droht nun Stillstand wegen Blockaden desBundesrats? Ist der deutsche Föderalismushandlungsfähig? Gibt es Reformmöglichkeitenund sind sie nötig?

Einleitung„Während der Bundesrat Länderinteressenvertreten und sich seine Vetomacht auf Fra-gen, die den Kernbereich der Länderinteres-sen berühren, beschränken soll, vertritt erzumindest in wichtigen Sachfragen regel-mäßig Parteiinteressen.“1

Diese Aussage zur Handlungspraxis desBundesrats drückt die oftmals in der media-len Öffentlichkeit verbreitete Einschätzungaus, dass die Länderregierungen bei ihremAbstimmungsverhalten im Bundesrat eherden Weisungen der jeweiligen Parteizentra-len folgen, als ihr Abstimmungsverhalten anden Länderinteressen auszurichten. Der da-malige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaineformulierte 1997 auf dem Parteitag in Han-nover: „Wir werden auch in Zukunft Un-sinn blockieren, das ist unsere Pflicht.“2

Im Gesetzgebungsverfahren gibt es Ver-flechtungsansätze zwischen Bund und Ländern, auch wenn im Zuge der Föderalis-muskommission II die Politik bestrebt war,diese Verflechtung zu entwirren.3 Durch dieturnusmäßigen Landtagswahlen verändernsich die Mehrheiten des Bundesrates inner-halb der Legislaturperiode einer Bundesre-gierung mehrfach. Hierdurch kommt es

faktisch zum Dauerwahlkampf.4 Die mehr-stufige Gesetzgebung, nach der mehrereRückkoppelungsprozesse und Vermittlun-gen stattfinden, bietet der Bundestagsoppo-sition die Chance, über den Bundesratgegebenenfalls Einfluss auf Gesetze der Bun-desregierung zu nehmen. Dieser potenzielleEinfluss ist auch der wahlberechtigten Be-völkerung bewusst und sie nutzt daher oft-mals Landtagswahlen, um mit ihrer Stimmedie Politik der Bundesregierung zu beurtei-len. Landtagswahlen werden somit oft zu sogenannten Testwahlen.5 Seit Langemkonnte mit der Großen Koalition (2005-2009) eine Regierung wieder auf eine doppelte Mehrheit setzen und ,durchregie-ren‘. Schwarz-Gelb verlor seine doppelteMehrheit 2010 und ist seitdem auf den Kooperationswillen der Bundestagsopposi-tionsparteien bei der Gesetzgebung ange-wiesen.6

Akteurskonstellationen und KonfliktlinienDer deutsche Föderalismus ist eine Verbin-dung aus einem „dualistischen Parteiensy-stem mit großer Wettbewerbsintensitäteinerseits“ und einer „spezifischen Form des

stark verflochtenen Föderalismus anderer-seits“, welche jeweils „von tendenziell gegenläufigen Handlungslogiken und Ent- scheidungsregeln bestimmt“ werden undsich gegebenenfalls gegenseitig blockieren

können.7 Das Resultat dieser Kombinationist die sogenannte Lehmbruchsche ‚Struktur -bruchthese‘, nach der es einen Widerspruchin der Architektur des bundesdeutschenStaatsaufbaus gibt, der sich in der Gesetzge-bung auswirkt: Während die föderale Struk-tur dem Element der Konsensfindungunterliegt, baut das Parteiensystem auf Kon-kurrenz und Wettbewerb auf, was unwei-gerlich zu Konflikten führt. Im Bundesrat werden beide Elemente, Kon-sens und Konflikt, zusammengebracht undausgetragen. Grande weist vor diesem Hintergrund auf die Anfälligkeit des bun-desdeutschen Föderalismus für Entschei-dungsblockaden hin.8 Allerdings schwächen

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Seit es Menschen gibt, ist der Wett -eifer der Ansporn zu fast allem wichtigem und bedeutendem Tun gewesen./ Bertrand Russell /

Abbildung 1: Akteurskonstellation in der deutschen Finanzpolitik12

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Risiken dar. Während die Bundesregierungfürchtet, als schwach und handlungsunfähigzu gelten, droht der Opposition der Vorwurfder parteitaktischen Blockadehaltung.

Lehmbruch kritisiert daher dieses Verfahren,das zum einen Parteienwettbewerb, zum an-deren konsensorientierte Politik beinhaltet.14

Das Funktionieren des politischen Systemssei, seiner Meinung nach, durch den Struk-turfehler (‚Strukturbruchthese‘) und dendamit einhergehenden knapp 42 Prozent zu-stimmungspflichtigen Gesetzen15 gefährdet.Auch Scharpf sieht in den daraus oft resul-tierenden parteipolitisch motivierten Blok-kaden einen Hauptgrund für die Ineffizienzdes bundesdeutschen Systems.16

Ein Blick auf die in der Bundesrepublikherrschenden Mehrheitsverhältnisse legtoffen, dass allerdings über weite Strecken derbundesrepublikanischen Geschichte zu-nächst eine kongruente Mehrheit in beidenKammern herrschte. Erst in den 1970er Jah-ren traten unterschiedliche Mehrheiten auf.Die Regierung Kohl konnte lange auf einedoppelte Mehrheit zählen. Rot-Grün wardieses Privileg zumindest von 1998 bis 2000

Das Abstimmungsverhalten des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren Bei Betrachtung der Konfliktsituation Bund/Länder (also Bundestag/Bundesrat) stehtfest, dass bei entgegengesetzten Mehrheitennaturgemäß beide Seiten (Bundesregierung

und Opposition) für ihre Positionen bei denLändern werben und versuchen, sich ihr Ab-stimmungsverhalten in der Länderkammerzu sichern. Allerdings wird das Länderinter-esse nicht nur ideologisch oder parteipoli-tisch geleitet. Am Ende steht für vieleLandesregierungen ein Abwägungsprozesszwischen Parteiräson und Landesinteresse.Besonders offenkundig wird dieser Sachver-halt, wenn in einem Bundesland Landtags-wahlen anstehen und der Regierungschefsich zu profilieren sucht.13

Das Scheitern von Gesetzesvorlagen im Ge-setzgebungsprozess stellt grundsätzlich fürbeide Seiten, Regierung und Opposition,

sowohl das Fünfparteiensystem als auch diezunehmende Volatilität der Wählerschaft diedrohenden Entscheidungsblockaden ab.Benz zufolge führen die Regionalisierungder Parteien sowie der politischen Konflikt-linien, die stärkere Ausdifferenzierung derParteiensysteme der Länder und die zuneh-mende Varianz der Parteienkonstellationendazu, dass die regionalen Konfliktlinien dieideologischen Konfliktlinien bestimmen.9

Dennoch existieren weiterhin verschiedeneKonfliktlinien.10 Relevant in unserem Kon-text sind, bei entgegengesetzten Mehrheiten,insbesondere die Konfliktlinien Bundes-tag/Bundesrat und Landesregierung/Bun-despartei. Die erstgenannte Konfliktliniewird im Fünfparteiensystem verstärkt eineRolle spielen, da anzunehmen ist, dass kaumkongruente Mehrheiten in beiden Kam-mern herstellbar sind.11

Die zweite Konfliktlinie tritt in der Regelnur selten zutage, da bereits im Vorfeld vonEntscheidungen eine Synchronisation derInteressen zwischen Bundespartei und Lan-desregierung stattfindet. Umso mehr erregtein abweichendes Verhalten in der medialenÖffentlichkeit Interesse.

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Entscheidend ist nicht die Frage, obman Macht hat, entscheidend ist dieFrage, wie man mit ihr umgeht./ Alfred Herrhausen /

Tabelle 1: Abstimmungsverhalten des Bundesrates 1949 bis 200918

Tabelle 2: Anzahl der Gesetzesvorlagen 1949 bis 200919

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Wahlperiode) fiel die Ablehnungsquotesogar auf drei Prozent.23 Unter Rot-Grünsank die Ablehnungsquote seit 1990 aufihren Tiefststand von 2,3 Prozent und 2,6Prozent.24

Weder eine parteipolitische Blockadehal-tung im Bundesrat bei entgegengesetztenMehrheiten noch eine Zunahmetendenzsind somit nachweisbar.25 Die Erklärungenhierzu sind vielseitig: Zum einen stärken Ministerpräsidenten gern durch Kooperati-onswillen ihr Standing innerhalb und au-ßerhalb der Partei. Zum anderen ist derPolitikstil einer Bundesregierung pragma-tisch geprägt. So bemüht sie sich durch ge-schicktes politisches Taktieren, Blockaden zuumgehen. So werden entweder Gesetze inzustimmungspflichtige und in nicht zustim-mungspflichtige Teile aufgespalten oder mit‚Zustimmungsanreizen‘ versehen; teilweisewerden Gesetze gar nicht erst eingebracht,um eine Ablehnung zu umgehen.26

Mehrheitsfindung im FünfparteiensystemDoch gelten die bislang gewonnenen Er-kenntnisse auch im Fünfparteiensystem?Grundsätzlich sinkt das Blockadepotenzialdurch das Absenken der zustimmungs-pflichtigen Gesetzgebung. Vor dem Hinter-grund der Benzschen Analysen, nach denendas Landesinteresse sukzessiv für eine Lan-desregierung wichtiger wird als die Parteirä-son, bilanzieren auch Detterbeck undRenzsch, dass sich seit 1990 „Tendenzen zumehr Eigenständigkeit des landespolitischen(Parteien-)Wettbewerbs und zu mehr Auto-nomie der regionalen Parteigliederungenfeststellen“ lassen.27 Es dürfte daher zu ver-stärkten Konflikten zwischen Bundeslän-dern und einer Abkehr vom Konsensprinzipkommen.28

Seit dem Regierungswechsel 2009 tritt nundie bis dato unerwartete Konfliktlinie ,Bun-desregierung versus kongruent-regierte Bun-

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desländer‘ hervor. So verweigerten neben A-Ländern auch B-Länder Gesetzen der Bun-desregierung zumindest zunächst ihreZustimmung. Nachdem seit 2010 wiederungleiche Mehrheiten in beiden Kammernbestehen, dürfte das Regieren für die Bun-desregierung noch schwieriger werden. Zen-trale Reformprojekte von Schwarz-Gelbsollen im Bundesrat durch die A-Länderblockiert werden.Die aktuelle Bilanz über die Föderalismus-reform aus dem Jahr 2006 besagt, dass dergroße Wurf bei der Reform verfehlt wurde.Mit über 40 Prozent ist der Anteil der zu-stimmungspflichtigen Gesetze noch zuhoch.29 Das gesteigerte Interesse von Unionund SPD nach der Zeit der Großen Koali-tion, sich wieder gegeneinander zu profilie-ren, lässt erahnen, dass parteitaktischesHandeln die Tagespolitik stärker beeinflus-sen und die Konsenssuche erschwerenkönnte. Grundsätzlich wird alleine durchdie Vielzahl unterschiedlicher Koalitionen inden Ländern eine Kompromisssuche, mitdem Ziel einer Mehrheit in der Länderkam-mer, schwieriger.

Infolge des neuen Fünfparteiensystemsdürfte es zukünftig verstärkt auch zu Drei-erbündnissen auf Länderebene kommen.Soll nicht die Große Koalition bei der Re-gierungsbildung auf Landesebene die Regelwerden, so ist es für die Mehrheitsfindungim Bundesrat notwendig, mit mehreren Par-teien einen Kompromiss zu suchen. Bis zumBruch der schwarz-grünen Landesregierungin Hamburg konnte die Bundesregierungim Bundesrat Mehrheiten mit SPD oder

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beschieden. Entgegengesetzte Mehrheitenzwischen Bundestag und Bundesrat könnendie Umsetzung von Gesetzesvorhaben beeinträchtigen. Oder, wie Roland Lhottafragte: „Kann man (...) von ostinaten Blo cka -den und von Reformverhinderung spre-chen?“17

Ein Blick in die offizielle Bundesratsstatistikzeigt, dass es, trotz dieser durchaus überStrecken schwierigen Konstellationen, keineBlockadetendenzen des Bundesrates gab:Wie Tabelle 1 zeigt, hat der Bundesrat seit1949 insgesamt 72 Gesetzesvorlagen seineZustimmung bei zustimmungspflichtigenGesetzen verweigert. In diesem Zeitraumgab es in toto 3617 Gesetzesvorlagen, dieder Zustimmung durch die Länderkammerbedurften (siehe Tabelle 2).Bis heute wurden somit (also auch über Zei-ten entgegengesetzter Mehrheiten) nur zweiProzent der zustimmungspflichtigen Geset-zesvorlagen endgültig von der Länderkam-mer blockiert.Von den Rechtsverordnungen wurden durchdie Länderkammer sogar nur 0,7 Prozentseit 1949 abgelehnt, wie Tabelle 3 zu ent-nehmen ist.20

Bei den Verwaltungsvorschriften betrug dieAblehnungsquote im gleichen Zeitraum 0,9Prozent.22 Eine Abweichung von der Regelstellt die 15. Wahlperiode dar: Ihre Ableh-nungsquoten sind, aufgrund des Streits umdie Ausgestaltung der Hartz-Gesetzgebung,im Vergleich die höchsten. Auch speziell dieAblehnungsquoten im Gesetzgebungsver-fahren zu Zeiten mit ungleichen Mehrhei-ten fallen nicht aus dem Rahmen. DieAblehnungsquote des Bundesrates von Ge-setzen betrug zum Ausgang der 12. Wahlpe-riode (Regierungszeit Kohl) 3,5 Prozent. Beiprozentualer Zunahme der zustimmungs-pflichtigen Gesetzgebung von 57,2 Prozent(12. Wahlperiode) auf 59,5 Prozent (13.

Tabelle 3: Abstimmungsverhalten des Bundesrates bei Rechtsverordnungen seit 194921

Ein Kompromiss ist nur dann gerecht,brauchbar und dauerhaft, wenn beideParteien damit gleich unzufriedensind./ Henry Kissinger /

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dies mit ihrer Untersuchung zum Blockade-potenzial ebenfalls untermauert: Es gibt„keinen weithin unterstellten und intuitivnahe liegenden linearen Zusammenhangvon steigender Konfrontation bei steigenderRegierungsfeindlichkeit des Bundesrats, sofern man Konfrontation über das Abstim-mungsverhalten der Opposition im Bun-destag operationalisiert. Vielmehr bestätigensich [...] Modellvorhersagen, dass die Zeitenunsicherer Mehrheitsverhältnisse tendenziellZeiten der verschärften parteipolitischenKonfrontation sind, während die Regierungin Zeiten klarer Oppositionsmehrheit – not-gedrungen – den Kompromiss mit der Op-position sucht.“.35

Das Fehlurteil ,Bundesrat als Blockierer‘wähnt sich immer dann als bestätigt, wennin Wahlkampfzeiten, aufgrund von ver-stärktem Profilierungsdrang der Parteien,Gesetze medienwirksam gestoppt werden.Burkhard/Manow belegen, dass insbeson-dere sechs Monate vor einer Bundestagswahldie Konfliktpotenziale bei der zustim-mungspflichtigen Gesetzgebung steigen.36

Grundsätzlich sind Parteien Abbilder vonMehrebenensystemen. Parteien vereinenunter ihrem Dach Kommunal-, Landes-und Bundespartei und tragen somit internbereits diverse Interessenunterschiede aus.Somit ist das Abstimmungsverhalten imBundesrat das Ergebnis des vorgeschaltetenparteiinternen Diskussionsprozesses. Dieseparteipolitische Koordinierung ist entschei-dend dafür verantwortlich, das Zuschnap-pen der Scharpfschen ,Verflechtungsfalle‘ zuverhindern.37

Den grundlegenden Widerspruch, denLehmbruch im Konstrukt Bundesrat bereitsMitte der 1970er ausmachte und auch spä-ter stets betonte, dass im Bundesrat immerein Nebeneinander von Mehrheitsentscheidund föderaler Konsenssuche existiert, lässtsich nur schwer auflösen: Dies gelänge nur,wenn eine grundsätzliche Abschaffung derzustimmungspflichtigen Gesetzgebung statt-fände. Bei der jetzigen Struktur wird derparteipolitische Einfluss stets auf den föde-ralen Aufbau wirken. Doch die Zahlen be-legen, dass das Veto nur sehr begrenzt zueinem definitiven Nein des Bundesrates ge-führt hat. Zudem kann anhand der Zahlenkeine Aussage getroffen werden, ob durchdie Blockade der Gesetze im Bundesrat demGemeinwohl mehr geschadet wurde, alswenn sie beschlossen worden wären. Ver-lässliche Aussagen dazu, ob die Ablehnungzu einem Gesetz parteipolitisch oder inhalt-lich motiviert war, wird kein Bundesrats-

mitglied ehrlich zugeben.Über Reformen des bundesdeutschen, föde-ralen Konstrukts wurde seit längerer Zeitbreit in Politik und auch Wissenschaft dis-kutiert,38 teilweise sind Entflechtungsmaß-nahmen auch in die Beschlüsse zurFöderalismusreform eingegangen. Ein Weg,um die Konsensfindung zumindest zu er-leichtern, wäre, die Zahl der Bundesländerspürbar zu verringern. An dieser Stelle kannallerdings auf die einzelnen Diskussionenund deren Details nicht eingegangen wer-den.39

Dieser Beitrag kommt vielmehr zu demSchluss, dass der Bundesrat nicht als verlän-gerter Arm der Parteizentralen fungiert, son-dern sich konstruktiv in die Gesetzgebungeinbringt und hierbei seine Länderinteres-sen aufrichtig vertritt, um sich an der Lö-sung der Zukunftsfragen konstruktiv undim Sinne des Gemeinwohls zu beteiligen.Somit bestätigt sich Renzschs Analyse, dasssich die Verbindung von Parteienwettbe-werb und Bundesstaat in der Praxis bewährthabe und zur Problemverarbeitungsfähigkeiteher beigetragen hat, statt diese zu behin-dern.40

Anmerkungen1. Strohmeier 2003: 17.2. Zitiert nach: Deupmann 1997: 1.3. Die Zahl der zustimmungspflichtigen Ge-setze erreichte in der 13. Wahlperiode ihrenHöchststand: knapp 60 Prozent. Seitdemsank die Zahl der zustimmungspflichtigenGesetze kontinuierlich. Vgl. Bundesrat2009: 5. 4. Vgl. Stüwe 2004: 26.5. Vgl. Stüwe 2004: 26.6. Statt der 37 Stimmen im Bundesrat, überdie Schwarz-Gelb bei Regierungsübernahmeim Bund verfügte, konnte Schwarz-Gelb seitder Wahl in Nordrhein-Westfalen nur nochauf die Stimmen aus Bayern, Baden-Würt-temberg, Hessen, Niedersachsen, Sachsenund Schleswig-Holstein mit insgesamt 31Stimmen setzen. Nach den Regierungsver-lusten in Hamburg und Baden-Württem-berg in der ersten Jahreshälfte 2011 verfügtSchwarz-Gelb nur noch über 25 Stimmenin der Länderkammer.7. Grande 2002: 181; Lehmbruch 2000: 9.8. Vgl. Grande 2002: 201.9. Vgl. Benz 2003: 34ff.10. Offensichtliche Konfliktlinien im Ge-setzgebungsverfahren: Bundestag/Bundesrat,Landesregierung/Bundespartei, Bundes-land/Bundesland, Bundesministerium/Bundesministerium, Bundesregierung/Bun-

Grünen erreichen.30 Nach den Landtags-wahlen bis Mitte 2011 ist die Mehrheit inder Länderkammer nur noch im Zusam-menspiel von Bundesregierung und SPDmöglich. Vom Ausgang weiterer Landtags-wahlen wird abhängen, ob nicht schließlichnahezu alle im Bundestag vertretenen Par-teien im Bundesrat zusammenarbeiten müs-sen, um in der Länderkammer Mherheitenzu erzielen. Das föderale Mehrebenensystemder Parteien muss seine Handlungsfähigkeitbeweisen.31 Die Politik und somit die Par-teien werden sich der Herausforderung an-nehmen und künftig neue Wege derMehrheitsfindung in der Länderkammer su-chen.32 Die ,temporäre Allparteien-Koali-tion‘ zur Mehrheitsfindung ist Ergebniseines sich wandelnden ,fluiden Parteiensy-stems‘.33 Sie stellt, gerade vor dem Hinter-grund des historisch belegten konsensualenWeges zwischen Bund und Ländern, nichteine Bedrohung, sondern eine Chance dar.

FazitDer Bundesrat kann schon deswegen nichtals Blockadeinstitution betitelt werden, weilder föderale Aufbau gerade im Hinblick aufHandlungsmuster funktioniert: „Der deut-sche parlamentarische Bundesstaat funktio-niert, weil sich Parteienkonkurrenz undföderale Aushandlungsmuster verschränken,sich gegenseitig begrenzen und moderieren:Auf der einen Seite konkurrieren politischeParteien ebenenübergreifend um politischeMacht und streben innerparteiliche Ge-schlossenheit an, andererseits aber sind dieseParteien keine monolithischen Blöcke oderhierarchische Organisationen, sondern ver-einen unter einem Dach eine Vielzahl verschiedener, teilweise gegensätzlicher In-teressen“.34 Es ist unstrittig, dass aufgrundder zustimmungspflichtigen Gesetzgebungim Bundesrat eine ,Zweitregierung‘ heran-gewachsen ist. Allerdings weisen die Zahlenseit 1949 aus, dass eine Blockade der Bun-desregierung durch die Bundesratsmehrheitnie dauerhaft stattfand. In Fällen, in denendie Länderkammer zunächst ihre notwen-dige Zustimmung zur Gesetzesvorlage ver-weigerte, nahm der Vermittlungsausschusseine oftmals erfolgreiche Scharnierstellungein. Die Folge der Vermittlungstätigkeit war,dass 98 Prozent der Gesetzesvorlagen, wennauch nach einer inhaltlichen Überarbeitung,gemeinschaftlich von Bundestag und Bun-desrat verabschiedet wurden. Das beständigeVorurteil von der Blockade-Institution Bun-desrat lässt sich somit anhand der Zahlenklar widerlegen. Burkhard/Manow haben

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despräsident, Bundesregierung/Bundesver-fassungsgericht. Der Autor erhebt mit dengenannten Konfliktlinien ausdrücklich nichtden Anspruch auf Vollständigkeit, sondernbeschränkt sich im Sinne der Anschaulich-keit auf die wesentlichen, im Gesetzge-bungsverfahren offensichtlichen Konflikt-linien. Weitere Konfliktlinien finden sichzudem innerhalb einzelner Akteure (z.B. zwi-schen einzelnen Flügeln oder Landesgruppenin Fraktionen). 11. Vgl. Oswald 2009.12. Das Schaubild stammt von einem Vor-tragsskript von Henrik Scheller aus seinemHauptseminar Föderale Politikgestaltung imDeutschen Bundesstaat an der Freien Univer-sität Berlin (WiSe 06/07).13. Vgl. Renzsch 2000: 55f.14. Vgl. Lehmbruch 2000.15. Vgl. Bundesrat 2009: 5.16. Vgl. Scharpf 1999.17. Lhotta 2003: 19.18. Vgl. Bundesrat 2009: 7, eigene Darstel-lung19. Vgl. Bundesrat 2009: 5, eigene Darstel-lung20. Seit 1990 bewegte sich die Ablehnungs-quote bei Rechtsverordnungen zwischen 0,2Prozent (12. Wahlperiode) und 0,9 Prozent(15. Wahlperiode).21. Vgl. Bundesrat 2009: 8, eigene Darstel-lung22. Seit 1990 bewegte sich die Ablehnungs-quote bei Verwaltungsvorschriften zwischen0 Prozent (16. Wahlperiode) und 6,7 Prozent(15. Wahlperiode).23. In der 13. Wahlperiode wurden von 328zustimmungspflichtigen Gesetzen erneut nurzehn Gesetze durch den Bundesrat abge-lehnt.24. Zudem sank der Anteil der zustim-mungspflichtigen Gesetze in der 15. Wahl-periode im Vergleich zur vorangegangenenWahlperiode um rund vier Prozent.25. Vgl. hierzu u.a.: Stüwe 2004; Leunig2004; Lhotta 2003.26. Renzsch 2000: 62f.; Burkhard/Manow2006.27. Detterbeck/Renzsch 2008: 39f.28. Vgl. Sturm 1999: 212f.29. Vgl. Funk 2009: 4; Preuß 2010: 6.30. Mehrheit: 35 Stimmen. Union/FDP/SPD: 38; Union/FDP/Grüne: 37.31. Dies würde Leunigs Kritik der bisheri-gen Unfähigkeit des Mehrebenensystems,eine Problemlösung in diesem Punkte zu er-reichen, beheben. Vgl. Leunig 2003: 251.32. Es wird zukünftig notwendig sein, auf-grund abnehmender Segmentierung in den

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Landesparlamenten auch Landesregierun-gen, wie z.B. eine Jamaika-Koalition, beieiner Mehrheitsfindung mit einzubinden.Mittelfristig ist zu erwarten, dass auchAmpel-Koalitionen, Rot-Rot-Grüne-Koa li -tionen oder wieder Schwarz-Grüne-Bündnisse die Interessen der jeweiligenLänder im Bundesrat vertreten.33. Vgl. zum Wandel des Parteiensystemsinsbesondere: Haas/Jun/Niedermayer 2008.,Fluides Parteiensystem‘ ist ein von OskarNiedermayer geprägter Begriff. Siehe Nie-dermayer 2008: 9-35.34. Renzsch 2000: 54.35. Burkhard/Manow 2006: 26.36. Vgl. Burkhard/Manow 2006: 25.37. Vgl. Renzsch 2000: 73f. ,Verflechtungs-falle‘ ist ein von Fritz W. Scharpf geprägterBegriff. Siehe Scharpf 1985: 323-356.38. Vgl. Sturm 2010.39. Vgl. hierzu Stüwe 2004; Leunig 2004;Lhotta 2003.40. Vgl. Renzsch 2000: 54.

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Scharpf, Fritz W. (1985): Die Politikver-flechtungsfalle: Europäische Integration unddeutscher Föderalismus im Vergleich. In: Po-litische Vierteljahresschrift, Jg. 26, 323-356.

Strohmeier, Gerd Andreas (2003): ZwischenGewaltenteilung und Reformstau: Wie vieleVetospieler braucht das Land? In: Aus Politikund Zeitgeschichte, Jg. 53, B51/2003, 17-22.

Mathias Bauer ist Di-plom-Politologe undderzeit Wissenschaftli-cher Mitarbeiter einerBundestagsabgeordne-ten. Zudem ist er Promotionsstudent(Schwerpunkt: Das Po-

litische System der Bundesrepublik Deutsch-land) an der Freien Universität Berlin.

Kontaktdaten: Mathias BauerDeutscher BundestagPlatz der Republik 111011 BerlinTel: 030/22 77 34 66Fax: 030/22 77 63 03

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Die Vetospielertheorie nach George Tsebelis am Beispiel der deutschen Parteiendemokratie.

von Lennart Grumer

usammenfassung: Dieser Beitrag testet die Vetospielertheorie vonGeorge Tsebelis an der deutschen

Wirklichkeit und kommt dabei zu dem Er-gebnis, dass sie einige Schwächen aufweist. Dieeorie definiert ‚Vetospieler’ als Akteure, derenZustimmung erforderlich ist, um im Bereichder Legislative Veränderungen am Status quovorzunehmen. Insbesondere die Klassifizierungdes Bundesrates als Vetospieler ist jedoch um-stritten und berücksichtigt nicht hinreichenddifferenziert, dass der Bundestag ein Veto desBundesrates bei Einspruchsgesetzen überstim-men kann. Bezogen auf die Zustimmungsge-setze ist der Bundesrat zwar Vetospieler,dennoch entsprechen auch hier die von dereorie prognostizierten Ergebnisse selten derbundesdeutschen Wirklichkeit. Der Grund ist,dass die Wirklichkeit sehr viel komplexer ist alsdie eorie, die taktisches Handeln nicht be-rücksichtigt.

EinleitungVeränderungen des politischen Status quoscheitern nicht selten am Veto eines betei-ligten Akteurs. In Deutschland können po-litische Reformen durch unterschiedlicheMehrheitsverhältnisse in Bundestag undBundesrat, die formelle Prüfungskompetenzdes Bundespräsidenten oder die inhaltliche

Prüfungskompetenz des Bundesverfassungs-gerichts blockiert werden.Taktische und kurzfristig denkende Vetopo-litik, die Partikularinteressen durchsetzt,kann dabei besonders die Interessen derergefährden, denen das politische System keinVetorecht zubilligt: zukünftigen Generatio-nen. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist,den Einfluss zu analysieren, den ,Vetospie-ler‘, also „[...] Akteure, von deren Zustim-mung der Erfolg [einer politischen] Reformabhängt“,1 auf die Entscheidungsfindung impolitischen System Deutschlands haben.Neben der Identifikation der verschiedenenVetospieler im politischen System der BRDinteressiert die Frage, wie Vetospieler auchpolitische Inhalte beeinflussen. Diese Frage-stellung umfasst zwei Hauptaspekte: Erstenssoll erfasst werden, inwiefern die Vetospie-lertheorie das Handeln der beteiligten Ak-teure erklärt. Zweitens soll geprüft werden,ob sich mit Hilfe der Vetospielertheorie neuewissenschaftliche Erkenntnisse gewinnenlassen.

Die eorie der VetospielerEinordnung in die vergleichende Regie-rungslehreDer 1995 erstmals von Tsebelis veröffent-lichte Ansatz ist auf dem Gebiet der verglei-

chenden Regierungslehre die Grundlage fürein vollkommen neuartiges Modell. Wäh-rend klassische Institutionalisten Mehrheits-oder Konsensdemokratien, Zwei- oderMehrparteiensysteme, und Demokratienvon Diktaturen unterscheiden, betrachtetdie Vetospielertheorie „alle institutionellenArrangements und politischen Wettbe-werbskonstellationen als funktional äquiva-lent“.2 Tsebelis ordnet sich selbst demInstitutionalismus zu und bestreitet damitzwar nicht die Möglichkeit der Beeinflus-sung eines politischen Systems durch die In-stitutionen, aber er gewichtet das Handelnder Akteure stärker als den Einfluss der In-stitutionen.3

Annahmen und Ziele der eorieEine zentrale Annahme der von Tsebelis vor-gelegten Form der Vetospielertheorie ist dieAnnahme, dass es „individuelle oder kollek-tive Akteure [gibt], deren Zustimmung er-forderlich ist, um im Bereich der LegislativeVeränderungen des Status quo vorzuneh-men“.4 Anders ausgedrückt handelt es sichum Akteure, deren Veto eine Änderung deslegislativen Status quo verhindern kann. AlleAkteure eines politischen Systems, auf diediese Beschreibung zutrifft, nennt TsebelisVetospieler.5

Z

Sturm, Daniel Friedrich (11.06.2010): SPDplant parteiübergreifenden Vorstoß zur Län-derregulierung. In: Die Welt, http://www.we l t .de/d ie -we l t /po l i t ik /a r t i -cle7997837/SPD-plant-parteiuebergreifenden-Vorstoss-zur-Laenderneugliederung.html. Abgerufen am 11.06.2010.

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Stüwe, Klaus (2004): Konflikt und Konsensim Bundesrat. Eine Bilanz (1949-2004). In:Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 54, B50-51/2004, 25-32.

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Tsebelis möchte mit der Vetospielertheoriedie Voraussetzungen und Rahmenbedin-gungen politischen Handelns erklären undderen Eintreten vorhersagen.6 Der Begriff,Policy-Stabilität‘ beschreibt in einem poli-tischen System die Wahrscheinlichkeit desEintretens von politischen Veränderungen.7

Es handelt sich also um die Fähigkeit, we-sentliche inhaltliche Grundpositionen zuverändern. Fragt man nun, wovon diese Re-formfähigkeit abhängt, so besagt die Haupt-these der Vetospielertheorie, dass die Zahlund Art der Vetospieler die Policy-Stabilitätbeeinflussen.8

Das geometrische RaummodellDie Vetospielertheorie beruht auf demräumlichen Politikmodell der euklidischenParteiendistanz.9 Im Gegensatz zu einemstrategisch handelnden Akteur geht der Ak-teur im euklidischen Modell „entsprechendseiner Policy-Präferenzen [vor] und [strebt]nach Entscheidungen [...], die seinem Ide-alpunkt, seiner idealen policy, möglichstnahe kommen.“10

Dieses Beispiel für ein geometrisches Raum-modell zeigt eine vereinfachte Darstellungeiner Verhandlungssituation im Parlamentzwischen der Regierungskoalition (A und C)sowie einer Oppositionspartei mit Veto-möglichkeit (B). Jeder Partei kann nun eineindeutiger Wert für ihre bevorzugte Posi-tion hinsichtlich der zwei Politikdimensio-nen (X und Y) zugeordnet werden. SQ(Status quo) bildet die gegenwärtige Lage ab.Der grau markierte Bereich zeigt dieSchnittmenge aller denkbaren Entscheidun-gen, die von der Regierungskoalition unter-stützt werden. Gesetzt den Fall, es gäbe eineabsolute Mehrheit für die Koalition und Bhätte keine Vetomöglichkeit, würden sich Aund C auf einen neuen SQ innerhalb des

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grauen Bereiches einigen. Solange aber B einVetospieler ist, wäre jede Veränderung desSQ in Richtung des grauen Bereiches eineVerschlechterung für B. Folgerichtig versagtB die Unterstützung für eine Veränderungdes SQ. Eine Einbeziehung von B in denEntscheidungsprozess wäre bei der abgebil-deten Konstellation jedoch nicht hilfreich,da die Distanz von B nach SQ nicht weiterverringert werden kann, ohne die gemein-same Interessenssphäre von A und C zu ver-lassen.

Analyse der unabhängigen Variable VetospielerDie unabhängige Variable ,Vetospieler‘ kannmit Hilfe von drei Faktoren erfasst werden.Nacheinander sollen nun Anzahl und Typ,Kongruenz und interne Kohäsion von Veto-spielern analysiert werden. Tsebelis unter-scheidet hinsichtlich der Anzahl und desTyps ,individuelle‘, ,kollektive‘, ,institutio-nelle‘ und ,parteipolitische‘ Vetospieler.12

Beispiele für die genannten Typen führt Ab-bildung 2 auf.

Weiterhin besagt die Absorptionsregel, dassinstitutionelle durch parteipolitische Veto-spieler dominiert werden können, wennletztere Kontrolle über erstere ausüben.14

Aus dieser Annahme folgt gemäß der Veto-spielertheorie die ese, dass mit steigenderAnzahl der Vetospieler in einem politischenSystem dessen Reformfähigkeit zumindestgleich bleibt, eher aber sinkt.15 Sollte ein Ak-teur aber dennoch planen, den Status quozu verändern, so kommt demjenigen Veto-spieler, der als erster seine Präferenzen be-kanntgeben kann, die führende Rolle zu.16

Liegen die Idealpunkte zweier Vetospielersehr weit auseinander, ist die Wahrschein-

lichkeit des politischen Wandels niedriger alsin einer Konstellation mit drei Vetospielern,deren Idealpunkte aber sehr eng beieinan-derliegen.17 Dieser Faktor wird unter demBegriff Kongruenz geführt.Augenscheinlich hat ein geschlossen auftre-tender kollektiver Vetospieler mehr Machtals ein von Abweichlern dominierter. Dieserinnere Zusammenhalt wird als Kohäsion be-zeichnet.18 Starke Vetospieler entstehendann, wenn die interne Kohäsion besondersgroß ist, und reduzieren die Wahrschein-lichkeit gesellschaftlichen Wandels.19

Fallbeispiel: Das politische System der BRDIdentifikation der Vetospieler und Über-prüfung der AbsorptionsregelZur Veränderung des legislativen Status quobedarf es eines Gesetzes. Das deutscheGrundgesetz weist dem Bundestag die Kom-petenz zum Beschließen der Bundesgesetzezu. Im Regelfall stimmt der Bundestag nacheinfacher Mehrheit ab, d.h. die Mehrheit derabgegebenen Stimmen entscheidet über dasGesetz. Fraglich ist, ob der Bundesrat einVetospieler ist. In Art. 77 Abs. 1 S. 2 Grund-gesetz könnte in der dort geregelten Zulei-tungspflicht ein Hinweis auf die Vetomachtdes Bundesrates gesehen werden.20

Unterscheidet man zunächst zwischen Zu-

stimmungs- und Einspruchsgesetzen, so fälltauf, dass erstere zwischen 1949 und 1998nur 53,1 Prozent der ausgefertigten Gesetzedarstellen.21 Für die verbleibenden knapp 47Prozent hat ein Veto des Bundesrats nur auf-schiebende Wirkung. Eine vergleichbarbreite Gegenüberstellung des Verhältnissesauf Basis des in der Föderalismusreform2006 neu gefassten Art. 84 Abs. 1 S. 2 desGrundgesetzes zur Abweichungsbefugnisliegt noch nicht vor, jedoch ist anzunehmen,dass die Neuregelungen geeignet sind, dieZahl der zustimmungspflichtigen Gesetzeerheblich zu reduzieren.22

Trotz unterschiedlicher parteipolitischer Zu-

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y

Abbildung 1: Beispiel für ein geometrisches Raummodell11

Abbildung 2: Beispiele nach Art und Typ der Vetospieler13

Gleichungen sind wichtiger für mich,weil die Politik für die Gegenwart ist,aber eine Gleichung etwas für dieEwigkeit./ Albert Einstein /

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sammensetzung der Häuser kann der Bun-destag also ein Veto gegen Einspruchsgesetzemit Mehrheitsbeschluss zurückweisen. Die-ser Tatsache muss auch bei der Vetospieler-analyse Rechnung getragen werden, was dieZuordnung des Bundesrates äußerst proble-matisch macht. Zwar kann bei einer Einzel-fallanalyse immer anhand des Gesetzesbestimmt werden, ob der Bundesrat ,imkonkreten Fall‘ Vetospieler war oder nicht.Prinzipiell sind jedoch zwei Szenarien denk-bar, welche die Klassifizierung des Bundes-rates betreffen.Erstens kann die Konstellation der Mehr-heitsverhältnisse im Bundestag und Bun-desrat die Zahl der Vetospieler erheblichbeeinflussen. Zwar könnte der Bundesratformal gesehen immer Vetospieler werden,doch setzt dies die Beschränkung der Ge-setzgebung auf Zustimmungsgesetze voraus.In der Realität waren aber auf Regierungs-seite fast ausschließlich Zwei-Parteien-Koalitionen am Entscheidungsprozess imBundestag beteiligt. Sofern die Koalitionderselben Mehrheit angehört wie die Mit-glieder des Bundesrats, käme die Absorpti-onsregel zur Anwendung. In dieserKonstellation gäbe es also zwei parteipoliti-sche Vetospieler (die Regierungsparteien),die den institutionellen Vetospieler Bundes-rat absorbieren.Zweitens ist der anders gelagerte Fall denk-bar, dass unterschiedliche Mehrheitsverhält-nisse in beiden Häusern herrschen. Indiesem Fall bleiben die beiden parteipoliti-schen Vetospieler des Bundestags unverän-dert, es tritt aber der Bundesrat alsinstitutioneller Vetospieler hinzu.23

In Deutschland wird der institutionelle Ve-tospieler Bundesrat seit der Landtagswahl inNordrhein-Westfalen im Mai 2010 nichtmehr durch die parteipolitischen Akteureabsorbiert. eoretisch ergeben sich darauszwei Vetospieler für die Bundesrepublik:CDU und FDP. Folgt man Tsebelis’ ersterese, so müsste ein relativ wechselfreundli-ches Klima vorherrschen, da eine geringeAnzahl von Vetospielern die Veränderungdes Status quo prinzipiell begünstigt.24 Einvollständiges Bild ergibt sich erst nach Prü-fung der Kongruenz und der inneren Kohä-sion der kollektiven Akteure.

Kongruenz der VetospielerVerglichen mit anderen Interessensgruppenerscheinen Parteien in Deutschland immernoch relativ stark, insbesondere sofern esihnen gelingt, sich entlang gesellschaftlicherKonfliktlinien zu positionieren. Somit wäre

ein struktureller Anreiz gegeben, als Parteidie Unterscheidbarkeit zu anderen Parteienzu wahren, was ihrer Kongruenz tendenziellentgegenwirkt. Jedoch ist derzeit zwischendem großen und dem kleinen Koalitions-partner keine Kongruenz festzustellen. Viel-mehr setzt der kleine Koalitionspartnereigene inhaltliche Schwerpunkte und kom-pensiert den Verlust polarisierender Positio-nen der großen Parteien durch geschicktesBesetzen der frei gewordenen Positionen.Diese Einschätzung deckt sich auch mit em-pirisch ermittelten Daten, wonach 84 Pro-zent der Befragten die Koalition alszerstritten wahrnehmen.25

Somit ist zwar eine ausgeprägte Lagerbil-dung im deutschen Parteiensystem feststell-bar, die jedoch nicht mit Kongruenzverwechselt werden darf. Die inhaltlicheÜbereinstimmung der am Entscheidungs-prozess beteiligten Akteure CDU/CSU undFDP ist zwar im sozio-ökonomischen Be-reich hoch, doch im sozio-kulturellen Be-reich eher niedrig. Der Grad ihrerideologischen Distanz erscheint etwa bei derEintragung gleichgeschlechtlicher Lebens-partnerschaften größer als zwischen FDPund Grünen. Es ist gemäß der Vetospieler-theorie zu erwarten, dass mit größer wer-dender ideologischer Distanz (alsogeringerer Kongruenz) zwischen den Veto-spielern die Wahrscheinlichkeit einer Verän-derung des Status quo in den Bereichen derRechts-, Familien- und Frauenpolitik sinkt,aber in der Wirtschafts-, Verteilungs- undEnergiepolitik eher steigt.

Interne Kohäsion der kollektiven VetospielerGrundsätzlich fällt im deutschen parlamen-tarischen System eine ausgeprägte Fraktions-und Parteiendisziplin auf.26 Es scheint alsoein informeller Konsens innerhalb der Par-teien zu bestehen, der abweichendes Verhal-ten sanktioniert bzw. Verhalten gemäß derParteilinie belohnt. Dies ist umso erstaunli-cher, als es keine gesetzliche Grundlage füroder einen Zwang zur Fraktionsdisziplingibt. Sucht man den Grund für dieses starkausgeprägte Interesse an einem einheitli-chen, geschlossenen Auftreten in der demo-kratischen Tradition Deutschlands, so ist derWunsch nach Machterhalt eine plausible Er-klärung.27 Eine andere Meinung sieht es alsdie maßgebliche Aufgabe des Fraktionsge-schäftsführers an, Fraktionsdisziplin herbei-zuführen.Ganghof und Manow kommen in ihrerAnalyse des deutschen Parteiensystems zudem Ergebnis, dass innerparteilicher Wett-

bewerb der Geschlossenheit eher schadet,wohingegen Wettbewerb mit anderen Par-teien zu einem geschlossenen Erscheinungs-bild beiträgt.28 Bezogen auf die gegenwärtigeSituation wäre es also plausibel anzuneh-men, dass die CDU in einer Schwarz-Gel-ben Koalition sich stärker gegen die SPDabgrenzen wird als in einer Großen Koali-tion. Diese Polarisierungsstrategie nachaußen mit gleichzeitiger Homogenisierungnach innen müsste dann umso stärker fürdie FDP zutreffen, deren Regierungsbeteili-gung mit ihrem ,Wunschpartner‘ sie inner-parteilich festigt, da sie sich gegenüberRot-Grün abgrenzen könnte.Die Absorption des institutionellen Akteurs,Bundesrat‘ durch die parteipolitischen Ak-teure ist zwar eine konsistente Anwendungder Absorptionsregel, im Ergebnis verein-facht sie das Ergebnis aber in unzulässigerWeise. Selbst in einer Großen Koalition mitverfassungsändernder Mehrheit, bei der eineAbsorption am wahrscheinlichsten wäre,tritt der Bundesrat nach wie vor als Veto-spieler auf. So legte er etwa zu Zeiten der er-sten Großen Koalition unter Kiesinger beieinem Anteil von 50,6 Prozent Zustim-mungsgesetzen gegen 22 ein Veto ein, davonbei 14 erfolgreich. In der Ära Kohl gab es bei

einem etwas niedrigerem Anteil an Zustim-mungsgesetzen zwischen 1983 und 1990 gerade einmal ein erfolgreiches Bundesrats-veto.29 Und auch in der gegenwärtigen Si-tuation, in der die Regierungskoalition eineMehrheit im Bundesrat besitzt, wird dasVeto als faktisches und strategisches Druck-mittel der Unions-Ministerpräsidenten genutzt.30 Daraus folgt, dass die Überein-stimmung der Mehrheitsverhältnisse inBundestag und Bundesrat kein zuverlässigerIndikator für die Absorption der Vetospielerin Deutschland sein kann. Vielmehr ist derBundesrat ein äußerst heterogener Akteur.Aus zwei weiteren Gründen ist trotz über-einstimmender Mehrheitsverhältnisse inDeutschland die Anwendung der Absorpti-onsregel nicht möglich: Zum einen werdendie Mitglieder des Bundesrats von den Lan-desregierungen bestellt und abberufen.31

Zum anderen verfolgen Landesregierungenoftmals andere Interessen als die Bundesre-gierung, selbst wenn beide von der gleichenPartei gestellt werden.32 Differenzierter be-trachtet stellt sich der Bundesrat als eine An-

Ein an die Macht gekommener Freund,ist ein verlorener Freund./ Henry Brooks Adam /

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sammlung von potentiellen Vetospielern(den Ministerpräsidenten) dar, deren Partei-zugehörigkeit keine zuverlässigen Vorhersa-gen über ihr Abstimmungsverhalten zulässt.

Dennoch bleibt anzuerkennen, dass bei sehrknappen Mehrheitsverhältnissen im Bun-desrat es alleine durch Androhung einesVetos schon forciert zum Kompromisskommt, und der Parteifrieden nicht leicht-fertig riskiert wird. Umgekehrt kann eineGroße Koalition abweichendes Verhaltenleichter tolerieren. So votierte etwa ein Drit-tel der SPD-Abgeordneten gegen den Tor-nado-Einsatz in Afghanistan, ohne damit dieKoalition an sich zu gefährden.Schließlich ist zu beachten, dass der Bun-desrat seine Zusammensetzung aufgrund der16 verschiedenen Landtagswahlen häufigändern kann, was die Dauer der Mehrheits-verhältnisse nur schwer berechenbar macht.Unabhängig von der internen Kohäsion derdarin vertretenen Parteien muss also auchdie interne Kohäsion des Vetospielers ,Bun-desrat‘ beachtet werden.Insgesamt bereitet die Einordnung dieses in-stitutionellen Vetospielers erhebliche Pro-bleme und lässt viele Fragen offen. Sokonnte etwa nicht erklärt werden, warumwährend der zweiten Großen Koalitionnicht eine Vielzahl von Änderungsanträgenaus dem Bundesrat kam, obwohl Tsebelis’erste beiden esen erfüllt waren. Währendsich also für konkrete Fallkonstellationendurchaus verwertbare Erkenntnisse aus derVetospieler-Analyse für die Absorption desBundesrats ergaben, konnten die allgemei-nen Aussagen zum politischen System derBundesrepublik weniger überzeugen.

Kritische Bewertung der VetospielertheorieHauptkritikpunkt an der Vetospielertheorieist, dass die Annahme, wonach jeder Akteurnach der besten politischen Lösung strebt,nicht realistisch ist. Vielmehr müsste auchin Betracht gezogen werden, dass neben deroptimalen Lösung auch Aspekte wie Macht -erlangung und Machterhalt eine Rolle spie-len. Wie sonst könnte man erklären, dass derBundesrat sein Veto strategisch nutzt, umeine Bundesregierung anderer Parteifarbe alsgestaltungsschwach und handlungsunfähigerscheinen zu lassen?

Weiterhin wäre eine stärkere Berücksichti-gung alternativer Erklärungskonzepte wün-schenswert gewesen. So ist nicht ersichtlich,warum etwa das Konzept des buying-out

von Länderstimmen33 nicht berücksichtigtwird, obwohl es gerade für den deutschenFöderalismus zahlreiche Anknüpfungs-punkte bietet. Vermutlich würde dies die Ve-tospielertheorie dahingehend ergänzen, dassPolicy-Outcomes nicht zwangsläufig aufübereinstimmende Policy-Präferenzen kohä-renter Akteure zurückzuführen sind, son-dern auch taktisch mit Erlangung einesVorteils für den Akteur mit abweichendenPräferenzen einhergehen können.Die mit Hilfe der Vetospielertheorie ermit-

telbare prinzipielle Reformfähigkeit ermög-licht weiterhin keine Rückschlüsse auf dieWahrscheinlichkeit des tatsächlichen Ein-tretens der Veränderung. Konsequenterweisemuss dies auf eine methodische Schwächeder eorie zurückgeführt werden. An zahl-reichen Stellen wurden Annahmen über dieVetospieler getroffen, obwohl nur begrenz-tes Wissen über sie und ihre Präferenzen vor-lag. Man mag einwenden, dass mangelndesWissen nicht die Schuld der eorie sei,doch erscheint trotzdem wenig plausibel,weshalb die eorie dieses Wissen voraus-setzt, obwohl es für einen externen Analy-sten faktisch unmöglich ist, dieses Wissenempirisch gesichert vorzuweisen. Also sindalle Vorhersagen mit einem Unsicherheits-faktor behaftet, der sich von eher schwam-migen Angaben über die genaue Position derVetospieler bis hin zu nicht kalkulierbarenAbweichungen der Akteure vom Idealbilddes rationalen Entscheiders durchzieht. Inder Summe multiplizieren sich diese Unge-nauigkeiten, mit dem Ergebnis, dass amEnde keine seriöse Prognose über den Aus-gang einer Entscheidung getroffen werdenkann.Auch in der Konstellation mit abweichen-den Mehrheiten überzeugt die eorie mitihrer Eingliederung des Bundesrats als insti-tutionellem Vetospieler nicht restlos, daoben gezeigt wurde, welchen Einfluss dieMehrheitsverhältnisse auf die Rolle des Bun-desrats haben. Konsequenterweise müssteman einen Bundesrat, der nur durch eineabweichende Mehrheitskonstellation imFalle der Einspruchsgesetze zum Vetospielerwird, als parteipolitischen Vetospieler be-zeichnen. Tsebelis vertritt jedoch die Ge-genposition, zu der man nur gelangen kann,wenn man als Kompetenzgrundlage aus-schließlich Art. 77 Abs. 1 Grundgesetz

wählt. Überzeugender wäre aber, Art. 77Abs. 2-4 nicht zu ignorieren, sondern imGegenteil stärker zu gewichten, da sie spe-ziellere Regelungen zu Zustimmungsgeset-zen enthalten.Die Ermöglichung politischen Handelnsdurch Systeme kann mit der Vetospieler-theorie jedoch präzise analysiert und vergli-chen werden. Die Untersuchung derPolicy-Outcomes eignet sich ferner als Ana-lyserahmen für die Verbindungen zwischenWahl- und Parteiensystem, Föderalismusund Regimetyp und erweitert deren Ver-ständnis.34 Mit Hilfe weniger grundlegenderAnnahmen gelingt ein beträchtlicher Er-kenntnisgewinn hinsichtlich der Reformfä-higkeit und Kontinuität und Wandel vonPolitik. Auch die Gründe für Reformstaulassen sich in Abhängigkeit von den vorhan-denen Vetospielern besser erklären.35

FazitDie Beweiskraft der eorie wurde durchdie zahlreichen Kritikpunkte eingeschränkt,aber man darf optimistischerweise hoffen,dass weitere Modifikationen in der Literaturfolgen werden, die im Moment aber nochnicht überzeugend und umfassend genugsind. Zur Erforschung und zum Vergleichder Reformfähigkeit verschiedener Länderkann die Vetospielertheorie mit der Analyseder Handlungsfähigkeit von Akteuren in-nerhalb der bestehenden Institutionen einenwesentlichen Beitrag leisten. Um restlosüberzeugend zu wirken, bedarf die eorieder Veto-Spieler aber noch weiterer Modifi-kationen.

Anmerkungen1. Tsebelis 2002: 37.2. Kaiser 2007: 1.3. Tsebelis 2002: 1.4. Tsebelis 2002: 19.5. Tsebelis 2002: 19.6. Tsebelis 2002: 2.7. Tsebelis 2002: 37.8. Tsebelis 2002: 2.9. Kaiser 2007: 1.10. Kaiser 2007: 1.11. Mattila 1997: 333.12. Tsebelis 2002: 19.13. Jochem 2003.14. Tsebelis 2002: 26, 28.15. Tsebelis 2002: 25.16. Tsebelis 2002: 18, 34-35.17. Tsebelis 1995: 298-299.18. Tsebelis 2002: 48.19. Tsebelis 2002: 48.20. Tsebelis 1995: 310.

Man wird nicht dadurch besser, dassman andere schlecht macht./ Heinrich Nordhoff /

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53Journal für Generationengerechtigkeit11. Jahrgang · Ausgabe 2/2011

21. Rudzio 2003: 326.22. Georgii/Borhanian 2006.23. Georgii/Borhanian 2006: 202.24. Tsebelis 2002: 25.25. Handelsblatt Berlin: http://www.han-delsblatt.com/politik/deutschland/dauer-zoff-reisst-merkels-koalition-in-die-tiefe/3387446.html. Abgerufen am 10.03.2010.26. Westphalen/Bellers 2001: 230.27. Walter 2009: 80.28. Saalfeld 2005: 47.29. Saalfeld 2005: 47.30. Gathmann/Wittrock 2009: http://w w w. s p i e g e l . d e / p o l i t i k / d e u t s c h -land/0,1518,657581,00.html. Abgerufenam 10.03.2010.31. Grundgesetz: Art. 51 Abs. 1.32. Merkel 2003: 168.33. Merkel 2003: 171.34. Ganghof 2003: 3.35. Strohmeier 2003: 17-22.

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Lennart Grumer, Jahr-gang 1985, studierte inFreiburg Politikwissen-schaft, Neuere undNeueste Geschichte,sowie ÖffentlichesRecht. InhaltlicheSchwerpunkte sind die

ökonomische eorie der Politikwissen-schaft, Rational-Choice-Ansätze, sowie Stra-tegie- und Kampagnenplanung inWahlkämpfen. Magisterarbeit zur eorieder rationalen Wahlentscheidung. Er ist der-zeit tätig als Analyst bei der strategischen Po-litikberatung Andreas Becker.

Kontaktdaten:Strategische Politikberatung Andreas Beckerz.Hd. Lennart GrumerWilhelmstr. 24aD-79098 Freiburg

Tel: +49 (0) 761/29 21 450Fax: +49 (0) 761/38 39 898E-Mail: [email protected]

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54 Journal für Generationengerechtigkeit11. Jahrgang · Ausgabe 2/2011

usammenfassung: Der Beitrag erörtert die Bedingungen generatio-nengerechter Politik in der Parteien-

demokratie Bundesrepublik und überprüfteinen möglichen Ausweg aus dem parteitakti-schen ,Klein Klein‘: Direkte Demokratie. DerVergleich von Verfassungsreformen in verfloch-tenen Systemen hat gezeigt, dass besonders abgekoppelte Entscheidungs- und Verhand-lungsarenen zum Erfolg von Reformen beitra-gen.1 Doch taugen Volksabstimmungentatsächlich als alternativer Handlungsraum inder repräsentativen Demokratie, in dem auchgroße, generationengerechte Reformwerke um-gesetzt werden können? Um Antworten für dendeutschen Fall zu gewinnen, werden die di-rektdemokratischen Praktiken jeweils auf na-tionaler Ebene im westeuropäischen Vergleichanalysiert. Anhand der Motive der Parteien beider Auslösung von direktdemokratischen Ab-stimmungen wird überprüft, inwiefern direkteDemokratie von kurzfristigen, parteitaktischenInteressen bestimmt wird oder Raum für pro-blemorientierte Vorlagen lässt. Dabei wirddeutlich, dass besonders obligatorische Referen-den aufgrund ihrer speziellen Konstruktions-weise weniger für eine parteitaktische, als füreine sachorientierte Nutzung geeignet sind.Dementsprechend wird abschließend ein Szenario eines möglichen obligatorischen Refe-rendums im politischen System der Bundesre-publik entworfen, das diesen Implikationenentspricht.

EinleitungVolksabstimmungen erlangen eine immergrößere Bedeutung in den politischen Systemen Europas und genießen einenhohen Zuspruch bei den Bürgern, ganz imGegensatz zu den Parteien. Auch in derBundesrepublik wird ihre Einführungimmer wieder als Reforminstrument auf derBundesebene gefordert, während sich aufLänderebene direkte Demokratie inzwi-schen fest etabliert hat. Generationengerechte Politik, Parteistrategien und direkte DemokratieGenerationengerechte Politik, als eine Form

langfristig angelegter, grundlegender Refor-men, ist am ehesten dort durchsetzbar, wodie Parteien nicht parteitaktisch agieren oderagieren können, also ,policy‘-Orientierung(Durchsetzung von bestimmten Inhalten)ihr Verhalten prägt, während eine ,politics‘-Orientierung (zu Gunsten von kurzfristigenVorteilen bei Wahlen und im Parteienwett-bewerb) eher abträglich ist.2 Inwiefern di-rektdemokratische Verfahren überhauptinstrumentalisierbar sind und zur Durchset-zung von parteipolitischen Machtinteressendienen, hängt von ihrer institutionellen Ge-staltung ab. Jung3 unterscheidet Verfahrenhinsichtlich der Auslösung durch das Volk,der Auslösung durch Regierende und der au-tomatischen Auslösung durch eine Verfas-sung. Die erste Variante entspricht demIdealtyp der Initiative, die zweite dem desReferendums und die dritte dem Idealtypdes obligatorischen Referendums. Währenddie Urheberschaft beim Referendum ge-nauso wie die Auslösung allein bei den Re-gierenden liegt, also geschlossen ist, gilt esbei den offenen Verfahren zu unterscheiden.Bei Gesetzesinitiativen sind Auslösung undUrheberschaft offen, bei der Referendums-initiative dagegen nur die Auslösung, wäh-rend der Inhalt sich auf ein schonbestehendes Gesetz bezieht.In Anlehnung an Morel4 lassen sich fünfMotive von Parteien, eine Volksabstimmungzu betreiben, individualisieren: Die Media-tions-, die Agenda-, die legislative Funktion,die Legitimations- und die Vetofunktion.Diese Motive korrespondieren unterschiedlich mit kurzfristigen parteipoli-tischen oder eher langfristigen inhaltlichenZielen, wie die folgenden Erörterungen ge-trennt nach Verfahren zeigen.5

So machen nicht alle von Morel unterschie-denen Motive bei offenen Verfahren Sinn;die Mediation etwa. Es wird keine Opposi-tionspartei eine Unterschriftensammlungfür eine Gesetzesinitiative betreiben, umeiner Zerreißprobe zu entgehen. Viel eherwürde die Entscheidung vertagt, da in derOpposition gar keine Notwendigkeit zur

Entscheidung besteht. Die Mediation fälltgenauso weg wie die personengebundeneNutzung, da sie das logische Gegenteil deroffenen Auslösung ist. Übrig bleiben vierMotive (der Oppositionsparteien) für dieAuslösung einer Gesetzes- oder Referen-dumsinitiative. Die Agenda- und die Legiti-mationsfunktion haben einen deutlichen,politics‘-Charakter. Die Agenda-Funktionentspringt der Notwendigkeit, eine direkt-demokratische Entscheidung aufschiebenoder vorholen zu müssen, um parteipolitischungünstige Konstellationen abzuwenden.Der Klassiker ist hier eine anstehende Wahl,aus der ein parteipolitisch ungünstigesema durch eine vorher abgehaltene Ent-scheidung herausgehalten werden soll. Eine

anstehende Wahl könnte auch bei der Legi-timationsfunktion eine Rolle spielen, wenneine direktdemokratische Initiative beson-ders zur Profilierung im Vorfeld von einerPartei genutzt wird. Die legislative und dieVetofunktion entsprechen dagegen der ,po-licy‘-Dimension. Zwar können Parteien eineGesetzesinitiative betreiben, um die Regie-rungsarbeit zu stören, doch wird dieser Um-stand schon mit der Legitimationsfunktionabgedeckt. Bei der legislativen Funktiongeht es primär um den Versuch der Durch-setzung von Inhalten. Die Vetofunktion er-gibt sich nur im Zusammenhang einerReferendumsinitiative, da Gesetzesinitiati-ven einen neuen Gesetzesvorschlag trans-portieren und nicht als Veto fungierenkönnen.Bei Referenden sind aufgrund der geschlos-senen Auslösung eigentlich nur die Motiveder Regierungspartei(en) zu berücksichti-gen. Oppositionsparteien können lediglichrelevant werden, wenn etwa zur Auslösungeines Referendums eine besonders qualifi-zierte Mehrheit im Parlament notwendig ist.

Z

Bedingungen generationengerechter Politik in der deutschen Parteiendemokratie – Formen direkter Demokratie als Blockadelöser?von Dr. Eike-Christian Hornig

Die Menschen sind keineswegs böse,sondern nur ihren Interessen unter-worfen./ Claude Adrien Helvétius /

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55Journal für Generationengerechtigkeit11. Jahrgang · Ausgabe 2/2011

Dabei ergeben sich fünf Motive für Parteien,ein Referendum zu betreiben. Die Mediati-onsfunktion steht im Zeichen von ,politics‘.Hintergrund ist die Behebung oder Minde-rung einer parteiinternen Spaltung durchdie Auslagerung der Entscheidung. Bei derAgendafunktion wird eine direktdemokrati-sche Entscheidung auf einen für die betei-ligte Partei günstigeren Termin verschobenoder vorgeholt. Dies kann aus einer Positionder Schwäche und Stärke heraus passieren.Bei der legislativen Funktion steht dagegenwieder die ,policy‘-Prägung im Vorder-grund. Es geht primär um die Umsetzungvon Inhalten. Die Legitimationsfunktiondagegen kann beide Charakterisierungen annehmen. Die Legitimation eines Geset-zesvorhabens entspricht der ,policy‘-Di-mension. Ziel ist die Herstellung einesbreiten gesellschaftlichen Konsenses über einema.Die Stärkung der Legitimation einer Partei,wie bei der zweiten Variante, entspricht der,politics‘-Dimension. Hier ist es egal, ob derHintergrund eine Position der Schwächeoder Stärke der Partei ist, da die Einsetzungder Abstimmung im Kontext des parteipoli-

tischen bzw. parlamentarischen Wettstreitessteht. Die Vetofunktion entspricht wiederder ,policy‘-Dimension.

Obligatorische Referenden sind kontextbe-zogen auf Verfassungsänderungen oder dieÜbertragung von Souveränität. Aus der Be-deutung und der ,Schwere‘ der betreffendenMaterie erwächst der gesetzliche Zwang zurAbstimmung bei einer Veränderung des le-gislativen Status quo. Es wäre daher nahe lie-gend, im Kontext von obligatorischenReferenden keine parteipolitischen Um-stände der Auslösung zu vermuten. Dem-nach würden alle Abstimmungen eineLegitimationsfunktion erfüllen. Doch auchim Kontext der Auslösung von obligatori-schen Referenden kann nach dem Kalkülvon Parteien gefragt werden. Wird bei-spielsweise eine Verfassungsänderung vorge-zogen, da ein ema aus dem anstehendenWahlkampf herausgehalten werden soll?

Denkbar ist auch, dass Verfassungsänderun-gen aufgrund von Massendemonstrationenerfolgen. Allerdings kann auch ein breitergesellschaftlicher Konsens zur Änderungeines bestimmten Gesetzes bestehen, sodassdie tatsächliche Legitimationsfunktion desVerfahrens im Vordergrund steht. Infragekommen demnach die Agenda-, die Legiti-mations- und die Vetofunktion. Weggelas-sen werden die Mediation und diepersonengebundene Nutzung. In der Regelwerden bei obligatorischen Volksabstim-mungen Entscheidungen des Parlamentesdem Wähler zur Ratifizierung vorgelegt, so-dass diese nur schwerlich eine Ausflucht auseiner inneren Spaltung sein können, da eszuvor im Parlament galt, Farbe zu bekennen.Die personengebundene Nutzung liegt querzur Verfahrensgestaltung und Verfahrens-nutzung. Die legislative Funktion fällt eben-falls weg, da die Parlamentsmehrheit oderMinderheitsregierung nicht versuchen kann,über den Umweg einer Abstimmung eineBlockade zu umgehen. Die drei Motive ent-sprechen wiederum den oberhalb getroffe-nen Einordnungen.

Tabelle 1: Übersicht der Motive der Parteien bei der Auslösung von Initiativen.

Tabelle 2: Übersicht der Umstände bei der Auslösung von Referenden durch Parteien.

Unsere Glaubwürdigkeit steht undfällt mit der Übereinstimmung unserer Gedanken, Worte und Werke./ Ernst Ferstl /

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Es zeigt sich im Vergleich der Verfahren, dassder Hintergrund ihrer Auslösung durch Par-teien sowohl einen parteitaktischen, eherkurzfristigen ,politics‘-Charakter als aucheinen eher inhaltlich bestimmten, über denTag der nächsten Wahl hinausgehenden,,policy‘-Charakter haben kann. Welchedavon in der Realität tatsächlich die direkt-demokratische Praxis in Westeuropa geprägthaben, zeigt der nächste Abschnitt.

Der Vergleich der westeuropäischen PraxisDie Grundlage der Analyse6 ist die direkt-demokratische Praxis in Italien, Großbri-tannien, Norwegen, Dänemark, Schweden,den Niederlanden, Österreich, Frankreich7

und der Schweiz. Zugrunde gelegt wurdenalle Abstimmungen seit 1945 und in derSchweiz seit 1999. Damit wurden sowohloffene (Schweiz und in Italien), als auch ge-schlossene Verfahren (bei den restlichenLändern), sowohl häufig (Schweiz und Ita-lien) als auch selten oder einmalig genutzteVerfahren (Niederlande und Großbritan-nien) berücksichtigt. Bei den Initiativenwerden nur die Abstimmungen aus der Ge-samtmenge mit einbezogen, an deren Aus-lösung auch Parteien beteiligt waren.Insgesamt wurden für die Frage nach denMotiven der Parteien bei der Auslösung vondirektdemokratischen Abstimmungen 132Abstimmungen untersucht, an denen Par-teien beteiligt waren. Mit Mehrfachnen-nungen wurden 141 Motive ausgemacht.Die erfassten Motive der Parteien werdenhier erstmals einzeln für jeden Verfahrens-typ dargestellt.Die Auslösung von Abstimmungen durchParteien wird mehrheitlich durch ,policy‘-orientierte Motive verursacht (58,5 Pro-zent). Dem stehen 41,4 Prozent derermittelten 141 Motive gegenüber, beidenen kurzfristige, parteitaktische Erwä-gungen ursächlich waren. In diesen Fällenwird direkte Demokratie von den Parteien

instrumentalisiert, um sich insbesondereVorteile bei anstehenden Wahlen zu ver-schaffen – das deutlichste Zeichen der ,poli-tics‘-Dimension.Die Nutzung von Initiativen als offene Verfahren durch Parteien ist im westeuro-päischen Vergleich mehrheitlich ,policy‘-ori-entiert. Das Verhältnis gegenüber der,politics‘-Dimension ist 59 zu 41 Prozent.Das dominierende Motiv ist die legislativeFunktion. In 37 Prozent der Fälle veranlasstedie Unfähigkeit auf einem anderen Wegeeinen neuen legislativen Status quo in einembestimmten Bereich herbeizuführen Parteiendazu, eine Initiative zu betreiben. Dies weistauf die Bedeutung von offenen Verfahreninsbesondere für Parteien in der Oppositionhin. Etwa 22 Prozent aller betriebenen In-itiativen dienten in einer Vetofunktion, vorallen Dingen die Referendumsinitiativen. In35 Prozent der Fälle spielt die parteitaktischmotivierte Legitimationsfunktion die Rolle,Rückhalt für die Politik/Position der ent-sprechenden Partei zu generieren oder umdie Regierungsparteien zu schwächen. Of-fene Verfahren sind besonders für kleine Par-teien eine Möglichkeit, Aufmerksamkeit aufsich zu lenken und sich eventuell mit einerGesetzes- oder Referendumsinitiative zuprofilieren.8 Dies ist bei der Analyse der Ver-fassungsinitiative in der Schweiz deutlich ge-worden, wo vor Wahlen z.B. die SchweizerDemokraten, aber auch die Sozialdemokra-ten, mit Vorlagen entsprechend in Erschei-nung getreten sind. Eine geringe Rolle spieltmit nur sechs Prozent der Motive die Agen-dafunktion. Die Erfahrungen aus derSchweiz und aus Italien zeigen also, dass In-itiativen durchaus als Verfahren für genera-tionengerechte Politik infrage kämen. Sowurden ja auch schon anhand der Verfas-sungsinitiative in der Schweiz und des abro-gativen Referendums in Italien großeReformschritte erreicht. Allerdings sprichtdie offene Auslösung und Urheberschaftauch für eine mögliche Unbeständigkeit im

Nutzungsverhalten, d.h. je nach politischenKonstellationen, kann sich das Verhältnisvon ,politics‘- und ,policy‘-Nutzung wiederverändern.Bei den geschlossenen Verfahren ergebensich deutliche Unterschiede bei den Ergeb-nissen. Das obligatorische Referendum stehtfast vollständig im Zeichen ,policy‘-orien-tierter Politik (92 Prozent). Die Legitimati-onsfunktion dominiert dabei mit einemAnteil von 59 Prozent. In diesen Fällendiente direkte Demokratie tatsächlich derHerstellung eines breiten gesellschaftlichenKonsenses bei einer Entscheidung mit be-sonderer Tragweite. Hinzu kommen 29 Pro-zent Vetomotive, wenn Parteien ihreSperrminorität ausnutzten, um eine Ab-stimmung auszulösen und ein bestimmtesGesetz aufzuhalten. Aber auch Regierungs-parteien stimmten für Abstimmungen,wenn sie eine parlamentarische Blockadeoder einen Patt innerhalb der Regierungs-koalition umgehen wollten.Referenden sind dagegen am deutlichstenvon der ,politics‘-orientierten Nutzungdurch Parteien geprägt. Hier schlägt dieLogik des Antagonismus von Regierung undOpposition und damit von rivalisierendenParteien bzw. Parteienkoalitionen durch. In63 Prozent der Fälle sind Referenden ausden Mechanismen, Logiken und Dynami-ken des taktischen Parteienwettbewerbesheraus entstanden. Am häufigsten (26 Pro-zent) dienten Referenden dabei den Parteienzu ihrer zusätzlichen Legitimation im parteipolitischen Wettstreit. Regierungspar-teien haben es auch häufig auf die Mediati-onsfunktion von Abstimmungen abgesehen(17 Prozent). Um eine Zerreißprobe beieinem parteiintern umstrittenen ema zuvermeiden, wird die Verantwortung der Ent-scheidung in die Hände der Wähler verla-gert. Die Konstitution von Parteien ist alsoeine wichtige Triebfeder für die Auslösungvon Abstimmungen. In diesem Zusammen-hang steht auch die Agendafunktion, mit

Tabelle 3: Übersicht der Umstände für die Auslösung von obligatorischen Referenden.

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ebenfalls 17 Prozent der Motive. Druck vonAußen zwingt die Parteien zum Handeln.Dies sind häufig Parlamentswahlen. Regie-rungsparteien versuchen für sie ungünstigeemen durch Abstimmungen aus Wahl-kämpfen herauszuhalten.

Die drei ,policy‘-orientierten Motive kom-men zusammen auf 40 Prozent, wovon dieHälfte auf die Vetofunktion zurückgeht.Häufig stimmen Parteien der Oppositionfür Abstimmungen, um Projekte der Regie-rungsmehrheit zu stoppen. Um die möglichst breite Legitimierung einer Ent-scheidung geht es in 17 Prozent (Legitima-tion 1). Die legislative Funktion spielte mitnur einem Anteil von drei Prozent keineRolle. Hintergrund sind hier die Versuchevon einzelnen Parteien, z.B. den italieni-schen Sozialisten im Jahr 1987, aus ihrenKoalitionsregierungen auszuscheren undauch Inhalte gegen die eigentlichen Koaliti-onspartner in einer neuen referendumsbe-zogenen Koalition durchzusetzen. Dass diesnicht unnötig auf Kosten der Koalitions-partner gehen sollte (wie es der Legitimati-onsfunktion entsprechen würde), ergibt sichaber aus der Koalitionssituation, an dernichtsdestotrotz festgehalten werden sollte.Der Unterschied zwischen den Motivlagender Parteien bei der Nutzung von Referen-den und von obligatorischen Referendenführt zu grundlegenden Schlussfolgerungen.Erstens weist das obligatorische Referendumeine höhere ,policy‘-Quote auf. Dies unter-streicht die Bedeutung der institutionellenUnterschiede der Verfahren für die Art derNutzung durch die Parteien. Als wesentli-cher Punkt schält sich hier die Kompetenzzur Auslösung heraus, die die Parteien beimobligatorischen Referendum mit der Verfas-sung teilen müssen. Dort wo sie darüber ver-fügen, nämlich bei normalen Referenden,beläuft sich der Anteil der parteitaktischenMotive, bei denen die Kompetenz zur Aus-lösung der Schlüssel ist, sogleich auf einDrittel (Agenda und Mediation).

Möglichkeiten generationengerechterPolitik durch direkte Demokratie in derBundesrepublikSoweit kann als erstes festgehalten werden,dass nicht der Fehler gemacht werden sollte,

den Regierungsparteien die Möglichkeit ein-zuräumen, bei einfachen Gesetzen ein Refe-rendum ansetzen zu können, da dieseVerfahren eher zu einem Instrument im par-teitaktischen Arsenal der Parteien werden.Die Analyse hat auch gezeigt, dass offeneVerfahren grundsätzlich von Parteien ehersachorientiert eingesetzt werden, was ei-gentlich für generationengerechte Politik po-sitiv ist. Doch empfiehlt sich dieImplementierung einer Gesetzesinitiative indas politische System der Bundesrepublikaufgrund der Politikverflechtung nicht.9 Re-ferendumsinitiativen dagegen haben denNachteil, dass sie nicht konstruktiv wirken,sondern reine Vetoinstrumente sind. Vondaher fallen also beide Varianten offenerVerfahren weg.Bleibt noch das obligatorische Referendum.Wie muss ein solches Verfahren ins institu-tionelle System auf Bundesebene imple-mentiert werden, dass es eine Wirkung alsInstrument gegen parteipolitische Blocka-demechanismen entfalten kann? Als ent-scheidend für die ,policy‘-orientierteNutzung hat sich die Automatisierung derKompetenz zur Auslösung erwiesen, die beiReferenden wiederum der Schlüssel zur par-teitaktischen Nutzung gewesen ist. Wennalso ein Instrument außerhalb des deutschenParteienstaates gefunden werden sollte, danndieses. Vorstellbar wäre, dass für alle Verfas-sungsänderungen folgender Mechanismusgilt.Verfassungsänderungen beginnen im Bun-destag, wo sie entweder mit einfacher odermit Zweidrittelmehrheit angenommen wer-den können. Die Höhe der Annahme ent-scheidet über den weiteren Verlauf. Ist dieAnnahme mit einer Zweidrittelmehrheit er-folgt, dann signalisiert dies einen partei-übergreifenden Konsens, der die Logik vonRegierung und Opposition außer Kraftsetzt. Die Vorlage kommt dann zum Bun-desrat, bei dem die Regelungen des Bundes-tages umgekehrt angewendet werden undsich auf die Ablehnung beziehen. Wird dieVorlage angenommen, und zwar egal mitwelcher Mehrheit, passiert nichts. Wird dieVorlage dagegen abgelehnt, bestimmt dieHöhe der Ablehnung über das weitere Pro-zedere. Bei einer Ablehnung von bis zu zweiDritteln im Bundesrat ist von Länderinter-essen auszugehen, die ursächlich sind. Dader Konsens im Bundestag so groß war, ist esunwahrscheinlich, dass hinter der Bundes-ratsablehnung parteipolitische Motive ste-hen. Dadurch, dass es schon vorher galtFarbe zu bekennen, wäre dies mit einem

Glaubwürdigkeitsverlust für die Parteienverbunden. Liegt die Ablehnung allerdingsnoch über zwei Dritteln, dann deutet diesauf ein gravierendes Problem im Mehrebe-nensystem hin, sodass der Vermittlungsaus-schuss zum Einsatz käme. In dieser Variantespielt direkte Demokratie als ,Exit‘-Mecha-nismus keine Rolle, da durch die institutio-nelle Konstruktionsweise klar wird, dass essich nicht primär um ein parteipolitischesBlockadespiel handelt.Dies ist in der zweiten Variante anders. Hiererfolgt die Annahme einer Verfassungsände-rung im Bundestag mit der einfachen Mehr-heit der Regierungsfraktionen, während dieOpposition diese ablehnt. Klar ist hier derparteipolitische Konflikt. Die Vorlagekommt dann zum Bundesrat. Wird diesenicht mit einer Zweidrittelmehrheit ange-nommen, sondern nur mit einfacher Mehr-heit oder sogar abgelehnt, dann kommt esaus zwei Gründen zum obligatorischen Re-ferendum. Erstens dient eine Abstimmungals zusätzliche Legitimationsinstanz einerVerfassungsänderung für den Fall, dass Bun-destag und Bundesrat parteipolitisch gleichbesetzt sind. Ansonsten würden Verfas-sungsänderungen mit einfacher Mehrheit inbeiden Häusern direkt durchgehen. Derzweite Fall bezieht sich dagegen auf die par-teipolitische Blockade, die bei einer rechtknappen Ablehnung zu vermuten ist. Dabeikann das obligatorische Referendum einemStillstand begegnen und die Ablehnung desBundesrates überstimmen. Nur wenn dieAblehnung im Bundesrat bei mehr als zweiDritteln liegt, ist die Verfassungsänderunggescheitert, da hier vermutlich vitale Inter-essen zur gemeinsamen Position der Ländergeführt haben. In diesem Fall überstimmendie Länder mit ihrer Zweidrittelmehrheit dieeinfache Annahme im Bundestag. Parteipo-litische Instrumentalisierungen der Bundes-ratsstimmen durch die Parteien erweisensich wieder dadurch schwierig, dass es schonvorher im Bundestag galt, Farbe zu beken-nen. Diese Konstruktionsweise eines obliga-torischen Referendums würde nur schwerparteitaktischen Motiven bei Regierung undOpposition entsprechen können.

Die Mediation fällt auf beiden Seiten weg,da es bereits im Bundestag gilt, Farbe zu be-kennen und parteiinterne Spaltungen als er-stes parteitaktisches Motiv keine Rollespielen können. Auch die Agendafunktionals zweites parteitaktisches Motiv fällt aufbeiden Seiten weg, da die Regierung nichtdie Herbeiführung der Abstimmung beein-

Das Regieren in einer Demokratiewäre viel einfacher, wenn man nichtimmer wieder Wahlen gewinnenmüsste./ Georges Clemenceau /

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flussen kann, da dies vom Bundesrat ab-hängt. Die Opposition kann ihrerseits denProzess der Verfassungsänderung aus ihrerPosition gar nicht einleiten, um eventuelleine Abstimmung vorzuziehen. Die partei-taktische Legitimation (Legitimation 2) imSinne einer Stärkung der eigenen Positionim Parteienwettbewerb ist dagegen als Aus-lösungsmotiv unter diesen institutionellenBedingungen zumindest bei den Regie-rungsparteien möglich. Sie könnten ein Ver-fassungsreformprojekt angehen, von dem siewissen, dass es die Opposition schwächenwürde, da z.B. vertikale Kräfte innerhalb derOppositionsparteien zu unterschiedlichenVoten im Bundestag und Bundesrat führenkönnten. Auf der Seite der Oppositionspar-teien kommt dieses Motiv dagegen nichtzum Tragen, da sie wiederum aus ihrer Posi-tion einen Reformprozess nicht einleitenkönnen. Es bleiben also nur noch ,policy‘-orientierte Motive übrig. Auf der Seite derRegierungsparteien sind dies in erster Liniedie legislative und die Legitimationsfunk-tion, während das Veto wegfällt. Auf derSeite der Oppositionsparteien fällt dagegendas legislative Motiv weg, da sie ansonsteneinfach zustimmen könnten. Naheliegendist ein Veto. Vorstellbar ist aber auch das Le-gitimationsmotiv, wenn eine Entscheidungals so grundlegend erachtet wird, dass sieeiner besonderen Bestätigung bedarf.Es zeigt sich also, dass eine solche Kon-struktionsweise die Vorteile, die obligatori-sche Referenden vor dem Hintergrund der,politics-policy‘-Dichotomie mit sich brin-gen, hervorbringen würde. Zwar muss derImpuls für generationengerechte Politikdann immer noch aus der repräsentativenSphäre kommen, aber durch die Konstruk-tionsweise kann die Wahrscheinlichkeiteiner ,Opposition um der Opposition wil-len‘ zumindest reduziert und die Sachorien-

tierung bei den Parteien erhöht werden, wiedie möglichen Motive zeigen.

Fazit und AusblickDer theoretische Ausgangspunkt war, dassgenerationengerechte Politik als eine Formgrundlegender Reformen am ehesten dortdurchsetzbar ist, wo die Parteien nicht par-teitaktisch agieren oder agieren können, also,policy‘-Orientierung ihr Verhalten prägt,während eine kurzfristige ,politics‘-Orien-tierung abträglich ist. Dies wurde für direkteDemokratie als möglicher Blockadelöserüberprüft. Als Indikator wurde der partei-politische Hintergrund im Moment derAuslösung durch Parteien, sichtbar anhandder Motive, herangezogen. Im Ergebnishaben die direktdemokratischen Prozesse inWesteuropa viel Raum für langfristige, ,po-licy‘-orientierte Politik eröffnet. Am häufig-sten sind obligatorische Referenden frei vonparteitaktischem Kalkül gewesen, danachInitiativen und am wenigsten Referenden.Die Implementierung eines obligatorischenReferendums wird auch in der Literatur alsam ehesten kompatibel mit dem deutschenInstitutionensystem betrachtet, sodass ab-schließend eine mögliche Konstruktionsweiseentworfen wurde, die der ermittelten ,policy‘-Prägung anderer derartiger Verfahren inWesteuropa entspricht. Dieses Instrumentwürde die Wahrscheinlichkeiten von partei-politisch motivierten Blockaden durch denBundesrat auflösen. Wie die Bürger dann ab-stimmen werden, ist eine andere Frage.

Anmerkungen1. Vgl. Benz 2011: 199-216.2. Zu den Zielen von Parteien vgl. Strom1990: 565-589.3. Vgl. Jung 2001.4. Vgl. Morel 2007: 1045.5. Die Erwägungen über Initiativen betref-

fen nur Parteien der Opposition, da nurdiese im Regelfall ein Motiv für die Auslö-sung einer Initiative bzw. Referendumsin-itiative haben.6. Die Ausführungen und Daten basierenauf Hornig 2011.7. Aus der französischen direktdemokrati-schen Praxis werden nur die beiden Verfas-sungsreferenden aus den Jahren 1958 und2000 berücksichtigt, da das präsidentielleReferendum nach Artikel 11 der Verfassungim vorliegenden Zusammenhang einer mög-lichen Übertragbarkeit der Ergebnisse auf-grund der speziellen Konstruktion imKontext des semipräsidentiellen Systemsnicht infrage kommt.8. Vgl. Hager 2005.9. Vgl. Decker 2005: 1105.

LiteraturBenz, Arthur (2011): Escaping Joint-Deci-sion Traps: National and Supranational Ex-periences Compared. In: Falkner, Gerda(Hg.): e EU's Decision Traps. ComparingPolicies. Oxford: Oxford University Press,199-216.

Decker, Frank (2005): Die Systemverträg-lichkeit der direkten Demokratie. In: Zeit-schrift für Politikwissenschaft, Jg. 12, Heft4, 1103-1148, hier 1105.

Hager, Lutz (2005): Wie demokratisch istdirekte Demokratie? Wiesbaden: VS Verlagfür Sozialwissenschaften.

Hornig, Eike-Christian (2011): Die Partei-endominanz direkter Demokratie in West-europa. Baden-Baden: Nomos.

Jung, Sabine (2001): Die Logik direkter De-mokratie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozial-wissenschaften.

Tabelle 4: Übersicht möglicher Motive beim obligatorischen Referendum in der Bundesrepublik

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59Journal für Generationengerechtigkeit11. Jahrgang · Ausgabe 2/2011

Morel, Laurence (2007): e Rise of ‘Politi-cally Obligatory’ Referendums. e 2005French Referendum in Comparative Per-spective. In: West European Politics, Jg. 30(5/2007), 1041-1067, hier: 1045.

Strom, Kaare (1990): A Behavioral eoryof Competitive Political Parties. In: Ameri-can Journal of Political Science, Jg. 34(2/1990), 565-589.

Dr. rer. pol. Eike-Chri-stian Hornig, Jahrgang1978, studierte Politik,Geschichte und Me-dienwissenschaften ander Universität Osna-brück und an der Uni-versità degli studi

Roma Tre. Von 2006 bis 2009 war er wis-senschaftlicher Mitarbeiter an der Universi-tät Osnabrück. 2009 erfolgte diePromotion. Nach einem Jahr an der Fern-Universität in Hagen, ist er seit Oktober

2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am In-stitut für Politikwissenschaft der Techni-schen Universität Darmstadt.

Kontaktdaten:Dr. Eike-Christian HornigWissenschaftlicher MitarbeiterInstitut für PolitikwissenschaftTechnische Universität DarmstadtResidenzschlossD-64283 DarmstadtTel.: 0049/6151-164253Fax: 0049/6151-164602

Dem Parteienwettbewerb die Beuteorientierung nehmen. Plädoyer für eine Direktwahl der Minister

von Volker Best

usammenfassung: Ein großes Pro-blem langfristig orientierter Politikin der Bundesrepublik Deutschland

besteht darin, dass die Parteien sich auch dannnichts schenken, wenn sie inhaltlich nahe bei-einanderliegen. Schließlich will die Regierungwiedergewählt werden und die Opposition dieRegierung als unfähig darstellen, um selbst andie Macht zu gelangen. Eine Direktwahl derMinister würde die Ämterfrage separat klärenund den Parteien einen Anreiz geben, mitein-ander zur Erreichung sachpolitischer Ziele zukooperieren.

Die engen Grenzen von Kooperationund Sachorientierung im politischen System der Bundesrepublik DeutschlandDie Kurzfristigkeit der Problemlösungen istein in allen demokratischen Regierungssy-stemen verbreitetes Problem.1 Für eine lang-fristig ausgerichtete Politik gibt es umsomehr Raum, je mehr es gelingt, die Partei-enkonkurrenz auf das für eine Demokratieunerlässliche Maß zu begrenzen und dieChancen auf eine Kooperation der Parteienzu stärken. Auch – und in mancher Hinsichtinsbesondere – das politische System derBundesrepublik Deutschland gibt allerdingswenig Anreize für Kooperation und nach-haltige Politik. Regierungspolitiker sind zu-vorderst an ihrer Wiederwahl interessiert, dieihnen ja nicht nur ihr Amt und damit ein-hergehende Privilegien sichert, sondern auchkünftigen politikinhaltlichen Einfluss. Seltengeht die Sachorientierung so weit, dass fürnötig oder wünschenswert gehaltene Politik-

inhalte ohne Rücksicht auf ihre Folgen für dieWiederwahlchancen umgesetzt würden.2

Sinnfälligerweise wurde die vielleicht weitrei-chendste Sozialreform in der Geschichte derBundesrepublik, die Agenda 2010, von derrot-grünen Koalition nicht aus einer Positionrelativer Stärke heraus betrieben, sondern justin dem Moment, als ihre Umfragewerte aufdem Nullpunkt angelangt waren, als Versucheines Befreiungsschlags aus nahezu hoff-nungsloser Lage ins Werk gesetzt.3 Der Zweckder Wiederwahl heiligt vor allem im Wahl-jahr so gut wie jedes Mittel: Arbeitslosensta-tistiken werden geschönt, Wirtschaftsdatenaufgehübscht, Etatlöcher kleingeredet. DieWiederwahlfixierung führt zu einem Mangelan Wahrhaftigkeit, wo es doch für die Tragfä-higkeit politischer Lösungen essenziell ist, inder öffentlichen Diskussion möglichst weitzur Wahrheit vorzustoßen.4

Reformkorridor-Vernichtungs-FöderalismusEine Spezifität des deutschen politischen Systems, die den Mut der Regierung zu kurz-fristig vielleicht unpopulären, aber im Sinneder Nachhaltigkeit gebotenen Reformen be-sonders beeinträchtigt, ist die Durchsetzungder Legislaturperiode mit Landtagswahlen,deren Resultate die Mehrheitsverhältnisse imBundesrat verändern und damit die Manö-vrierfähigkeit der Regierung einschränkenkönnen. Denn in der Tendenz wird bei denals bundespolitische Protestwahlen zweck-entfremdeten Landtagswahlen insbesonderedie Kanzlerpartei abgestraft. Wagt sich eineRegierung doch einmal an unpopuläre Re-

formen heran – auch dies lässt sich am Bei-spiel der Agenda 2010 ablesen –, fällt dieser,Zwischenwahleffekt‘ besonders massiv aus.5

So irgend möglich legt die Regierung daherzumindest vor wichtigeren Landtagswahlenund insbesondere, wenn ihre Bundesrats-mehrheit akut zu kippen droht, eine Re-formpause ein.6 So ließ Schwarz-Gelb seineBundesratsmehrheit mit Rücksicht auf dieNRW-Wahl im ersten halben Jahr ungenutzt;da diese trotzdem verloren ging, ist wohlkeins der zentralen Wahlversprechen mehrumsetzbar. In der Regel begehen Regierungennotwendige Grausamkeiten, getreu der DeviseMachiavellis, direkt zu Beginn der Legislatur-periode – in der Hoffnung einer Stimmungs-aufbesserung bis zur nächsten Wahl aufgrundpositiver Effekte der Reformen oder schlichterVergesslichkeit der Wähler.7

Nicht zufällig wurden nicht nur die Agenda2010, sondern auch die Mehrwertsteuerer-höhung, die Rente mit 67 und die Ökosteuer zu Beginn der jeweiligen Legisla-turperioden initiiert.

Dauerwahlkampf und kein EndeEine Einhegung des reformfeindlichen Dau-erwahlkampfs scheint kaum möglich: EineVerlängerung der Legislaturperiode auf fünfJahre, wie sie etwa Bundestagspräsident Nor-bert Lammert immer wieder propagiert, ließezwar mehr Luft zwischen den Bundestags-wahlkämpfen, brächte aber in Bezug auf dieLandtagswahlen gar nichts. Demokratisch le-gitimiert werden könnten sie wohl nur durchdie gleichzeitige Einführung direktdemokra-

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tischer Elemente, die ihrerseits einer nach-haltigen Politik eher abträglich sein dürften,wie etwa die niedrigen Zustimmungsratenzur Rente mit 67 vermuten lassen. Die Zahlder Landtagswahltermine ließe sich mittelseiner Neugliederung des Bundesgebietes odereiner Bündelung von Landtagswahlen redu-

zieren; die Kehrseite wäre aber eine größerebundespolitische Bedeutung und damitÜberlagerung der verbleibenden Termine. ImExtremfall würde der ,Dauerwahlkampf‘durch einen ,Superwahltag‘ ersetzt, dessenHerannahen, gleich einer Bundestagswahl,ein ganzes Jahr überschatten könnte und des-sen Folge mit einiger Wahrscheinlichkeit ein,lame duck‘-Status der Regierung in der zwei-ten Hälfte der Legislatur wäre. Anders lägendie Dinge freilich, wenn die Landtagswahlenauf den Termin der Bundestagswahl gelegtwürden; dies bedeutete aber ihre völlige Sinn-entleerung8 und eine weitere Verschärfungder Wiederwahlfixierung. Jegliche Synchro-nisierung von Landtagswahlen stünde zudemvor dem Problem, wie der Gleichtakt im Fallevorgezogener Neuwahlen im Bund oder ineinem Land aufrechterhalten werden kann.9

Es klingt zwar einleuchtend, die bundespoli-tische Überlagerung der Landtagswahlendurch mehr Länderkompetenzen abzumil-dern. Es bieten sich hierzu allerdings kaumsubstanzielle Politikbereiche an, welche dieAsymmetrie zwischen finanzschwachen undfinanzstarken Ländern nicht noch weiter zuverstärken drohen,10 wie auch die diesbezüg-lich mageren Ergebnisse der Föderalismusre-form I gezeigt haben.

Opposition: Mission BlockadeDie Opposition hat ihrerseits wenig Interesse,durch allzu kooperatives Verhalten einer lang-fristig orientierten Politik Raum zu geben.Ihre Gesetzesentwürfe werden in den nichtöffentlichen Ausschusssitzungen von den Ab-geordneten der Regierungsmehrheit in allerRegel abgelehnt, zum Teil aber auch nacheiner kurzen Schamfrist als ,eigene‘ Ideenwieder aufleben gelassen. Insofern besteht fürdie Opposition kaum Anreiz zu konstrukti-ven, realitätsnahen und konsensfähigen, sondern vielmehr zu möglichst öffentlich-keitswirksamen Vorschlägen.11 Eine generelleÖffentlichkeit der Ausschusssitzungen desBundestags wäre sicher kein Allheilmittel,

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würde aber die Regierungsmehrheit zu einemsachangemesseneren Umgang mit oppositio-nellen Entwürfen zwingen. Dass die Nicht-öffentlichkeit keineswegs notwendig ist, zeigtdie abweichende Praxis in fünf deutschenBundesländern sowie Großbritannien.12

Das Interesse der Opposition an kooperati-vem Verhalten ist aber auch deswegen einge-schränkt, weil sie bei Landtagswahlen von derUnzufriedenheit der Bevölkerung mit der Re-gierung profitiert. Münden diese Wahlerfolgein Regierungsbeteiligungen, kann die Oppo-sition in aller Regel über kurz oder lang eineBlockademehrheit im Bundesrat aufbauen,mittels derer sie die Regierung als reformun-fähig darstellen kann. Die Kurzatmigkeit undden Stückwerkcharakter der Regierungsrefor-men kritisieren zu können, ist umso wichti-ger, als die Wähler, die ihre Frustration überdie Regierungspolitik bereits bei den Land-tagswahlen abreagieren, bei Bundestagswah-len zur Wiederwahl einmal amtierenderKanzler neigen. Setzt die Opposition ihreBundesratsmacht hingegen konstruktiv füreinen besseren Gesetzes-Output ein, riskiertsie, dass dieser in erster Linie der Regierungzugeschrieben wird.13

Ein möglicher Deal mit den Landesfürsten?An der Effektivität des Bundesrats als Blocka -deinstrument der Opposition hat der Versucheiner Reduzierung der Zustimmungsgesetzeim Zuge der Föderalismusreform wenig geändert.14 Auch die teilweise befürworteterelative Mehrheitsregel, also die Nichtbe-rücksichtigung der – bei Landesregierungs-koalitionen quer zum Bundesmuster zumeistim Koalitionsvertrag festgeschriebenen – Ent-haltungen, brächte hier kaum Fortschritte:Aufgrund des Zwischenwahleffekts verfügtdie Opposition meist über mehr Bundesrats-stimmen als die Regierung.15 Weit effektiverwäre eine Umkehrung der Abstimmungslo-gik, also eine Umwandlung des Zustim-mungserfordernisses in ein (absolutes)Vetorecht des Bundesrats. Im internationalenVergleich ist die Ausgestaltung der Mitwir-kung zweiter Kammern als – oft sogar bloßsuspensives – Vetorecht der Regelfall, ein Zu-stimmungserfordernis absolut unüblich. Ent-haltungen zählten so faktisch als Ja- statt wiederzeit als Nein-Stimmen.16 Dies würde einoppositionelles Veto keinesfalls unmöglichmachen: In fünf der letzten 20 Jahre (1998,2002-2005), hätte die Opposition über eineeigene Vetomehrheit verfügt, in vier weiteren(1994-1997) hätte ihr dazu nur eine einzigeStimme gefehlt. Auch zukünftig wird die Op-

position (zu einer ‚kleinen Koalition’) seltensehr weit von den für eine absolute Mehrheitim Bundestag erforderlichen 35 Stimmenentfernt sein. Eine wesentlich niedrigereStimmenzahl ist aufgrund des Zwischen-wahleffekts unwahrscheinlich. Eine erheblichgrößere Stimmenzahl wird durch die Unab-wendbarkeit von quer zum Bundesmuster lie-genden Koalitionen verhindert. Denndadurch kommt es zu einer strukturellen,Neutralisierung‘ eines erheblichen Teils derLänder. Ein Veto wäre somit immer möglich,wenn einige wenige zum Bundesmuster querliegende Koalitionen dafür gewonnen werdenkönnten – also sofern wichtige Länderinter-essen dem Regierungsvorhaben entgegenste-hen. Im Gegenzug könnte den Ländern dasabsolute Vetorecht für alle (also bisherige Zu-stimmungs- und Einspruchs-) Gesetze zuge-sprochen werden. Diesen Deal könnten dieLänderfürsten durchaus goutieren, schließlichwüchsen die Mitspracherechte jedes Einzel-nen von ihnen, während nur ihr kollektivesVerhinderungspotenzial abnähme. Eine solche Reform könnte die Durchset-zungschancen der Regierung spürbar erhöhen und die Intensität des Dauerwahl-kampfs in den Ländern zügeln. Mit der Verheißung des ,Durchregierens‘ wüchse al-lerdings die – einer nachhaltigen Politik ab-trägliche – Wiederwahlfixierung noch weiteran.

Das relative Scheitern der Großen KoalitionAuch die Große Koalition hat die in sie ge-setzte Hoffnung, im Konsens der beidengroßen Parteien wichtige Probleme einernachhaltigen Lösung zuzuführen, größten-teils enttäuscht. Ihr Reformmut blieb sogarhinter dem ihrer rot-grünen Vorgängerre-gierung zurück, weil sie eine ausgabenseitigeKonsolidierung der Staatsfinanzen in derAufschwungphase unterließ.17 In der erstenHälfte der Legislaturperiode beschloss dieGroße Koalition zwar mit der Mehrwert-steuererhöhung und der Rente mit 67 zweisehr unpopuläre Reformen. Erstere hatte mitder Lohnnebenkostensenkung allerdings

eine populäre Kehrseite und letztere scheintnur als persönliche Leistung von FranzMüntefering erklärbar, der „die Rente mit67 [...] wollen konnte, weil er nichts mehrwerden [wollte]“.18 Bald darauf kreiste bei-

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Wäre es da nicht doch einfacher, dieRegierung löste das Volk auf undwählte ein anderes?/ Bertold Brecht /

Ein großer Staat regiert sich nichtnach Parteiansichten./ Otto von Bismarck /

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der Volksparteien Kalkül schon um dieNachholung der 2005 ausgebliebenen La-gerentscheidung bei der Bundestagswahl2009. So versuchte der nordrhein-westfäli-sche Ministerpräsident Jürgen Rüttgers mitder Forderung einer längeren Bezugsdauerdes Arbeitslosengelds I für Ältere, die Sozi-aldemokraten links zu überholen, von denennur wenige bereit waren, diesen Teil ihrerAgenda-Politik unter diesen Umständenweiter zu verteidigen. Im Hamburger Pro-gramm 2007 kehrte die SPD von der geplanten Bahn-Privatisierung ab. Der über-fällige Fortschritt in der Rentenpolitikwurde durch die Aussetzung des Riester-Faktors 2008 und 2009 sowie die Renten-garantie im unmittelbaren Vorfeld derBundestagswahl konterkariert.19 Kaum inder Opposition, rückt die SPD schon wie-der von der unpopulären Rente mit 67 ab.

Entschärfung des Parteienwettbewerbsdurch Neutralisierung der RegierungFür die Ermöglichung langfristig orientierterund nachhaltiger Politik scheint die Entschärfung des Parteienwettbewerbs un-abdingbar. Die Kompetitivität eines Partei-ensystems ist nicht ausschließlich, vielleichtsogar noch nicht einmal in erster Linie vonder politikinhaltlichen Polarisierung inner-halb einer Gesellschaft abhängig. Parteien,deren programmatische Positionen sich äh-neln, kämpfen eben gerade um die gleichenWählerschichten; dies kann ein starker An-reiz für rhetorische Aufrüstung und Ab-grenzung sein.20 In erheblichem Maßescheint die Schärfe des Parteienwettbewerbsdavon abzuhängen, wie entscheidend eingutes Wahlergebnis für die Chance auf eineRegierungsbeteiligung ist und wie großderen Mehrwert gegenüber dem Oppositi-onsstatus ausfällt. In der Bundesrepublik isteine ‚Opposition um der Opposition willen’ebenso zu attraktiv wie ein ‚Regieren um desRegierens willen’. In den skandinavischenDemokratien hingegen können Minder-heitsregierungen wohl auch deshalb sehrlange überleben, weil die Opposition dortüber die ständigen Parlamentsausschüsse er-heblichen Einfluss auf die Politikgestaltungausüben kann.21 Ebenso wie bei ,echten‘,nicht gestützten Minderheitsregierungenwird im präsidentiellen System der USA mitAd-hoc-Mehrheiten regiert. Dass der Präsi-dent vom Kongress nicht aus politischenGründen absetzbar ist, trägt sicherlich zurMöglichkeit fraktionsübergreifender Ab-stimmungsmehrheiten bei. Allerdings be-ruht das Funktionieren dieses Systems auch

auf organisatorisch sehr schwachen Parteienund – von einigen hart umkämpften ‚valuepolitics’ wie etwa der Abtreibungsfrage ab-gesehen – geringen politikinhaltlichen Un-terschieden zwischen diesen. Hiermit stehtund fällt seine Funktionalität, wie die jüng-ste Verhärtung der parteipolitischen Frontenanlässlich Barack Obamas Gesundheitsre-form als auch die krisenhaften Rezeptions-erfahrungen einiger südamerikanischerStaaten mit dem präsidentiellen System zei-gen. Eine Übertragung des US-Systems aufdie Bundesrepublik würde den Parteien-wettbewerb nicht schwächen, sondern inVerbindung mit diesem ähnliche Krisen-symptome hervorrufen.22

Direktwahl der Minister: ‚Große Koalition plus x’Mit der organisatorischen Stärke und poli-tikinhaltlich gedeckten Polarisierung in derBundesrepublik kompatibel erscheint hin-gegen die Einführung eines präsidentiellenSystems in Form einer Direktwahl der Mi-nister.23 Dem Kabinett würden so mit ziem-licher Sicherheit Minister beider großerParteien und darüber hinaus mit einigerWahrscheinlichkeit auch der einen oder an-deren kleineren Partei angehören. Vorstell-bar wären etwa ein grüner Umwelt- oderVerbraucherschutzminister und – untergünstigeren demoskopischen Vorzeichen –ein liberaler Wirtschafts- oder Justizminister.Um eine möglichst weitreichende parteipo-litische Entfärbung der Regierung zu er-möglichen (also eine Zusammensetzungnach dem Muster ,Große Koalition plus x‘),müssten die Chancen der Kandidaten derkleineren Parteien durch ein zweistufigesWahlverfahren maximiert werden. Dabeisollte die erste Runde der Ministerdirektwahlein oder zwei Wochen vor, die zumeist wohlerforderliche Stichwahl zwischen den beidenjeweiligen Erstplatzierten gleichzeitig mit derBundestagswahl stattfinden. Durch die zu-mindest weitgehende Unklarheit der Regie-rungszusammensetzung zum Zeitpunkt derBundestagswahl würde eine Überlagerungder partei-/sachpolitischen Wahlentschei-dung durch Personalvorlieben verhindert.Selbst nicht in der Regierung vertretene Par-teien hätten wenig Anreiz zu genereller Ver-weigerung. Eine Nichtregierungsbeteiligung,etwa der Linkspartei, wäre ja nicht Folgeeiner koalitionspolitischen Isolierung durchdie anderen Parteien wie (zumindest noch)derzeit, gegen welche ,Die Linke‘ polemisie-ren und ,Underdog‘-Sympathien einfordernkönnte, sondern ginge auf die Entscheidung

des Volkes zurück. Hieraus könnte daher –im Unterschied auch zur Schweizer ‚Zauber-formel’24 – keine Kritik des Parteienstaatsoder herrschenden Parteienkartells generiertwerden. Anstelle eines Konfrontationskursesdürften nicht in der Regierung vertreteneParlamentsparteien eher versuchen, für ihreinhaltlichen Forderungen eine parlamentari-sche Mehrheit zu finden.

Schließlich könnten sich die Legislativkoali-tionen ad hoc, gemäß der Positionen derParteien zur jeweiligen Sachfrage, bilden, dadas Kabinett nicht mehr von den personellin ihm vertretenen Parteien gestützt werdenmüsste (was auch eine demokratietheore-tisch wünschenswerte Absenkung der Fünf-prozenthürde erlauben würde, wobei derKreis der Parteien mit Kandidatenvor-schlagsrecht mittels einer separaten Prozent-klausel übersichtlich gehalten werdenkönnte).

Einhegung der ParteienverdrossenheitIm Unterschied zum Normalfall parlamen-tarischer Regierungspolitik, würden nichtmehr „natürliche Mehrheiten“ durch „künst-liche Mehrheiten“ unterdrückt.25 Die Parteienmüssten sich keiner umfassenden Koalitions-räson unterordnen und ihre politikinhaltli-chen Profile nur noch so weit verwässern, wiees ihnen die Herstellung einer bestimmtenpunktuellen Abstimmungskoalition wertwäre. So könnte auch die – der Durchsetzungnachhaltiger Politik ihrerseits abträgliche –Parteienverdrossenheit eingehegt werden.Hierzu dürfte auch das Ende von Ministerer-nennungen, die zuvorderst auf Regional- oderParteiflügelproporz bzw. persönlicher Nähezum Parteivorsitzenden beruhen, beitragen.Gewisse Proporz- und Protektionsmomentewürden zwar vielleicht auf der Ebene der par-teiinternen Kandidatennominierung fortbe-stehen, müssten aber zumindest immer dannhintangestellt werden, wenn reelle Chancenauf den Erwerb eines Ministeramtes dadurchmerklich dezimiert würden. Denkbar er-scheint allerdings auch, dass die Parteien ihreMinisterkandidaten in Urwahlen oder Prima-ries bestimmen und so deren Mehrheitsfähig-keit optimieren sowie sich parteiinternenÄrger ersparen würden. Dieser könnte ihneninsbesondere angesichts der geringeren Verfü-

Ein Politiker muss das machen, was erfür richtig hält. Denn Politik ist keinSchönheitswettbewerb und auch keinBeliebtheitstest./ Norbert Blüm /

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gungsmacht der Minister überflüssig erschei-nen, die in der Gesetzgebung nicht gegen dieAbstimmungskoalitionen in ihrem Politikfeldanregieren könnten.

Neuaustarierung der institutionellen GewichteFür den Fall mangelnder Kooperativitäteines Ministers, müsste der Bundestag frei-lich mittels deutlich besserer personeller Res-sourcen in die Lage versetzt werden,eigenständig hinreichend ausgearbeitete In-itiativen vorlegen zu können. Im innerexe-kutiven Verhältnis wären die einzelnenMinister freier. Das Kollegialprinzip würdean Bedeutung verlieren; die Gesetzesinitia-tive und das Verordnungsrecht müssten

jedem Minister für seinen Bereich einzelnzustehen. Auch die Richtlinienkompetenzverträgt sich nicht mit der Ministerdirekt-wahl; das Amt des Bundeskanzlers wäre ob-solet und sollte abgeschafft werden. Das –systemnotwendige – Führungsvakuum einStück weit füllen könnte der Bundespräsi-dent, der eine aktivere Rolle in der tagespoli-tischen Debatte erhielte. Diesem fiele nebeneiner Schiedsrichterrolle, wenn Streitigkeitenüber die innerexekutive Zuständigkeit für einGesetzesvorhaben sich nicht im Kabinett bei-legen lassen, auch die Aufgabe zu, als Mah-ner für eine konsistente Politik zu fungieren –wobei auch die Schuldenbremse ihren Teildazu beitragen dürfte, dass sich die Parteiennicht nur auf eine Wünsch-dir-was-Politik für

ihr jeweiliges Klientel beschränken könnten. Auch das tendenziell zu Blockademehrheitenim Bundesrat führende Sanktionswahlverhal-ten bei Landtagswahlen würde durch die par-teipolitische Nichtverortbarkeit derRegierung eingedämmt. Maximiert werdenkönnte dieser Effekt durch eine Einführungder Ministerdirektwahl auch auf Länder-ebene. Dies könnte auch das Abstimmungs-verhalten im Bundesrat radikal verändern:Würde in den Länderverfassungen festge-schrieben, dass die Landesregierung mehr-heitlich über die Stimmabgabe im Bundesratentscheidet, würde die Wahrscheinlichkeitvon (faktisch als Ablehnung zählenden) Ent-haltungen verringert.

Abbildung 1: Ministerdirektwahl

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Die bessere DemokratisierungsalternativeAufgrund einer wahrscheinlich größeren Zu-friedenheit mit den Parteien und den führen-den politischen Akteuren, aber auch, weil dieMinisterdirektwahl selbst ein beachtliches In-strument direkter Demokratie darstellt,könnte ihre Implementierung zudem denunter den gegenwärtigen Bedingungen wach-senden Druck zur Einführung einer – imHinblick auf die Ermöglichung nachhaltigerPolitik eher problematischen – Volksgesetz-gebung abschwächen. Auch demokratie -theoretisch scheint sie dieser vorzuziehen:Eine Entscheidung über Kompetenz undVertrauenswürdigkeit der (ohnehin allein nurbeschränkt handlungsfähigen) Minister, istdem politisch nur mäßig interessierten Grosder Bevölkerung wohl eher zuzumuten undzuzutrauen, als eine Entscheidung über zu-meist komplizierte und in ihren Auswirkun-gen schwer zu durchschauende, aberfolgenreiche Sachfragen, bei denen das Risikoder Manipulation durch gut organisierte In-teressengruppen besteht. Da sich im Parla-ment dann jeweils die ,natürlichenMehrheiten‘ durchsetzen würden, wäre auchdas demokratietheoretische Problem beho-ben, dass die Wähler im Fünfparteiensystemimmer weniger kalkulieren können, welchesmögliche Regierungsbündnis (und damitwelche ,künstliche Mehrheit‘) sie durch ihreStimmabgabe für eine Partei hervorzubringenhelfen.Die Ministerdirektwahl, deren wesentlicheZüge in der Grafik noch einmal dargestelltsind, erscheint somit als großartige Möglich-keit, das Ziel einer größeren Nachhaltigkeitder Politik mit den ebenfalls wichtigen Zie-len der Sicherstellung der Regierbarkeit, derStärkung der Demokratie und der Bekämp-fung der Parteienverdrossenheit in Einklangzu bringen.

Chancen des VorschlagsDer Vorschlag einer Ministerdirektwahl istauch politisch nicht chancenlos. Zwar bestehtseitens der Parteien im Sinne eines pragmati-schen Politikhandwerks eine ausgeprägte Ten-denz, die Betätigung kleiner Stell schraubeneinem ‚großen Wurf ’ vorzuziehen. Jedochböte eine Ministerdirektwahl den Parteien dieMöglichkeit, ‚mehrere Fliegen mit einerKlappe zu schlagen’. Insbesondere würde eineMinisterdirektwahl den Parteien eine weitereelektoral gefährliche Ab schlei fung ihrer Mar-kenkerne im Fünfparteiensystem ersparen,das die Bildung der hergebrachten Mehr-heitskoalitionen (Schwarz-Gelb bzw. Rot-Grün) zunehmend erschwert. Attraktiv

erscheinen die hierdurch möglichen wech-selnden Legislativkoalitionen vor allem fürdas linke politische Spektrum. SPD undGrüne müssten nicht mehr die Gretchenfragebeantworten, wie sie es mit einer Regierungs-beteiligung der Linkspartei halten, sondernkönnten pragmatisch rot-rot-grüne Mehrhei-ten in vielen Politikbereichen nutzen. ,DieLinke‘ könnte einige ihrer Forderungendurchsetzen, ohne hierfür realpolitisch kaumaufrechtzuerhaltenden Kernforderungen(keine Militäreinsätze, Abschaffung vonHartz IV) entsagen oder sich ein finales MeaCulpa zu ihrer SED-Vergangenheit abringenzu müssen. Für CDU/CSU und FDP dürfte die Nutz-barmachung linker Mehrheiten keine erstre-benswerte Perspektive darstellen, aber siekönnen sich ohnehin nicht darauf verlassen,noch lange von der Segmentierung im linkenLager zu profitieren. Und immerhin weiß dieUnion derzeit, trotz geringer Regierungszu-friedenheit, die im Volk beliebtesten Politikerin ihren Reihen. Denkbar wäre auch, dass eine Parteineu-gründung mit der Forderung nach der Mini-sterdirektwahl erfolgreich sein könnte, vorallem, wenn mit dem Lockmittel einer gleich-zeitigen Absenkung der Sperrklausel die hier-von potenziell profitierenden Kleinparteienmit ins Boot geholt würden. Nicht zuletztkönnte eine Ministerdirektwahl in den Län-dern qua Volksgesetzgebung eingeführt wer-den und einer Übernahme dieser Reform aufBundesebene den Boden bereiten. Insgesamtbetrachtet erscheint daher eine Einführungder Ministerdirektwahl zwar als großerSchritt, der das politische System grundle-gend in Richtung eines präsidentiellen Sy-stems verändern würde, gleichzeitig jedoch alsrealistischer Reformansatz angesichts der ge-genwärtigen Probleme.

Anmerkungen1. Vgl. Kielmansegg 2003: 585-586.2. Vgl. Blome 2008: 128-133.3. Vgl. Niedermayer 2006: 125-126.4. Vgl. Oschatz 2005: 51-55.5. In sieben der elf Länder, in denen zwi-schen 2003 und 2005 gewählt wurde, er-zielte die SPD ihre jeweils niedrigstenResultate jemals, in drei weiteren dieschlechtesten seit rund 50 Jahren. In dreiLändern hatte sie Verluste von mehr als zehnProzentpunkten zu gewärtigen.6. Vgl. Seemann: 2008.7. Vgl. Decker 2006: 262-263.8. Vgl. Detterbeck 2006: 49-50.9. Vgl. Sturm 2001: 81-82.

10. Vgl. Jun 2004: 578-579.11. Vgl. Sebaldt 2002: 56-59.12. Vgl. Eckert 2004: 131, 304-305.13. Vgl. Decker 2006: 264.14. Vgl. Höreth 2007; Preuß 15.05.2010.15. Vgl. Sturm 2002: 43.16. Vgl. Decker 2008: 215.17. Vgl. Egle 2009: 133.18. Batt 2009: 216-217.19. Vgl. Zohlnhöfer 2009: 10.20. Vgl. Czada 2000: 41.21. Vgl. Strøm 1984: 213-215.22. Dies gilt auch für eine direkt gewählteKollegialregierung einheitlicher parteipoliti-scher Provenienz mit „Teamcharakter“, wiesie Esterbauer (2000) vorschwebt.23. Die Idee einer Ministerdirektwahl reißtSchöppner (2009: 268-269) kurz an, seineVorstellungen bleiben allerdings vage, un-ausgegoren und missverständlich.24. Wenn die Regierungszusammensetzunggemäß der Zauberformel und das Wahler-gebnis allzu sehr auseinanderfallen, bietetdies Nährboden für populistische Heraus-forderer des Establishments, vgl. Hennecke2003: 148.25. Das Begriffspaar „natürliche“ vs. „künst-liche Mehrheiten“ verwendet (in Bezug aufMinderheitsregierungen) Strohmeier (2009:277).

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Volker Best ist Wissen-schaftlicher Mitarbeiteram Institut für Politi-sche Wissenschaft undSoziologie der Rheini-schen Friedrich-Wil-h e l m s - U n i v e r s i t ä tBonn. Sein Forschungs -

schwerpunkt liegt auf der Koalitions- sowieder Parteiensystemforschung.

Kontaktdaten:Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn, Institut für Politische Wissenschaftund SoziologieLennéstr. 27, 53113 BonnTel.: 0228/73 48 26Fax: 0228/73 94 96E-Mail: [email protected]

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Deliberative Governancearenen. Die Überwindung kooperativerProblemlösungen in der deutschen Parteiendemokratie

von Mathias König und Wolfgang König

usammenfassung: Die aktuelle Systemlogik des politischen Systemsin Deutschland ist die Ursache

dafür, dass eine sachorientierte Zusammenar-beit zwischen Regierungsmehrheit und Oppo-sition verhindert bzw. behindert wird. Durchden demografischen Wandel steigt das Me-dianwähleralter. Parteien orientieren sichdann immer weniger an den Interessen dernachfolgenden Generationen. Bei der Lösungdieses Problems ist das Recht als alleinigesSteuerungsmedium überfordert. DeliberativeGovernancearenen sind ,Ermöglichungsräumevon Regelungsprozessen‘ deliberativer Kommu-nikation. Parteien oder Regierungen (aberauch Unternehmen) können diese Governan-cearenen nutzen, um den Linkage zu ihrenZielgruppen wieder herzustellen und Genera-tionenvertrauen zu ermöglichen. In diesemBeitrag wird im empirischen Teil das Beispielder deliberativen Governancearena im Rah-men der Kommunal- und Verwaltungsreformdes Landes Rheinland-Pfalz untersucht.

Einleitung und ProblemstellungDie Entscheidungsfindung im politischenSystem Deutschlands ist durch eine hoheKomplexität gekennzeichnet, denn alle Va-rianten des verhandelnden Staates sind aufden Konsens zwischen heterogenen legiti-mierten Partnern angewiesen. Dadurch wirddie Problemlösungsfähigkeit bei nicht aus-räumbaren Konflikten gelähmt. Der Gene-

rationenkonflikt könnte sich langfristig zusolch einem Konflikt entwickeln, wie sich inder jüngsten Debatte um die Zielgruppen-demokratie zeigt.1 Schließlich seien Älteredas entscheidende Wählerpotenzial der Zu-kunft und es sei ihnen in zunehmendemMaße gleichgültig, wie es jungen Familien,Heranwachsenden etc. gehe.2 Es muss sichfolglich auf faire Verteilungsregeln zum Aus-gleich von Vor- und Nachteilen bei Kom-promissen verständigt werden. GefundeneKompromisse erzeugen aber ein – teilweisehoch problematisches – Spannungsfeld zwi-schen den an der Entscheidung Beteiligtenund deren Klienten bzw. Wählern. Dabeigeht es nicht um das ,eherne Gesetz derOligarchie‘, sondern um unvermeidlicheDiskrepanzen der Situationsdeutungen zwi-schen den an der Entscheidung Beteiligtenund denen, die lediglich mit dem Ergebniskonfrontiert werden.3 Zentral ist dann einegute Begründung der Repräsentanten, wes-halb die Wünsche der Repräsentierten nichtbzw. nur teilweise umgesetzt werden konn-ten.4 Jedes demokratische System erfordertden Wettbewerb von politischen Parteienund Parlamentsfraktionen und damit auchbis zu einem gewissen Grad deren Rollen-spiel. Die Regierungsmehrheit im Parlamentkann kein Interesse daran haben, die Oppo-sition zu stärken und damit ihre Wiederwahlzu gefährden.5 Von den Bürgern wird abererwartet, dass sie die „Scheinwelt der politi-

schen Praxis verstehen und aus Diskussio-nen Gewinne ziehen, deren Ergebnis bereitsfeststeht, wenn die Abgeordneten den Sit-zungssaal betreten.“.6 Zusammengefasst istdie aktuelle Systemlogik des politischen Systems die Ursache dafür, dass eine sach-orientierte Zusammenarbeit zwischen Regierungsmehrheit und Opposition ver-hindert bzw. behindert wird.

Generationengerechtigkeit im demokratischen WohlfahrtsstaatAlle modernen Gesellschaften werden miteiner Zunahme an Komplexität konfron-tiert, die sie bewältigen müssen. Luhmanngeht deshalb davon aus, dass auch im politi-schen System eine Zunahme an Komplexitätstattfindet, die im Endeffekt nur durch mehrDemokratie bewältigt werden kann.7 Für dierepräsentative Demokratie gelten Wahlen alszentrales Legitimierungsinstrument.8 Pro-blematisch ist aber das Bild von Demokratie,das durch Wahlkämpfe und Politikerhan-deln erzeugt wird. Der Anspruch, im Inter-esse des Gemeinwohls durch Wahlenlegitimiert verantwortlich zu entscheiden,wird nicht eingelöst, weil wichtige, aber zukomplexe emen im Wahlkampf teilweiseunbehandelt bleiben.9 Nach liberaler Auf-fassung hat demokratische Willensbildunghauptsächlich die Funktion, die Ausübungpolitischer Macht zu legitimieren, währendnach republikanischer Auffassung die de-

Z

Abbildung 1: Linkage zwischen Parteien und Gesellschaft13

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mokratische Willensbildung stärker dieFunktion hat, die Gesellschaft als ein politi-sches Gemeinwesen zu konstituieren unddie Erinnerung an diesen Gründungsakt mitjeder Wahl lebendig zu halten.10 Durch die,reflexive Modernisierung‘ findet zwar eineFreisetzung des Politischen statt, aber die In-stitutionen des politischen Systems bleibenbisher nahezu konstant. So ändert sich dieQualität des Politischen innerhalb eines un-angetasteten Systembildes. Darauf muss daspolitische System reagieren.11 Viele Ergeb-nisse deuten darauf hin, dass Parteien immerweiter erodieren. Es handelt sich aber weni-ger um eine Krise der Milieus als Folge desWertewandels, sondern um eine Krise derpolitischen Repräsentation als Folge einerzunehmenden Distanz zwischen Eliten undMilieus.12 Idealtypisch sollten die Parteieneinen Linkage, also eine Koppelung bzw. einBindeglied, zur Gesellschaft herstellen.Die politischen Parteien werden aber gerade

ihrer Funktion als Mittler zwischen Bürgernund Staat nicht mehr gerecht14 und diesführt zu einem ,Linkageverlust‘ der Parteien.Das Demokratieprinzip und die steigendeSystemkomplexität verstärken insgesamt diebestehenden Repräsentationsprobleme.Neben der Veränderung der Gesellschafts-struktur steigen die politisch-gesellschaftlichenHerausforderungen an, die „eine Neuein-schätzung der Rolle des Staates sowie derFunktionen und Möglichkeiten staatlicher In-stitutionen notwendig [machen]. Dabei istweithin Abschied zu nehmen von den Vor-stellungen einer hierarchischen, hoheitlichenRelation zwischen Staat, staatlichen Institu-tionen auf der einen Seite und abhängigenSteuerungsobjekten in der Gesellschaft auf deranderen Seite.“.15 Neben den gesellschaftli-chen Veränderungen muss daher der deutscheWohlfahrtsstaat zusätzliche Herausforderun-gen meistern – die teilweise Auswirkungenmoderner Gesellschaften sind. Die Finanzie-rungskrise des Wohlfahrtsstaates gilt dabeimaßgeblich als Auslöser der Modernisierungdes Staates. Der deutsche Staat steht im inter-nationalen Vergleich für den (sozialen) Frie-den in der Gesellschaft, was ihn nicht nur zuausgleichendem und gewährleistendem Tunzwingt, sondern auch zu gestaltenden Ein-griffen.16

Dies macht deutlich, dass die Stärken undSchwächen des öffentlichen Sektors nicht andie ,Generationenfrage‘, sondern an die,Ökonomiefrage‘ geknüpft sind. Durch dieÖkonomie wird die Zielerreichung in denVordergrund gestellt und das Prinzip der In-klusion scheint gegenüber dem Prinzip derTeilhabe an Bedeutung zu gewinnen.17 „Eszeigt sich, dass die moderne Demokratie-theorie Partizipation sowohl als Mittel (zurEinbindung und Durchsetzung von Interes-sen) wie auch als Zweck (im Sinne derSelbstverwirklichung durch Beteiligung) be-greift und bei ihrer begründeten Forderungnach mehr Partizipation (im Sinne von Be-teiligung aller an allen Entscheidungspro-zessen) der Frage nach möglichen Grenzender Demokratisierung zu wenig Beachtungschenkt.“.18

Governance als Perspektive für GenerationengerechtigkeitReine institutionelle Reformen können dasProblem der Generationengerechtigkeit undBlockadepolitik nicht lösen, weil beispiels-weise das Recht als Steuerungsmediumdurch Ausdifferenzierung und Komplexi-tätssteigerung überfordert wird. Die in kommunikativem Handeln auftretendeSpannung zwischen der Faktizität einer Be-hauptung und der Einlösung ihres Gel-tungsanspruches muss demnach auf dieSelbstgesetzgebung der Staatsbürger, dieGrund der Regeln ist, zurückführbar sein.19

Demokratie muss folglich von ihrem inten-dierten Zweck her gedacht werden undnicht nur aus der Institutionenperspektive.20

Demokratie wird dann nicht mehr nur alsstaatlich-instrumentelle Herrschaftsformverstanden, sondern zugleich als tief in dieGesellschaft und Kultur reichende Form desZusammenlebens.21 (Generationen-)Ver-trauen und Gerechtigkeit kann deshalb nurnachhaltig in der Perspektive des sozialenund politischen Zusammenlebens entste-hen. Veränderungen von institutionellenSettings müssen deshalb diese Form des Zusammenlebens und -entscheidens unter-stützen. Dabei ist es zentral, dass Verände-rungen am Institutionendesign nicht inForm von ,Instrumentenshopping‘ statt fin-den, sondern einem integrierten Gesamt-konzept folgen. Die gemeinsamenAusgangspunkte der verschiedenen Gover-nance-Ansätze sind die Betonung von Sy-stemregeln und Systemeigenschaften, diedurch neue Verfahren bzw. Modi soziopoli-tische Interaktion schaffen, mit dem Ziel,Legitimität und Effektivität zu erhöhen.

Deliberative GovernancearenenDeliberative Governancearenen sind ,Er-möglichungsräume von Regelungsprozessen‘deliberativer Kommunikation, die im Rah-men von Governanceprozessen geschaffenwerden und das Ziel haben, eine bestimmteZielgruppe zu involvieren. Im Vergleich zuklassischen Beteiligungsverfahren geht esnicht um singuläre ,Events‘, sondern um dieEinbindung der Bürger in eine langfristig

Wenn du Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit./ Inschrift über dem Haager Friedenspalast /

Offenheit verdient immer Anerkennung./ Otto von Bismarck /

Abbildung 2: Wirkungsbereich deliberativer Governancearenen

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angelegte prozedurale Regelungskette. Not-wendigkeit und Sinn müssen dabei aktivkommuniziert werden, genauso wie dietransparente Ergebnisverwertung.Als Arena wird ein durch institutionelle Re-geln definierter Kontext bezeichnet, in demAkteure zusammenwirken.22 Sie sind damitdie Regelungszonen von Verhandlungenzwischen divergierenden Partikularinteres-sen, die gemeinsam Probleme lösen sollenund zielen damit auf den Kernbereich derGovernance-eorien (vgl. Abbildung 2).

Unter normativen Gesichtspunkten geht esdabei um: Transparenz, Partizipation, Ver-antwortlichkeit.23 Deliberative Governan-cearenen sind dadurch für alle sozialenSysteme anwendbar, wenn sie sich auf diegenannten Kriterien berufen möchten. AlsBeispiel ließe sich hier das Zusammenspielvon Unternehmensführung und Mitarbei-tern anführen. Parteien oder Regierungenkönnen diese Governancearenen nutzen, umden Linkage zu ihren Zielgruppen wieder-herzustellen. Bezogen auf parlamentarischeEntscheidungsprozesse ermöglichen sie eineprofessionalisierte Responsivität. Delibera-tive Governancearenen können dabei ganzunterschiedlich geschaffen werden, sei esdurch Wirkungen direkter Demokratie oderunterschiedliche Beteiligungsmethoden.

Empirische Befunde: Deliberative Governancearena im Rahmen der Kommunal- und Verwaltungsreform desBundeslandes Rheinland-PfalzDie Kommunal- und Verwaltungsreform ge-hörte zu den politischen Schwerpunkten derrheinland-pfälzischen Landesregierung inder vergangenen 15. Legislaturperiode. Mitder Reform sollte u.a. die Daseinsvorsorgeund damit die Ausgestaltung des Zusam-menlebens der Generationen nachhaltig ver-ändert werden. Rheinland-Pfalz ging imKontext dieser anstehenden Kommunal-und Verwaltungsreform den bundesweit ein-maligen Weg einer medial breit angelegtenund aufwändigen Bürgerbeteiligung. DieseForm der Bürgerbeteiligung startete schonzu Beginn der Reformplanung und nichterst gegen Ende des Reformprozesses alsnachträglich legitimierende Maßnahme.Dies war eine politische Vorgabe des Mini-sterpräsidenten und das politische Funda-ment für die deliberative Governancearena.Kommunal- und Verwaltungsreformen sindschwer kommunizierbare, komplexe Verfah-ren, bei denen es auch um das Problem derGenerationengerechtigkeit geht, weil die

Auswirkungen neu geschaffener kommuna-ler Strukturen insbesondere die Jüngeren betreffen werden. Gerade in der Problemer-kennungs- und Planungsphase werden mög-liche Konsequenzen und Inhalte medialkaum aufbereitet, da der Nachrichtenwertder Reformen zu dieser Zeit gering ist. DerNachrichtenwert ist erst dann besondershoch, wenn die Reformen beschlossen sindund gegen den Widerstand von Betroffenenumgesetzt werden sollen. Deshalb muss diepolitische Öffentlichkeit in einem Prozessimmer wieder hergestellt werden.Die Kommunizierbarkeit hat dabei einen

Doppelcharakter: Demokratische Politikkann nicht allein nur auf Politikvermittlungim Sinne von medienadressierter Politik-Darstellung ,nach außen‘ reduziert werden,da sich eine Politikvermittlung im weiterenSinne auch bei der Durchsetzung (Politik-herstellung) ,nach innen‘ zu bewähren hat.24

Die nachfolgende Abbildung verdeutlichtden Zusammenhang zwischen Kommuni-kation, Beteiligungsparadoxon, Politikher-stellung und Politikdarstellung.

Im Rahmen der Kommunal- und Verwal-tungsreform in Rheinland-Pfalz wurde erst-mals in dieser Form eine medial breitangelegte ,deliberative Governancearena‘eingesetzt. Regionalkonferenzen, Bürger-kongresse und Planungszellen bildeten dieerste Stufe der deliberativen Governancea-rena. Diese Verfahren weisen im Vergleich

zu ,klassischen‘ institutionellen Verfahreneinen geringeren Grad der Verbindlichkeitfür politische Entscheider auf. Sie sind aberdeutlich verbindlicher als schlichte Bürger-informationen. Nachfolgend werden die Ef-fekte der in Rheinland-Pfalz eingesetztendialogorientierten Elemente der deliberati-ven Governancearena anhand der Planungs-zellen exemplarisch dargestellt.

Planungszellen als Element der deliberativen GovernancearenaIn jeder Planungszelle26 arbeiteten im Som-mer 2008 vier Tage lang etwa 25 Personen,die durch eine Stichprobe zufällig ausge-wählt worden waren. Die Teilnehmer erarbeiteten Lösungsvorschläge zu den Fra-genkomplexen, wie eine moderne Kom-mune und Verwaltung sowie zukunftsfähigeGebietsstrukturen auszusehen hätten undwie das Land Rheinland-Pfalz mehr Bürger-nähe und neue Formen der Zusammenar-beit von Staat, Bürgerschaft und Wirtschaftfördern könnte. Zuerst informierten einoder mehrere Experten zu einer Fragestel-lung und nach einer kurzen Fragerunde er-arbeiteten die Teilnehmer in KleingruppenIdeen, die sie auf Metaplankarten schrieben.Nach einer kurzen Vorstellung im Plenumerfolgte eine individuelle Bewertung, indemdie Teilnehmer durch Klebepunkte ihre Zu-stimmung zu einzelnen Karten bekunden

konnten. Auf der Grundlage dieser Bewer-tungen wurde vom Durchführungsträgerder ,Planungszellen‘ ein Bürgergutachten er-stellt, das von den Teilnehmern gegengele-sen werden konnte. Die Planungszellewurde im Durchschnitt mit der Note 1,8(Notenskala von 1 bis 6) von den Teilneh-

Wenn Bürger wie Stimmvieh behan-delt werden, behandeln diese denStaat wie eine zu melkende Kuh./ Jürgen Wilbert /

Abbildung 3: Kommunikationsformen im Beteiligungsparadoxon25

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mern bewertet. Positive Bewertungen über-wogen (bis Schulnote 3). Die schlechtesteNote 4 vergaben nur vier von 143 Befrag-ten. Das Arbeiten in diesem Element der de-liberativen Governancearena wurde von denTeilnehmern besonders gut bewertet (vgl.Abbildung 4).Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleit-

forschung ließ sich feststellen, dass mit derIntensität der Beteiligungsmethode die Zu-friedenheit der Bürgerinnen und Bürger mitder geschaffenen Governancearena stieg. DiePartizipationsbereitschaft der Bürgerinnenund Bürger war hoch und die Bürger zeigtensich an weiterer Beteiligung im Reformpro-zess interessiert.27 Zugleich konnte festge-stellt werden, dass, obwohl die jüngerenMenschen innerhalb der geschaffenen Go-vernancearenen immer stark unterrepräsen-tiert waren, die Lösungsvorschläge nichtzulasten der Jüngeren gingen. Die jüngstenErgebnisse zur Gleichgültigkeit Älterer ge-genüber den Bedürfnissen der Jüngeren28

konnten hier nicht bestätigt werden. Im Ge-genteil: Generationengerechtigkeit wurdegewissermaßen ,angeregt‘.

FazitZusammengefasst erweist sich die delibera-tive Governancearena im Rahmen der Kommunal- und Verwaltungsreform inRheinland-Pfalz als innovatives demokrati-sches Verfahren, das einerseits hohe Erwar-

tungen und Anforderungen an Politik undAdministration stellt und andererseits denBürgern die Chance zur intensiven Beteili-gung gibt. Insofern leistet der Prozess selbsteinen Beitrag zu einer partizipativen Gestal-tung und Modernisierung der Demokratie.Die erste Stufe der deliberativen Governan-cearena im Rahmen der Kommunal- und

Verwaltungsreform in Rheinland-Pfalz zeigt,dass sich die Bürgerinnen und Bürger in dieEntwicklung einer Kommunal- und Ver-waltungsreform einbinden lassen unddurchaus in der Lage sind, sich mit komple-xen Fragestellungen zu beschäftigen. TrotzInteresse und großer Aufgeschlossenheitblieben die Bürgerinnen und Bürger aberskeptisch gegenüber der ungewohnt aktivenRolle, in die sie durch eine deliberative Go-vernancearena gebracht wurden. Dabeibezog sich die Skepsis vor allem auf die Un-

sicherheit, als ,beratender Bürger‘ ernst ge-nommen zu werden, verbunden mit derBefürchtung, bei den entscheidenden kon-kreten Fragen zukünftig nicht mehr ange-hört zu werden.

Die Herausforderung für die Landesregie-rung bestand deshalb darin, die unter-schiedlichen Anregungen entsprechendihrem Versprechen aufzunehmen und imweiteren Reformvorhaben, beispielsweise beider Gesetzgebung, zu berücksichtigen.29 Alleim rheinland-pfälzischen Landtag vertrete-nen Parteien wollten zudem die Ergebnisse,die im Rahmen der deliberativen Gover-nancearenen entstanden sind, bei ihren po-litischen Entscheidungen berücksichtigen.Die zweite Stufe der deliberativen Gover-nancearena diente einer weiteren Konkreti-sierung. Dies war eine Repräsentativumfrage(N=10.000). Beide Stufen waren zentraleGrundlagen der Vorbereitung der gesetzli-chen Regelungen durch den Landtag undwurden im Herbst 2010 beschlossen.

Anmerkungen1. Schirrmacher 2010.2. Wilkoszewski 2010.3. Scharpf 1993: 42.4. Patzelt 1991: 170ff.5. Benz 1998: 209.6. Ottfried 1994: 49.7. Hellmann/Fischer 2003: 13.8. Sarcinelli 1987: 13.9. Kaase 2003: 4ff.10. Habermas 1998: 363.11. Beck 1993: 214.12. Braun 2002: 1.13. Alemann/Andersen 2009: 18.14. Putnam/Gross 2001: 62f.15. Sarcinelli 1994: 199.16. Ellwein 1997: 19.17. Beichelt 2009: 311.18. Treiber 1973: 96.19. Habermas 1998: 57f.20. Abromeit 2002: 205.21. Himmelmann 2007: 26.22. Benz 2004: 126.23. Mayntz 2006: 16ff.24. Sarcinelli 2009: 69ff.25. König/König 2010: 131.26. Dienel 1991.27. Sarcinelli/König/König 2009.28. Wilkoszewski 2010.29. Sarcinelli/König/König 2009.

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Abbildung 4: Zustimmungen zu Aussagen bzgl. des Arbeitens in der Planungszelle:Skala von 1 bis 4: trifft völlig zu (1) – trifft eher zu (2) – trifft eher nicht zu (3) –trifft gar nicht zu (4)

Politiker rechnen so sehr mit derStimme des Wählers, dass sie nicht dazukommen, sie zu hören./ Werner Schneyder /

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Beide Autoren, Mathias und WolfgangKönig, sind Diplom Sozialwissenschaftlerund wissenschaftliche Mitarbeiter am Insti-tut für Sozialwissenschaften, Abteilung Poli-tik der Universität Koblenz-Landau, CampusLandau sowie am Institut für Kommunikati-onspsychologie, Medienpädagogik undSprechwissenschaft (IKMS).

Kontaktdaten:Universität Koblenz-Landau, CampusLandau, Kaufhausgasse 9, 76829 [email protected]. [email protected]

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er Buchtitel ist Programm: Ray-mond Geuss, 1946 in Indiana(USA) geboren und seit 2007 Pro-

fessor für Philosophie in Cambridge (GB),kritisiert in seiner schmalen AbhandlungKlassiker der (politischen) Philosophie –etwa Kant, Rawls oder Nozick – in schar-fem, zum Teil auch polemischem Tonfall.Deren eorien, welchen Geuss einen „ver-fehlten Realismus“ (S. 82) unterstellt,möchte der Autor einen eigenen, realisti-schen Ansatz der politischen Philosophieentgegensetzen. Seiner Idee einer politischenPhilosophie liegen vier esen zugrunde,welche Raymond Geuss bereits in der Ein-leitung vorstellt. Die esen lauten: Erstens:Die politische Philosophie muss realistischsein (S. 22). Dies bedeutet für Geuss, dassdie politische Philosophie nicht von einemfiktiven Ideal ausgehen, sondern sich mitden realen Motivationen der Menschen oderder tatsächlichen Beschaffenheit von Insti-tutionen beschäftigen soll. Zweitens: In derPolitik geht es in erster Linie ums Handelnund um die Kontexte des Handelns (S. 26).Drittens: Politik ist immer historisch veror-tet, also immer kontext- und zeitabhängig(S. 28). Viertens: Politik ist eher ein Hand-werk oder eine Kunst als eine reine eorie-anwendung (S. 31). Hier wird derPraxisbezug der Politik und der politischenPhilosophie betont. Außer diesen esentrifft Geuss in seiner Einleitung auch grund-legende anthropologische Vorentscheidun-gen über den Menschen als flexibles undwidersprüchliches Wesen, dessen Handlun-gen, Wünsche oder Präferenzen nicht stabil,sondern vielmehr inkonsistent und beein-flussbar seien (S. 12 ff.). Dies spitzt Geuss infolgendem Zitat zu: „Zu den wichtigstenGrunderkenntnissen, von denen jede ernst-hafte systematische Reflexion über das Ver-hältnis von Politik und Ethik ausgehensollte, gehört die Einsicht, dass die Über-zeugungen, Werte, Moralvorstellungen undWünsche jedes Einzelmenschen unausgego-ren, veränderlich, unscharf umrissen und inihrem Inhalt nur sehr grob artikuliert sind.“(S. 14). Als Hauptgegner sucht sich Ray-mond Geuss in der Einleitung keinen Ge-

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ringeren als Kant aus. Er wendet sich dabeiauch gegen all jene eoretiker, die in derTradition Kants stehen und dabei eorienmit universellem Anspruch aufstellen, diebeinhalten, Politik sei angewandte Ethik:„Die Kantianer werden natürlich denken,ich hätte von Anfang an die Grundvoraus-setzungen jeder vernünftigen Diskussionverletzt: Eine Analyse, die die grundlegendesystematische Unterscheidung zwischen Seinund Sollen, zwischen Tatsache und Wertund zwischen dem Deskriptiven und demNormativen missachtet, könne nur Verwir-rung stiften und zu nichts führen. Ich dage-gen halte Kantianer für Opfer eines Fetischismus, der eine Reihe bloß menschli-cher Begriffserfindungen und Unterschei-dungen zu apriorischen Strukturelementenallen Denkens erklärt und ihnen eine Be-deutung und eine Substanz beimisst, die siein Wirklichkeit nicht haben.“ (S. 32f.). Wiein diesem Zitat deutlich wird, bricht Geussauch mit einer im Bereich der Philosophiebreit geteilten Auffassung, nämlich mit derFolgerung, dass sich Sollenssätze nicht ausSeinssätzen ableiten ließen. Dieses Diktumwurde zuerst von David Hume formuliertund wird daher als ,Humesches Gesetz‘ odereinfach als ,Sein-Sollen-Dichotomie‘ be-

zeichnet. Doch dies nur als kleine Anmer-kung. Sodann stellt Geuss in Teil 1 seinerStreitschrift, den er mit „Realismus“ über-schrieben hat, die aus seiner Sicht zentralenFragen der politischen Philosophie undnimmt Stellung zu deren Aufgaben. Die dreizentralen Fragen lauten: Erstens: Wer tutwem was zu wessen Nutzen? (Diese Fragebaut auf Lenins Formel „Wer wen?“ auf.)Zweitens: Welche Prioritäten und Präferen-zen hat der Mensch? (frei nach Nietzsche.)Drittens: Wie wird menschliches Handelnlegitimiert? Warum handelt man so, wieman handelt? (frei nach Weber.) Aus diesendrei Fragen leitet der Autor folgende Aufga-ben der politischen Philosophie ab: DieseDenkrichtung soll zum Verständnis, zur Be-urteilung und zur Orientierung beitragen.Zudem soll sie durch die Erfindung neuerBegriffe (begriffliche Innovationen) zur Lö-sung bestehender praktischer Probleme bei-tragen. Schließlich soll die politischePhilosophie zur Ideologiebildung wie zurIdeologiekritik dienen. In Teil 2, der mit„Verfehlter Realismus“ betitelt ist, kritisiertGeuss die zeitgenössischen eorien vonNozick und Rawls, denen er eben jenen ver-fehlten Realismus unterstellt. Nozick er-kennt allen menschlichen Individuen vonNatur aus bestimmte Rechte zu. Geuss be-mängelt, dass die Aufzählung subjektiverRechte nicht der richtige Ausgangspunkt fürdie politische Philosophie sei. Zudem stelleNozick nicht die richtigen, historisch ge-wendeten Fragen. Besonders ausführlichund kritisch setzt der Autor sich anschlie-ßend mit der Gerechtigkeitstheorie JohnRawls’ auseinander. Zentral an seiner Rawls-Kritik ist, dass er dessen Methodik des„Schleiers des Nichtwissens“ für unreali-stisch hält. Geuss glaubt nicht daran, dassMenschen noch in der Lage sind Entschei-dungen zu treffen - etwa, sich auf bestimmteGerechtigkeitsgrundsätze zu verständigen -,wenn sie sich unter einem solchen Schleierbefänden, durch den sie bar jeglicher Iden-tität wären (S. 99f.). Des Weiteren wirftGeuss Rawls vor, dass bei diesem jeglicheDiskussion der Grundfragen der Politikfehle. Insbesondere das ema ,Macht‘

Journal für Generationengerechtigkeit11. Jahrgang · Ausgabe 2/2011

Raymond Geuss: Kritik der politischen Philosophie – Eine Streitschrift.Rezensiert von Franziska Plümmer und Hans-Ulrich Kramer

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bleibe bei John Rawls ausgeklammert. Fair-ness- und Verfahrensregeln, wie Rawls sieentwickelte, reichten nicht aus, um einemenschliche Gesellschaft zu beschreiben.Vielmehr müssten konkrete Machtverhält-nisse analysiert werden. Auch den absolutenVorrang und Eigenwert, den Rawls der Ge-rechtigkeit als Fairness zugesteht, sieht Geusskritisch: „Das ist eine überaus merkwürdigeAuffassung.“ (S. 115). Schließlich unter-schieden sich Gerechtigkeitsvorstellungen jenach sozialem und historischem Kontextvoneinander. Daher sei es nicht zielführend,universalistische und allgemeingültige Ge-rechtigkeitsgrundsätze aufzustellen, wieRawls dies tue. Geuss geht so weit, dieRawls’sche eorie als „ Blind gänger“ (S.128) zu bezeichnen, die er grundsätzlich zu-rückweise. In seiner Schluss folgerung bringtRaymond Geuss seine eigene Position nocheinmal auf den Punkt: Politik – und damitauch die politische Philosophie – solle kon-kret, handlungsorientiert und parteilichsein. In der gesamten Debatte verortet derAutor sich selbst als Kontextualisten. LautGeuss beschäftige sich die Politik vorrangigmit Macht. Daher stellt er die Forderung:„Wer über Politik nachdenken will, solltezuerst über Macht nachdenken.“ (S. 131).Geuss’ zentrale Forderung aber laute, dassdie politische Philosophie vom heutigenweitverbreiteten Neo-Kantianismus zu einerrealistischen Sichtweise zurückkehrenmüsse.

Allgemein besticht die Streitschrift durchihre klare Gliederung und durch zahlreicheBeispiele, mit denen Geuss seine esen il-lustriert. Die klare Form der Schrift steht al-lerdings in einem gewissen Widerspruch zuder Sprunghaftigkeit, mit der die Argumentevorgetragen werden. Geuss schneidet vieleverschiedene emen an, ohne diese dannim Detail abzuhandeln. Den Anspruch aufVollständigkeit erhebt der Autor mit seiner„kleinen Streitschrift“ (S. 34) allerdings aucherst gar nicht. Dennoch setzt Geuss bei sei-nen Lesern gewisse Vorkenntnisse voraus,etwa in Bezug auf die von ihm kritisiertenPhilosophen wie Kant, Rawls oder Nozick.Seine Zitierweise ist zum Teil problematisch,etwa dann, wenn er auf Bücher allgemeinverweist, ohne die genauen Stellen anzuge-ben, auf die er sich bezieht. Geuss scheintvor allem zur eigenen „scientific commu-nity“ und weniger zu einem philosophischinteressierten, aber in dieser Wissenschafts-richtung noch nicht so firmen Leser zu spre-chen, versteht es aber, durch seine

Provokationen zu fesseln. Dass der Autorsein Traktat als einen Beitrag zur Weiterent-wicklung der eigenen Disziplin sieht undsich mit seinem Denkanstoß an unent-schlossene Leser oder Menschen mit ähnli-chen Ansichten wendet, klingt in folgendemZitat an: „Bestenfalls kann sie [die Streit-schrift, Anm. der Rezensenten] hoffen,Menschen anzusprechen, die vielleicht selbstschon gelegentlich ähnliche Gedanken hat-ten oder deren Ansichten aus dem einenoder anderen Grund unfertig oder ungefe-stigt sind. Ihnen möchte sie vor Augen füh-ren, dass es einen möglichen Denkweg gibt,der rechtwinklig zur breiten, ausgetretenenHeerstraße der analytischen politischen Phi-losophie verläuft (...).“ (S. 34). Generell gehtGeuss seine philosophischen Gegenspielermit harten Bandagen und Worten an. Diesist in einer Streitschrift sicherlich legitimund trägt zu einer größeren Unterscheid-barkeit der verschiedenen Positionen bei. Allerdings wird die eher idealistische Sicht-weise der von ihm kritisierten Philosophen(allen voran John Rawls) nicht in ihrer vol-len Komplexität behandelt, sondern zumTeil stark vereinfacht. Entsprechend kannGeuss Gegenpositionen leicht abkanzeln.Der Autor zieht eine klare Grenze zwischenseiner eigenen Position, die realistisch sei,und weniger realistischen Positionen, wobeidiese Grenze eher subjektiv und in gewisserWeise auch willkürlich anmutet. Dass Geussmit ethischen und moralischen eorien,die keine Machtstrukturen analysieren, völ-lig bricht, ist schwer nachvollziehbar. Zumaldas Eine das Andere ja nicht ausschließt.Geuss macht es sich auch einfach, wenn erin seinem Schlusssatz den Morallehren vor-wirft, die Welt lediglich in die dichotomenKategorien gut/böse einzuteilen und daherwenig über die reale Politik zu sagen zuhaben. Gerade die angewandte Ethik be-schäftigt sich mit der großen Bandbreitemoralischer Graustufen, was Geuss eigent-lich begrüßen müsste. Der Autor übersiehtin seiner Ethik- und Moralkritik zudem,dass auch in der realen Welt Politik anhandethischer Maßstäbe bewertet werden muss,damit man nicht in einen Relativismus undNihilismus abgleitet. Kritik gibt es auch anGeuss’ Menschenbild zu üben. Den Men-schen attestiert Geuss, vor allem in der Ein-leitung (vgl. mit S. 12ff.), dass sie in ihremHandeln, Denken und Wünschen oft in-konsistent seien, keine längerfristigen Über-zeugungen hätten oder in der großenMehrzahl willensschwach und leicht ab-lenkbar seien. Dieses äußerst skeptische

Menschenbild, das den Menschen als einMängelwesen begreift, scheint uns in seinerradikalen Form selbst nicht realistisch zusein. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass Geussmit seiner Streitschrift wichtige Akzente zusetzen vermag. Es muss nicht falsch sein, vonder Politischen Philosophie mehr Praxisbe-zug zu fordern. esen wie die, dass Politikhistorisch verortet und kontextabhängig seiund entsprechend analysiert werden müsse,können eine Brücke zwischen der (politi-schen) Philosophie und der Geschichtswis-senschaft schlagen. Den Kontextualismusund Partikularismus, die Geuss für sich inAnspruch nimmt, scheinen im Vergleich miteinem alles gleichsetzenden zeit- und raum-unabhängigen universalistischen Denkenebenfalls ihre Vorzüge zu haben. Allerdingsverstört zuweilen die schroffe Ausdrucks-weise und die Ausschließlichkeit, mit derGeuss argumentiert. Zumindest dürfte erdurch das pointierte, aber eben häufig auchverkürzte Argumentieren sein Ziel erreichen,eine Debatte über die künftige Ausrichtungder politischen Philosophie anzustoßen. Werdiese Debatte im deutschsprachigen Raumaufnimmt, wie lange sie dann andauern magund wie fruchtbar sie sein wird, bleibt abzu-warten.

Raymond Geuss (2011): Kritik der politischenPhilosophie – Eine Streitschrift. Aus dem Eng-lischen von Karin Wördemann. Hamburg:Hamburger Edition HIS VerlagsgesellschaftmbH. (Die Originalausgabe erschien 2008unter dem Titel „Philosophy and Real Politics“bei Princeton University Press.) 142 Seiten.ISBN: 9783868542295. Preis: 12 €.

Journal für Generationengerechtigkeit11. Jahrgang · Ausgabe 2/2011

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72 Journal für Generationengerechtigkeit11. Jahrgang · Ausgabe 2/2011

em gehört die Welt?‘ ist einvon Silke Helfrich und derHeinrich-Böll-Stiftung heraus-

gegebener Sammelband mit insgesamt 32wissenschaftlichen Beiträgen. Die Autorenkommen aus verschiedenen Ländern undganz unterschiedlichen gesellschaftlichenBereichen. Sie kommen aus dem Wissen-schaftsbereich (z.B. Soziologie, Anthropologie,Agrarwissenschaft und Veterinärmedizin),aus dem Unternehmertum, der GrünenFraktion im Europäischen Parlament, derFreien Software Bewegung oder den Ärztenohne Grenzen. Die Beiträge sind dabei keinefortlaufenden, aufeinander abgestimmtenGeschichten, sondern jeder Artikel beleuch-tet einen eigenen und doch mit dem zentra-len ema der Gemeingüter verbundenenAspekt. Sie alle stellen das derzeitige Wirt-schaftssystem in Frage, indem sie die Zerstörung von Gemeingütern durch indi-viduelle Eigentumsrechte kritisieren. Dieseder Gemeinschaft entzogenen Gemeingüterwerden so Mittel der individuellen Gewinn-maximierung. Im Mittelpunkt dieses Buchesstehen drei Kernbereiche: Die Klärung desBegriffes der Gemeingüter (1. Kapitel: Ge-meingüter, Bürgerschaft und Eigentum), in-ternationale Beispiele für die Anwendungvon Gemeingütern (2. Kapitel: Entgrenzungund Eingrenzung) und als dritter BereichRegulierungsmöglichkeiten von Gemeingü-tern (3. Kapitel: Institutionen des Com-mons-Managements). Der literarisch Reisende beginnt seine Reisemit einer Einführung in das Wesen von Ge-meingütern. Ein zentrales Anliegen dieserersten Reiseetappe (Gemeingüter, Bürger-schaft und Eigentum) gilt der Klärung vonMissverständnissen, die bei der Verwendungdes Konzeptes der Gemeingüter immer wie-der aufkommen und dessen Akzeptanz er-schweren. Zudem werden die Gefahrenaufgezeigt, die mit der Aufgabe der Verfü-gungsrechte über Gemeingüter und damitdem gesellschaftlichen Reichtum einherge-hen. Gemeingüter sind Güter die das Funk-tionieren einer Gesellschaft, ihre Strukturund ihre Vielfalt ausmachen. Es ist das ge-meinsam erreichte Wissen einer Gesell-

schaft, es sind die Bibliotheken eines Lan-des, Parks oder die zivile Infrastruktur (S.35). Ein schönes Beispiel dessen, was als Ge-meingut aufzufassen ist, erhält der literarischReisende bei einer kurzen Exkursion nachAlaska unter der Leitung von David Bollier.In seinem Aufsatz Gemeingüter – eine ver-nachlässigte Quelle des Wohlstandes zeigt er,dass Öl eines jener Gemeingüter ist, dassnicht das Recht der individuellen Privatisie-rung impliziert. Eine diesen Grundsätzenentsprechende Behandlung erfährt diesesGemeingut nach Bollier in Alaska, wo derStaat die Öleinnahmen im Alaska Perma-nent Fund verwaltet und regelmäßig die Ge-winne an die Einwohner Alaskas ausschüttet(S. 36). Bei einer Fortsetzung der Reise durch daserste Kapitel kristallisiert sich allmählichheraus, was die Autoren unter Gemeingü-tern verstehen. So lernt der Leser bei einemAusflug in Die Politische Ökonomie der Ge-meingüter von Yochi Benkler, dass sie „(…)eine spezielle Form des institutionellen Ar-rangements bezüglich der Nutzung und Ver-fügbarkeit von Ressourcen [sind]. Ihrebesondere Eigenschaft ist – im Gegensatz zuin Privateigentum befindlichen Ressourcen–, dass kein Individuum allein die aus-schließliche Kontrolle über den Zugang undNutzung der betreffenden Ressourcen be-

sitzt.“ (S. 97). Nun mag dem Reisenden einezügellose Inanspruchnahme dieser Güter,ohne jegliche Reglementierung vorschwe-ben. Welchen Mehrwert würde dem Ge-meingut Fluss oder Fischteich hinsichtlichdes Schutzes vor einer ungezügelten Aus-beutung schon zukommen, wenn jedem imRousseauschen Sinne alles gehört? Im Be-wusstsein dieser Problematik beziehen dieAutoren hierzu ganz klar Stellung. Sie gren-zen das hier verwandte Konzept des Ge-meingutes ,common property‘ von solchenGütern ab, für die keinerlei Eigentums-rechte, d.h., ,open access‘ bestehen (S. 92).Solche Güter, die dem freien Zugang einesjeden überlassen sind, sind definitiv schutz-los vor Ausbeutung. „Um aus einer Open-Access-Situation eine in Gemeinbesitzbefindliche Ressource nachhaltig zu verwal-ten, bedarf es zusätzlicher Regelungen.“ (S.91).

Am Ende dieses Kapitels bleibt jedoch dieFrage, ob die Privatisierung bestimmter Ge-meingüter nicht auch positive Seiten habenkönnte. Diese stetige Gradwanderung zwi-schen den positiven Effekten von Gemein-gütern, wie sie Margit Osterloh und RogerLüthi in ihrem Beitrag über den Erfolg undden Nutzen der freien Software beschreiben(S. 118) und den negativen Folgen, wird aufder zweiten Reiseetappe anhand ausführli-cher Beispiele diskutiert. Die bloße Um-münzung eines vormals im Privateigentumbefindlichen Gutes in ein Gemeingut, kannsicher nicht als Lösung der dieses Gut be-treffenden Probleme herhalten. Der Boden,der uns nährt und damit die Grundlage fürunser aller Leben ist, wird nicht dadurchpfleglicher und nachhaltiger behandelt, dassdieser dem Privatbesitz entzogen wird,meint Frank Augusten in seinem Beitrag DieBodenfrage neu stellen: Aber wie? Denn es„(…) finden sich kaum überzeugende Belegedafür, dass die Lösung des Problems dernachhaltigen und sozial gerechten Nutzungvon Grund und Boden im gemeinschaftli-chen Besitz liegt.“ (S. 131). Der eigentlichespringende Punkt liegt im Inneren des Men-schen, nicht so sehr in, ihm äußerlich Zuge-

Silke Helfrich / Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der GemeingüterRezensiert von Verena Farhadian

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teiltes. Es ist „in erster Linie die Bindung derMenschen zur Ressource selbst (…).“ (S.132). Denn „in jeglicher Eigentumsform istder Respekt der Prinzipien nachhaltigerNutzung entscheidend.“ (S. 132). Doch dieAussicht auf Veräußerungsgewinne infolgesteigender Bodenpreise lässt diesem Respektvor dem Gemeingut Boden keinen Platz. Mit dem Bild des Bodens hin- und herge-rissen zwischen Privat- und Kollektivbesitz,verlässt der literarisch Reisende das Flach-land und nähert sich dem Wald, wo er be-gleitet von der Autorin Leticia Merino nunForstgemeinschaften in Mexiko trifft. Hier er-fährt er, dass sich „circa 75 Prozent des be-waldeten Territoriums des Landes (…) inKollektivbesitz.“ befinden (S. 134). Dabeiverschmelzen persönliche Nutzungsrechtedes Einzelnen nicht völlig mit dem Kollek-tiv. Während landwirtschaftliche Flächeninsgesamt dem Kollektiv gehören, sind siedennoch in Einzelparzellen aufgeteilt, dieder persönlichen Nutzung zustehen. Weide-flächen sind dagegen nicht parzelliert undsind somit der gemeinsamen Nutzung vor-behalten (S. 134). Leticia Merino beschreibtzunächst den Zustand der Besitzverteilungund Nutzung, bevor auch sie sich der gleich-zeitig voranschreitenden Zerstörung derÖkosysteme in Mexiko zuwendet. Klar kon-statiert sie: Kollektivbesitz ja, Umweltzer-störung gleichzeitig aber auch. Dies wecktdie Frage, worin nun hier die Gründe liegen,dass trotz Gemeinschaftsbesitz die Zerstö-rung der Ökosysteme voranschreitet. Präziseund verständlich erklärt Leticia Merino, dassnicht nur eine zunehmende Bevölkerungs-dichte, sondern auch Klimaveränderungenund illegaler Holzschlag dem durch Ge-meinschaftsbesitz angedachten Schutz desWaldes entgegenwirken (S. 135f.). Es istzudem der fehlende Anreiz der lokalen Ak-teure sich aktiv dem Erhalt der Forstflächenzu widmen, wozu die staatliche Politik bei-trug (S. 136). Der Reisende wird zu einerkurzen Exkursion durch die staatliche Agrar-politik eingeladen und sieht wie staatlichsubventionierte „(…) Landwirtschaft, Kaf-feeanbau und Viehzucht“ (S. 136) mit ihrerProfitorientierung die Bindung der Men-schen an den Wald zu lösen begannen. Erstdurch die Rückbesinnung auf den Wert desWaldes und dessen gemeinschaftliche Kon-trolle mit einer Zunahme an Kollektivbe-trieben nahm der Ressourcenerhalt zu (S.137). Zurück aus der kurzen Exkursion,lernt der literarisch Reisende jene Bevölke-rungsgruppen kennen, die nach dem Poli-tikwandel diese neuen Chancen der

kollektiven Forstnutzung ergriffen. Denndiese Kollektivbetriebe „schaffen Arbeits-plätze und Einkommen in einigen der mar-ginalisierten Gegenden Mexikos.“ (S. 137).Es sind diese Anreize, die wenn sie stimmen„(…) eine kollektive Verwaltung ideal fürden Erhalt der Wälder (…).“ machen (S.137). Mit den hier gewonnenen Eindrückenverlässt der Reisende das Waldgebiet und be-gibt sich ans Meer.Hier wohnt er einer Debatte bei, in der sichMichael Earle konkret mit der Frage befasst,wem das Recht zum Fischen in der Allmendegebührt. Das Meer erscheint jedem der sei-nen Blick darüber streifen lässt, als ein un-teilbares Gut. Dieses Fehlen an Zäunen undGrenzen wird schwärmerisch als ,Freiheitder Meere‘ bezeichnet (S. 145). Doch sie istletztlich „(…) schlecht für den Natur-schutz.“ (S. 145). Hier am Meer erhält derliterarisch Reisende eine Einführung in dieUN-Seerechtskonvention, die jedem Staatsowohl Rechte als auch Pflichten auferlegt.Insbesondere die Pflicht, eine Überfischungder Bestände zu verhindern, führte zu einerimmer weiteren Ausdehnung der Seehoheitmit eben dieser Begründung (S. 146) unddamit schließlich zu einer Zerteilung desGemeingutes ,Meer‘. Denn „da sich 90 Pro-zent der weltweiten Fischbestände innerhalbder 200 Seemeilen vor der Küste befinden,war der Großteil dieser Bestände plötzlichnicht mehr allgemein zugänglich.“ (S. 146).Blickte der literarisch Reisende vormals aufein Meer ohne Grenzen, so blickt er nun aufein Meer mit, für das Auge unsichtbarenGrenzen. Doch auch diese Zerlegung desMeeres in Hoheitsgewässer bot der Überfi-schung keinen Einhalt. Im Klartext „(…) istdeutlich geworden, dass viele Staaten ihre Fi-scherei nicht besser in den Griff bekommenals zur Zeit des freien Zugangs zur HohenSee.“ (S. 146). Der Grund: Für die Fischebleibt das Meer frei, sie ziehen auch weiter-hin frei durch das Meer. Bestimmungen dieden Fischfang in den Hoheitsgewässern re-geln, bedürfen also nicht nur einer regiona-len Anwendung, sondern müssen auch aufdie Hochseefischerei jenseits der nationalenHoheitsgewässer (12 Seemeilen) und der na-tionalen Wirtschaftszone (200 Seemeilen)ausgeweitet werden. Doch sind die von re-gionalen Fischereiorganisationen stipulier-ten Reglements für die Hochsee kritisch zusehen, da sie nur auf solche Staaten Anwen-dung finden, die diesen Abkommen beige-treten sind (S. 147). Am Ende des Besuchesam Meer stimmen diese vielen Informatio-nen über die Zerlegung des Meeres und

damit eines eigentlichen Gemeingutes inHoheitsgewässer, Wirtschaftszonen und dieHochsee sowie über die Art und Weise wieFangmengen reglementiert werden den lite-rarisch Reisenden nachdenklich. Nun, angekommen am Ende der zweitenReiseetappe, hat der Reisende die unter-schiedliche Vielfalt seiner Reiselandschaftkennengelernt. Er hat Forstgemeinschaftenin Mexiko besucht, Bekanntschaft mit Ter-ritorialpolitik in Gurupá gemacht. Er war zuGast bei den in der Allmende fischenden Fi-schern und wird sich anschließend nach denverschiedenen Ausflügen bei Andrea Len-kert-Hörmann und Ursula Hudson denMagen stärken, die den Reisenden Zur Wie-derentdeckung kulinarischer Traditionen (S.164) einladen. In diesem zweiten Kapitelwird der literarisch Reisende noch viele Aus-flüge in unterschiedliche Gebiete der Ge-meingüter unternehmen. Wie bereits amEnde der ersten Reiseetappe, so bleibt aucham Ende dieser zweiten Reiseetappe einedringliche Frage im Bewusstsein zurück:Wie steht es eigentlich mit der Politik, etwain Europa? Finden Gemeingüter und derenSchutz dort einen Niederschlag? Mit diesen Fragen beginnt der Reisendeseine letzte, dritte, Reiseetappe und begibtsich zu Institutionen des Commons-Manage-ments. Hier trifft er zunächst die Nobel-preisträgerin Elinor Ostrom, die ihm imRahmen eines Diskurses über Gemeingüter-management – eine Perspektive für bürger-schaftliches Engagement (S. 218) mit zuFeldforschungen in Bolivien, Guatemalaund Peru nimmt. In den drei Ländernwurde die Verwaltung des Waldes in ganzunterschiedlichem Grad dezentralisiert undden Kommunen übertragen. Der Reisendelernt hier anhand einer Institutionenanalyse,warum in manchen Fällen die bürgerschaft-liche Verwaltung von Gemeingütern funk-tioniert und in anderen nicht. Es ist vorallem der Grad in dem die Mitglieder einerGruppe miteinander kommunizieren kön-nen. „Das soziale Kapital, das Menschenschaffen können, indem sie sich auf den un-terschiedlichen Ebenen mit einander ver-netzen (…), beeinflusst wesentlich eineffektives Feedback: die Lernprozesse undletztlich die Entwicklung neuer und besse-rer Lösungen.“ (S. 228). Nach einer, vonJörg Haas und Peter Barnes geleiteten lehrreichen Führung durch den Emissions-handel, erklärt Ulrich Brand das Zusam-menwirken von Bewegungen, bevor UlrichSteinvorth den Reisenden mit zu Zwei Wur-zeln der Allmendebewegung, eine Politik

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nimmt. Mit einem letzten Geleitwort vonSilke Helfrich, Jörg Hass und VandanaShiva klingt die Reise aus.

Den Geist voller neuer Erfahrungen undEindrücke lässt der Reisende seine Reisenoch einmal Revue passieren. War sie auf-schlussreich, hat sie sich gelohnt? Ja, sie hatsich gelohnt. Etwas schade ist, dass die Erklärung dessen,was Gemeingüter sind, sich bis in das zweiteKapitel streckt. Hier hätte ein Schnitt statt-

finden können, der diesen Bereich klar aufdas erste Kapitel abgrenzt. Entsprechendwären die im zweiten Kapitel angeführtenBeispiele für den Umgang mit Gemeingü-tern klarer hervorgetreten. Zudem hätte imzweiten Kapitel die Anzahl der Beiträge re-duziert werden können, um die einzelnenBeiträge ausführlicher zu gestalten und demLeser statt eines oft kurzen Überfluges einelängere Verweildauer in den einzelnen Be-reichen zu bieten. Dies ändert dabei jedochnichts an der sehr interessanten und infor-

mativen, gleichzeitig zum Nachdenken an-regenden Qualität der einzelnen Beiträge.Insgesamt handelt es sich um einen gelun-genen, interessanten und zur gedanklichenBefassung mit neuen Bereichen anregendenSammelband.

Silke Helfrich / Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.)(2009): Wem gehört die Welt? Zur Wieder-entdeckung der Gemeingüter. München:oekom verlag. 286 Seiten. ISBN: 978-3-86581-133-2. Preis: 24,90 €.

im Jacksons Wohlstand ohne Wachs-tum und Woran sich Wohlstandwirklich messen lässt von Hans Die-

fenbacher und Roland Zieschank sind zweiin Umfang, Stil und Breite der Betrachtunghöchst unterschiedliche Veröffentlichungen,aber sie haben einen gemeinsamen Aus-gangspunkt: Beide sehen im Bruttoinlands-produkt keinen sinnvollen Indikator mehr,gesellschaftlichen Wohlstand zu messen.Und beide stellen dessen Wachstum als Pa-radigma von Wirtschaft, Politik und Gesell-schaft in Frage. Der eine, Jackson, widerlegteinige Grundüberzeugungen liberalerMarktwirtschaften und fordert radikalenWandel. Die anderen, Zieschank und Die-fenbacher, erläutern, wie sich Wohlstand an-ders erfassen ließe; die gesellschaftlicheVeränderung könnte sich demnach auch alsFolge neuer Kennzahlen einstellen. Zunächst zu Tim Jackson: 2009 unter demTitel Prosperity without Growth in Großbri-tannien erschienen, wurde seine Studie inkurzer Zeit zu einer Art Bibel der Post-wachstumsdebatte. Die im April 2011 vonder Heinrich-Böll-Stiftung herausgegebenedeutsche Übersetzung wird der kritischenDiskussion über das auf Wachstum basie-rende Wirtschaftsmodell auch hierzulandeweitere Aufmerksamkeit bescheren. Jackson lässt von Anfang an wenig Zweifel

daran, dass er das vorherrschende kapitali-stische Wirtschaftssystem für gescheiterthält: Die weltweite Ungleichheit ist weiter-hin enorm, die Zufriedenheit in wohlha-benden Gesellschaften steigt trotz immerweiteren Wachstums nicht an und – fürJackson der dringlichste Grund umzuden-ken – eine auf Wachstum basierende Wirt-schaft missachtet die natürlichen Grenzendes Ökosystems Erde und ist dabei, die Le-bensgrundlagen zukünftiger Generationenzu zerstören. Jackson argumentiert mit vielen Zahlen undBerechnungen. Dabei geht es ihm seltenums Detail – er gibt sogar unumwunden zu,dass seine knappen Darstellungen den stän-dig wachsenden Erkenntnissen der Wissen-schaft nicht immer gerecht werden –sondern um das große Ganze. Eine simple,aber eindrucksvolle Rechnung gleich im er-sten Kapital lautet zum Beispiel: Seit 1950ist die Weltwirtschaft um durchschnittlich 3Prozent im Jahr gewachsen. Setzen sich dieseWachstumsraten fort (was das erklärte Zielvon Regierungen weltweit ist), dann wirddie Weltwirtschaft im Jahr 2100 16 Mal sogroß sein wie heute und 80 Mal so groß wie1950! Dabei hat schon jetzt „diese unglaub-liche Steigerung weltwirtschaftlicher Aktivi-tät kein historisches Vorbild“ (S. 34).Seine Argumente gegen die vorherrschende

Wirtschaftsweise belegt Jackson akribischmit einer Reihe von Studien. Was die Un-verträglichkeit von immer weiterem Wachs-tum mit ökologischen Grenzen betrifft, soscheint diese für ihn so offensichtlich, dass ersich in seiner Darstellung auf einige wenige,aber einleuchtende Beispiele beschränkt.Auch die bereits unternommenen „Anstren-gungen“ z.B. bei der Bekämpfung des Kli-mawandels, rückt Jackson in ein kritischesLicht: So sind die weltweiten Treibhausgas-emissionen, trotz der Reduktionsziele desKyoto-Protokolls, von 1990 bis heute umweitere 40 Prozent gestiegen.

Was die Reduktion der weltweiten Armutangeht, scheint „der Mythos Wachstum“ (S.35) das Problem nicht lösen zu können.Auch die Ungleichheit – mit all ihren nega-tiven sozialen Folgen – nimmt weltweit undinnerhalb der reicheren Gesellschaften wei-ter zu. Dies führt Jackson zu der so über-zeugten wie überzeugenden Aussage: „AufUmweltzerstörung gegründeter Wohlstandfür einige Wenige [kann] nicht die Grund-lage einer zivilisierten Gesellschaft sein.“ (S.36).

Doch selbst denjenigen, die vom Wirt-schaftswachstum „profitieren“, geht es nichtunbedingt besser: Zwar besteht zwischen In-

T

Tim Jackson: Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt.

Hans Diefenbacher / Roland Zieschank: Woran sich Wohlstand wirklich messen lässt.Rezensiert von Boris Kühn

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dikatoren wie Lebenserwartung und Ge-sundheit im internationalen Maßstab eineenge Korrelation zum durchschnittlichenPro-Kopf-Einkommen, allerdings trifft diesvor allem auf den Anstieg im unteren Be-reich der Einkommensskala zu. Ist ein be-stimmtes Niveau erreicht (ca. 15.000 $, lautDaten aus dem Human Development Re-port 2005 der UN), ist eine weitere Verbes-serung dieser Indikatoren nur marginal odergar nicht mehr zu beobachten. Ähnlichesgilt für umfragebasierte Messungen vonGlück und Lebenszufriedenheit in Relationzum BIP. Ist in armen Ländern ein Anstiegdes BIP erkennbar mit einem Anstieg derLebenszufriedenheit verbunden, lässt sich abeiner gewissen, in Deutschland lange er-reichten Einkommenshöhe keine Verbesse-rung mehr erzielen.Jackson plädiert daher dafür, „den ärmerenLändern Raum für Wachstum zu lassen“ (S.59). Grundlegende materielle Bedürfnissemüssen erfüllt sein, um das Leben erfolg-reich zu gestalten. Warum aber ist Wirtschaftswachstum wei-ter das Oberziel in Industrienationen?Hier begibt sich Jackson auf eine interdiszi-plinäre Suche zwischen Psychologie, Öko-nomie und Soziologie und stößt dabei andas „Stahlharte Gehäuse des Konsumismus“(S. 100ff).Die menschliche Lust auf Neues und die(zum Überleben im marktwirtschaftlichenWettbewerb notwendige) Produktion vonimmer neuen Gütern stimulieren sich ge-genseitig. Der Wert dieser Güter bemisstsich heute weniger materiell als durch ihresymbolische, manchmal sogar identitätsstif-tende Wirkung. Die viel gepriesene Effizienzsenkt dabei die Preise der Produkte, was wie-derum die Nachfrage nach diesen anregt. Für den Einzelnen sind Güter also wichtig,um eine möglichst hohe Position im sozialenGefüge zu erreichen (was die persönlicheZufriedenheit anerkanntermaßen hebt). Ge-samtgesellschaftlich scheint dieser „Status-wettbewerb“ und der damit verbundeneMaterialverbrauch und Einkommensanstiegjedoch „ein Nullsummenspiel“ (S. 70) – diesozialen Positionen verschieben sich, die Ge-samtzufriedenheit bleibt jedoch unverän-dert. Bleibt das stärkste Argument für Wirt-schaftswachstum: Ohne Wachstum keinewirtschaftliche und gesellschaftliche Stabili-tät. Und in der Tat: Die stetige Steigerungder Arbeitsproduktivität führt dazu, dass we-niger Arbeitskräfte benötigt werden, was zuArbeitslosigkeit mit all ihren negativen öko-

nomischen und persönlichen Folgen führt.Nur Wachstum von Konsum und Produk-tion kann die Produktivitätssteigerung aus-gleichen und die Menschen in Arbeit halten. Allerdings bleibt das Dilemma-Denken inden herkömmlichen Denkstrukturen derWirtschaftswissenschaft verhaftet, was Jack-son zu der ironischen Erkenntnis bringt: „Ineiner wachstumsbasierten Volkswirtschaft istWachstum Voraussetzung für Stabilität.“ (S.80).In diese Logik lässt sich auch das Verhaltender Politik einordnen, die Wachstum fördertund zu Konsum aufruft, während sie gleich-zeitig Nachhaltigkeitsstrategien verabschie-det und über ökologische Grenzendebattiert. Der Zwang zum Wachstum hatden Blick der Politiker derart verengt, dass

sie eine umfassende Deregulierung des Fi-nanzsektors und eine Ausweitung der Geld-menge durch (teils unsichere) Kredite undniedrige Zinsen in Kauf nahmen, ja veran-lassten und damit letztlich, so Jackson, dieFinanz- und Wirtschaftskrise verursachten.Für Jackson steht damit neben dem langfri-stigen, weil umweltzerstörenden, auch daskurzfristige Scheitern des wachstumsbasier-ten Wirtschaftsmodells fest. Mit dem Zu-sammenbruch von Banken und derÜberschuldung vieler Staaten hat das Wirt-schaftssystem nicht nur ökologisch und sozial, sondern auch – nach systemimma-nenten Kriterien – wirtschaftlich versagt.Dass die Politik mit riesigen Hilfspaketeneingegriffen hat, befürwortet der ÖkonomJackson. Es galt, noch größeres Chaos zuverhindern. Nun aber zum Status quo zu-rückkehren zu wollen, griffe eindeutig zukurz. Vielmehr sieht er die Zeit gekommen,„eine ganz andere Wirtschaftsstruktur zuentwickeln“ und „uns aus der zerstöreri-schen gesellschaftlichen Logik des Konsu-mismus“ zu befreien (S. 113).Die präzise und radikale Analyse des Wachs-tumsparadigmas macht neugierig darauf,welche Art von Wirtschaftsstruktur Jacksonim letzten Drittel seines Buches entwickelnwird. Wie werden wir dem Wachstums-zwang entkommen können und dennoch inWohlstand leben? Wie kann die Erde geret-tet und gleichzeitig mehr Gerechtigkeit fürheutige und zukünftige Generationen er-reicht werden? Denn nicht weniger als dashält Jackson für schwierig, aber möglich. Der Erfolg des neuen Wirtschaftssystemsmuss sich an echtem Wohlstand orientieren.Dieser darf nicht rein materiell definiertwerden: Studien und Umfragen belegen,dass die Zufriedenheit der Menschen in erster Linie von anderen Faktoren wie gesellschaftlicher Teilhabe, Gesundheit,Freundschaft etc. abhängt – Ziele, die er-reicht werden können, ohne dass der Res-sourcen- und Energieverbrauch weiter steigt. Die zentrale Aufgabe von Politik und Wirt-schaft ist es, „den Menschen die Befähigungzu geben, zu gedeihen“ (S. 160). Dazu mussmehr als bisher bedacht werden, was dieses„Gedeihen“ ausmacht und wie man es fördern kann. Jackson benennt einige Fak-toren: Neben gesellschaftlichem Zusam-menhalt auch Abbau von Ungleichheit, dieMöglichkeit zu und die Anerkennung vonehrenamtlicher Arbeit, der Aufbau sozialerInfrastruktur und öffentlicher Einrichtun-gen.

Journal für Generationengerechtigkeit11. Jahrgang · Ausgabe 2/2011

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Das klingt alles nicht wirklich neu. Wer diePräsentation einer neuartigen und in sichschlüssigen Gesellschaftsstruktur erwartethat, wird zunächst enttäuscht. Das gilt auchfür den Entwurf einer neuen „ÖkologischenMakroökonomie“ (S. 130). Ein neues Wirtschaftssystem wird „die strukturelle Ab-hängigkeit von hemmungslosem Konsum-wachstum reduzieren und einen neuenMechanismus finden müssen, um grundle-gende Stabilität zu erreichen“ (S. 163). So klar Jackson diese Prämisse formuliert, sovage bleibt er bei der Beschreibung dieser„ökologischen Makroökonomie“. Fast fühltman sich an Karl Marx erinnert, der mitPräzision, Akribie und Wortgewalt dieSchwächen des herrschenden Wirtschaftssy-stems aufdeckte um dann in dünnen Wor-ten einen Kommunismus zu entwerfen,dessen Umsetzbarkeit und Ausgestaltung imDunkeln blieben. Immerhin: Jackson erhebt nicht den An-spruch, das neue Wirtschaftsmodell bereitsentworfen zu haben. Ein solches erforderenoch viel Forschung und Erkenntnis. „Die-ses Buch kann das nicht leisten.“ (S. 146).Was es bietet sind einige Grundpfeiler desneuen Wirtschaftsmodells und Ideen, wieman den Weg dorthin einschlagen könnte:Ökologische Grenzen müssen ein verbindli-cher Teil des Wirtschaftsmodells sein. Sie er-fordern weitgehende Entkopplung vomRessourcenverbrauch, aber das wird nichtreichen: Sie fordern auch ein Ende desWachstums. Ein Wirtschaftssystem, dasdiese Einsicht respektiert (und gleichzeitigden Anstieg sowohl der Weltbevölkerung alsauch der Arbeitsproduktivität nicht igno-riert) muss auf eine Reduktion der Gesamt-arbeitszeit setzen. Da Arbeitslosigkeit zuvermeiden ist, ist eine Teilung der Arbeit –also kürzere individuelle Arbeitszeiten – un-abdingbar. Gleichzeitig werden personalin-tensive Dienstleistungen einen viel größerenAnteil als bisher ausmachen. Investitionenund Rendite müssen neu gedacht werden:Ökologisches Investment, z.B. in Gebäude-sanierung und Infrastruktur, aber auch in öf-fentliche Räume und den Schutz vonÖkosystemen, ist gesellschaftlich von gro-ßem Nutzen, wird aber geringere Renditenim herkömmlichen Sinne und längere Zeit-spannen mit sich bringen. Wie wird das möglich sein? Werden dieMenschen ihr Arbeits- und Anlageverhaltenentsprechend ändern? Hier sieht Jacksonden Staat in der Verantwortung. Entschei-dend für den Wandel ist, dass dieser „aktivwird“ (S. 172). Indem er beim ökologischen

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Investment voranschreitet. Indem er Anreizenicht zu mehr, sondern zu weniger Konsumsetzt. Indem er Ungleichheit bekämpft.Indem er Arbeitszeitregeln festlegt. Indemer Finanzmärkte und Handel reguliert. Diesalles weckt Ängste, ein starker Staat könnedie Freiheit des Einzelnen zu sehr ein-schränken. Diese Ängste sind ernst zu neh-men und stellen einen der ernsthaftestenEinwände gegen Jacksons Streitschrift dar.Nicht weniger ernst zu nehmen sind jedochdie Eingriffe, mit denen die Politik schonheute die gesellschaftliche Logik mitbe-stimmt. Und Anreize setzt zu Vollzeitarbeit,Mobilität und Konsumismus. Auch dieseAnreize schränken womöglich Freiheiten ein– insbesondere die der zukünftigen Genera-tionen.

Was bei Jackson ein Teilaspekt eines „fehler-haften Wirtschaftsmodells“ (S. 203) ist, stel-len Diefenbacher und Zieschank insZentrum ihrer Betrachtung. Ihr 2011 er-schienenes Buch beschäftigt sich mit Alter-nativen zum Bruttoinlandsprodukt. WennJackson eine neue ,Bibel der Wachstumskri-tik‘ vorgelegt hat, so haben Diefenba-cher/Zieschank das ,Taschenbuch derWachstumskritik‘ veröffentlicht: Auf gut 90Seiten fassen sie kurz und knapp wichtigeElemente der Wachstumskritik und alterna-tive Wohlfahrtsrechnungen zusammen.Manches Konzept wird dabei eher angeris-sen als erläutert, manch’ kritische Kon-textualisierung kommt zu kurz. Einen gutenÜberblick bietet das Buch jedoch allemal,zumal es dank gut gewählter, konkreter Bei-spiele und aktueller Bezüge anschaulich undleicht zugänglich ist. Zunächst betrachten auch Zieschank/Die-fenbacher das herrschende Wachstumspara-digma. Ähnlich wie Jackson kommen sie zudem Schluss, dass endloses BIP-Wachstumnicht nur zweifelhaft, sondern im Grundeabsurd ist: Schließlich misst dieses die rela-tive jährliche Veränderung eines absolutimmer größer werdenden Betrags. Zudemstellen sie die Frage, ob das Wachstum desBIP überhaupt wünschenswert ist. Vielesspricht gegen einen Indikator, der jede Formvon wirtschaftlicher Aktivität gleich (posi-tiv) bewertet: Kosten der Umweltver-schmutzung und Verbrauch endlicherRessourcen werden nicht erfasst. Defensiv-ausgaben (Reparaturen und Statuserhalt,z.B. auch Ausgaben für die Bergung nachVerkehrsunfällen oder die Aufräumarbeitennach einem Reaktorunglück) erhöhen dasBIP. Andererseits gehen zweifelsfrei wohl-

fahrtssteigernde Aktivitäten wie soziales En-gagement, häusliche Arbeit, immaterielleFreizeitgestaltung nicht ins BIP ein. DieVerteilung des erzielten Reichtums spieltkeine Rolle, dabei ist selbst in der traditio-nellen Ökonomie anerkannt, dass ein wei-terer Euro dem Ärmsten mehr Nutzenspendet als dem Reichsten. All diese Kritik wird bereits „seit Jahrzehn-ten immer wieder geäußert“ (S. 22). Zueiner politischen Infragestellung des BIPhatte sie nicht geführt. In den letzten Jahrenschießen jedoch immer weitere Kommissio-nen aus dem Boden, die sich mit alternati-ven Definitionen und Messmethoden vonWohlstand beschäftigen: Die SustainableDevelopment Commission, in der auchTim Jackson mitwirkte, wurde bereits imJahr 2000 von der britischen Regierung ein-gesetzt, Frankreichs Staatschef Nicolas Sar-kozy beauftragte 2008 eine Kommissionunter der Leitung des Nobelpreisträgers Jo-seph Stiglitz mit der kritischen Evaluationdes BIP, Deutschland hat seit 2011 eine ent-sprechende Enquete-Kommission im Bun-destag. Die Autoren stellen sowohl die aktuelle De-batte als auch ältere Konzepte zur alternati-ven Wohlstandsmessung summarisch dar.Die Alternativen reichen von eher konven-tionellen, das BIP modifizierenden, Model-len bis zu den „Happiness Indicators“, diesich komplett von einer volkswirtschaftli-chen Gesamtrechung verabschieden undstattdessen Kennzahlen wie Gesundheit, Le-bensstandard, Bildung und psychischesWohlbefinden zusammentragen. Vielesdavon lässt sich nur durch subjektive Ein-schätzungen in Befragungen erheben.Hierin sehen Diefenbacher/Zieschank einegravierende Schwäche der „Glücksindikato-ren“: Individuelle Zufriedenheit und Wün-sche können gegenwartsfixiert und imWiderspruch zu einer nachhaltigen Politikstehen.So setzen sie mit dem von ihnen selbst ent-wickelten Nationalen Wohlfahrtsindex(NWI) auf eine makroökonomische, mone-täre Kenngröße. Ausgangspunkt bleibt derprivate Konsum, von dem anhand von (jenach Variante) 19 bis 23 Variablen Beträgeabgezogen oder hinzugerechnet werden, „jenachdem, ob die zugrunde liegenden Akti-vitäten die gesellschaftliche Wohlfahrt stei-gern oder mindern“ (S. 60). So werden z.B.der Wert von Haus- und ehrenamtlicher Ar-beit addiert, Kosten von Verkehrsunfällenund Kriminalität sowie Umweltschädensubtrahiert.

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Der Ansatz wirkt zunächst recht konserva-tiv – was damit zusammenhängen dürfte,dass er im Auftrag des Bundesumweltmini-steriums entwickelt wurde. Eine Orientie-rung am NWI könnte dennoch einUmdenken bewirken: Wachstum wäre nichtmehr per se erstrebenswert, aber auch nichtautomatisch schlecht – es würde vielmehrqualitativ bewertet, nach der ökologischenVerträglichkeit und der wohlfahrtsstiftendenWirkung. Eine wirtschaftliche Entwicklung,die zu einem Anstieg des NWI führt wäh-rend das BIP sinkt ist genauso denkbar wieder umgekehrte Fall. Es braucht, so die Autoren, eine Alternativ-rechnung, die in Politik und Öffentlichkeit„ähnlich hohe Aufmerksamkeit erhält wiedas BIP“ (S. 60). Nur dann besteht die

Chance, dass sich politisches und individu-elles Handeln tatsächlich an dieser Zielgrößeorientieren. Dass sie ihren eigenen Index nurals Ergänzung zum BIP vorschlagen, ver-wundert etwas; die Aufmerksamkeit würdein diesem Fall aller Wahrscheinlichkeit nachweiter der etablierten Messmethode gelten.Deren Strahlkraft ist nämlich von beein-druckender Resistenz. Ein steigendes BIP istauch der konsumkritischsten Tageszeitungim Wirtschaftsteil dann doch eine Jubel-meldung wert. Und die Regierungen mögennoch so viele wachstumskritische Kommis-sionen einsetzen: Sie ergreifen doch Maß-nahmen zur Konjunkturbelebung undhoffen auf „den Aufschwung“. So können dies die Stärken der beiden vor-liegenden Bücher sein: Die Nähe zur Poli-

tik (die Autoren arbeiten im Auftrag von Re-gierungen und Ministerien) und ein gewis-ses wirtschaftspolitisches Renommee, dasauch die etablierten Ökonomen und politi-schen Entscheidungsträger dazu nötigt, sichernsthaft mit den Grenzen des Wachstumsauseinanderzusetzen.

Tim Jackson (2011): Wohlstand ohne Wachs-tum. Leben und Wirtschaften in einer endli-chen Welt. München: oekom. 239 Seiten.ISBN 978-3-86581-245-2. Preis: 19,95 €.

Hans Diefenbacher / Roland Zieschank(2011): Woran sich Wohlstand wirklich messenlässt. Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt.München: oekom. 109 Seiten. ISBN 978-3-86581-215-5. Preis: 12,95 €.

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