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Stanislav Grof / Peter Fenwick / Michael Grosso / Erlendur Haraldsson / Roger J. Woolger / Charles T. Tart

Wir wissen mehr als unser Gehirn

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H E R D E R s p e k t r u mBand 5848

Das Buch

Wie sind menschliche Extremerfahrungen wie Nahtoderlebnisse, Erinnerungen an frühere Leben oder außerkörperliche Erfahrungen zu erklären? Was überhaupt sind Geist und Bewusstsein? Im Mittel­punkt der transpersonalen Psychologie steht die Frage, was mit dem Bewusstsein, dem Geist bzw. der Seele eines Menschen geschieht, wenn er stirbt. Gibt es ein Weiterleben nach dem Tod, und was kön­nen wir darüber anhand außerordentlicher und veränderter Be­wusstseinszustände wissen? Diese Fragen nach den Grenzen des menschlichen Bewusstseins werden von neurophysiologischer, psy­chologischer, psychiatrischer und philosophisch-theologischer Per­spektive aus beleuchtet. Daraus entsteht ein spannender Brücken­schlag zwischen Naturwissenschaft und Spiritualität, bei dem das gesamte Spektrum des Bewusstseins in den Blick kommt.Die sechs Vorträge, die im Rahmen der Mystics and Science Con­ference gehalten wurden, machen deutlich, dass es an der Zeit ist, die Theorien und Methoden, mit denen wir menschliches Bewusst­sein zu ergründen suchen, völlig neu zu überdenken.

Die Autoren

Stanislav Grof gehört zu den Begründern der transpersonalen Psycho­logie, Professor am California Institute of Integral Studies in San Fran­cisco sowie Autor zahlreicher, auch ins Deutsche übersetzter Bücher. Peter Fenwick, Neurophysiologe in Oxford. Internationale Vor­tragstätigkeit, auch in Radio und Fernsehen.Michael Grosso, Professor für Philosophie an der New Jersey City University. Autor zahlreicher Bücher.Erlendur Haraldsson, Professor für Psychologie in Reykjavik. Er gilt als einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Parapsychologie. Roger Woolger, jungianischer Analytiker und ein Pionier der trans­personalen Psychologie. Internationale Vortragstätigkeit.Charles T. Tart, em. Professor für Psychologie am Institute of Noe­tic Sciences. Er gehört zu den Begründern der transpersonalen Psy­chologie und hat zahlreiche, auch ins Deutsche übersetzte Bücher geschrieben.

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Stanislav Grof / Peter Fenwick / Michael Grosso / Erlendur Haraldsson /

Roger J. Woolger / Charles T. Tart

Wir wissen mehr als unser Gehirn

Die Grenzen des Bewusstseins überschreiten

Aus dem Englischen von Brigitte Beier und Karen Villwock

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Titel der englischen Originalausgabe:Thinking Beyond the Brain. A Wider Science of Consciousness

©2001 Scientific & Medical Network and Floris Books

Titel der deutschen Erstausgabe:„Wir wissen mehr als unser Gehirn.

Die Grenzen des Bewusstseins überschreiten"

Neuausgabe 2008

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2003 Alle Rechte Vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung und Konzeption:R-M-E München / Roland Eschlbeck, Liana Tuchel

Umschlagmotiv Rene Magritte: La lunette d'approche.Öl auf Leinwand, 1963.

The Menil Collection, Houston, Texas

Satz: Dtp-Satzservice Peter Huber, Freiburg Herstellung: fgb • freiburger graphische betriebe

www.fgb.de

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany

ISBN-978-3-451-05848-6

Scan & OCR von Shiva2012

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Inhalt

Stanislav Grof:

Außergewöhnliche Bewusstseinszustände................................................ 7

Peter Fenwick:

Gehirn, Geist und was darüber hinausgeht................................................. 37

Michael Grosso:

Psi-Forschung und transpersonale Psychologie........................................ 57

Erlendur Haraldsson:

Kinder und Erinnerungen an frühere Leben............................................... 91

Roger J. Woolger:

Die Existenz anderer Welten und ihre Bedeutungfür Psychotherapie und Heilung................................................................... 113

Charles T. Tart:

Erleuchtung und Verdunkelung................................................................... 151

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Außergewöhnliche Bewusstseinszustände

Stanislav Grof

Stanislav Grof verfügt als Psychiater über vierzig fahre Erfahrung in der Erforschung außergewöhnlicher Bewusst­seinszustände. Er ist Professor für Psychologie am California Institute of Integral Studies in San Francisco. Er gehört zu den Begründern und führenden Theoretikern der transper­sonalen Psychologie und ist Gründungspräsident der Inter­national Transpersonal Association. Zu seinen Publikatio­nen gehören über hundert Aufsätze in Fachzeitschriften sowie u. a. die Bücher Topographie des Unbewußten, LSD- Psychotherapie, Das Abenteuer der Selbstentdeckung, Kos­mos und Psyche, Totenbücher und Das kosmische Spiel.

Das Ziel dieses Artikels besteht darin, meine Erfahrungen und Beobachtungen über die menschliche Psyche und ihr Hei­lungspotenzial, die ich in den letzten fünfunddreißig Jahren meiner Forschungen über außergewöhnliche Bewusstseinszu­stände gemacht habe, zusammenzufassen. Diese Zustände sind durch dramatische Wahrnehmungsveränderungen, durch starke und häufig ungewöhnliche Emotionen, grundlegende Wand­lungen der Denkprozesse und des Verhaltens sowie durch ver­schiedenste psychosomatische Erscheinungen charakterisiert. Das Bewusstsein kann in den unterschiedlichsten Situationen auf vielfältige Art und Weise tiefgreifend verändert sein; aber nicht alle außergewöhnlichen Bewusstseinszustände besitzen heuristische Bedeutung und therapeutisches Potenzial. Diese Einführung konzentriert sich auf große und wichtige Unter­

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gruppen solcher Zustände, die von entscheidender theoreti­scher und praktischer Bedeutung sind. Für sie habe ich das Wort holotrop geprägt (wörtlich „auf Ganzheit gerichtet"; aus dem Griechischen holos = ganz und trepein = sich auf etwas zu oder in eine Richtung bewegen; vgl. Grof 1992).

Holotrope Zustände des Bewusstseins

In holotropen Zuständen verändert sich das Bewusstsein qua­litativ in sehr fundamentaler Weise, ist aber nicht stark be­einträchtigt. Das unterscheidet diese Veränderungen von ein­fachen Delirien, die in Folge von Traumata, Intoxikationen durch giftige Substanzen, Infektionen oder degenerativen Pro­zessen bzw. Durchblutungsstörungen im Gehirn auftreten. Menschen, die an deliriösen Zuständen leiden, sind typischer­weise desorientiert (sie wissen nicht, wo und wer sie sind, und haben keine Einschätzung der Zeit), sie weisen eine Störung der intellektuellen Funktionen und eine nachfolgende Amne­sie auf. All dies ist während holotroper Zustände nicht der Fall. Außerdem ist der Gehalt holotroper Erfahrungen oft spiritueller oder mystischer Natur. Er schließt Sequenzen von psychologischem Tod und Wiedergeburt sowie ein breites Spektrum transpersonaler Phänomene ein,- hierzu gehören auch das Gefühl des Einsseins mit anderen Menschen, der Natur und dem Universum, Erfahrungen aus früheren Leben sowie Visionen von Archetypen und mythologischen Landschaften, wie sie C. G. Jung beschrieben hat (1960).

Holotrope Bewusstseinszustände und die Geschichte der Menschheit

Frühzeitliche und so genannte primitive Kulturen haben viel Zeit und Kraft darauf verwandt, wirksame bewusstseinsver- ändernde Techniken zu entwickeln, die holotrope Zustände hervorrufen können. Sie kombinieren in unterschiedlicher Wei­

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se Gesang, Atmung, rhythmischen Tanz, Fasten, soziale und sensorische Isolation, extreme körperliche Schmerzen und andere Elemente. Sie bedienen sich ihrer in schamanistischen Techniken, Heilzeremonien und Übergangsriten - wirkungs­volle Rituale, die zu Zeiten wichtiger biologischer und sozialer Umbrüche wie Beschneidung, Pubertät, Heirat oder Geburt eines Kindes durchgeführt werden. Viele Kulturen haben für diese Zwecke bewusstseinserweiternde Pflanzen benutzt. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind verschiedene Hanfsorten, der mexikanische Peyote-Kaktus und Psilocybin-Pilze, der afri­kanische Eboga-Strauch und die amazonische Dschungelliane Banisteriopsis caapi, der Ausgangsstoff für Yagé oder Ayahu­asca.

Zusätzliche wichtige Auslöser für holotrope Erfahrungen sind verschiedene Formen systematischer spiritueller Prakti­ken, wie Meditation, Konzentration, Atmung und Bewegungs­übungen, die in unterschiedlichen Yoga-Systemen zu finden sind, im Vipassana oder im Zen-Buddhismus, im tibetischen Vajrayana, im Daoismus, in der christlichen Mystik, im Su­fismus oder in der Kabbala. Weitere Techniken wurden in den alten Mysterien von Tod und Wiedergeburt angewandt, etwa den ägyptischen Tempelweihen von Isis und Osiris und den griechischen Bacchanalien, den Riten von Attis und Adonis sowie den Eleusinischen Mysterien. Die Besonderheiten der Vorgehensweise bei diesen geheimen Riten sind größtenteils unbekannt geblieben, obwohl wahrscheinlich bewusstseinser­weiternde Präparate eine entscheidende Rolle gespielt haben (Wasson, Hofmann und Ruck 1978).

Zu den neuzeitlichen Mitteln, die holotrope Bewusstseins­zustände hervorrufen, gehören bestimmte - aus Pflanzen ge­wonnene oder künstlich erzeugte - Substanzen und starke experimentelle Formen der Psychotherapie wie Hypnose, An­sätze in der Tradition von Wilhelm Reich, Primärtherapie und Rebirthing. Meine Frau Christina und ich haben das holo­trope Atmen entwickelt, eine Methode, mit der sich tiefe holo­trope Zustände mit sehr einfachen Mitteln erzeugen lassen -

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bewusste Atmung, suggestive Musik und konzentrierte Kör­perarbeit. Weiterhin existieren sehr effektive Labortechniken zur Bewusstseinsveränderung. Eine davon ist die sensorische Isolation, bei der es auf eine entscheidende Reduzierung be­deutsamer sensorischer Stimuli ankommt. In seiner extremen Form werden dem Individuum alle sensorischen Reize entzo­gen, indem man es in einen dunklen und schalldichten Tank eintaucht, dessen Wasser Körpertemperatur hat. Eine andere wohl bekannte Labortechnik der Bewusstseinsveränderung ist das Biofeedback, bei dem das Individuum durch elektronische Feedbacksignale in einen außergewöhnlichen Bewusstseins­zustand versetzt wird, der durch das Vorherrschen bestimm­ter spezifischer Frequenzen von Hirnströmen gekennzeichnet ist. Ebenso sollen hier die Techniken von Schlaf- und Traum­entzug sowie der „luziden Träume" (Klarträume) erwähnt werden.

Es ist wichtig zu betonen, dass Erlebnisse von außerge­wöhnlichen Bewusstseinszuständen unterschiedlicher Dauer auch spontan auftreten können, ohne spezifischen identifizier­baren Grund und häufig gegen den Willen der betreffenden Person. Seitdem die moderne Psychiatrie nicht zwischen mystischen und spirituellen Zuständen auf der einen und geistigen Erkrankungen auf der anderen Seite unterscheidet, werden Menschen, die diese Erfahrungen machen, oft als psychotisch und behandlungsbedürftig abgestempelt und er­halten routinemäßig suppressive Psychopharmaka. Christina und ich führen diese Zustände auf spirituelle Notlagen oder psychospirituelle Krisen zurück. Wir sind der Meinung, dass sie zu emotionaler und psychischer Heilung, positiver Persön­lichkeitsveränderung und Bewusstseinsentfaltung führen kön­nen, wenn sie angemessen unterstützt und behandelt werden (Grof und Grof 1989, 1990).

Obwohl ich mich für alle oben erwähnten Kategorien von außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen sehr interessiere, habe ich am intensivsten auf dem Gebiet der psychedelischen Therapie, der holotropen Atemarbeit und der spirituellen Kri-

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sen gearbeitet. Dieser Aufsatz gründet sich überwiegend auf meine Beobachtungen in diesen drei Bereichen, in denen ich über die stärksten persönlichen Erfahrungen verfüge. Aber meine generellen Schlussfolgerungen lassen sich auf jede Art von holotropen Zuständen übertragen.

Holotrope Zustände in der Geschichte der Psychiatrie

Es verdient Beachtung, dass die Geschichte der Tiefenpsycho­logie und der Psychotherapie eng mit den Untersuchungen von außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen verknüpft ist - mit Franz Anton Mesmers Experimenten zum „animali­schen Magnetismus", Hypnosesitzungen mit hysterischen Pa­tienten, wie sie Jean Martin Charcot in Paris veranstaltet hat, und mit den Forschungen über Hypnose, die in Nancy von Hippolyte Bernheim und Ambroise Auguste Liébault durch­geführt wurden. Sigmund Freuds frühe Arbeiten wurden be­sonders durch die Beschäftigung mit einer bestimmten Klien­tin inspiriert (Fräulein Anna, die Episoden außergewöhnlicher Zustände spontan durchlebte). Auch Freud bediente sich an­fänglich der Hypnose, um das Unbewusste seiner Patienten zu erreichen, bevor er seine Strategien radikal änderte. Rückbli­ckend war die Verlagerung des Schwerpunkts von der direkten Erfahrung zur freien Assoziation, vom tatsächlichen Trauma zu ödipalen Fantasien und vom bewussten Durchleben und emotionalen Abreagieren unbewussten Materials zur Dyna­mik der Übertragung unglücklich; beides setzte in den folgen­den fünfzig Jahren der westlichen Psychotherapie Grenzen und leitete sie in die Irre (Ross 1989). Während die Gesprächs­therapie bei zwischenmenschlichen Lernprozessen und bei der Korrektur von Interaktion und Kommunikation in Beziehun­gen (z. B. bei der Paar- und Familientherapie) sehr sinnvoll sein kann, ist sie ineffektiv, wenn es sich um emotionale und bio­energetische Blockaden und Makrotraumata, wie z. B. das Ge­burtstrauma, handelt.

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Als eine Folge dieser Entwicklung beschränkte sich die Psychotherapie in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts weitgehend auf das Gespräch - persönliche Befragungen, freies Assoziieren auf der Couch und behavioristisches De- konditionieren. Zur selben Zeit wurde der außergewöhnliche Bewusstseinszustand, den man zunächst als wirksames thera­peutisches Mittel betrachtet hatte, eher mit pathologischem Verhalten als mit Heilung in Verbindung gebracht. Diese Situa­tion begann sich in den fünfziger Jahren mit dem Beginn der psychedelischen Therapie und im Zuge neuer Entwicklungen in der Psychologie zu verändern. Eine Gruppe amerikanischer Psychologen leitete unter der Führung von Abraham Maslow, der mit dem Behaviourismus und der Psychoanalyse Freuds nicht einverstanden war, eine revolutionäre Bewegung ein: die humanistische Psychologie. Innerhalb kürzester Zeit breitete sich diese Strömung aus und legte den Boden für ein breites Spektrum neuer Therapien.

Während traditionelle Psychotherapien in erster Linie ver­bale Mittel und intellektuelle Analyse benutzten, legten diese neuen so genannten Erfahrungstherapien ihren Schwerpunkt auf unmittelbare Erfahrung und den Ausdruck von Emotio­nen. Sie entwickelten verschiedene Formen der Körperarbeit als unerlässlichen Bestandteil des therapeutischen Prozesses. Der wahrscheinlich bekannteste Vertreter dieser neuen Vor­gehensweise ist Fritz Perls, der die Gestalttherapie entwickelte (Perls 1976). Die meisten Erfahrungstherapien vertrauten je­doch immer noch in hohem Maße auf verbale Kommuni­kation und forderten, der Klient müsse in einem normalen Bewusstseinszustand verbleiben. Die grundlegendsten Innova­tionen auf therapeutischem Gebiet waren Methoden, die eine solche Kraft hatten, dass sie den Bewusstseinszustand tiefgrei­fend veränderten, wie die psychedelische Therapie, holotrope Atemarbeit, Primärtherapie, Rebirthing u.a.

Der therapeutische Einsatz außergewöhnlicher Bewusst­seinszustände stellt die jüngste Entwicklung in der westlichen Psychotherapie dar. Paradoxerweise handelt es sich gleichzeitig

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um die älteste Form der Heilung, die bis zum Beginn der Menschheitsgeschichte zurückverfolgt werden kann. The­rapien, die holotrope Zustände einbeziehen, stehen für die Wiederentdeckung und moderne Neuinterpretation jener Elemente und Prinzipien, die Historiker und Anthropologen dokumentierten, als sie die heiligen Mysterien von Tod und Wiedergeburt, die Übergangsriten und die frühzeitlichen und so genannten primitiven Formen spiritueller Heilung, insbeson­dere verschiedene schamanistische Techniken, untersuchten.

Der Schamanismus ist die älteste Religion und Heilkunst der Menschheit, deren Wurzeln bis weit zurück in das paläo- lithische Zeitalter reichen. Unter den wunderbaren Bildnissen urzeitlicher Lebewesen, die an die Wände großer Höhlen in Südfrankreich und Nordspanien gemalt und eingeritzt sind, wie in Lascaux, Font de Gaume, Les Trois Freres, Niaux, Altamira und anderen, befinden sich Figuren, die zweifellos frühzeitliche Schamanen darstellen. In einigen dieser Höhlen fanden die Entdecker auch Fußabdrücke in kreisförmiger An­ordnung vor, die darauf schließen lassen, dass die Höhlen­bewohner Tänze vollführt haben, ähnlich denen so genannter primitiver Kulturen zur Einleitung von außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen. Der Schamanismus ist nicht nur ur­alt, sondern auch universell; er lässt sich in Nord- und Süd­afrika, in Europa, Afrika, Asien, Australien und Polynesien nachweisen.

Der Umstand, dass so viele verschiedene Kulturen in der gesamten Menschheitsgeschichte schamanistische Techniken für sinnvoll und bedeutend hielten, legt nahe, dass sie sich an den „Urgeist" wandten - einen grundlegenden und uranfäng- lichen Aspekt der menschlichen Psyche, der in allen Ethnien, Kulturen und Zeiten zu finden ist Mit Ausnahme der west­lichen Industriegesellschaften haben alle Kulturen dem außer­gewöhnlichen Bewusstseinszustand einen hohen Stellenwert beigemessen und viel Zeit und Mühe darauf verwandt, ver­schiedene Wege zu seiner Erlangung zu entwickeln. Sie be­nutzten ihn dazu, mit ihren Gottheiten, mit weiteren Dimen-

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sionen der Wirklichkeit und mit den Kräften der Natur in Ver­bindung zu treten, sowie zur Heilung, zur Ausbildung der übersinnlichen Wahrnehmung und zur künstlerischen Inspira­tion. Für präindustrielle Kulturen hat Heilung immer außer­gewöhnliche Bewusstseinszustände erfordert - entweder für den Patienten oder für den Heiler oder für beide zugleich. In vielen Fällen begibt sich eine große Gruppe oder sogar der gesamte Stamm in einen außergewöhnlichen Bewusstseinszu­stand, so wie es zum Beispiel bei den Kung-Buschmännern in der afrikanischen Kalahari-Wüste der Fall ist.

Die westliche Psychiatrie und Psychologie betrachtet den außergewöhnlichen Bewusstseinszustand (mit Ausnahme von Träumen, die nicht wiederkehrend oder erschreckend sind) nicht als potenzielle Heilquelle oder wertvolle Information über die menschliche Psyche, sondern im Grunde als eine pathologische Erscheinung. Die traditionelle Psychiatrie neigt dazu, diese Zustände willkürlich als pathologisch abzustem­peln und suppressive Medikationen einzusetzen, wann immer sie spontan auftreten. Michael Hamer (1980), ein Anthropo­loge mit hohem akademischem Ansehen, der während sei­ner Feldstudien im Amazonas-Urwald einer schamanistischen Initiation beiwohnte und selber Schamanismus betrieb, weist darauf hin, dass die westliche Psychiatrie sich letztlich auf zwei bedeutende Strömungen verlegt hat. Da gibt es die ethno- zentrische Richtung, die ihre eigene Sicht der menschliche Psy­che und der Wirklichkeit für die einzig richtige hält und über alle anderen stellt. Und es gibt die kognizentrische (vielleicht wäre „pragmazentrisch" der bessere Ausdruck), die nur Erfah­rungen und Beobachtungen in normalen Bewusstseinszustän­den berücksichtigt. Das mangelnde Interesse der Psychiatrie an holotropen Zuständen hat zu einer kulturellen Gefühllosig­keit diesen gegenüber geführt und zu der Tendenz, alle Akti­vitäten, die nicht im eigenen engstirnigen Sinn zu verstehen sind, zu pathologisieren. Dies schließt das rituelle und spiri­tuelle Leben von alten und vorindustriellen Kulturen sowie die gesamte spirituelle Geschichte der Menschheit ein.

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Auswirkungen der Bewusstseinsforschung auf die Psychiatrie

Wenn wir systematisch die Erfahrungen und Beobachtungen untersuchen, die mit außergewöhnlichen Bewusstseinszustän­den oder, genauer gesagt, holotropen Zuständen in Zusam­menhang stehen, so führt dies zwangsläufig zu einer radikalen Revision unserer grundlegenden Vorstellungen von Bewusst­sein und menschlicher Psyche und zu einer völlig neuen Psy­chiatrie, Psychologie und Psychotherapie. Die Umwälzungen in unserer Denkweise, die notwendig sind, gliedern sich in mehrere große Kategorien auf:

Das Wesen emotionaler und psychosomatischer Erkrankungen

Für das, was traditionell Psychopathologie genannt wird, be­nutzt die Psychiatrie ein Erklärungsmodell, das sich auf bio­logische und biografische Traumata im Säuglingsalter, in der Kindheit und im späteren Leben beschränkt. Folgt man neue­ren Auffassungen, müssen zusätzliche Bereiche der Psyche als mögliche Ursachen emotionaler Probleme mit einbezogen werden. Sie sind ihrem Wesen nach transbiografisch und transpersonal.

Therapeutische Mechanismen und der Heilungsprozess

Die traditionelle Psychotherapie kennt nur therapeutische Mechanismen, die auf der Ebene des biografischen Materials arbeiten: die Erinnerung an vergessene Ereignisse, das Bewusst­machen von Verdrängtem, die Rekonstruktion der Vergangen­heit aus Träumen, das erneute Durchleben traumatischer Er­innerungen, die Analyse von Übertragungen usw. Die Arbeit mit außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen erschließt vie­le wichtige zusätzliche Techniken der Heilung und der Person-

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lichkeitsveränderung, die sich in Bereichen abspielen, die jen­seits der auf üblichem Weg zugänglichen Biografie liegen.

Die Strategie der Psychotherapie und Selbsterforschung

Das Ziel der traditionellen Psychotherapie besteht darin, ein intellektuelles Verständnis vom Funktionieren der Psyche und von der Entstehung der Symptome zu erlangen und daraus eine Strategie zur „Instandsetzung" des Patienten abzuleiten. Ein schwer wiegendes Problem dieser Vorgehensweise besteht darin, dass Psychologen und Psychiater über diese fundamen­talen Themen vollends uneins sind, was zu einer erstaunli­chen Anzahl konkurrierender Schulen der Psychotherapie ge­führt hat. Die Arbeit mit holotropen Zuständen eröffnet eine überraschende Alternative und einen Ausweg aus diesem Durcheinander, wie ich später erörtern werde.

Die Rolle der Spiritualität im menschlichen Leben

Die westliche materialistische Wissenschaft hat keinen Raum für irgendeine Form von Spiritualität und hält sie für unver­einbar mit der wissenschaftlichen Denkweise. Die moderne Bewusstseinsforschung weist nach, dass Spiritualität eine na­türliche und legitime Dimension der menschlichen Psyche und des universellen Systems allen Daseins ist. In diesem Zusam­menhang ist es wichtig, Spiritualität von Religion zu unter­scheiden.

Die Natur der Wirklichkeit

Die notwendigen Korrekturen, die ich bis zu diesem Punkt diskutiert habe, bezogen sich auf Theorie und Praxis von Psy­chiatrie, Psychologie und Psychotherapie. Aber die Arbeit mit außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen führt zu wesent-

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lich fundamentaleren Herausforderungen. Viele der Erfahrun­gen und Beobachtungen, die hierbei auftreten, sind so außer­gewöhnlich, dass sie nicht in die newtonisch-cartesischen ma­terialistischen Paradigmen passen, sondern die meisten grund­legenden metaphysischen Annahmen des Gesamtgebäudes der westlichen Wissenschaft in Frage stellen.

Die Dimensionen der menschlichen Psyche und das Bewusstsein

Die Phänomene, die in der modernen Bewusstseinsforschung beobachtet werden, lassen sich nicht mit einem Modell erklä­ren, das sich auf die postnatale Biografie und das individuelle Unbewusste nach Freud beschränkt. Die Dimensionen der menschlichen Psyche sind unendlich viel größer, als die aka­demische Psychologie uns glauben machen möchte. In dem Bemühen, den Erfahrungen und Beobachtungen bei außerge­wöhnlichen Bewusstseinszuständen Rechnung zu tragen, habe ich eine Kartografie oder ein Modell der Psyche entwickelt, das zusätzlich zur üblichen biografischen Ebene zwei transbio­grafische Gebiete umfasst:

Die perinatale Sphäre, die mit dem Trauma der biologi­schen Geburt verbunden ist, und die transpersonale Sphäre, die Phänomene wie die erfahrungshafte Identifikation mit anderen Menschen oder mit Tieren, Visionen archetypischer und mythologischer Wesen und Reiche, Ahnen-, Rassen- und karmische Erlebnisse sowie die Identifikation mit dem univer­sellen Geist oder dem Nichts umfasst. Hierbei handelt es sich um Erfahrungen, die zu allen Zeiten in der religiösen, mysti­schen und okkulten Literatur beschrieben worden sind. Ich konzentriere mich hier auf die transpersonale Sphäre. Eine detaillierte Darstellung meiner Arbeit auf dem perinatalen Gebiet ist bei Grof 1985 nachzulesen.

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Die transpersonale Sphäre der Psyche

Das zweite Hauptgebiet, das der vorherrschenden Kartografie der Psychiatrie in Bezug auf die menschliche Psyche hinzu­gefügt werden muss, wenn wir uns mit außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen beschäftigen, ist heute unter dem Begriff transpersonal bekannt, was wörtlich „jenseits des Per­sönlichen" oder „das Persönliche überschreitend" bedeutet. Die Erfahrungen, die dieser Ebene entstammen, schließen das Überschreiten der gewöhnlichen Grenzen des individuellen Körpers und Egos, des dreidimensionalen Raums und der line­aren Zeit ein, die unsere Vorstellung von der Welt in einem normalen Bewusstseinszustand beschränken. Die transperso­nalen Erfahrungen lassen sich am besten dadurch definieren, dass wir zunächst unsere alltägliche Erfahrung von uns selbst und der Welt beschreiben - wie wir uns und unsere Um­gebung erleben und für „normal" halten, entsprechend den Normen unserer Kultur und der newtonisch-cartesisch gepräg­ten Wahrnehmung.

Im gewöhnlichen oder „normalen" Bewusstseinszustand er­leben wir uns selbst als newtonische Objekte, die innerhalb der Grenzen unserer Haut existieren. Der amerikanische Au­tor und Philosoph Alan Watts verwies auf diese Erfahrung als Identifizierung mit dem „in der Haut verkapselten Ich". Un­sere Wahrnehmung der Umwelt ist durch die physiologischen Grenzen unserer Sinnesorgane und durch die physikalischen Merkmale der Umgebung beschränkt: Wir können Objekte, von denen wir durch eine massive Wand getrennt sind, nicht sehen, ebenso wenig Schiffe, die sich hinter dem Horizont be­finden, oder die andere Seite des Mondes. Halten wir uns in Prag auf, hören wir nicht, worüber sich unsere Freunde in San Francisco unterhalten. Wir können die Weichheit eines Lamm­fells nicht spüren, es sei denn, unsere Haut berührt es direkt. Außerdem können wir nur die Ereignisse, die in diesem Mo­ment geschehen, intensiv und mit all unseren Sinnen erleben.

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Wir können uns die Vergangenheit ins Gedächtnis zurück­rufen und zukünftige Ereignisse voraussehen oder darüber fan­tasieren; aber solche Erlebnisse unterscheiden sich stark vom unmittelbaren und direkten Erleben des jetzigen Moments. In transpersonalen Bewusstseinszuständen hat jedoch keine die­ser Grenzen absoluten Bestand; jede von ihnen kann über­schritten werden.

Transpersonale Erfahrungen lassen sich in drei große Ka­tegorien einteilen. Die erste besteht vor allen Dingen im Über­schreiten der üblichen räumlichen Grenzen oder der Grenzen des „in der Haut verkapselten Ichs". Hierzu gehören die Erfah­rungen, bei denen man mit einer anderen Person verschmilzt - in einem Zustand, den man als „duale Einheit" bezeichnen kann. Dies kann geschehen, indem man die Identität einer an­deren Person annimmt oder sich mit dem Bewusstsein einer ganzen Gruppe von Menschen identifiziert (z. B. allen Müttern der Welt, der gesamten Bevölkerung Indiens oder allen Insas­sen eines Konzentrationslagers) oder indem man sogar eine Erweiterung des Bewusstseins erfährt, durch die es die gesamte Menschheit umschließt. Erlebnisse dieser Art sind wiederholt in der spirituellen Weltliteratur beschrieben worden.

In ähnlicher Weise lassen sich die Grenzen der spezifisch menschlichen Erfahrung überschreiten, und der Einzelne kann sich mit dem Bewusstsein unterschiedlicher Tiere oder Pflan­zen oder sogar mit der Form des Bewusstseins identifizieren, das anorganischen Objekten und Prozessen innezuwohnen scheint. Im Extremfall ist es möglich, das Bewusstsein der ge­samten Biosphäre zu erfahren, unseres Planeten oder des gan­zen materiellen Universums. Unvorstellbar und absurd muss es einer westlich orientierten, mit der cartesisch-newtonischen Wissenschaft vertrauten Person erscheinen, dass diese Erfah­rungen darauf hindeuten, alles, was wir in einem alltäglichen Bewusstseinszustand als Objekt erleben, finde eine entspre­chende subjektive Darstellung in den außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen. Es ist so, als ob alles im Universum einen objektiven und subjektiven Aspekt hätte, in der Art und

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Weise, wie es in den großen spirituellen östlichen Philoso­phien beschrieben ist (z.B. wird im Hinduismus alles, was existiert, als eine Manifestation von Brahma betrachtet oder im Daoismus als Verwandlung des Dao).

Die zweite Gruppe transpersonaler Erfahrungen ist vorran­gig durch das Überwinden der zeitlichen (eher als der räum­lichen) Grenzen gekennzeichnet, durch das Überschreiten der linearen Zeit. Wir haben uns bereits mit der Möglichkeit des intensiven Wiedererlebens starker frühkindlicher Erinnerun­gen, z. B. an das Geburtstrauma, beschäftigt. Diese historische Rückentwicklung kann sich weiter fortsetzen und authenti­sche fötale und embryonale Erinnerungen aus verschiedenen Phasen des intrauterinen Lebens zur Folge haben. Es ist nicht einmal ungewöhnlich, auf der Ebene zellulären Bewusstseins eine vollständige Identifikation mit der Samenzelle und der Eizelle zum Zeitpunkt der Empfängnis zu erfahren. Aber die historische Regression hört auch hier noch nicht auf, und es ist sogar möglich, Geschehnisse aus den Leben der mensch­lichen und tierischen Vorfahren zu erleben oder sogar solche, die aus dem kollektiven Unbewussten zu stammen scheinen, wie sie von C. G. Jung beschrieben werden. Ziemlich häufig sind die Vorkommnisse, die sich in anderen Kulturen oder ge­schichtlichen Perioden zu ereignen scheinen, jedoch eng ver­bunden mit einem Gefühl von personalem Gedächtnis; die Menschen sprechen dann vom Wiedererleben vergangener Leben, von früheren Inkarnationen.

Die bisher beschriebenen transpersonalen Erlebnisse haben verschiedene Phänomene zum Inhalt, die in Raum und Zeit existieren. Sie umfassen Elemente der alltäglichen vertrauten Wirklichkeit - andere Menschen, Tiere, Pflanzen, Themen und Ereignisse aus der Vergangenheit. Überraschend ist hier nicht der Inhalt dieser Erfahrungen, sondern die Tatsache, dass wir etwas miterleben oder uns sogar vollständig mit etwas identi­fizieren können, das normalerweise unserer Erfahrung nicht zugänglich ist. Wir wissen, dass es auf dieser Welt schwangere Wale gibt, aber wir sind normalerweise nicht in der Lage, ein

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authentisches Gefühl dafür zu entwickeln, wie man sich als solcher fühlt. Die Tatsache zu akzeptieren, dass es einmal die Französische Revolution gegeben hat, ist nicht schwer, aber wir haben keine klare Vorstellung davon, was es bedeutet, dabei zu sein und verwundet auf den Barrikaden von Paris zu liegen. Wir wissen auch, dass sich vieles in der Welt an Plätzen abspielt, an denen wir nicht zugegen sind, aber nor­malerweise scheint es unmöglich, etwas weit Entferntes mit­zuerleben (ohne Übertragung durch Fernsehen und Satellit). Auch überrascht es uns, Bewusstsein im Zusammenhang mit niederen Tieren, Pflanzen und der anorganischen Natur anzu­treffen.

Die dritte Kategorie transpersonaler Erfahrungen ist sogar noch merkwürdiger. In diesem Fall scheint sich das Bewusst­sein auf Bereiche und Dimensionen auszudehnen, die die westlichen Industriegesellschaften nicht für „real" halten. Hier­zu gehören Visionen von Archetypen und mythologischen Landschaften, Begegnungen oder sogar Identifikationen mit Gottheiten und Dämonen verschiedener Kulturen und die Kommunikation mit nicht fleischlichen Wesen, Seelenfüh- rern, übermenschlichen Wesen, Außerirdischen und Bewoh­nern paralleler Universen. Weitere Beispiele dieser Kategorie sind Visionen und intuitives Verstehen universeller Symbole wie Kreuz, Ankh-Kreuz, Hakenkreuz, Pentagramm, Sechsstern oder Yin-Yang-Zeichen.

Im weiteren Sinne kann sich das individuelle Bewusstsein mit dem kosmischen Bewusstsein oder dem universellen Geist identifizieren, der unter vielen verschiedenen Namen bekannt ist: Brahman, Buddha, der kosmische Christus, Keter, Allah, das Dao, der Große Geist und viele andere. Das Grundlegende all dieser Erfahrungen scheint die Identifikation mit der über­kosmischen und metakosmischen Leere zu sein, der mysteriö­sen und uranfänglichen Leere und dem Nichts, das sich seiner selbst bewusst und der elementare Ursprung aller Existenz ist. Es hat keinen konkreten Inhalt und enthält doch alles, was ist, in einer unentwickelten, latenten Form.

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Transpersonale Erfahrungen sind in vielem so ungewöhn­lich, dass sie die grundlegenden metaphysischen Annahmen des newtonisch-cartesischen Paradigmas und der materialisti­schen Weitsicht erschüttern. Forscher, die diese faszinierenden Phänomene untersucht oder persönlich erlebt haben, kommen zu der Feststellung, dass die Bemühungen der offiziellen Wis­senschaft, sie als irrelevante Erzeugnisse menschlicher Fanta­sie und Einbildungskraft bzw. als Halluzinationen - Ergebnisse pathologischer Prozesse im Gehirn ohne jede Bedeutung - ab­zutun, naiv und unangemessen sind. Jede unvoreingenomme­ne Untersuchung der transpersonalen Sphäre der Psyche muss zu dem Schluss kommen, dass die dabei gewonnenen Beob­achtungen eine echte Herausforderung nicht nur für die Psy­chiatrie und Psychologie, sondern für die gesamte westliche Philosophie der Wissenschaften darstellen.

Auch wenn transpersonale Erfahrungen im Prozess tiefer individueller Selbsterforschung auftreten, lassen sie sich nicht einfach als intrapsychische Phänomene im üblichen Sinne interpretieren. Einerseits tauchen sie im selben Raum auf wie perinatale und biografische Erfahrungen und kommen von da­her aus der Psyche des Individuums. Andererseits scheint eine direkte, ohne Vermittlung durch die Sinne stattfindende Ver­bindung zu Informationsquellen gegeben zu sein, die selbst­verständlich weit über das hinausreicht, was üblicherweise dem Individuum zugänglich ist. Irgendwo auf der perinatalen Ebene der Psyche scheint ein merkwürdiger Umschlag stattzu­finden, sodass dasjenige, was bis dahin eine tiefe innerpsychi­sche Selbsterforschung war, zu einer Erfahrung des Univer­sums in seiner Gesamtheit mit übersinnlichen Mitteln wird. Einige Menschen haben dies mit einem „Möbiusband der Er­fahrung" verglichen, da man in einem solchen Zustand nicht mehr sagen kann, was innen und was außen ist.

Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass wir Informa­tionen über das Universum auf zwei gänzlich unterschiedliche Weisen erhalten: Neben dem üblichen Weg über Sinneswahr­nehmung, Analyse und Synthese der Sinnesdaten gibt es auch

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die Möglichkeit, in einem außergewöhnlichen Bewusstseins­zustand durch direkte Identifikation etwas über verschiedene Aspekte der Welt zu erfahren. Jeder von uns scheint so etwas wie ein Mikrokosmos zu sein, in den Informationen über den Makrokosmos eingeschrieben sind. In den Traditionen der Mystik lauten die entsprechenden Formulierungen „Das Oben ist das Unten" oder „Das Äußere ist das Innere".

Die Berichte von Menschen, die Episoden embryonaler Existenz, den Augenblick der Empfängnis und Elemente von Bewusstsein auf der Ebene von Zellen, Gewebe und Organen erfahren haben, enthalten oftmals detaillierte medizinische Ein­sichten in die anatomischen, physiologischen und biochemi­schen Aspekte der damit verbundenen Prozesse. Ähnlich ver­hält es sich mit Erinnerungen auf der Vorfahren-, Rassen- und kollektiven Ebene sowie der an frühere Menschwerdung: Sie liefern sehr genaue Details über Architektur, Kleidung, Waffen, Kunst, Gesellschaftsstruktur sowie die religiösen und rituellen Praktiken der Kultur und historischen Epoche, um die es jeweils geht, oder sie beziehen sich sogar auf konkrete historische Ereignisse.

Menschen, die phylogenetische Erfahrungen oder solche der Identifikation mit existierenden Lebensformen durchlebt haben, beschrieben diese nicht nur als ungewöhnlich authen­tisch und überzeugend, sondern erwarben in deren Verlauf häufig auch außergewöhnliche Einsichten in die Psychologie der Tiere, ihre Verhaltensmuster und in ungewöhnliche Kreis­läufe der Reproduktion. In einigen Fällen war dies von Mus­kelzuckungen begleitet, wie sie für Menschen nicht typisch sind, oder sogar von so komplexen Verhaltensformen wie der Ausführung eines Balztanzes.

Die philosophische Herausforderung, die sich aus den oben beschriebenen Beobachtungen ergibt, ist an sich schon groß genug, doch sie wird noch größer dadurch, dass die transpersonalen Erfahrungen, welche die materielle Welt kor­rekt widerspiegeln, häufig innerhalb desselben Kontinuums stattfinden wie andere Erfahrungen, von denen einige Elemen-

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te in den westlichen Industriestaaten nicht als real anerkannt werden - ja, diese Erfahrungen sind häufig miteinander verwoben. Hierzu gehören zum Beispiel Erfahrungen mit Gott­heiten und Dämonen aus unterschiedlichen Kulturen, in mythologischen Welten wie Himmel und Paradies und mit Sequenzen aus Sagen und Märchen.

Man kann zum Beispiel den Himmel Shivas oder das Para­dies des aztekischen Regengottes Tlaloc erfahren, die Unter­welt der Sumerer oder eine der Höllen der Buddhisten. Es ist auch möglich, mit Jesus zu kommunizieren, eine erschüttern­de Begegnung mit der Hindugöttin Kali zu erleben oder sich mit dem tanzenden Shiva zu identifizieren. Sogar derartige Episoden können zutreffende neue Informationen über reli­giöse Symbole und mythische Motive enthalten, die der be­treffenden Person bis dahin nicht bekannt waren. Solche Beob­achtungen bestätigen C. G. Jungs Vorstellung, dass es neben dem Freudschen individuellen Unbewussten ein uns zugängli­ches kollektives Unbewusstes gibt, in dem das kulturelle Erbe der gesamten Menschheit bewahrt ist.

Es ist kein leichtes Unterfangen, die täglichen Beobachtun­gen im Verlauf einer mehr als fünfunddreißig Jahre währen­den Forschungstätigkeit über außergewöhnliche Bewusstseins­zustände in einigen Sätzen glaubhaft zusammenzufassen und daraus Folgerungen zu ziehen. Mit einigen Sätzen die kulturell tief verwurzelte Weitsicht derjenigen Leser, die mit der trans­personalen Psychologie nicht vertraut sind und das, was ich sage, nicht mit ihrer persönlichen Erfahrung zusammenbrin­gen können, zum Einsturz zu bringen - das ist eine wenig realistische Erwartung. Obwohl ich außergewöhnliche Bewusst­seinszustände wiederholt selbst durchlebt habe und mir die Gelegenheit gegeben war, eine Anzahl anderer Menschen da­bei zu beobachten, habe ich Jahre gebraucht, um die Wucht dieses Erkenntnisschocks zu verarbeiten.

Aus Platzgründen ist es mir nicht möglich, hier detaillierte Fallgeschichten wiederzugeben und so die Natur transpersona­ler Erfahrungen und die Einsichten, die durch sie gegeben

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sind, zu verdeutlichen. Leser, die dieses Gebiet genauer erkun­den möchten, verweise ich auf mein Buch Das Abenteuer der Selbstentdeckung (Grof 1987), in dem ich die verschiede­nen Arten transpersonaler Erfahrung im Einzelnen erläutere und viele illustrative Beispiele dafür gebe, wie durch sie un­gewöhnliche neue Informationen über verschiedene Aspekte des Universums gewonnen werden. Im selben Buch ist auch die Methode des holotropen Atmens beschrieben, das perina­tale und transpersonale Welten für denjenigen eröffnet, der an einer persönlichen Verifikation der oben erwähnten Beobach­tungen interessiert ist. Vergleichbare Informationen über psy­chedelische Sitzungen finden sich in meinem Buch LSD- Psychotherapie, das in einer Neuauflage herausgekommen ist (Grof 2000).

Die Tatsache transpersonaler Erfahrungen und ihre spezifi­sche Natur stellen eine Verletzung der Grundvoraussetzungen mechanistischer Wissenschaft dar. Die damit einhergehende Vorstellung von der Relativität und Willkür aller physischen Grenzen und von nicht an den Ort gebundenen Kontakten er­scheint vor diesem Hintergrund absurd: eine Kommunikation mit unbekannten Werkzeugen und über unbekannte Kanäle, Erinnerungen ohne materielles Substrat, eine nicht-lineare Zeit oder ein Bewusstsein, das alle lebenden Organismen und so­gar die unbelebte Materie umfasst. Viele transpersonale Er­fahrungen beinhalten Ereignisse aus dem Mikrokosmos und Makrokosmos, Welten, die den menschlichen Sinnen ohne Hilfsmittel nicht zugänglich sind, oder aus historischen Epo­chen, die vor der Entstehung des Sonnensystems, der Ent­stehung des Planeten Erde oder dem Auftreten lebender Orga­nismen, der Entwicklung des Nervensystems und der Heraus­bildung des homo sapiens liegen.

Die Erforschung außergewöhnlicher Zustände bringt also ein erstaunliches Paradox hinsichtlich der Natur des Men­schen zutage: Auf eine rätselhafte und bis heute unerklärliche Weise enthält jeder von uns Informationen über das gesamte Universum und alles, was existiert. Jeder hat potenziell durch

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persönliche Erfahrung Zugang zu allen Teilen des Kosmos, ja er oder sie ist in gewisser Weise selbst das ganze kosmische Netzwerk, so wie er oder sie zugleich nichts als ein verschwin­dend kleiner Teil davon ist, ein einzelnes und unbedeutendes biologisches Wesen. Die neue Kartografie berücksichtigt diese Tatsache und stellt die individuelle menschliche Psyche als zu­tiefst im Einklang mit dem gesamten Kosmos und der Totalität der Existenz dar. So absurd und unplausibel diese Vorstellung dem in traditionellen Bahnen denkenden Wissenschaft3er und unserem gesunden Menschenverstand auch erscheinen mag - sie lässt sich mit neuen, revolutionären Entwicklungen in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen bestens verein­baren, die üblicherweise als neues oder erweitertes Paradigma bezeichnet werden.

Ich bin der festen Überzeugung, dass die erweiterte Karto­grafie, die ich oben skizziert habe, von höchster Bedeutung ist, wenn es um eine ernsthafte Beschäftigung mit Phänome­nen wie Schamanismus, Übergangsriten, Mystik, Religion, Mythologie, Parapsychologie, Nahtoderfahrungen und psyche­delischen Zuständen geht. Dieses neue Modell der Psyche ist nicht nur von akademischem Interesse. Wie ich im Weiteren in meinem Aufsatz zeigen werde, hat es weitreichende, gerade­zu revolutionäre Auswirkungen auf das Verständnis emotiona­ler und psychosomatischer Störungen - u. a. der Psychosen - und eröffnet der Therapie bisher unbekannte Möglichkeiten.

Die Natur emotionaler und psychosomatischer Störungen

Die traditionelle Psychiatrie folgt dem Vorbild der klassischen Medizin und ihrer Vorstellung von Krankheit nicht nur bei Störungen, die eindeutig organischer Natur sind, sondern auch bei emotionalen und psychosomatischen Störungen, für die sich keine biologische Ursache finden lässt. Psychiater ver­wenden Begriffe wie „mentale" oder „emotionale Störung"

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recht großzügig und versuchen verschiedene Störungen mit spezifischen Diagnosekategorien zu erfassen, die mit denen der Allgemeinmedizin vereinbar sind. Im Großen und Ganzen gilt, dass der Ausbruch von Symptomen als Beginn der Krank­heit angesehen und der Krankheitsverlauf anhand der Stärke der Symptome beurteilt wird. Die Linderung der Symptome wird als „klinische Verbesserung", ihre Verstärkung als „Ver­schlechterung des klinischen Zustands" betrachtet.

Die aus der Untersuchung außergewöhnlicher Bewusst­seinszustände gewonnenen Beobachtungen legen nahe, dass ein Denken in Begriffen von Krankheit, Diagnose und allopa­thischer Therapie den meisten psychiatrischen Problemen, die nicht eindeutig organischer Natur sind, nicht gerecht wird; dazu gehören auch Zustände, die üblicherweise mit dem Eti­kett „Psychose" belegt werden. Der Eintritt in unsere mate­rielle Existenz, die embryonale Entwicklung, die Geburt, das Säuglingsalter und die Kindheit haben bei uns allen trauma­tische Eindrücke hinterlassen, auch wenn es hinsicht3ich der Intensität, des Umfangs und der Zugänglichkeit des trauma­tischen Materials sicherlich große individuelle Unterschiede gibt. Jeder Mensch schleppt ein Vielzahl mehr oder weniger latenter emotionaler und bioenergetischer Blockaden mit sich herum, welche die physiologischen und psychologischen Funk­tionen beeinträchtigen.

Der Ausbruch emotionaler oder psychosomatischer Symp­tome stellt den Beginn eines Heilungsprozesses dar, durch den der Organismus sich von traumatischen Eindrücken zu be­freien und in seinen Funktionen zu vereinfachen sucht. Und dies kann nur auf eine einzige Weise geschehen: Das trau­matische Material muss im Bewusstsein auftauchen, dort zur Gänze durchlebt sowie emotional und motorisch zum Aus­druck gebracht werden. Wenn das zu verarbeitende Trauma größeren Umfangs ist - etwa bei einer schweren, langwierigen und das biologische Überleben bedrohenden Geburt kann der Ausdruck gefühlsmäßig und vom Verhalten her von extre­mer Dramatik sein. Unter diesen Umständen mag es zunächst

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plausibler erscheinen, dies als Resultat irgendeines exotischen pathologischen Zustandes anzusehen denn als eine potenziell zuträgliche Entwicklung. Dieser Prozess kann sich jedoch, wenn er recht verstanden und angemessen unterstützt wird, für die Heilung, die spirituelle Öffnung, den Wandel der Persönlichkeit und die Bewusstseinserweiterung als förderlich erweisen. Das Auftauchen von Symptomen stellt also kein Problem dar, sondern eine Gelegenheit zur Therapie. Diese Einsicht bildet die Grundlage der meisten erfahrungsorientier­ten Psychotherapien. Symptome treten in der Region auf, in der das Verteidigungssystem am schwächsten ist, und bereiten so den Boden für den einsetzenden Heilungsprozess. Nach mei­ner Erfahrung gilt dies nicht nur für Neurosen und psycho­somatische Störungen, sondern auch für bestimmte Zustände, die traditionell als psychotisch betrachtet werden (psycho- spirituelle Krisen oder „spirituelle Notlagen"). In diesem Zu­sammenhang mag von Interesse sein, dass das chinesische Schriftzeichen für „Krise" aus zwei anderen Schriftzeichen zu­sammengesetzt ist, die „Gefahr" und „Gelegenheit" bedeuten. Die Vorstellung, dass Symptome nicht Zeichen für eine Krank­heit, sondern Ausdruck eines Heilungsprozesses sind und deshalb unterstützt werden sollten, findet sich auch in der Homöopathie.

Die traditionelle Psychotherapie sieht in emotionalen und psychosomatischen Symptomen, die nicht organisch verursacht, sondern psychischen Ursprungs sind, das Ergebnis postnataler biografischer Traumata, die aus der Kindheit, insbesondere der frühkindlichen Phase, stammen. In der therapeutischen Arbeit, die sich außergewöhnlicher Bewusstseinszustände bedient, kommt ans Licht, dass sie tatsächlich eine multidimensionale Struktur mit zusätzlichen Wurzeln auf perinataler und trans­personaler Ebene haben. Jemand, der an psychisch bedingtem Asthma leidet, kann zum Beispiel feststellen, dass das der Erkrankung zugrunde liegende biografische Material aus Er­innerungen an Erstickungserlebnisse bei drohendem Ertrinken und an eine Diphtherieerkrankung in der Kindheit besteht.

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Auf einer tieferen Ebene ist dasselbe Problem auch mit der Bedrängung während der Geburt verbunden, und in seiner tiefsten Wurzel mag es auf eine Erfahrung des Stranguliertwer­dens oder Erhängens in einem früheren Leben zurückzuführen sein. Damit das Symptom verschwindet, muss sich der Patient darauf einlassen, in allen damit verbundenen Schichten Erfah­rungen zu machen. Neue Erkennmisse bezüglich dieser sich über verschiedene Ebenen erstreckenden dynamischen Struk­tur der wichtigsten Formen emotionaler und psychosomati­scher Störungen habe ich anderswo im Detail dargestellt (Grof 1985).

Die Bedeutung der Spiritualität im Leben des Menschen

Die traditionelle Psychologie und Psychiatrie ist von einer materialistischen Philosophie geprägt und lässt Spiritualität in welcher Form auch immer nicht gelten. Aus der Perspektive westlicher Wissenschaft stellt die materielle Welt die einzige Wirklichkeit dar, und jede Form spiritueller Überzeugung ist demnach nur ein Hinweis auf mangelnde Bildung, primiti­ven Aberglauben, magisches Denken oder aber ein Rückfall in infantile Muster. Unmittelbare Erfahrungen spiritueller Wirklichkeiten werden daher in die Welt schwerer psycho- pathologischer Störungen verbannt. Die westliche Psychiatrie unterscheidet nicht zwischen mystischer und psychotischer Erfahrung, sondern sieht beide als Zeichen einer geistigen Erkrankung. Ihre Ablehnung der Religion trifft unterschieds­los den primitiven Volksglauben und die buchstabengetreue Schriftauslegung der Fundamentalisten auf der einen wie die anspruchsvollen mystischen Traditionen und die spirituellen östlichen Lehren auf der anderen Seite, die sich auf eine syste­matische, seit Jahrhunderten betriebene Erkundung der Psyche mit den Mitteln der Introspektion stützen. Diese Psychiatrie pathologisiert jede Form von Spiritualität und damit die ge­samte spirituelle Geschichte der Menschheit.

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Die Beobachtungen bei der Untersuchung außergewöhn­licher Bewusstseinszustände bestätigen eine bedeutsame Ein­sicht C. G. Jungs. Ihm zufolge haben die Erfahrungen, die in tieferen Ebenen der Psyche gewonnen werden (in meiner Ter­minologie perinatale und transpersonale Erfahrungen), eine bestimmte Qualität, die er in Anlehnung an Rudolf Otto als „das Numinose" bezeichnet. Solche Erfahrungen sind von dem Gefühl einer Begegnung mit einer sakralen, heiligen Dimen­sion begleitet, die mit dem alltäglichen Leben nichts zu tun hat und einer höheren Ordnung der Wirklichkeit angehört. Der Begriff „numinos" ist relativ neutral und daher anderen wie „religiös", „mystisch", „magisch", „heilig" oder „sakral" vor­zuziehen, die oft ungenau verwendet werden und zu Missver­ständnissen führen könnten.

Um solche Verwirrungen und Missverstände, die viele Diskussionen in der Vergangenheit beeinträchtigt haben, zu vermeiden, kommt es darauf an, zwischen Spiritualität und Religion klar zu unterscheiden. Spiritualität beruht auf der unmittelbaren Erfahrung anderer Wirklichkeiten. Sie bedarf nicht unbedingt einer bestimmten Örtlichkeit oder einer be­stimmten Person, die den Kontakt mit dem Göttlichen her­stellt, auch wenn Mystiker zweifellos von spiritueller Anlei­tung und einer Gemeinschaft Suchender profitieren können. Zur Spiritualität gehört also eine besondere Beziehung zwi­schen dem Individuum und dem Kosmos. Sie ist ihrem Wesen nach eine persönliche, private Angelegenheit. Die Wiege aller großen Religionen bilden visionäre (perinatale und/oder trans­personale) Erfahrungen ihrer Gründer, Propheten, Heiligen und sogar ihrer einfachen Anhänger. Alle bedeutenden spiri­tuellen Schriften - die Veden, der buddhistische Pali-Kanon, die Bibel, der Koran, das Buch Mormon und viele andere - beruhen auf Offenbarungen in holotropen Bewusstseinszu­ständen.

Im Vergleich dazu bildet eine Gruppenaktivität, die an fest­gelegten Orten (Tempel, Kirche) stattfindet, die Basis der als Institution verankerten Religion. Idealerweise sollten Religio­

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nen ihren Anhängern Zugang zu unmittelbaren spirituellen Erfahrungen bieten und diese unterstützen. Häufig geschieht es jedoch, dass eine Religion die Verbindung zu ihrer spirituel­len Quelle vollkommen verliert und zu einer weltlichen Insti­tution wird, welche die spirituellen Bedürfnisse des Menschen ausbeutet, ohne sie zu befriedigen. Stattdessen schafft sie hie­rarchische Systeme, die sich auf die Ausübung von Macht und Kontrolle, auf Politik, Geld und anderen Besitz konzentrieren. Unter solchen Umständen besteht die Tendenz, dass die reli­giöse Hierarchie unmittelbare spirituelle Erfahrungen ihrer Anhänger missbilligt und aktiv unterdrückt, weil diese die Unabhängigkeit stärken und sich einer wirksamen Kontrolle entziehen. Wenn so etwas geschieht, dann wird ein echtes spirituelles Leben nur noch unter Mystikern und in Mönchs­orden praktiziert.

Aus der Sicht der Wissenschaft ist die Frage nach dem ontologischen Status transpersonaler Erfahrungen von höchs­ter Wichtigkeit. Während die klassische Psychiatrie und Psychologie sie als Anzeichen von Krankheit werten, sieht die transpersonale Psychologie darin bedeutsame Phänomene sui generis von großem heuristischem und therapeutischem Wert, die eine ernsthafte Untersuchung verdienen. Die Befunde der modernen Bewusstseinsforschung weisen tatsächlich eine be­merkenswerte Parallelität mit vielen revolutionären Entwick­lungen der westlichen Wissenschaft auf, die als erweitertes Paradigma bezeichnet werden. Ken Wilber (1982) gelangte zu der Feststellung, dass es unmöglich einen Konflikt zwischen echter Wissenschaft und authentischer Religion geben könne. Wenn ein Konflikt gegeben scheint, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir es mit „unechter Wissenschaft" und „unechter Reli­gion" zu tun haben, eine Situation, in der jede Seite eine fal­sche Vorstellung von der Position der jeweils anderen hat und höchstwahrscheinlich die eigene Disziplin in einer falschen, unauthentischen Version repräsentiert.

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Die Natur der Wirklichkeit

Wir haben gesehen, dass die bei der Untersuchung außerge­wöhnlicher Bewusstseinszustande getroffenen Beobachtungen eine ernsthafte Herausforderung für die zeitgenössische Psy­chiatrie und Psychologie darstellen und ein radikales Umden­ken in diesem Bereich erfordern. Einige dieser Beobachtungen sind jedoch so fundamental, dass sie den engen Rahmen dieser Wissenschaftsdisziplinen überschreiten und als Angriff auf die grundlegenden philosophischen Annahmen westlicher Wissenschaft und ihres newtonisch-cartesischen Paradigmas zu verstehen sind. Sie erschüttern die Überzeugung, dass un­ser Bewusstsein ein Beiprodukt der neurophysiologischen Pro­zesse in unserem Gehirn sei, und legen es nahe, Bewusstsein als eine primäre Eigenschaft jeglicher Existenz zu sehen. Ich kann an dieser Stelle keine umfassende Erörterung dieses wichtigen Themas bieten und verweise interessierte Leser auf mein Buch Geburt, Tod und Transzendenz (Grof 1985).

Konfrontiert mit den Beobachtungen der modernen Be­wusstseinsforschung, die eine solche Herausforderung darstel­len, haben wir nur die Wähl zwischen zwei Möglichkeiten. Entweder wir weisen die neuen Beobachtungen allein deshalb zurück, weil sie mit dem traditionellen System unserer wissen­schaftlichen Überzeugungen nicht vereinbar sind. Dem liegt die arrogante Annahme zugrunde, dass wir über die Beschaf­fenheit des Universums bereits Bescheid wüssten und mit Sicherheit sagen könnten, was möglich und was nicht möglich ist. Bei einem solchen Ansatz kann es keine Überraschungen geben, aber es gibt auch kaum wirklichen Fortschritt. In die­sem Kontext wird jeder als schlechter Wissenschaftler, Schwindler oder geistig Verwirrter verdächtigt, der Daten lie­fert, die einen echten Angriff auf die bestehende Wissenschaft darstellen.

Dieser Ansatz ist kennzeichnend für Pseudowissenschaft­lichkeit oder wissenschaftlichen Fundamentalismus und hat

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von daher mit echter Wissenschaft nichts zu tun. Es gibt viele historische Beispiele für einen derartigen Ansatz: Menschen, die sich geweigert haben, durch Galileo Galileis Teleskop zu schauen, weil sie „wussten", dass es keine Krater auf dem Mond gibt; diejenigen, die gegen die Atomtheorie der chemi­schen Elemente kämpften und die Vorstellung einer Substanz namens Phlogiston verteidigten, obwohl diese tatsächlich nicht existiert; diejenigen, die Einstein einen Psychotiker nannten, als er seine spezielle Relativitätstheorie vorstellte, und viele andere.

Die zweite Reaktion auf neue Beobachtungen, die eine Herausforderung darstellen, ist kennzeichnend für wahre Wis­senschaft. Sie besteht darin, solchen Anomalien aufmerksam und mit tiefem Interesse - gepaart mit gesunder kritischer Skepsis - zu begegnen. Ein bedeutsamer wissenschaftlicher Fort­schritt hat immer dann stattgefunden, wenn das vorherrschen­de Paradigma wichtige Befunde nicht erklären konnte und daraufhin ernsthaft in Frage gestellt wurde. In der Geschichte der Wissenschaften bilden sich Paradigmata heraus, sind für eine gewisse Zeit bestimmend und werden dann durch andere ersetzt. Wenn wir die neuen Beobachtungen, statt sie zurück­zuweisen und uns über sie lustig zu machen, als etwas an- sehen, was uns aufregende Möglichkeiten eröffnen könnte, und unsere eigenen Forschungen anstellen, um sie zu über­prüfen, könnte es durchaus sein, dass wir zu der Erkenntnis gelangen, dass die entsprechenden Berichte zutreffend sind.

Es ist schwer vorstellbar, dass die westliche akademische Wissenschaft ad infinitum jene Belege von außerordentlichem Rang mit Zensur belegt, die in der Vergangenheit bei der Untersuchung verschiedener Formen holotroper Zustände ge­sammelt worden sind, und den Zustrom neuer Daten weiter­hin nicht zur Kenntnis nimmt. Früher oder später wird sie sich der Herausforderung stellen und all die weitreichenden theo­retischen und praktischen Konsequenzen akzeptieren müssen. Wenn es so weit ist, wird uns klar werden, dass die menschli­che Natur ganz anders ist, als an den westlichen Universitäten

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gelehrt und in der industrialisierten Welt allgemein geglaubt wird. Dann wird uns auch klar werden, dass die materialisti­sche Wissenschaft ein unvollständiges und unangemessenes Bild der Wirklichkeit hat und ihre Vorstellungen über die Na­tur des Bewusstseins und die Beziehung zwischen Bewusstsein und Materie (insbesondere dem Gehirn) einer radikalen Re­vision bedürfen. Es ist meine feste Überzeugung, dass wir uns mit großer Geschwindigkeit jenem Punkt nähern, an dem die transpersonale Psychologie und die Arbeit mit außergewöhnli­chen Bewusstseinszuständen ein wesentlicher Bestandteil eines neuen wissenschaftlichen Paradigmas der Zukunft sein werden.

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Gehirn, Geist und was darüber hinausgeht

Peter Fenwick

Dr. Peter Fenwick, Mitglied des Königlich britischen Psycho­logenverbandes, studierte am Trinity College in Cambridge und schloss sein Studium der Naturwissenschaften mit Auszeichnung ab. Seine klinische medizinische Ausbildung leistete er am St Thomas' Hospital in London ab. Nachdem er Erfahrungen als Neurochirurg gesammelt hatte, speziali­sierte er sich auf die Psychiatrie. Er ist Dozent am Institute of Psychiatry, Oberarzt für Neurophysiologie am Radcliffe Infirmary in Oxford und am Broadmoor Special Hospital. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze über die Funktionsweise des Gehirns sowie etliche Artikel über Meditation und Bewusstseinsveränderungen veröffentlicht. Fenwick ist Vizepräsent des Scientific and Medical Network und Präsident der britischen Abteilung der International Association of Near-Death Studies, was sein besonderes Interesse für das Gebiet der Nahtoderfahrung dokumen­tiert. Regelmäßige Vortragsreisen über Störungen des Ge­hirns in England, anderen europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten; wiederholt war er im Radio und Fern­sehen zu hören und zu sehen. Zusammen mit seiner Frau Elizabeth hat er eine Reihe von Büchern geschrieben: The Truth in the Light, The Hidden Door und Past Life Memories.

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Einführung

Im Alter von fünfzehn Jahren wurde mir klar, dass ich etwas über das Bewusstsein erfahren musste, und ich eilte in die Bio­logie-Bibliothek, um in dem größten Lehrbuch, das ich finden konnte, nachzuschlagen. Zu meinem Erstaunen war der Be­griff im Inhaltsverzeichnis nicht aufgeführt; „das Unbewusste" kam dem, was ich suchte, am nächsten. Nirgends wurde das Bewusstsein als Ganzes behandelt. Zwar war von Stufen der Wachheit die Rede, nicht aber von Bewusstsein. Gut nachvoll­ziehbare Beschreibungen der Neuronen und der durch sie ge­leisteten Fortleitung von Informationen waren zu finden, aber das Bewusstsein fand keine Erwähnung. Offensichtlich hatte es keinen Fortschritt gegeben, seitdem Sherrington in seinen Gifford-Vorlesungen in den dreißiger Jahren festgestellt hatte, dass sich mit Hilfe von Energie beschreiben lasse, wie das Licht von einem Stern auf das Auge trifft, eine elektrochemi­sche Reaktion verursacht und zur Hirnrinde weitergeleitet wird. Über die Art und Weise, wie sich Bewusstsein heraus­bildet, sagt Sherrington hingegen nur: „Es legt den Finger an die Lippen und schweigt."

Das moderne Dilemma

Für mich als praktizierenden Neuropsychiater ist die gegen­wärtige Situation in gewisser Hinsicht sehr viel besser als in den fünfziger Jahren, als ich mich für das Bewusstsein zu interessieren begann. Neue bildgebende Verfahren des Nerven­systems haben in der Neurologie zu einem sehr viel besseren Verständnis der Funktion des Gehirns geführt und eine neue Phrenologie des Geistes entstehen lassen. Das Gehirn scheint wie ein Satz ineinander greifender Module zu arbeiten, jedes hat seinen festgelegten Platz in der Hirnrinde, und jedes hat seine spezielle Aufgabe. Alle sind auf eine magische Art und

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Weise miteinander verbunden und stellen so insgesamt eine Einheit der bewussten Erfahrung dar.

Es hat sich gezeigt, dass eine rein mechanistische Vorstel­lung des Gehirns zu einem genaueren Verständnis des Geistes führen kann und dass einer Modifikation des Geistes eine Veränderung seiner chemischen und strukturellen Komponen­ten entspricht. In dieser Erklärung taucht nirgends das Be­wusstsein auf. Es lohnt sich durchaus, einen Moment innezu­halten und zu untersuchen, warum das so ist.

Unsere Wissenschaft gründet sich auf den Rationalismus von Descartes, Galilei, Locke, Bacon und Newton. Galilei de­finierte ein Universum aus zwei Stoffen: Materie und Energie. Diese hätten primäre und sekundäre Eigenschaften. Die pri­mären Eigenschaften seien diejenigen Aspekte der Natur, die sich messen lassen, wie Geschwindigkeit, Beschleunigung, Ge­wicht, Masse usw. Daneben gebe es die sekundären Eigen­schaften, also die der subjektiven Erfahrung, wie zum Beispiel Geruch, Aussehen, Wahrheit, Schönheit, Liebe usw. Galilei be­hauptete, dass die primären Eigenschaften die Domäne der Wissenschaften seien. Die sekundären galten ihm als unwis- senschaftlich.

„Um in uns Geschmacksempfindungen, Gerüche und Klänge hervorzurufen, ist, so glaube ich, in der äußerlichen Welt nichts weiter erforderlich als Formen, Zahlen und schnelle oder langsame Be­wegungen. Ich glaube, wenn Ohren, Zungen und Nasen entfernt würden, blieben Formen, Zahlen und Bewegungen bestehen, nicht aber Gerüche, Geschmacksempfindungen oder Klänge."

Zweifellos ist unsere Wissenschaft der primären Eigenschaften bei der Untersuchung und quantitativen Vermessung der uns umgebenden Welt und bei der Entwicklung der heutigen Tech­nik außerordentlich erfolgreich gewesen, aber sobald sich die Frage nach dem Bewusstsein stellt, hüllt sie sich in Schweigen.

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Dies liegt darin begründet, dass das Bewusstsein, die Sicht vom Beobachter aus, eine sekundäre Eigenschaft ist, die per definitionem ausgeblendet ist. Wenn nur die physikalischen Aspekte eines jeden Phänomens - aus einer „Sicht von nir­gendwo", wie man es einmal genannt hat - mit wissenschaft­lichen Methoden erforscht werden können, dann gerät unsere Wissenschaft in eine arge Schieflage. Schon eine kurze Über­legung - die sich bei Max Velmans findet (Velmans 2000) - zeigt, dass alle Phänomene im Wesentlichen psychischer Natur sind. Der Unterschied zwischen „objektiven" und „subjekti­ven" Eigenschaften hängt davon ab, wie die entsprechenden Daten erhoben werden. Objektive Eigenschaften werden über­prüft, indem man feststellt, ob die psychischen Vorstellungen von Einzelpersonen miteinander in Übereinstimmung stehen, zum Beispiel: Sehen wir alle dieselben Werte auf den Mess­geräten, während wir dasselbe Experiment durchführen? Die sekundäre Wissenschaft, die danach fragen würde, ob wir uns alle unter denselben Umständen in derselben psychischen Situation befinden, muss im Westen noch entwickelt werden. Diese Form der Wissenschaft ist eine sehr stark östlich orien­tierte Betrachtungsweise, die zur Erforschung des Geistes he­rangezogen wird.

Zwei philosophische Hauptströmungen versuchen derzeit, die Gehirnfunktionen zu erklären und die Erklärung des Be­wusstseins in Angriff zu nehmen. Die Neurophilosophie von Dennett steht für das eine Extrem. Er behauptet, dass Bewusst­sein und subjektive Erfahrung ausschließlich Funktionen des neuronalen Netzwerkes seien. Um persönliche Erfahrung und weiter reichende Bewusstseinszustände zu erklären, bedürfe es nur detaillierter Kennmisse dieses Systems. Das ist natürlich eine reduktionistische Vorgehensweise, eine galileische primä­re Eigenschaft wie die Mechanismen des Nervensystems mit subjektiver Erfahrung gleichzusetzen (Dennett 1991). Für das andere Extrem steht die Philosophie von Nagel (1974), der argumentiert, dass es niemals möglich sei, aus der objektiven Sicht einer dritten Person zu lernen, was eigene Erfahrung ist.

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Subjektive Erfahrung steht der wissenschaftlichen Methode nicht zur Verfügung, denn sie ist nicht in der dritten Person gegeben und hat somit keine allgemeine Gültigkeit. Nagel behauptet, dass wir niemals wissen werden, wie es ist, eine Fle­dermaus zu sein, mögen wir auch noch so viel über die neuro- physiologische Funktionsweise eines Fledermausgehirns wis­sen. Diese Sichtweise legt nahe, dass die Erklärung subjektiver Erfahrung eine neue, jenseits der neuronalen Netzwerke an­gesiedelte Theorie erfordert.

Searle (1992) nimmt eine Mittlerposition ein. Er hält die subjektive Erfahrung für eine Eigenschaft des neuronalen Netzwerks, aber er glaubt, anders als Dennett, nicht, dass ein vollständiges Verständnis der Funktionsweise dieser neuro­nalen Netzwerke ausreiche, um subjektive Erfahrung zu er­klären. Seiner Meinung nach brauchen wir einen Newton der Neurophysiologie, um ein völlig neues Prinzip aufzustellen - eine Synthese der Erfahrung in der ersten und in der dritten Person.

Postmoderne Wissenschaft und ihre Konsequenzen

Mit dem Aufkommen der postmodernen Wissenschaft, einer Bewegung, die in den sechziger Jahren begann - den Anfang machte Thomas Kuhn nahm man zur Kenntnis, dass es viele verschiedene Arten von Wissenschaften gegeben hat und dass die rationale Wissenschaft von Galilei nur eine unter ihnen war. Kuhn war der Erste, der Wissenschaft in ihrer kulturellen Abhängigkeit beschrieb und behauptete, dass die fundamen­talen Entdeckungen der Wissenschaft über die Struktur des Universums wahrscheinlich nur dem metaphysischen System entsprachen, das der Welt durch die westliche Denkweise übergestülpt worden war. Somit lässt sich annehmen, dass die Wissenschaften anderer Länder, die Seele und Geist für primär halten, genauso plausibel sind wie unsere westliche, die ein­seitig das Materielle betont.

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1994 schrieb Willis Harman in einem Buch, in dem sich mehrere Verfasser mit den Schwierigkeiten befassen, die durch die metaphysischen Grundlagen unserer modernen Wissen­schaft aufgeworfen sind:

„Wissenschaftler unterstellen zu schnell (oder sie handeln zumindest in diesem Sinne), dass die philosophischen Prämissen, die der Wissenschaft zugrunde hegen, nicht zur Debatte stünden - tat­sächlich aber sind sie ein Teil der Definition der modernen Wissenschaft... Immer noch kreisen viele Debatten, die sich scheinbar mit wissen- schaftlichen Angelegenheiten beschäftigen, tat­sächlich um ontologische Fragen über die letzt- liche Natur der Realität und um erkenntnis­theoretische Fragen, wie wir diese herausfinden könnten."

Wir sehen also, dass Reduktionismus und Materialismus aus­gezeichnet funktionieren, wenn wir uns mit Systemen beschäf­tigen, die das subjektive Bewusstsein nicht berühren. Aber sobald Subjektivität mit in die Erklärung einfließt, bietet un­ser galileisches System der primären Eigenschaften keinen befriedigenden Rahmen mehr für die Untersuchung.

Eine Hauptschwierigkeit liegt in unserer westlichen Gleich­setzung von Geist und Gehirn sowie in der Behauptung, dass alle Qualitäten, die vom Gehirn ausgehen, auch von ihm erzeugt seien: Für die Subjektivität fehlt eine Erklärung, für die Subjektivität der Sinne wie auch für das Bewusstsein als eigentliche Grundlage unserer Wahrnehmung der Welt und dessen, was wir unter Wissenschaft verstehen. Die galileische Wissenschaft kann, wenn sie Details der Gehirnaktivität be­trachtet, allenfalls behaupten, dass subjektive Verfassung und neuronale Aktivität miteinander korrelieren. Und doch stellt man fest, dass viele Wissenschaftler von der Korrelation in die Kausalität hinübergleiten und als Ergebnis ihrer materialisti-

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schen Annahmen weitergehende Schlüsse ziehen, als die Be­weisführung streng genommen erlaubt.

Dieses Beharren von Seiten der westlichen Wissenschaft, dass die primären Eigenschaften Galileis die einzig gültigen seien, hat zu einer Verarmung der westlichen Kultur geführt. Ja es scheint sogar unmöglich, moralische Werte oder Ethik in diesem Rahmen zu behandeln, denn sie sind nach den Krite­rien dieser Wissenschaft keine primären Eigenschaften.

Ein Beispiel hierfür gibt Gardener in einem Artikel über Wunder, der 1983 in der Weihnachtsausgabe des British Medi­cal Journal erschienen ist:

„Als moderne Missionare einige Evangelienbü­cher in Äthiopien zurückließen und viele Jahre später zurückkehrten, fanden sie nicht nur eine blühende Kirchengemeinde vor, sondern auch eine Gemeinschaft von Gläubigen, denen die Wunder, wie sie im Neuen Testament beschrie­ben werden, jeden Tag zustießen - denn es hatte keine Missionare gegeben, die ihnen beigebracht hatten, dass diese Dinge nicht wörtlich zu neh­men seien."

Missionare der Wissenschaft haben ungefähr dieselbe Wirkung auf das Verständnis der Welt ringsum und auf die Auswahl der Erläuterungen gehabt, die wir benötigen, um gewöhnliche Phänomene perfekt zu erklären. So hängt zum Beispiel der Glaube an die Parapsychologie davon ab, wie nahe wir den Missionaren der Wissenschaft stehen. Einer in den USA durch­geführten Umfrage zufolge war der Glaube an parapsychologi­sche Phänomene in der breiten Öffentlichkeit am stärksten verbreitet (68%), weniger unter den Universitätsprofessoren (57%), noch weniger unter den Mitgliedern der American Academy of Science (37%) und am allerwenigsten in der re­nommierten wissenschaftlichen Gesellschaft der National Academy of Science (4%).

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Dennoch hat es in den letzten Jahren mit der Expansion des postmodernen Denkens einen Umschwung hinsichtlich des dogmatischen Festhaltens am Materialismus und der da­mit einhergehenden Beschränkung in der wissenschaftlichen Forschung gegeben. Beispiele für den gegenwärtigen Trend sind die Gründung einer transpersonalen (spirituellen) Abtei­lung in der British Psychological Society 1998 und die Bildung einer spirituellen Gruppe des Royal College of Psychiatrists 1999. Das Budget des National Health Institute der USA für alternative und die Schulmedizin ergänzende Medizin, die sich teils postmoderner Prinzipien bedient, ist von 2 auf 66 Millio­nen Dollar angewachsen und wird Schätzungen zufolge dem­nächst 99 Millionen Dollar erreicht haben. Auch in Großbri­tannien denkt The Wellcome Foundation über die Möglichkeit der Förderung alternativer medizinischer Forschung nach.

Die spirituelle medizinische Ausbildung an den medizini­schen Hochschulen in Amerika wird ebenfalls ausgeweitet. 1994 boten drei von 125 dieser Hochschulen Kurse zu religiö­sen oder spirituellen Fragen an; 1997 waren es dreißig und 1999 sechzig. Inzwischen haben einhundert Hochschulen den Wunsch geäußert, solche Kurse anzubieten.

Die Verbindung von Körper und Geist und die Kausalität nach unten

Eine Hauptschwierigkeit der reduktionistischen Denkweise bezieht sich auf die Frage der Steuerung innerhalb des zentra­len Nervensystems. Als ein menschliches Wesen, das Erfah­rungen macht, nehme ich wahr, dass ich innerhalb gewisser Grenzen meine Bewegungen kontrollieren, auf einen be­stimmten sensorischen Reiz reagieren und in gewissem Um­fang mein Denken kontrollieren kann. Auf jeden Fall liegt die Hauptüberzeugung der reduktionistischen Wissenschaft darin, dass die Kausalität nach oben (ausgehend von der Neuronen­tätigkeit) die primäre Ursache für die Kontrolle der Erfahrung

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darstellt. Wenn dies so wäre, dann müssten wir uns ein mecha­nistisches Bild vom Menschen machen, und die Frage nach einem freien Willen und nach Kreativität stellte sich nicht.

Die Wissenschaft war so lange mit der Kausalität nach oben beschäftigt, dass sie Schwierigkeiten damit hatte, zu er­kennen, dass makroskopische Ereignisse innerhalb eines bio­logischen Systems (in diesem Fall Geist und Bedeutung) eine Hauptrolle im Aufbau niedrigerer Ordnungssysteme spielen und die Physik, Chemie und Biologie dieser Systeme steuern könnten. Diese Kontrolle niedrigerer Ordnungssysteme durch höhere innerhalb des Körpers nennt man Kausalität nach un­ten. Man muss sich vorstellen, dass die Steuerung vom Geist (auch im sozialen und kulturellen Sinne) ausgeht und durch das zentrale Nervensystem zu den körperlichen Funktionen gelangt. Roger Sperry hat darauf hingewiesen, dass Kausalität nach unten ein allgemeines Merkmal des zentralen Nerven­systems ist: „Dinge werden nicht nur von unten nach oben, sondern auch umgekehrt durch geistige (...) und andere Makroeigenschaften von oben nach unten gesteuert, (darüber hinaus) kommt der höchsten Kontrollebene vor der niedrigs­ten der Vorrang zu." (Sperry 1987).

Dieses neue Denken, das die Kausalität nach unten betont, stellt das Gleichgewicht wieder her und erlaubt so dem Besit­zer des Gehirns, in bestimmten Bereichen ein bewusstes Indi­viduum zu sein. Doch wieder bleiben wir in einer reduktionis­tischen Falle gefangen, wenn unsere Theorie des Bewusstseins das Gehirn nicht direkt mit den Möglichkeiten der bewussten Erfahrung in Verbindung bringt.

Wie oben schon erwähnt, betrachtet der Reduktionismus die niedrigsten Ebenen des zentralen Nervensystems, die Zel­len und Dendriten, als fundamentale Aspekte des Gehirns. Obwohl dies in einer Hinsicht völlig richtig ist - es gäbe kein funktionierendes Gehirn, wenn es keine funktionierenden Zellen gäbe gilt das nicht auf der Ebene ganzer zusammen agierender Zellgruppen, die auf äußere Einwirkungen auf das System reagieren. So können zum Beispiel Veränderungen in

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der Gehirnfunktion, die durch die Angst vor einem Hund her­vorgerufen werden, nicht allein auf der Ebene der Zellen ver­standen werden, die auf die visuelle Wahrnehmung im dafür vorgesehenen Teil des Cortex eine abgestufte Reaktion erzeu­gen. Entscheidend ist vielmehr die Bedeutung eines solchen Bildes, zu der die Erinnerung daran, was ein Hund ist, ebenso gehört wie die Eigenschaft des Hundes, gefährlich zu sein.

Dieser Vorrang der Bedeutung in unserer Interaktion mit der Umgebung zeigt sich etwa in einer Heilstätte in Worcester, Massachusetts. In dieser Einrichtung übt Pater d'Amagio seine Heilkunst aus und kuriert ein Mitglied seiner Gemeinde, das an Myasthenia gravis leidet, einer Autoimmunerkrankung, die die neuromuskulären Endplatten befällt. Es liegt auf der Hand, dass der gesamte Aufbau dieser Einrichtung, der Glaube des Patienten in Verbindung mit dem Charisma des Priesters ein Klima schaffen, das eine Kausalität nach unten innerhalb des Nervensystems ermöglicht. In Ausnahmefällen kann dies zu einer feststellbaren Veränderung der körperlichen Funktionen führen, einer Heilung der Krankheit, einem Vorgang also, den man als Wunder bezeichnen würde.

Die Bedeutung psychischer Einflussnahme auf körperliche Prozesse ist in dem neuen Wissenschaftszweig der Psycho­neuroimmunologie eingehend erforscht worden. Eine der ers­ten Studien untersuchte die Infektionsrate unter Seemännern und brachte diese in Beziehung zu ihren Lebensumständen. Diejenigen, die am unglücklichsten oder am meisten gestresst waren, wiesen die höchste Infektionsrate auf. Seither ist zur Kenntnis genommen worden, dass Stress, verursacht beispiels­weise durch Ehescheidung oder Verlust des Partners, zu einer eingeschränkten Funktion des Immunsystems führen kann. Die Zahl der Killer-T-Zellen, C4- und C8-Zellen ist vermin­dert. Man nimmt an, dass eine Veränderung in der Wirkungs­weise der Immunzellen Infektionen oder sogar Krebs zur Folge haben kann. Umgekehrt wirkt Optimismus als Schutz.

In einer kürzlich erschienenen Studie aus Harvard wurde Studenten ein Film über Mutter Teresas liebevollen Umgang

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mit Sterbenden gezeigt. Der IgA im Speichel (ein Marker für das Immunsystem) stieg an. Sich den Vorgang einer Heilung vorzustellen, hatte denselben Effekt auf den Speichel-IgA.

Heilung kann als absichtsvolle Einflussnahme einer oder mehrerer Personen auf ein anderes lebendes System ohne An­wendung bekannter physischer Mittel des Eingreifens definiert werden. Ein zufallsgesteuerter Doppelblindversuch über Fern- heilung, Gebete und AIDS im fortgeschrittenen Stadium hat gezeigt, dass diejenigen Patienten, für die gebetet wurde, sig­nifikant weniger AIDS-bedingte Krankheiten (p = 0.04) auf­wiesen und dass die Symptomatik weniger ausgeprägt auftrat (p = 0.03). Sie konsultierten seltener den Arzt (9 von 13: p = 0.01) und verbrachten weniger Tage im Krankenhaus (5/3.4: p = 0.04). Interessanterweise wurde kein Zusammenhang zwi­schen den klinischen Befunden und dem Glauben an die Kraft von Fernheilung gefunden (Targ, Moor und Smith 1998).

Eine weitere Studie über Gebete ist noch nicht abgeschlos­sen. Sie untersucht die Wirkung von Gebeten auf 1200 Patien­ten, die sich in drei verschiedenen Krankenhäusern Bypass­operationen unterziehen mussten. Die Ergebnisse liegen zur Zeit noch nicht vor (persönliche Mitteilung).

Von der im Folgenden dargestellten außergewöhnlichen Erfahrung, die während einer hypomanischen Erkrankung auftrat, existiert ein Video, das mit dem Einverständnis des Patienten aufgenommen wurde. Er beschreibt, wie er während dieser Erfahrung seinen Körper verließ und durch mannigfal­tige Welten reiste. Es gelang ihm, die Natur des Kosmos und unsere Stellung darin zu verstehen. Diese Unterweisung statte­te ihn mit absolutem Wissen aus, und anschließend trat er die Reise zurück in seinen Körper an. Schließlich kehrte er in den Raum zurück, in dem sich sein Körper befand, und genau in dem Moment, in dem er seinen Körper wieder in Besitz nahm, sah er eine glänzende, juwelenbesetzte Struktur, die er als seine Seele erkannte. In dieser Struktur war eine Mitteilung enthalten, die ihm nahe legte, dass er ein „Zeitgott" sei, und so nannte er sich auch fortan. Diese Erfahrung hatte ihn geprägt,

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und er war überzeugt, alles tatsächlich erlebt zu haben. Er be­hauptete, die grundlegende Struktur des Universums wirklich gesehen zu haben, die aus absolutem Wissen und vollkomme­ner Liebe bestehe.

Die Schwierigkeit derer, die solche Erfahrungen nicht ge­macht haben, besteht darin, dass sie nur wenig Verständnis für ihre Bedeutung aufbringen können. Die Theorie der Identität von Geist und Gehirn besagt, dass es sich bei diesen Erfahrun­gen nur um eine abnorme Funktion von Nervengruppen im Gehirn handeln könne. Als solche nennt man die Erfahrung pathologisch und hält sie für eine Halluzination. Wenn man aber ein postmodernes System mit einer anderen Metaphysik zur Anwendung bringt, kann Wissenschaft in der Tat unter­stellen, dass dem Universum eine Struktur zugrunde liege, die aus Wissen und Liebe bestehe. Es ist Sache der Wissenschaft, danach zu forschen, statt sich einer Beschäftigung mit diesem Thema zu verschließen, indem an der Theorie einer Identität von Gehirn und Geist festgehalten wird.

Die Theorie der Identität von Gehirn und Geist hat etwas Eigentümliches an sich. Ihr zufolge gibt es keine Erfahrung, der nicht ein einschlägiger Zustand des Gehirns zugrunde liegt. So gibt zum Beispiel in dem Moment, in dem sich in einem deutlichen Traum ein lediglich geträumter Arm bewegt, der Teil des Gehirns, der die Bewegung initiiert, Impulse an den realen Arm ab. Diese Impulse können zwar den Arm zucken lassen, er wird sich aber nicht bewegen, weil die Mus­keln in der REM-Schlafphase lahm gelegt sind. Entsprechend ist der für das Gehör zuständige Teil des Cortex aktiv, wenn auditive Halluzinationen auftreten (Neuroimaging Januar 2000), und bei visuellen Halluzinationen arbeitet der visuelle Cortex. Eine vor kurzem entstandene funktionelle MRI-Studie, die von Dominic Ffytche und seinen Mitarbeitern an Patienten mit Charles-Bonnet-Halluzinationen durchgeführt wurde, hat ge­zeigt, dass die visuellen Assoziationsareale des Cortex wäh­rend visueller Halluzinationen arbeiten. PET-Untersuchungen ergaben, dass bei imaginären Bewegungen eine Veränderung

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des kortikalen Blutflusses in den betreffenden Cortexanteilen auftritt. Demzufolge findet also keine geistige Aktivität ohne einen zugrunde liegenden aktiven Zustand des Gehirns statt.

Kürzlich haben sich Dr. Vollenweider und sein Team in Zürich mit mysteriösen Zuständen, die durch Drogen hervor­gerufen werden, beschäftigt. Sie konnten nachweisen, dass der zerebrale Blutfluss und die Funktion verschiedener Gebiete des Frontallappens, des sensorischen Cortex oder Thalamus zunehmen, je nachdem, welcher mystische Zustand gerade erlebt wird. Diese Arbeit ist insofern von Bedeutung, als sie erneut unterstreicht, dass selbst die großartigsten mystischen Zustände durch Aktivitätsmuster im Gehirn untermauert wer­den.

Parapsychologie und Nahtoderfahrung

Die vorherrschende wissenschaftliche Meinung besagt, dass psychische Prozesse ausschließlich im Gehirn entstünden und auf das Gehirn und den Organismus beschränkt seien. In den letzten fünfzig Jahren ist eine große Anzahl parapsycho­logischer Experimente durchgeführt worden, die darauf hin­deuten, dass der Geist nicht auf das Gehirn begrenzt ist und dass eine unmittelbare Einwirkung des Geistes auf einen an­deren Geist (Telepathie) oder auf die Materie (Psychokinese) nachgewiesen werden kann. Für diejenigen, die sich einen ge­naueren Überblick über dieses Thema verschaffen möchten, empfehle ich das neue Buch von Dean Radin, The Conscious Universe. Es bezieht sich ausführlich auf diese Studien und untersucht einige der Meta-Analysen, die diese Effekte nach­gewiesen haben.

Auf Fragestellungen, die sich aus der allgemein bekannten Erfahrung des Nahtodes ergeben, kann der Reduktionismus meiner Ansicht nach keine adäquate Antwort geben. Einige Nahtoderfahrungen gewähren demjenigen, der sie durchlebt, Einsicht in die grundlegende Natur des Universums. 1987 nahm ich an einer der ersten Fernsehsendungen teil, die dieses

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Phänomen untersuchten, und erhielt anschließend etwa 2000 Briefe von Menschen, die solche Erfahrungen gemacht hatten. Die Mehrheit von ihnen hatte über das, was ihnen begegnet war, nie gesprochen oder nicht einmal von Nahtoderfahrun­gen gehört. Wir trafen eine Vorauswahl von 500 unter ihnen und sandten ihnen Fragebögen zu den Details ihrer Erfahrun­gen zu. Zunächst antworteten 350 (Fenwick und Fenwick 1995), doch mittlerweile ist die Stichprobe mit 420 Antworten nahe­zu komplett.

Es zeigte sich, dass die Umstände, unter denen Nahtoderfah­rungen auftraten, sehr unterschiedlich waren:

28% Krankheit21% Operation15% Entbindung10% Unfall

9% Herzinfarkt2% Selbstmordversuche

20% andere

Tabelle 1

Nur 37% der Fälle hatten zum Zeitpunkt der Erfahrung Dro­gen genommen.

Die am häufigsten aufgetretenen Phänomene waren:

Gefühle von Frieden und Ruhe 82%Außerkörperliche Erlebnisse 66%Durch einen Tunnel gehen 49%Ein strahlendes Licht aus Liebe sehen 72%„Lichtwesen" sehen 33%Die Entscheidung zur Umkehr treffen 72%

Tabelle 2

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Wie sich Tabelle 1 entnehmen lässt, sind die Situationen, in denen Nahtoderfahrungen auftreten können, zahlreich, und viele Menschen, die diese Erfahrung gemacht haben, waren nicht tatsächlich dem Tode nahe. Drei Arten von Ursachen werden für Nahtoderfahrungen angenommen. Zunächst sind es mystische Erfahrungen. Das gilt sicherlich bei Erfahrungen, die nicht in Todesnähe durchlebt werden und häufig spontan aufzutreten scheinen. Zweitens werden sie durch psychische Faktoren wie Furcht oder Beklemmung in einer gefährlichen oder lebensbedrohlichen Situation hervorgerufen. Und schließ­lich gibt es die Erfahrungen, die auf Grund der veränderten Chemie des Gehirns während einer Bewusstlosigkeit aufzutre­ten scheinen.

Wir haben uns für die Erfahrungen interessiert, die wäh­rend eines Herzstillstands auftauchten, denn sie sind die dem Tode am nächsten kommenden, über die berichtet werden kann. Der klinische Tod wird durch folgende Kriterien be­stimmt: keine feststellbare Herztätigkeit, keine Atmung und lichtstarre, erweiterte Pupillen. Alle drei Kriterien sind bei einem Herzstillstand erfüllt. Wir entschieden uns dafür, die Nahtoderfahrungen während der Herzüberwachung zu unter­suchen, um zu erfahren, ob sich der Zeitpunkt, an dem sie auftraten, feststellen ließe - vor oder während der Bewusst­losigkeit, vor oder nach der Wiederbelebung. Hierfür wollten wir vorhersehbare Nahtoderfahrungen untersuchen und taten das in einer Herzüberwachungsstation.

Wir erhielten folgende Ergebnisse: Von 63 Überlebenden eines Herzstillstandes hatten 55 keine Erinnerungen daran. Sieben (11%) konnten sich erinnern, und von diesen erfüllten vier (6,3%) die Kriterien einer echten Nahtoderfahrung. Auf drei Erfahrungen (4,7%) trafen die Kriterien nicht zu, aber zwei von ihnen hatten eine ähnliche Ausprägung wie die Nah­toderfahrung, und nur eine war undeutlich. Wir schlossen da­raus, dass Nahtoderfahrungen während einer Bewusstlosigkeit auftreten, aber dass sie weniger häufig sind, als frühere Schät­zungen nahe gelegt hatten.

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Wir hatten das Glück, ein oder zwei Personen zu treffen, die über besonders eindringliche Erfahrungen verfügten. Eine davon war ein ehemaliger Fluglotse, dessen Erfahrung so tief greifend gewesen war, dass er dabei absolutes Wissen über das Universum erhalten und sich selbst in reine Energie, Be­wusstsein und Licht verwandelt gefühlt hatte. Er hatte das Empfinden, er sei im Begriff gewesen, mit dem grundlegenden Bewusstsein der Welt zu verschmelzen, als er zurückkehren musste und seiner Frau gegenüber erklärte: „Wir werden nie­mals sterben." Seiner Beschreibung nach hatte die Erfahrung einen sehr moralischen Aspekt, nämlich dass jeder von uns in unmittelbarer Weise für alles, was er tut, verantwortlich ist. Außerdem hatte er die Erkenntnis gewonnen, dass das Univer­sum eine Einheit sei, der wir alle angehören.

Die Nahtoderfahrung führt uns also in einen veränderten Bewusstseinszustand, in dem wir in der Lage zu sein scheinen, uns dem eigentlichen Wesen der Welt anzunähern und es zu erfahren. Vom Standpunkt der Nahtoderfahrung aus besteht das Universum aus Wissen und Liebe. Das ergibt innerhalb des Regelwerks der galileischen Wissenschaft wenig Sinn. Ihr zu­folge haben wir darin nur eine pathologische, durch chemi­sche Vorgänge hervorgerufene Veränderung des Gehirns zu sehen. Glücklicherweise kommt uns die postmoderne Wissen­schaft zur Hilfe und ermöglicht uns eine Sichtweise, die über das Gehirn hinausgeht, sodass eine Welt, in der Wissen und Liebe die Basis bilden, tatsächlich möglich ist. Es ist die Welt, die uns durch mystische Erfahrung zugänglich wird.

Wo wir jetzt stehen

In meinen Augen muss eine befriedigende Definition des Be­wusstseins drei wesentliche Komponenten beinhalten: eine de­taillierte Bestimmung der Rolle der Gehirnmechanismen, eine Erklärung für die Aktivität des Geistes außerhalb des Gehirns und eine Erklärung für den freien Willen, für Bedeutung und

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Absicht. Ebenso sollte es eine Erklärung für weiter reichende geistige Zustände liefern, einschließlich mystischer Erfahrun­gen und Nahtoderlebnissen, bei denen die Struktur des Uni­versums geschaut werden kann. Schließlich sollte sie eine ein­leuchtende Erklärung für offensichtliche Kausalität nach unten (Absicht) in der Welt und im Gehirn geben und Lösungen auf­zeigen hinsichtlich der besonders in östlichen Kulturen wich­tigen Frage eines Weiterlebens bestimmter Aspekte des Be­wusstseins nach dem Tod.

Die Untersuchung quantenmechanischer Effekte legt nahe, dass das Universum in hohem Maße miteinander verflochten ist und dass die Teilchen über einige Entfernung Einfluss auf­einander ausüben. Deshalb ist der Gedanke, dass der Geist auch außerhalb des Schädels interaktiv tätig sein könnte, theoretisch möglich. Die quantenmechanischen Theorien von Chris Clarke und Mike Lockwood und die Quantengravitions- theorien von Roger Penrose und Stuart Hameroff sind allesamt bedenkenswert. Die vielversprechendste Theorie zur Verknüp­fung von Bewusstsein und Gehirntätigkeit, die weit reichende Erklärungskraft hat und zu nachprüfbaren Vorhersagen führt, ist meiner Ansicht nach die von Amit Goswami (Goswami 1993). Er behauptet, Bewusstsein sei ein grundlegender Stoff des Universums und existiere wie Energie. Wenn eine Ent­scheidung getroffen oder eine Beobachtung gemacht wird und die Wellenfunktion des Bewusstseins zusammengebrochen ist, taucht Materie auf - dies entspricht der Standardtheorie einer Dualität von Welle und Teilchen. Goswami glaubt, dass es nur einen Beobachter gibt, und zwar ein universelles, ungeteiltes Bewusstsein. Er behauptet, dass das Gehirn spezielle Mecha­nismen entwickelt hat, um Bewusstsein „einzufangen". Wenn also Bewusstsein und Gehirnprozesse interagieren, bricht die Wahrscheinlichkeitswelle zusammen, um zum einen das exter­ne Objekt zu erzeugen und zum anderen die subjektive Erfah­rung dieses Objektes.

Diese Theorie hat weit reichende Erklärungskraft, denn sie verknüpft das Problem der Verbindung innerhalb des Gehirns,

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parapsychologische Phänomene und - was insbesondere für den Neuropsychiater von Interesse ist - eine mögliche Er­klärung für Zustände der Bewusstseinserweiterung, in denen Individuen die Struktur des Universums schauen können. Von größerem Interesse dürfte sein, dass die Theorie, indem sie für ein Feld von Möglichkeiten (Bewusstsein) eintritt, einen Me­chanismus der Kreativität nahe legt, denn das Bewusstseins­feld kann durch die Gehirnprozesse unmittelbar „angezapft" werden. Diese Theorie ersetzt nicht die derzeitige Neurowis- senschaft, sondern lässt sie als wertvolle Basis bestehen, von der aus das Bewusstsein durch das Gehirn agiert. Von noch größerer Bedeutung ist allerdings die Tatsache, dass durch die­se Sicht die Wissenschaft neue Horizonte erhält, dass sie dem Leben wieder einen Sinn und ein Ziel gibt und uns mit der primären Schöpferkraft des Universums verknüpft.

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Psi-Forschung und transpersonale Psychologie

Michael Grosso

Professor Michael Grosso, Ph.D., hat einen Lehrstuhl für Philosophie und Religion an der New Jersey City University. Er studierte klassische Philologie und promovierte in Phi­losophie an der Columbia University. Sein Hauptinteresse liegt in der Erkundung der Schnittstelle zwischen parapsy­chologischer Forschung und transpersonaler Psychologie mit Anwendungen für die Beratung und die Untersuchung kreativer Prozesse. Er hat u.a. die Bücher The Final Choice, Frontiers of the Soul, Soulmaking, The Millennium Myth und Consciousness and Life After Death veröffentlicht.

Einführung

In diesem Aufsatz möchte ich die komplementäre Beziehung zwischen Parapsychologie und transpersonaler Psychologie he­rausarbeiten. Da diese Beziehung subtil und kompliziert ist, möchte ich mich auf zwei Hauptpunkte beschränken. Beim ersten geht es um die höchst strittige, aber grundlegende Frage der Parapsychologie: Gibt es ein Leben nach dem Tode? Auch wenn die wissenschaftliche Arbeit hier allmählich ein wenig vorankommt - siehe zum Beispiel die neuesten Untersuchun­gen von Stevenson (1997) und von Ring und Cooper (1999) -, empfinden selbst wohlwollende Forscher über den bisher er­reichten Kenntnisstand eine gewisse Unzufriedenheit. Was nach meiner Ansicht fehlt, ist ein unmittelbares, intuitives Wissen.

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58 Michael Grosso

Einige Beweisführungen mögen eine starke Suggestivkraft ent­falten, doch im Bauch zu spüren, dass man den Tod überleben wird, ist etwas ganz anderes.

So wie die Dinge stehen, gibt es für ein Leben nach dem Tode nur indirekte Hinweise, die sich zudem auf Annahmen stützen, die viele für fragwürdig halten. Dass sich der Beweis überhaupt auf Annahmen stützt, ist eine erkenntnistheoreti- sche Unzulänglichkeit. Ich möchte nun zeigen, dass einige „transpersonal" genannte Erfahrungen eine Ergänzung zu den unzulänglichen Forschungen über ein Leben nach dem Tode lie­fern. Um Irritationen hinsichtlich des Erlebten zu vermeiden, können bestimmte Formen direkter Erfahrung in Personen ausgelöst werden, die darauf vorbereitet sind. Die Vorstellung, mit der ich mich auseinander setzen möchte, steht in einem Zusammenhang mit dem, was Charles Tart als „zustandsspezi­fische Wissenschaft" oder Rhea White als „außergewöhnliche menschliche Erfahrungen" charakterisiert.

Ein weiteres Bindeglied, das ich nutzen möchte, ist William Rolls Gedanke (1974), dass wir das Leben nach dem Tode an­hand von bestimmten Arten von Erfahrungen lebender Men­schen erforschen. Ich möchte es so ausdrücken: Wenn wir in einer sinnvollen und persönlichen Weise den Tod überleben, dann zweifellos in einem völlig veränderten Bewusstseinszu­stand. So wird etwa dieses Bewusstsein nicht über stabile Sin­neserfahrungen vermittelt. Völlig andere, möglicherweise er­weiterte Zustände des Bewusstseins sind jedoch die Domäne dessen, was oft transpersonale Psychologie genannt wird.

Der zweite Punkt: Die transpersonale Psychologie erhält durch die Befunde der Parapsychologie Auftrieb. Nach meiner Erfahrung begegnen Mainstream-Skeptiker dem Transpersona- lismus eher mit Toleranz als mit rationaler Zustimmung: Das alles klinge ja gut, aber was liegt dem eigentlich zugrunde? Im vorherrschenden kulturellen Klima werden transpersonale Er­fahrungen typischerweise auf subjektive Zustände reduziert; die erhebendsten unter ihnen werden als interessant, vielleicht auch als zuträglich betrachtet, doch im Grunde sind sie nicht

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mehr als Bürger zweiter Klasse im Reich der Wirklichkeit. Im schlimmeren Fall sieht man darin Anzeichen für eine Psycho­se. Die Parapsychologie veranlasst uns, dies in Frage zu stel­len: Psi-Phänomene verlangen eine freigeistige Ontologie, wie sie von der transpersonalen Vision in den meisten Versionen angenommen wird. Vorläufer zeitgenössischer Transpersona- listen wie Frederic Myers, William James und Aldous Huxley haben auch parapsychologische Phänomene studiert. Meiner Ansicht nach ist es ein Fehler, die beiden Untersuchungsberei­che voneinander zu trennen; das Ziel meines Aufsatzes be­steht darin, mich für ihre Wiedervereinigung stark zu machen.

Die Suche nach der unsterblichen Seele

Seit der Gründung der English Society for Psychical Research (SPR) im Jahr 1882 hat sich eine kleine, aber beharrliche Ge­meinde von Individualisten unter den Wissenschaftlern und Gelehrten darum bemüht, mit wissenschaftlichen Methoden das Rätsel der menschlichen Bestimmung zu lösen. Eine Frage erscheint dabei fundamental; sie bezieht sich auf die Trenn­linie zwischen verschiedenen Reichen des Möglichen. Die Fra­ge lautet: Wo liegen die Grenzen des menschlichen Bewusst­seins, und was vermag es zu leisten? Um einen Keil zwischen die Möglichkeiten zu treiben, fragen wir: Kann ein Bewusst­sein den Tod des Körpers überleben? Diese Frage steht in Be­ziehung zu den tiefsten Anhegen der transpersonalen Psycho­logie. Auch wenn es nur selten direkt ausgesprochen wird, gehört es doch zu den Grundannahmen der großen spirituel­len Traditionen, dass menschliche Wesen mehr sind als kom­plexe körperliche Objekte, dass sie Seele, Geist, Bewusstsein haben oder sind, die funktional unabhängig und getrennt vom Gehirn und vom Körper sind. Dies hält der Buddhismus für wahr - auch wenn er so etwas wie ein einheitliches und unveränderliches Selbst leugnet -, ebenso wie die meisten in- digenen Völker dies als zutreffend ansehen. Ein unabhängiges

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Bewusstsein wird von allen großen Glaubensrichtungen und Philosophien, die Bestand haben, stillschweigend vorausge­setzt. Allein kraft dieser Tatsache sind Forschungen zum Le­ben nach dem Tode und transpersonale Psychologie logisch voneinander abhängig. Es folgen einige Worte zur Wichtigkeit von Forschungen zum Leben nach dem Tode.

Leben nach dem Tode und Spiritualität - Wie ich eben aus­geführt habe, gibt es eine enge Verbindung zwischen der transpersonalen Sicht und der spirituellen Natur des Men­schen. Viele Vorstellungen über spirituelle Handlungen wie Gebete, göttliche Seinsweisen oder die Freiheit bewusster Per­sonalität, die Einschränkungen der physischen Existenz zu überschreiten, setzen sämtlich ein Dasein jenseits des Körpers als menschliche Realität voraus.

Ontologie und Leib-Seele-Problem - Die Erforschung des Le­bens nach dem Tode zwingt uns, der grundlegenden Frage nachzugehen, was eigentlich existiert. Bis vor kurzem war die Überzeugung weit verbreitet, dass eine Person mehr sei als ihr bloßer Körper, doch der moderne wissenschaftliche Materia­lismus bestreitet dies. Ein Weiterleben nach dem Tode, so scheint mir, würde dem Materialismus zweifellos den Boden entziehen.

Gesunde Weltbilder - Sind einige Weltbilder gesünder als an­dere? Weltbilder bestimmen Werte und Einstellungen, die da­rauf Einfluss haben, für welches Verhalten man sich entschei­det. Und damit haben sie auch Einfluss auf die Gesundheit. Eine mit Stress verbundende Art, das Leben zu betrachten, kann zum Beispiel das Herz- und Gefäßsystem schädigen. Ge­fühle der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit schwächen das Immunsystem und stehen in Verbindung mit dem Ausbruch von Krebs. Da die Vorstellung des Todes einen sehr negativen Reiz darstellt, wird eine Weitsicht, die uns erlaubt, mit dieser Vorstellung sinnvoll umzugehen, auch für die Gesundheit von

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Nutzen sein. Wie es um das Leben nach dem Tode steht, hat therapeutische Auswirkungen auf das Leben vor dem Tode. Für den materialistischen Mediziner kann der Tod nur eine endgültige Niederlage bedeuten: das genaue Gegenteil von Gesundheit. Wenn hingegen ein Fortbestehen über den Tod hinaus bejaht wird, dann wird eine Perspektive eingenommen, aus der heraus sich der Blick öffnet. Der Tod wird dann nicht als etwas Endgültiges, sondern als ein Stadium des Übergangs betrachtet, als eine weitere Stufe der Entwicklung, eine Episo­de in einer größeren Geschichte.

Bewusstsein, Politik und Angst vor dem Tod - Das Buch Dyna­mik des Todes (im Original: The Denial of Death), für das Ernest Becker mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, ist nur eines von vielen, das die Schwierigkeiten schildert, die westliche Menschen heutzutage damit haben, mit der Vorstel­lung der eigenen Sterblichkeit psychologisch fertig zu werden. Er schreibt:

„Zweifellos wird der Tod in primitiven Gesell­schaften häufig zelebriert..., denn die Menschen glauben, dass der Tod einen endgültigen Aufstieg, die abschließende rituelle Erhebung zu einer hö­heren Form des Lebens, zu einer Form der Teil­habe an den Freuden der Ewigkeit darstellt. Die meisten Menschen in den modernen westlichen Gesellschaften haben Schwierigkeiten damit, da­ran noch zu glauben, und von daher spielt die Angst vor dem Tod eine so bedeutende Rolle in unserer psychischen Befindlichkeit" (Becker 1973,S. ix).

Becker behauptet, dass diese „Schwierigkeit" zu einer Leug­nung des Todes in Bausch und Bogen geführt habe, wodurch die menschliche Persönlichkeit stark gestört sei. Die Leugnung des Todes wirke sich auf unsere Beziehung zum eigenen Kör­

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per aus, sie beeinträchtige unsere Fähigkeiten zu fühlen,- aus Gründen der Abwehr betäubten wir uns,- die Angst vor dem Tod mache uns besessen nach Macht, Reichtum und Berühmt­heit - Gegenmaßnahmen gegen die Schrecken des Todes. Vor Becker hat der spanische Philosoph Miguel de Unamuno (1921) über das Bedürfnis geschrieben, das die Menschen in die „Vereinzelung" treibt, dazu, um jeden Preis etwas Beson­deres sein und der Welt den eigenen Stempel aufprägen zu wollen. Dieser Hunger nach Unsterblichkeit beflügelt laut Unamuno die Alpträume der Geschichte und bildet die psy­chische Kraft, die den Willen zur Macht antreibt. Eine weiter gespannte, weniger vom Tode gezeichnete Sicht des Mensch­seins würde nach meiner Überzeugung die Dynamik dieser verzweifelten Dialektik abschwächen.

Eine Geschichte, die nach einem Abschluss schreit

Trotz der Bedeutung des Themas scheint die Forschung über das Leben nach dem Tode heute in eine Sackgasse geraten zu sein. Zum einen wird auf diesem Gebiet sehr wenig gearbeitet. Die Hauptströmungen unserer Kultur wie auch die medizini­sche Forschung sind dem wissenschaftlichen Materialismus verpflichtet. Tausende Wissenschaftler arbeiten zum Beispiel unter Einsatz von Milliarden Dollar daran, das menschliche Genom zu erforschen, hingegen gibt es nur eine Hand voll Forscher mit armselig kleinen Budgets, die sich mit dem Weiterleben nach dem Tode beschäftigen. Ein Grund dafür, dass die Forschung auf diesem Gebiet in eine Sackgasse ge­raten ist, liegt in der Uneindeutigkeit der gewonnenen Daten; zudem wird ihre Deutung durch begriffliche Unklarheit er­schwert. Ich möchte jetzt ganz kurz und knapp die bisherigen Beweisführungen in ihren Stärken und Schwächen zusammen­fassen. Vor allem geht es mir darum, einen Weg aus der Sack­gasse zu zeigen, in die diese Erkennmisse geführt haben.

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Überzeugende Beweisführung

Zu allererst gilt es hinsichtlich der Anzeichen, die auf ein Weiterleben nach dem Tode hindeuten, ihr hohes Alter, ihre Dauerhaftigkeit und Fülle festzustellen. Was auch immer die­se Manifestationen eines Weiterlebens nach dem Tode hervor­rufen mag, irgendetwas tief in der menschlichen Natur er­zeugt wiederkehrend den sich zur Überzeugung verdichtenden Eindruck, dass Menschen den Tod überleben. Vier Typen von Erfahrungen sind in Betracht zu ziehen: Erfahrungen des He- raustretens aus dem Körper, Erscheinungen Toter, spiritistische Erfahrungen mit Medien und Reinkarnationseffekte.

Erfahrungen des Heraustretens aus dem Körper - Es ist eine Tat­sache, dass eine stattliche Anzahl von Menschen behauptet, die Erfahrung zu kennen, dass ihr Bewusstsein außerhalb ihres Körpers lokalisiert ist. Diese Erfahrungen sind interessant, wenn von Wahrnehmungen außerhalb des Körpers berichtet wird, die sich später verifizieren lassen. Ich habe über den Fall eines Mannes namens Dave berichtet, einen Berufstaucher der US-Navy, der beim Tauchgang irgendwo hängen geblieben war, zeitweise unter Sauerstoffmangel litt und das Bewusstsein ver­lor. Er erzählte mir, dass er sich, während er unter Wasser ge­fangen war, außerhalb seines Körpers dabei erlebt habe, wie er seine Frau im einige Kilometer entfernten gemeinsamen Haus beobachtet habe. Er habe wahrgenommen, was sie in der Kü­che tat, habe gehört, wie das Telefon klingelte, und seiner Frau dabei zugesehen, wie sie übers Telefon mit einem Mitarbeiter am Schauplatz des Unfalls gesprochen habe. Irgendwie blieb Dave bei seiner Frau, während diese dorthin fuhr, wo sich sein Körper befand. Als sie am Ort des Geschehens eintraf, war Dave gerettet worden und fand sich in seinem Körper wieder. Daves Frau wurde durch seine Beschreibung dessen, was sie getan hatte, während er unter Wasser in der Falle saß, so in Verwirrung gestürzt, dass sie glaubte, er habe jemanden ange­heuert, der sie ausspionieren sollte.

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In einem anderen Fall forderte ich eine Studentin, die be­hauptete, dass sie ihren Körper von Zeit zu Zeit verlassen könne, auf, mich beim nächsten Mal zu besuchen und ihre Anwesenheit zu signalisieren. Während sie aus ihrem Körper heraustrat, gelang es ihr, mich zu Hause zu besuchen,- sie beobachtete genau mein Verhalten und bewegte einen Noten­ständer von einem Teil des Raums in einen anderen (Grosso 1997, S. 156-62).

Solche Erfahrungen liefern lebendige Eindrücke von der Fähigkeit, unabhängig vom eigenen körperlichen Organismus mit der Umgebung zu interagieren. Glaubhafte Erfahrungen des Heraustretens aus dem eigenen Körper sind in einigen Fäl­len experimentell herbeigeführt worden (Tart 1968, S. 3-27,- Osis 1974, S. 110-13). Über einen solchen Fall hat kürzlich der Herzspezialist Michael Sabom (1998) berichtet. Dabei ging es um eine Frau, aus deren Gehirn während einer Aneurysma- Operation das Blut abgezogen wurde und deren Augen und Ohren von allen Außenreizen abgeschirmt waren. Sie war, da das EEG keine Ausschläge mehr zeigte, vorübergehend kli­nisch tot, was sie nicht daran hinderte, eine glaubhafte Erfah­rung des Heraustretens aus dem eigenen Körper zu erleben. Solche Berichte legen nahe, dass das Bewusstsein dazu in der Lage ist, nicht nur außerhalb des Körpers, sondern auch in Zeiten vorübergehenden Hirntodes zu funktionieren. Dies weist auf die Möglichkeit eines postmortalen Weiterlebens hin.

Erscheinungen - Von spukhaften oder geisterähnlichen Erschei­nungen Toter wird seit den allerersten geschichtlichen Auf­zeichnungen berichtet. Die meisten davon sind als Beweis für ein Weiterleben nach dem Tode wertlos. Doch einige von ih­nen weisen Merkmale auf, die eine solche These anscheinend stützen. Zum Beispiel Fälle, in denen es um einen Pakt geht: Zwei Personen gehen gegenseitig die Verpflichtung ein, sich darum zu bemühen, im Falle des eigenen Ablebens dem ande­ren nachzuweisen, dass er/sie weiterlebt. Solche Fälle, in denen

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ein Pakt geschlossen wurde, sind deshalb so wichtig, weil mit ihnen gezeigt werden soll, dass es ein Weiterleben nach dem Tode gibt, das mit Erinnerung und willentlichen Akten einher­geht. Forscher schätzen solche Fälle, in denen es inhaltliche Bezüge gibt (Richmond 1938). Die meisten Erscheinungen ha­ben keinen solchen inhaltlichen Bezug, sie bestehen aus ima­ginären Bildern unbekannter Personen. Besonders überzeu­gend sind Fälle, in denen es Hinweise auf die Identität einer bekannten verstorbenen Person und inhaltliche Bezüge gibt. Noch überzeugendere Fälle sind protokolliert, bei denen die gegebenen Zeichen keiner lebenden Person bekannt waren - zum Beispiel wusste niemand, wo sich ein vermisster Gegen­stand, ein Testament oder ein abhanden gekommenes Manus­kript befanden.

Ein altes, verblüffendes Beispiel ist die Geschichte, die Boc­caccio über die letzten Gesänge von Dantes Göttlicher Komö­die berichtet, die nach dem Tod des Dichters verschwunden waren. Es heißt, dass Dante seinem Sohn im Traum erschienen sei und ihm korrekt beschrieben habe, wo sich die Gesänge befanden. Einige Erscheinungen werden auch kollektiv wahr­genommen. Neben qualvollen Schilderungen ansteckender Halluzinationen kommen Fälle kollektiver Wahrnehmung mit Hinweisen auf die Identität und inhaltlichen Bezügen vor. Es ist anzunehmen, dass irgendein intelligent Handelnder bei der Erscheinung präsent ist.

Eine weitere Klasse von Erscheinungen verdient Beachtung, nämlich solche, die in todesnahen Situationen oder im Augen­blick des wirklichen Todes gesehen werden. Bei Menschen auf der Schwelle zum Tod kommt es vor, dass sie verstorbene Ver­wandte sehen, manchmal sogar jemanden, von dem sie nicht wissen, dass er tot ist. Außerdem haben vor kurzem veröffent­lichte Arbeiten gezeigt, dass einige Menschen, die von Geburt an blind sind, von visuellen Eindrücken bei Nahtoderfahrun­gen oder beim Heraustreten aus dem eigenen Körper berichtet haben (Ring und Cooper 1999). Solche Erfahrungen lassen sich nur schwer mit unseren Erkenntnissen über das Gehirn

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in Einklang bringen. Ich hoffe, dass es tiefer gehende Studien geben wird, um unser Verständnis dieses bemerkenswerten Phänomens zu bestätigen und zu erweitern.

Tätigkeit als Medium - Das Wirken als Medium ist eine Quelle quasi-experimentellen Beweises für ein Weiterleben nach dem Tode. Ein Medium ist jemand, dessen Organismus zeitweise als menschliches Telefon fungiert, durch das verstor­bene Persönlichkeiten vermutlich kommunizieren. Große Me­dien wie Leonora Piper wurden genau überwacht, um das Risiko des Betrugs zu verringern. Veranstaltungen mit ihnen wurden sorgfältig protokolliert, Sitzungen wurden nicht nur von einem Prüfer geleitet und analysiert, und die Arten des durchgeführten Experiments wurden zunehmend origineller und stringenter. Einige stammten anscheinend von Seiten des vermeintlich Kommunizierenden.

Es gab die so genannten Fälle von Kreuz-Korrespondenz, bei denen Myers und einige seiner wissenschaftlichen Mit­streiter nach dem Tod offenbar verständliche Botschaften über verschiedene Medien zu kommunizieren versuchten. Es ging darum, bei den lebenden Forschem das Vertrauen zu stärken, dass die Botschaften tatsächlich von der anderen Seite kamen. Eine andere Art des Vorgehens, das vermutlich von der ande­ren Seite her angeregt wurde, war der so genannte Buchtest; dabei enthüllte der Kommunizierende durch das Medium eine ganz bestimmte Passage aus einem Buch, das in einer engen Beziehung zu ihm stand, aber sonst niemandem bekannt war. Eine dritte Entwicklung schloss so genannte vorbeischauende Kommunizierende ein; während einer Seance kamen Perso­nen, die dem Medium und den anderen Teilnehmern nicht bekannt waren, vorbei, gaben ihre Identität preis und lieferten Beweise bezüglich Inhalt und Identität, die später überprüft wurden. Diese Fälle verstärken den Eindruck, dass intelligente Wesen, die außerhalb jeglicher lebenden Person existieren, aus einer anderen Welt Kontakt aufgenommen haben.

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Reinkarnationseffekte - Rund um das Werk von Ian Stevenson (1987; 1997) ist seit den 1960er Jahren die Zahl der Fallbe­schreibungen angewachsen, die nahe legen, dass es Reinkarna- tionen wirklich gibt. Stevenson und seine Mitarbeiter haben die Daten von ungefähr 2600 Fällen erfasst. Kinder scheinen verifizierbare Erinnerungen aus früheren Leben bewahrt zu haben; in einigen Fällen weist die wiedergeborene Person Muttermale und Geburtsfehler auf, die mit früheren Leben in einem ursächlichen Zusammenhang zu stehen scheinen.

Es fällt schwer, einige dieser Berichte zur Kenntnis zu nehmen, ohne den Schluss daraus zu ziehen, dass sie sich durch die Annahme eines Überlebens bestimmter Aspekte der menschlichen Persönlichkeit nach dem Tod und der Reinkar­nation am besten erklären lassen (Almeder 1992). In den meis­ten östlichen Traditionen ist Reinkarnation allerdings kein wünschenswertes Ziel, sondern gilt als Zeichen dafür, dass keine Erleuchtung erlangt wurde. Einem Bewohner der west­lichen Welt mag die Reinkarnation ebenfalls als etwas Unbe­friedigendes erscheinen, denn nur wenige können sich an ihre früheren Leben erinnern, und wenn, dann nur während der ersten Lebensjahre, nur selten über das Alter von acht Jahren hinaus. Das „Überleben" ist kurz, partiell und im Grunde ge­nommen nichts anderes als Vernichtung.*

Schwachpunkte der Beweisführung

Werfen wir nun einen Blick auf Schwachpunkte der Unter­suchungen zum Weiterleben nach dem Tode. An erster Stelle müssen alle Berichte einer Unmenge von Einwänden standhal­ten. Sie haben ihre Authentizität darzulegen, die Erzählungen müssen einer Bestätigung unterzogen, die Zeugenaussagen auf

* Die Regression in ein früheres Leben mag als Therapie von Wen sein, geht aber selten mit Nachweisen für die geschichtliche Wirklichkeit des behaupteten früheren Lebens einher.

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ihre Glaubwürdigkeit überprüft werden usw. Irrtümer, die sich aus falschen Beobachtungen, Fehlem oder Verdrehungen des Gedächtnisses ergeben, und die Möglichkeit des Schwindels oder eines Ulks müssen ausgeschlossen werden. Selbst wenn diese vorläufigen Hindernisse beiseite geräumt sind und man einem authentischen Fall gegenübersteht, gibt es ein weiteres Problem, das Kopfzerbrechen bereiten kann. In Anbetracht der Tatsache, dass niemand die Grenzen psychischer Fähigkeit kennt, können sogar überzeugend erscheinende Fälle, die auf ein Weiterleben nach dem Tode hindeuten, aus den paranor­malen Fähigkeiten lebender Menschen erklärt werden. Was wie ein Beispiel für jemanden erscheint, der den Tod überlebt hat, kann tatsächlich eine Täuschung sein, die vom Unbewuss­ten lebender Menschen simuliert wird. Diese Extrapolation mentaler Kraft ist als Superpsi bezeichnet worden. In der The­orie wird die einfachere Erklärung als die bessere angesehen, und Psi von Lebenden erscheint vielen eine einfachere Erklä­rung als das Weiterleben nach dem Tode. Die Hoffnung auf ein Überleben fällt Ockhams Rasiermesser, d.h. dem Ökono­mie- oder Sparsamkeitsprinzip in der wissenschaftlichen Me­thodik, zum Opfer.

Die Superpsi-Erklärung muss durchaus in Betracht gezogen werden. Eine vollständige Darstellung sollte Folgendes berück­sichtigen: 1) die Motivation, 2) die multiple Natur des Selbst und 3) bestimmte automatische, mythopoetische Tendenzen des Unbewussten. Das Erstgenannte, die Motivation, hält uns davon ab, Superpsi unterschiedslos anzuwenden. Eine auf den ersten Blick fehlende Motivation lässt Superpsi unwahrschein­lich erscheinen. In einem Fall, der in frühen Sitzungsberichten der englischen Gesellschaft für Parapsychologische Forschung (SPR) dargestellt ist, sah ein Mann, als er ein Hotelzimmer mietete, die Erscheinung eines anderen Mannes. Später be­schrieb er diese Person sehr präzise anderen Menschen, die sie kannten und auf einem Foto wiedererkannten. Es stellte sich heraus, dass es die Erscheinung eines Mannes war, der einige Wochen zuvor in dem Hotelzimmer gestorben war.

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Nach der Superpsi-Hypothese muss der Betreffende die Vergangenheit rückblickend erkannt oder telepathisch das Bild der Person, die ihm erschienen ist, aus dem Gehirn des Hotelmanagers „gefischt" haben. Doch was könnte den Wahr­nehmenden dazu bewogen haben, diese außerordentliche psy­chische Kraft ein einziges Mal in diesem bestimmten Beispiel zum Einsatz zu bringen? Da ihm die Person, deren Erschei­nung er sah, nicht bekannt war, fällt es schwer - sieht man von ad-hoc-Spekulationen ab -, hier Superpsi am Werk zu se­hen. Natürlich kann Superpsi spontan und ohne vorherigen Beweggrund funktionieren, doch daraus wäre zu folgern, dass einige Menschen außergewöhnliche Fähigkeiten besitzen, die auf rein zufällige Weise aktiviert werden.

Die frühen Seelenforscher kannten den Begriff der sekun­dären Persönlichkeit; sie wussten zum Beispiel, dass vom Medium ausgeübte „Kontrollversuche" normalerweise keinen Hinweis auf eine unabhängige Geschichte auf Erden ergaben und nach aller Wahrscheinlichkeit aus der Persönlichkeit des Mediums abgeleitet waren. Doch damit entsteht die Möglich­keit, dass irgendeine selbst ernannte Persona eines Verstorbe­nen das sein könnte, was Flournoy (1911) als „den feindlichen Mitspieler des unbewussten Geistes" bezeichnete. Wir sind mit den Fähigkeiten unseres Geistes, etwas vorzutäuschen, durch unser eigenes Traumleben vertraut. Wenn man nun einen glaubhaften Beweggrund und starke Kräfte mit dem verbindet, was unbegrenztes Psi sein könnte, dann erscheint die Fähig­keit, die Erscheinung von Entitäten zu simulieren, die den Tod überlebt haben, weitaus wahrscheinlicher.

Wir müssen uns schließlich noch mit einem weiteren kri­tischen Argument dafür auseinander setzen, dass es kein Weiterleben nach dem Tode gebe. Nach Anita Muhls (1963) Studie über das automatische Schreiben ist es so, dass eine Person, wenn sie erst einmal in „die automatische Zone" - so nennt sie es - geraten ist, dazu tendiert, unglaubliche Ge­schichten zu erzählen, Märchenwesen zu fantasieren und Geister und Entitäten aus der „anderen" Welt für wirklich zu

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halten. Diese „Zone" gleicht dem, was als mythopoetischer Geist bezeichnet worden ist. In der automatischen Zone oder der mythopoetischen Welt ist die Erzeugung von Geistern und übernatürlichen Wesen oftmals Ausdruck eines tiefen Bedürf­nisses. In der mythopoetischen Welt hat die Vorstellung, das Bild eine eigene Wahrheit, eine eigene Art von Wahrheit, die symbolisch und nicht wortwörtlich ist. In der unterbewussten Welt der automatischen Zone sind wir zutiefst überzeugt, dass wir unsterblich sind, und scheinen unsere zeitlose Natur zu spüren.

In einer bestimmten Ebene unserer mentalen Tätigkeit könnten wir also so programmiert sein, dass wir ein ganzes Aufgebot von Bildern und Erzählungen hervorbringen, die voller Bedeutung und psychologischen Inhalts, im buchstäb­lichen Sinne aber falsch sind. Es könnte sein, dass wir nicht nur den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode brau­chen, sondern dass wir auch dazu in der Lage sind, etwas zu schaffen, das wie ein brauchbarer Beweis erscheint. In den frü­hen Phasen der Entwicklung unserer Spezies mag dies einem psychologischen Bedürfnis entsprochen haben. Skeptiker könn­ten sagen, dass wir im Verlauf unserer mentalen Evolution an­scheinend zufällig auf diese bewährte Masche des Unbewuss­ten gestoßen sind, sie aufgenommen und ausgebaut haben, dass nun aber deutlich wird, um was es sich wirklich han­delt - eine Erfindung zur Erzeugung heilender Fiktionen.

Der Ausweg

Die Erforschung des Lebens nach dem Tode - so folgenschwer sie auch sein mag - hat mit wenigen Ausnahmen nicht das Interesse der breiten Öffentlichkeit wecken können. Hin und wieder sorgt ein populäres Buch (in der Regel nach literari­schen und intellektuellen Maßstäben ein besonders schlech­tes) für Wirbel, doch nichts davon ist von Dauer. Es scheint etwas zu fehlen, so etwas wie ein Einheit stiftender Mythos,

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eine solide Ausgangsbasis, ein Programm, eine Vision. Viel­leicht müssen wir einen neuen Blick auf das ganze Problem wagen. Geschichtlich hat es in diesem Zusammenhang etliche Herangehensweisen gegeben.

Der Weg des Schamanen - Schamanistische und mythische Vorstellungen über ein Weiterleben nach dem Tode standen anfangs in Blüte. Außergewöhnlich empfindliche Personen fas­teten, trommelten, sangen, nahmen psychoaktive Drogen und züchtigten sich manchmal auch selbst, bis sie einen anderen Bewusstseinszustand erreichten und seelisch quasi in andere Welten reisten, aus denen sie mit nützlichen Einsichten zu­rückkehrten. Diese trugen nicht wenig dazu bei, die Überzeu­gung von einem Weiterleben nach dem Tode zu erzeugen.

Der Weg des Mystikers - Fast genauso alt ist der Weg der Mystik, der außerordentliche Selbstdisziplin mit der philoso­phischen und psychologischen Analyse der Bedingungen von Erleuchtung verbindet. Die Überzeugung von der Unsterblich­keit ist hier der Nebeneffekt der Erfahrung des Ewigen in der menschlichen Persönlichkeit.

Der Weg des Philosophen - Nicht zu vergessen ist die Wirkung des bloßen Arguments. Platon, Leibniz, Descartes und andere Philosophen der westlichen Traditionen haben die Unsterb­lichkeit der Seele zu beweisen versucht, ohne dabei auf Tat­sachen Bezug zu nehmen. Dann kam Kant und zeigte, dass die reine Vernunft eine - nach seiner fälschlichen Ansicht - rein spekulative Frage nicht lösen könne. Es gebe immer Argumen­te für und gegen metaphysische Behauptungen, meinte Kant, und verwies damit die Frage eines zukünftigen Lebens strikt in den Bereich des Glaubens.

Der Weg des Spiritualisten - Eine weitere Phase in diesem lan­gen Suchen war der Spiritualismus des 19. Jahrhunderts, der aus dem Mesmerismus hervorging und Kant korrigierte, in­

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dem er sich mit der empirischen Seite der Frage beschäftigte. Letztlich nahm der Spiritualismus allerdings eher religiöse als wissenschaftliche Züge an, und doch bahnte er den Weg zur nächsten Auffassung.

Der Weg des Seelenforschers - Die Erforschung der Seele jen­seits von Intuition und Theologie war darum bemüht, nach einer unvoreingenommenen wissenschaftlichen und empiri­schen Methode vorzugehen. Aus dieser Anstrengung ging die moderne Parapsychologie hervor. Die Erforschung der Seele glich einer Spurensuche, die allen Hinweisen auf ein Weiter­leben nach dem Tode nachging; man untersuchte Spuren, Zei­chen und Signale von Wesen, die einmal gelebt und vermut­lich den Tod überlebt haben. Wie ich oben zu zeigen versucht habe, hat diese Spurensuche uns in so etwas wie eine Antino­mie im kantischen Sinne geführt, bei der Argumente für und gegen ein Weiterleben nach dem Tode immer möglich zu sein scheinen. Aufgrund der indirekten Art der Untersuchung - in­direkt, solange wir noch leben - mag es sein, dass wir mit ra­tionalen Mitteln die Frage nie lösen können. Also wollen wir eine andere Möglichkeit in Betracht ziehen, nämlich den integ­ralen Weg zur Erforschung des Weiterlebens nach dem Tode.

Eine integrale Perspektive zur Erforschung des Weiterlebens nach dem Tode

Vorausgesetzt, die Erforschung des Weiterlebens nach dem Tode bedarf einer neuartigen Vorgehensweise - auf welche Weise könnten die Studien zur Transpersonalität dabei hilf­reich sein? Einige Untersuchungen zum Weiterleben über­schneiden sich mit Studien zur Transpersonalität: Sie befassen sich mit Nahtoderfahrungen. Als Hinweis für ein Leben nach dem Tod ist die Nahtoderfahrung nützlich, aber bei weitem nicht zwingend (Cook, Greyson und Stevenson 1998). Für jemanden, der die Erfahrung hat, kann sie allerdings eine Er­

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leuchtung sein. Menschen mit Nahtoderfahrung scheinen wie Schamanen, Mystiker oder Visionäre zeitweise eine andere Welt zu besuchen. Für sie ist ihre Erfahrung kein Traum, son­dern etwas, das unendlich viel wirklicher ist als das Leben im Wachzustand. Sie gewinnen die Überzeugung, dass sie von der Existenz einer anderen Welt wüssten, dass sie mit toten Ange­hörigen gesprochen, dass sie Gott, Himmel und Hölle gesehen hätten. Sie wüssten, dass es diese Dinge gibt, weil sie dort ge­wesen seien.

Etwas von dem Gefühl, dort direkt vor Ort gewesen zu sein, scheint nach meiner Überzeugung für die Menschen un­abdingbar zu sein, und sie werden dorthin getrieben, auch wenn sie sich mit verständlicher Angst dagegen sträuben: eine Erfahrung, die das rationale Wissen ergänzt, das wir den For­schungen zum Weiterleben nach dem Tode verdanken. Ich spreche wohlgemerkt nicht davon, dass es dieses Wissen er­setzt. Eine Erfahrung ohne rationales Fundament wäre schwan­kend; und ein rationales Fundament ohne Erfahrung wäre hohl. Im 21. Jahrhundert brauchen die Forschungen zum Weiterleben nach dem Tode einen stärker integralen Ansatz.

Die Nahtoderfahrung legt verlockende Wege des Experi­ments und der Erkundung nahe. In seinem Buch Im Angesicht des Lichts (1999) zeigt Kenneth Ring, wie wir die Weisheit der Nahtoderfahrungen erreichen können, indem wir uns in die Bilder, die Sprache und die innere Umgebung einfühlen, die von denjenigen, die solche Erfahrungen gemacht haben, be­schrieben worden sind. Der folgende Ansatz, der mit Rings vereinbar ist, sich jedoch von ihm unterscheidet, scheint eben­falls möglich zu sein. Er ist nicht so extrem wie die Vorstel­lung in dem Film Flatliners (Schumaker 1990), in dem Medi­zinstudenten ihr Herz zum Stillstand bringen in der Hoffnung, einen Blick in die zukünftige Welt werfen zu können. Meine Vorstellung ist besser zu handhaben und viel sicherer. Ich werde mich auf drei bestimmte Merkmale von Nahtoderfah­rungen konzentrieren, von denen jedes das Tor für eine per­sönliche Erfahrung und Erkundung öffnet:

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1. Das erste ist die Erfahrung des Heraustretens aus dem eige­nen Körper, ein hervorstechendes Merkmal der Nahtoderfah­rung. Die Erfahrung lädt zur Umkehr ein, wie wir von dem bekannten Fall der Bekehrung des Paulus auf der Straße nach Damaskus wissen. Auffällig ist die merkwürdige Darstellung in der dritten Person, die Paulus im zweiten Brief an die Ko­rinther (12,2-4) gibt: „Ich kenne jemand, einen Diener Christi, der vor vierzehn Jahren bis in den dritten Himmel entrückt wurde,- ich weiß allerdings nicht, ob es mit dem Leib oder ohne den Leib geschah, nur Gott weiß es. Und ich weiß, dass dieser Mensch in das Paradies entrückt wurde,- ob es mit dem Leib oder ohne den Leib geschah, weiß ich nicht, nur Gott weiß es. Er hörte unsagbare Worte, die ein Mensch nicht aus­sprechen kann." In dieser Beschreibung lassen sich das Psychi­sche und das Spirituelle nur schwer voneinander sondern: ohne den Leib, dritter Himmel, Paradies, entrückt, unsagbar: Was ist hier parapsychologisch und was transpersonal?

Der Prophet Joel hat vorhergesagt, dass ein Tag kommen wird, an dem die unterschiedlichsten Menschen Umkehr-Er­fahrungen haben werden: „Danach aber wird es geschehen, dass ich meinen Geist ausgieße über alles Fleisch" (Joel 3,1). Ich habe in Joel stets den Propheten eines demokratisierten spirituellen Bewusstseins gesehen. Heute fallen einem Men­schen ein, die Erfahrungen des Nahtodes oder des Heraus­tretens aus dem Körper für sich in Anspruch nehmen, Begeg­nungen mit Engeln, Entführungen durch Außerirdische, psy­chedelische Erleuchtungen, Visionen der Jungfrau Maria und Ähnliches. Ist es möglich, dass ganz normale Menschen ler­nen, ähnliche Erfahrungen zielgerichtet herbeizuführen? Der Übergang vom zufälligen Empfänger zum aktiven Erkunder wäre ein weiterer Schritt in Richtung auf Joels Demokratie des höheren Bewusstseins.

Es gibt nur wenig Literatur zu diesem Thema, die sich auf experimentelle Studien über Menschen mit der Gabe, den eigenen Körper zu verlassen, stützt. Soweit ich sehen kann, gehört zu den hauptsächlichen Techniken, die darin beschrie­

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ben sind, der Gebrauch von Willenskraft, Konzentration und Einbildungskraft. Ein kürzlich erschienenes Buch von Robert Peterson (1997) zeigt, dass sich mit hartnäckiger Bemühung die Fähigkeit, den Körper zu verlassen, wecken und trainieren lässt. Leaving the Body (1983) von D. Scott Rogo fasst die Methoden zusammen, die bekannte Praktiker wie Oliver Fox und Sylvan Muldoon benutzen. Es gibt die Quellen des Mon­roe Institute und die Bücher von Robert Monroe (1970). Aus den Sutras des Patanjali geht klar hervor, dass die Fähigkeit, den eigenen Körper zu verlassen, tatsächlich durch Übungen entwickelt werden kann. Worin auch immer der Nutzen sol­cher Experimente hegen mag, sie stützen sich auf die eigene Erfahrung; das dabei erworbene Wissen ist persönlich, inner­lich gefühlt und echt in dem Sinne, dass es sich um „das eigene" handelt.

Der Aspekt des Heraustretens aus dem eigenen Körper bei der Nahtoderfahrung entspricht der ekstatischen Tätigkeit im Schamanismus (Eliade 1970). Traditionelle Schamanen sind nach Eliade Meister des ekstatischen Flugs und überhaupt Er­kunder der höheren und niederen Reiche des Bewusstseins. Da immer mehr Menschen diese Form des Experimentierens durchlebt haben, entsteht vielleicht ein neuer Konsens über die Wahrscheinlichkeit, den Wert und die Bedeutung des Weiterlebens nach dem Tode.

2. Ein zweiter wesentlicher Aspekt der Nahtoderfahrung ist die visionäre oder erscheinungshafte Begegnung. Menschen be­richten von Begegnungen mit verstorbenen Verwandten bei Nahtoderfahrungen, und sie behaupten, archetypische reli­giöse Gestalten und übernatürliche Landschaften gesehen zu haben. Eine Vielzahl von Traditionen liefert Hinweise, mit welchen Übungen diese Erfahrungen erreicht werden können. Betrachten wir ein Beispiel aus der Antike. Zweitausend Jahre lang haben die alten Griechen in Eleusis, einer Stadt in der Nähe von Athen, komplizierte Riten in der Absicht abgehal­ten, eine Vision der Persephone, der Göttin der Unterwelt, he­

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raufzubeschwören (Kerenyi 1967). Einem neuntägigen Fasten und dem Trinken eines psychoaktiven Getränks (kukeon) ging eine intensive innere Vorbereitung voraus. Der reich instru­mentierte Ritus - eine kostspielige und ausgeklügelte Proze­dur, über die übereinstimmende Zeugnisse existieren - rief Erfahrungen von einer tiefen, umgestaltenden Wirkung hervor. Aus Berichten von Platon, Cicero, Sophokles, Aischylos und vielen anderen geht klar hervor, dass die eleusische Erfahrung eine der Umkehr war. Wie die Nahtoderfahrung hinterließ sie im Bewusstsein dessen, der diese Mysterien feierte, einen unauslöschlichen Eindruck von der eigenen Unsterblichkeit. Einigen wagemutigen Forschem unserer Zeit bleibt die Auf­gabe zu untersuchen, wie das moderne Äquivalent zu Eleusis aussehen könnte.

Eine althergebrachte Technik, um visionäre Erfahrungen zu erzeugen, besteht im Hellsehen oder Kristallschauen. Moo­dy (1992) hat versucht, die Praxis des In-den-Spiegel-Starrens als Weg zur Erzeugung visionärer Begegnung mit entschlafe­nen Geistern wieder zu beleben. Eine weitere Technik, die als Psi-förderlich bekannt ist und die bei dem Vorhaben der Erzeugung von Visionen genutzt werden kann, ist das Ganz­feld*: Indem die Sinneserfahrung auf monotone Reize be­schränkt wird (eine Art Entzug von Sinneswahrnehmungen), ist es möglich, übersinnliche Wahrnehmung zu fördern (Ho- norton 1977, S.459-64). Dieselbe Versuchsanordnung kann ge­nutzt werden, um Visionen von Toten zu erzeugen. Wir kön­nen uns dies als ein Destillat der traditionellen Suche nach Visionen vorstellen, einer Prozedur, die feiner ist als der sen­sorische Isolationstank. Viel diskutiert worden ist auch der Einsatz luzider Träume als Türoffner für visionäre Begegnun­gen mit entkörperlichten Wesen. Ob es nun das In-den-Spie- gel-Starren, hypnotische oder Ganzfeld-Verfahren, das Herauf­beschwören von Visionen, psychedelische Drogen oder luzide

* Im Original deutsch (Anm. d. Übersetzerinnen).

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Träume sind, es gibt eine Vielzahl von Methoden, um visionä­re und Erscheinungserfahrungen zu erkunden. Wie schon ge­sagt: Je mehr Menschen es lernen, über ihre Erfahrungen zu berichten und sie mit anderen kritisch zu teilen, desto mehr wird der Konsens über ein Weiterleben nach dem Tode zuneh­men, ein Konsens, der sich stärker auf Intuition und Erfah­rung stützt als der gegenwärtige, der von Theorie und Dogma bestimmt ist.

3. Der bemerkenswerteste Aspekt der Nahtoderfahrung ist vielleicht die Erfahrung des Lichtes. Die Lichterfahrung, die wesentlich für die archetypische Nahtoderfahrung ist, über- schneidet sich mit einer großen Zahl transpersonaler Phäno­mene (Eliade 1965, S. 19-77). Eliade hat Berichte über die Er­fahrung des „mystischen Lichtes" zusammengestellt, und zwar in Träumen und anderen spontanen Episoden, im Schamanis­mus der Eskimos, im tibetischen Tantrismus, im Yoga der Hin­dus, im chinesischen Daoismus, in der persischen und christ­lichen Mystik und in der Traumzeit der Aborigines. Das mystische Licht ist ein universelles Merkmal transpersonaler Erfahrung. Der Kinderarzt Melvon Morse (1992) hat festge­stellt, dass die Erfahrung des Lichtes für die Wandlung in der Nahtoderfahrung zentral ist. Es ist die Erfahrung des Lichtes - die in den stärksten Nahtoderfahrungen so oft beschrieben wird -, die bei den Menschen eine Umkehr hervorruft, sie von der Wirklichkeit einer anderen Welt überzeugt und sie mit einer allumfassenden Liebe in Berührung bringt. Aufgrund der Forschungslage dürfen wir annehmen, dass diese vielfach be­richtete, so machtvolle und so universelle Lichterfahrung allen zugänglich ist. Bemerkenswert an der modernen Nahtoderfah­rung ist ihre weite Verbreitung. Um Joels Prophezeiung wieder aufzugreifen: Sie hat die mystischen Ausnahmeerlebnisse de­mokratisiert. Menschen jeden Alters, jeder Kultur und jeder mentalen Entwicklung können diese Erfahrung machen, die in jedem Fall zweifellos einzigartig ist Und dabei muss man nicht einmal tatsächlich dem Tode nahe sein.

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Zweifel am Paranormalen

Ich möchte mich jetzt dem zweiten Hauptpunkt dieses Bei­trags zuwenden und eine Weise vorstellen, wie die Psi-For- schung die transpersonale Psychologie maßgeblich unterstützt. Doch zunächst möchte ich mich mit der Tatsache auseinander setzen, dass einigen Menschen, die sich mit spirituellen Din­gen befassen, die Beschäftigung mit Parapsychologie wider­strebt, und das aus unterschiedlichen Gründen. Als ich einmal mit einem bekannten christlichen Theologen sprach, erwähnte ich die Möglichkeit, dass es Beweise für ein Weiterleben nach dem Tode geben könnte. Ich wurde ernsthaft ermahnt, dass dies so etwas wie „Selbstbedienung" sei und einen unbefugten Übergriff in die Domäne des Glaubens darstelle. Ich antwor­tete, dass nach guter katholischer Tradition Wissen den Glau­ben ergänzt. Ein weiterer Zweifel, der von religiösen Funda­mentalisten geäußert wird, besteht darin, dass die Unter­suchung des Paranormalen eine Huldigung des Diabolischen sei - eine Sichtweise, die ich für absurd halte. So lehnte ein befreundeter Buddhist Forschungen über ein Weiterleben nach dem Tode freundlich ab, indem er darauf hinwies, dass es kein Selbst gebe, dessen Überleben vorstellbar sei. Und doch glauben Buddhisten an Reinkarnationen, und das Nirwana be­deutet nicht völlige Auslöschung (Johansson 1969). Ein über­zeugter Ökologe erklärte mir einmal mit großer Bestimmtheit, dass es selbstsüchtig sei, sich um das eigene Weiterleben so viele Gedanken zu machen, da die Umweltzerstörung voran­schreite.

Ernsthaftere Einwände haben sich gegen das Interesse an Siddhis, Charismen oder paranormalen Kräften als Ablenkung von der spirituellen Praxis und Erleuchtung gewandt. Inner­halb der katholischen Kirche haben manche Geistliche Padre Pio zu Lebzeiten angegriffen, weil er durch seinen Ruhm als Heiler und Stigmatisierter einen Personenkult schaffe (Bonifa­ce 1971). Gegen die Erforschung des Paranormalen wird auch

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die Geschichte von Buddha ins Feld geführt, in der er einen Schüler zurechtweist, weil dieser seine Zeit damit verschwen­det, zu lernen, wie man einen Fluss schwebend überquert, während doch für wenig Geld eine Fähre zur Verfügung steht. Zu meiner großen Überraschung stelle ich fest, dass Men­schen, die sich einer spirituellen Einstellung verschrieben ha­ben, das Paranormale häufig genauso erbittert ablehnen wie Materialisten reinsten Wassers.

Auch wenn ich diesen Einwänden einen gewissen Wert zubillige, möchte ich in diesem Beitrag doch das Gewicht auf die theoretische Unterstützung legen, welche die Parapsycho­logie dem Transpersonalismus bietet. Außerdem scheint es mir ein Fehler zu sein, das Paranormale (ein Begriff aus dem dogmatischen Materialismus) vom Transpersonalen zu tren­nen. Mit anderen Worten, transpersonale Erfahrungen schließen immer die Arten erfahrungshaften Hinausgehens über den doktrinären Materialismus ein, die durch den Begriff paranor­mal bezeichnet werden, oder legen sie zumindest sehr nahe. Das Paranormale fordert die Hauptströmung des Materialis­mus allerdings stärker heraus als das Transpersonale und be­schwört dadurch bei den institutionellen Wachhunden einen größeren kritischen Eifer herauf. Im Folgenden wollen wir einen genaueren Blick darauf werfen, auf welche Weise das Paranormale in transpersonalen Visionen enthalten ist.

Psi und die transpersonale Vision

Die Bedeutung des Transpersonalen

Wir brauchen zumindest eine vorläufige Definition des Wortes transpersonal: „Transpersonale Erfahrungen lassen sich als Er­fahrungen definieren, in denen das Gefühl der Identität oder des Selbst sich über das Individuelle und Personelle hinaus ausdehnt und größere Aspekte des Menschseins, des Lebens, der Seele und des Kosmos umfasst" (Walsh und Vaughan 1993,

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S. 3). Dies ist eine brauchbare Definition, die auf das subjek­tive Empfinden des Überschreitens normaler, an das Ich ge­bundener Erfahrungen abhebt. Diejenigen, die diese Definition liefern, lassen die Frage offen, wie diese Erfahrung zu deuten sei. Mir allerdings fällt es schwer, Walsh und Vaughan darin zu folgen, dass das Transpersonale hinsichtlich der Ontologie neutral sei (S. 4). Der Transpersonalismus geht mit einer Onto­logie einher, die eine Autonomie und logische Unabhängigkeit von Geist und Bewusstsein bejaht. Darüber bald mehr.

Historische Vorläufer

Wie ich bereits ausgeführt habe, lässt sich die Verknüpfung von Psi-Forschung und transpersonalen Studien im Werk von Wil­liam James (1913) und Frederic Myers (1903) wiederfinden. Die beiden haben Erfahrungen untersucht, die heute als Gip­fel-, transzendente oder Umkehr-Erfahrungen bezeichnet wer­den, ebenso aber supranormale oder paranormale Phänomene. James hat die Varieties of Religious Experience (auf Deutsch er­schienen als Die Vielfalt religiöser Erfahrung) geschrieben, eine Phänomenologie transpersonaler Erfahrungen, und bei seiner lebenslangen Erforschung der Seele ist er auf eines der größten Medien seiner Zeit gestoßen, auf Eleanora Piper.

Myers' Buch Human Personality and its Survival of Bodi­ly Death kann als Denkmodell hinsichtlich der Verbindung zwischen parapsychologischer Forschung und transpersonaler Psychologie in Anspruch genommen werden. Es behandelt Bewusstseinszustände, die heute unter der Rubrik des „Trans­personalen" behandelt werden, wie geniale Eingebung, Inspira­tion, Verrückheit, Mystik, Gebet, multiple Persönlichkeit, Hyp­nose, Trance, Besessenheit, Ekstase und so weiter. Für Myers bildet das Spektrum unserer Bewusstseinszustände ein gestaf­feltes, verflochtenes System, das in Richtung auf ein vollstän­diges Transzendieren des Gehirns weist Myers sah in den Psi-Fähigkeiten evolutionäre Anzeichen für das spirituelle Po­tenzial der Menschheit nach dem Tode. Weit davon entfernt,

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das Paranormale als abwegigen Nebeneffekt des Spirituellen abzutun, sah er es als unerlässlich für unser gesamtes evolu­tionäres Projekt an.

Das Interesse an einem persönlichen Weiterleben steht nicht im Widerstreit mit dem Transpersonalen. „Die Leiden­schaft für das Leben ist nicht selbstsüchtige Schwäche, sie ist ein Faktor in der universellen Energie." Myers sah im „tele­pathischen Gesetz" die Basis dafür, dass wir wirklich Glieder einer spirituellen Gemeinschaft sind. Die Evolution ruft die unendliche Vertiefung unserer Fähigkeit zur transpersonalen Liebe hervor. „Die Liebe", meint Myers, „ist eine Art der höhe­ren, unspezialisierten Telepathie" (Myers 1903, Bd. 1, S. 282). Damit legt er nahe, dass in allen intimen, empathischen und mitfühlenden Beziehungen ein Element der Telepathie als buchstäbliches „Fernfühlen" enthalten sei.

Eine ähnlich umfassende Ordnung eines Spektrums außer­gewöhnlicher körperlicher Phänomene, wie sie von Medien, Heiligen, Yogis, Mystikern, Schamanen und Athleten berichtet worden sind, hat Michael Murphy in The Future of the Body (1992) beschrieben. Murphy bietet wie Myers eine Fülle von Indizien auf und zeigt, dass es ein Kontinuum außergewöhn­licher körperlicher Fähigkeiten gibt, das verschiedene, mit dem Weiterleben nach dem Tode in Beziehungen stehende Phäno­mene widerspiegelt. Diese legen nahe, dass es Potenziale für das gibt, was als Hauchkörper bezeichnet wird: Körper, die in ihren Eigenschaften zwischen dem Physischen und dem Spiri­tuellen liegen.

Psi, Materialismus und transpersonale Vision

Eine streng materialistische Sicht des Geistes kann mystische Verzückungen, Nahtoderlebnisse und die meisten transperso­nalen Erfahrungen nicht gelten lassen. Wenn der Materialis­mus wahr sein sollte, dann müsste der transpersonalen Vision ein Hauch von Betrug anhängen. Ein Materialist könnte sagen: Genießen Sie ruhig Ihr Gefühl einer erweiterten Identität, doch

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es wird sich letztlich als Illusion erweisen, die vielleicht nütz­lich und erbaulich ist, im Grunde aber ein trügerischer Zu­stand des Gehirns ohne transzendenten Sinn.

Warum also sollte man das Transpersonale nicht tatsäch­lich als erbauliche Illusion aufgeben? Dagegen ließen sich et­liche Argumente anführen. Zunächst einmal würden einige sagen, dass es einer Argumentation in diesem Fall nicht be­dürfe. Sola fide, „allein durch den Glauben", lautet die protes­tantische Erlösungsformel. Man kann an das Transpersonale stets auf der Basis irgendeines Gurus, Propheten oder einer heiligen Schrift glauben. Ganz abgesehen von den Gefahren des Autoritarismus ist diese Vorstellung mit dem Ideal einer Gesamtheit nicht vereinbar, die Glauben und Vernunft, Ein­gebung und Wahrnehmung umfasst. Eine Sichtweise, die sich allein auf den Glauben und auf bloße Subjektivität stützt, eig­net sich nur für ein bruchstückhaftes und daher schwaches Bewusstsein.

Ein Argument gegen die illusionäre Natur transpersona­ler Erfahrungen lautet, diese seien ein universelles Merkmal menschlichen Lebens. Einige meinen, die Allgemeinheit einer Erfahrung genüge als Beweis dafür, dass sie real sei; jede Er­fahrung, die so tief verankert und wiederkehrend sei, müsse in funktioneller Hinsicht real und objektiv wahr sein. C. G. Jung argumentierte auf diese Weise für die Realität von Archetypen, doch er ging noch weiter. Während seines gesamten Berufs­lebens war er von Parapsychologie begeistert und begrüßte das Werk von J. B. Rhine und der frühen Parapsychologen, da sie seine Art der transpersonalen Psychologie stützten. „Die Para­psychologie ist wichtig, weil sie überall direkt unter der Ober­fläche versteckt ist" erklärte er (Main 1997).

Es gibt auch ein pragmatisches Kriterium zur Rechtferti­gung des Transpersonalismus: Erfahrungen, die Menschen so beseelen, erheben und verändern, seien „wahr" und „real", weil sie langfristig zum Wohle der Menschheit seien. Es gibt natür­lich Schwierigkeiten beim pragmatischen Wahrheitskriterium, und ein hartnäckiger Skeptizismus wird vielleicht darauf be-

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stehen, dass transpersonale Erfahrungen zwar universell, ver­ändernd und zum Wohle des Menschen sein mögen und doch ein Epiphänomen des Gehirns ohne Substanz.

Die Parapsychologie verliert viel an Boden, wenn sie dieser deflationären Tendenz nicht widersteht. Sie liefert die Garantie für den Glauben, dass wir ein Universum bewohnen, in dem es eine Basis für transpersonale Erfahrungen gibt. Man könnte vom transzendenten Psi-Faktor sprechen. Der Psi-Faktor in der Natur unterliegt anscheinend nicht dem Zwang durch die Gesetze der Physik, Chemie und Biologie, zumindest wie man sie heute versteht. Neben der physischen Wirklichkeit gibt es ein nicht reduzierbares Reich von etwas anderem: den Ur- stoff* als Rohstoff und alles durchdringenden Hintergrund un­seres geistigen, seelischen und spirituellen Lebens. John Mack beschreibt die Herausforderung durch die transpersonale Vi­sion wie folgt:

„Wir sind Zeugen eines Kampfes um die mensch­liche Seele zwischen zwei entgegengesetzten On- tologien. Der einen Sichtweise zufolge ist die kör­perliche oder materielle Welt die grundlegende, wenn nicht gar die einzige Realität... Der trans­personalen Sichtweise zufolge repräsentieren die körperliche Welt und alle ihre Gesetze nur eine unter einer unbestimmbaren Anzahl möglicher Wirklichkeiten, deren Eigenschaften wir durch die Evolution unseres Bewusstsein allmählich zu verstehen beginnen" (Walsh und Vaughan 1993,S. xi).

Den stärksten strategischen Zug, der uns in diesem Kampf zur Verfügung steht, bietet die Parapsychologie, und zwar deshalb, weil sie die Frage nach der Ontologie des Bewusstseins frontal

* Im Original deutsch (Anm. d. Übersetzerinnen).

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angeht. Mit der Annahme, dass Psi eine Tatsache der Natur sei, gewinnt die transpersonale Psychologie einen unschätzba­ren Verbündeten.

Um die stützende Rolle von Psi zu demonstrieren, sollten wir ein paar Äußerungen aus der klassischen Literatur des Transpersonalismus anschauen. Denken Sie über die folgen­de aus der Katha-Upanishad nach: „Das wissende Selbst ist nicht geboren; es stirbt nicht. Es ist aus nichts entsprungen. Ohne Geburt, ewig, immerwährend und alt, wird es nicht um­gebracht, wenn der Körper umgebracht wird" (Nikhilananda 1963, S. 73). Man kann ein großes Spektrum außergewöhn­licher Erfahrungen haben, doch niemand kann diese Beschrei­bung des Selbst aus den Upanishaden voll bestätigen. Durch die Parapsychologie wird ihr allerdings ein gewisser objektiver Bezug verliehen. Sie könnte die Behauptung bestätigen, dass das erfahrende Selbst mit den Mitteln der übersinnlichen Wahrnehmung und der Psychokinese über die normalen Be­schränkungen der Zeit und die üblichen Beschränkungen der körperlichen Existenz hinausreicht. Das wäre ein Schritt, um das Selbst der Upanishaden einer Kultur verständlich zu ma­chen, die im Sumpf eines dogmatischen Materialismus ver­sinkt. Die Parapsychologie liefert eine gewisse Unterstützung für die alte Behauptung der Hindus, dass das Selbst mit dem Tod nicht zerstört werde. Ohne so etwas wie den Begriff des Psi könnte das indische Selbst in seiner ganzen Majestät als Unsinn abgetan werden. Die Realität des Psi liefert zusätzliche Plausibilität dafür, dass es so etwas wie das „höhere Selbst" gibt, das Zeit und Raum übersteigt

Wir müssen dieses Argument in seinen historischen Kon­text einbetten. In traditionellen Gesellschaft taucht das Pro­blem der Verifizierung und Beglaubigung spiritueller Wirklich­keit nicht in derselben Schärfe auf wie heute. Rationales Selbstbewusstsein musste erst als geschichtliche Kraft voll­ständig in Erscheinung treten, zusammen mit seinen bohren­den Zweifeln und seinen forschenden Fragen. In der heutigen multikulturellen Welt mit dem harten Wettbewerb auf dem

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Markt der Ideen ist das Bedürfnis nach einem empirischen Fundament weit verbreitet, und wenn es anscheinend fehlt, erscheint dies durchaus als hinderlich. Vergleichende Mytho­logie und die Methoden der Phänomenologie sind wertvolle Mittel, um die Reichweite und Beschaffenheit der transperso­nalen Vision festzustellen. Doch wir brauchen experimentelle und spontane Psi-Studien, um den ontologischen Grund abzu­stecken, auf dem und um den die transpersonale Sicht blühen und gedeihen kann.

Die verschiedenen Weisen, in denen Psi und Transpersona- lismus sich gegenseitig stützen und widerspiegeln, habe ich nur ganz oberflächlich dargestellt. Die größte Hoffnung, die ich mit dem Schreiben dieses Artikels verbinde, ist die, dass ich damit das Denken über die Möglichkeiten einer kreativen Konvergenz anstoßen könnte. Obwohl viele Parapsychologen über die Beziehung zwischen Psi einerseits und Religion, Spiri­tualität und dem Transpersonalen andererseits nicht spekulie­ren möchten, haben viele andere daran Interesse gezeigt. Der im Zusammenhang mit der Entwicklung des modernen expe­rimentellen Paradigmas bereits erwähnte J. B. Rhine war begeis­tert von der „Parapsychologie der Religion" - so seine Worte -, und von ihm stammt auch der Satz: „Religiöse Kommunika­tion ist im Grunde Psi-Kommunikation" (Rhine 1975). Das Scientific and Medical Network befasst sich unter der tatkräf­tigen Leitung seines Direktors David Lorimer sowohl mit Psi als auch mit dem Transpersonalen, ebenso wie das California Institute of Noetic Sciences, in dem Marilyn Schlitz die Ver­suchsreihen mit großem Geschick leitet.

Ich möchte auch die Veröffentlichung von Charles Tarts Anthologie Body, Mind, Spirit (Tart 1997) hervorheben, in der sich auch Debatten finden, in denen es um die Verbindung zwischen Parapsychologie und Spiritualität geht. Als ein wich­tiges Thema ergibt sich aus Tarts Band, dass die Parapsycholo­gie uns mit einer größeren Welt verknüpft, und zwar auf eine wirkliche, physisch anormale und wirksame Weise, die nicht möglich wäre, wenn der wissenschaftliche Materialismus wirk-

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lich die ganze Wahrheit wäre. Die Verknüpfung mit einer grö­ßeren Welt mittels Psi liefert nach meiner Ansicht den Schlüs­sel für die wissenschaftliche Basis transpersonaler Psychologie. Das Psi ist es, das dem Part des trans einen echten Kick gibt. Beim Blick in die Zukunft veranschaulicht Rhea White, die in Tarts Aufsatzsammlung über „außergewöhnliche menschliche Erfahrungen" schreibt, den integralen Ansatz, wenn er Psi und das Transpersonale unter einem Schirm versammelt:

„Die besondere Qualität vieler außergewöhnli­cher menschlicher Erfahrungen ist ihre Zeitlosig- keit... nicht nur in mystischen Augenblicken, wenn die Zeit still zu stehen scheint, sondern in nachweisbaren Augenblicken, in denen Menschen in die Zukunft (Präkognition), die Vergangenheit (Retrokognition) und möglicherweise in frühere Leben (Reinkarnation) schauen" (White 1997).

Schluss

Seit dem 19. Jahrhundert bemüht sich die englischsprachige Welt darum, eine Wissenschaft des spirituellen Bewusstseins zu schaffen. Die Transzendentalistische Bewegung in Neueng­land mit ihrem überseelischen, kosmischen Bewusstsein und Spiritualismus war ein proto-wissenschaftliches Beispiel. Das Projekt verfolgte mindestens zwei verschiedene Ziele. Das eine bestand darin, Erfahrungen herauszufiltern, die sich an unser transzendentes Potenzial wenden, sie aus ihren religiösen und ideologischen Vertäuungen herauszulösen und an ihre interes­santesten Eigenschaften zu gelangen. Ein weiteres bestand darin, diese Erfahrungen zu beglaubigen und einen Nachweis ihrer transzendenten Realität zu gewinnen. In diesem Artikel habe ich mich für einen integralen Ansatz ausgesprochen, eine Verbindung der Gegensätze, einen Bund von Theorie und Pra­xis, von Datengewinnung und experimentellem Wagemut. Für

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Forschungen über ein Weiterleben nach dem Tode empfehle ich eine sorgfältige Mischung von Schlussfolgerung und In­tuition. Wenn wir überdies das Wissenschaftsspiel spielen wol­len, dann bin ich der Ansicht, dass transpersonale Psychologie ohne Parapsychologie so etwas wie ein schönes Schloss auf unsicherem Fundament ist. Schließlich meine ich mit „inte­gral" nicht: aufgeteilt, hierarchisch oder absolutistisch; ich entscheide mich eher mit Stanley Krippner (2001) für eine postmoderne Sichtweise, die mit Grenzüberschreitungen ver­traut ist und nicht in rigidem Denken verhaftet bleibt, eine be­wegliche, sich selbst auf den Prüfstand stellende Perspektive, wie sie für die Abenteuer spiritueller Wissenschaft passend ist.

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Kinder und Erinnerungen an frühere Leben

Erlendur Haraldsson

Erlendur Haraldsson, Ph.D., ist Professor für Psychologie an der Universität von Island in Reykjavik, an der er seit 1974 lehrt. Er hat vier Bücher geschrieben sowie zahlreiche Auf­sätze in parapsychologischen Zeitschriften veröffentlicht. Er war Gastprofessor am Institut für Grenzgebiete der Psycho­logie in Freiburg und an der University of Virginia. Zu seinen Büchern gehören Deathbed Visions (mit Karlis Osis) und Sai Baba, or Miracles are my Visiting Cards. Auf Deutsch ist u.a. das Buch Der Tod - ein neuer Anfang erschienen.

In einigen Gegenden der Welt können wir auf Eltern treffen, die daran glauben, dass ihre Kinder über Ereignisse sprechen, die ihnen in einem früheren Leben zugestoßen sein müssen. Und warum? Weil sie wissen, dass die Erlebnisse, von denen die Kinder erzählen, nicht in den zwei bis vier Jahren, die sie auf der Welt sind, stattgefunden haben können. Folglich müs­sen diese Kinder aus einem früheren Leben berichten. Eine solche Erklärung scheint für die Eltern plausibel, nicht nur wegen des weit verbreiteten Glaubens an die Wiedergeburt, der in den Ländern vorherrschend ist, in denen diese Fälle auf­treten. Sondern auch wegen der Tatsache, dass zwischen zwei Drittel und drei Viertel dieser Kinder von Ereignissen erzäh­len, die zu ihrem Tod geführt haben. Am häufigsten kamen Berichte von tödlichen Unfällen (z.B. im Straßenverkehr, bei Überschwemmungen oder Bombenexplosionen), von Mordfäl­len oder vom Sterben als Kriegsopfer vor.

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Auch äußern die Kinder häufig den Wunsch, in ihr frühe­res Heim oder zu ihrer Familie zurückzukehren. In einigen Fällen geben sie den Namen des Ortes an, an dem sie früher gelebt haben. Wenn die Berichte des Kindes aus einzelnen Aus­sagen bestehen, kann deren Anzahl zwischen 5 und 50 variie­ren. In den meisten Fällen stellt sich heraus, dass sich die Dar­stellung auf Ereignisse konzentriert, die zu einem tragischen vorzeitigen Tod führen, in der Regel in jungen Jahren. Meis­tens beschreibt das Kind Vorfälle, die nur ein paar Jahre zu­rückzuliegen scheinen - ein, zwei oder drei Jahre, bevor es geboren wurde - und die offensichtlich nicht weit entfernt vom jetzigen Wohnort stattgefunden haben. In keinem der Fälle finden wir Beschreibungen von Ereignissen aus früheren Jahrhunderten oder über berühmte historische Persönlichkei­ten, und nur selten tauchen ferne Länder auf.

Durchschnittlich beginnen die Kinder mit diesen Aussagen im Alter von etwa zweieinhalb Jahren und fahren damit fort, bis sie fünf Jahre oder noch etwas älter sind. Dann scheinen diese vermeintlichen Erinnerungen so zu verblassen, dass die Kinder, befragt man sie einige Jahre später hierzu, sie anschei­nend völlig vergessen haben. In einigen wenigen Beispielen scheint das Wissen um den Kern der früheren Geschichte im Geist des Kindes weiterzuleben.

Viele derartige Fälle sind sehr sorgfältig aufgezeichnet und mit Hilfe von Zeugen recherchiert worden; das Kind, die El­tern und andere Verwandte, die die Aussagen des Kindes be­stätigten, wurden befragt, um so festzustellen, welche Angaben von dem Kind stammten und wie hartnäckig es daran fest­hielt. Ein Pionier auf diesem Gebiet ist Professor Ian Stevenson von der University of Virginia, der eine große Zahl dieser Fälle akribisch genau untersucht und viele detaillierte Berichte über einzelne Fälle publiziert hat, ebenso wie Übersichten über Vor­kommnisse in bestimmten Ländern oder unter besonderen Bedingungen (Stevenson 1987, 1997a, 1997b). Neuere Erkennt­nisse unabhängiger Untersuchungen sind von anderen ver- öffentlicht worden (Mills, Haraldsson & Keil 1994).

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Betritt der Untersucher die Szene, könnten die Eltern (oder jemand anders, der mit den Umständen vertraut ist) ein be­sonderes Interesse daran entwickeln, den Wahrheitsgehalt der Aussagen des Kindes zu überprüfen. Haben die erwähnten Vorfälle tatsächlich stattgefunden? Können die Behauptungen des Kindes verifiziert werden? In einigen Fällen stieß man auf eine Person, die vor der Geburt des Kindes gelebt hatte und deren Leben zu den Aussagen des Kindes passte. Dann wurde diese Person als die frühere Identität des Kindes erkannt, und eine Kontaktaufnahme mit der früheren Familie war möglich. In anderen Beispielen blieb der Fall im Kreis der Familie, und es wurde kein Versuch unternommen, ihn „aufzuklären". Dann wird der Untersucher sich darum bemühen, eine verstorbene Person zu ermitteln, deren Lebensumstände mit den Aussagen des Kindes übereinstimmen.

Und dann traten auch noch Fälle auf, bei denen sich trotz großer Anstrengungen niemand finden ließ, der mit den Ereig­nissen in Zusammenhang gebracht werden konnte.

In Sri Lanka hat der Autor ungefähr sechzig Fälle über ei­nem Zeitraum von zwölf Jahren untersucht (Haraldsson 1991, 2000a, 2000b; Haraldsson und Samararatne 1999). Welchen Maßstab man auch anlegt, diese Fälle haben großen Selten­heitswert, denn es ließen sich pro Jahr nur fünf Kinder in einer Population von 18 Millionen Menschen finden. In etwa einem Drittel dieser Fälle wurde eine Person ermittelt, die in gewissem Maß zu der Schilderung passte, die das Kind von seinem früheren Leben lieferte. In zwei Dritteln konnte keine Person auf Grund der Beschreibungen des Kindes als seine mögliche frühere Identität gefunden werden. Das wirft die Frage auf, welche Rolle der reine Zufall in den so genannten gelösten Fällen spielt Statistiken können hierbei nicht helfen, die tatsächlichen von den scheinbaren Identifizierungen zu unterscheiden, so wie es in den Biowissenschaften möglich ist. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns ein subjektives Ur­teil zu bilden, welchen der Fälle wir als gelöst betrachten und welchen nicht, umso mehr, als sich bei jedem Fall Aussagen

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finden lassen, die nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Lassen Sie uns drei sehr unterschiedliche Fälle jüngeren Da­tums betrachten, die der Autor in Sri Lanka untersucht hat. Dabei hat er Interviews mit zahlreichen Zeugen geführt und manche von ihnen mehrmals befragt.

Der Fall Purnima Ekanayake

Ihren Eltern zufolge war Purnima drei Jahre alt, als sie 1990 anfing, von einem früheren Leben zu sprechen (ein vollständi­ger Bericht ist bei Haraldsson 2000a nachzulesen). Drei Jahre später fing man an, ihre Schilderungen ernst zu nehmen, und es wurde der Versuch unternommen, den Wahrheitsgehalt ih­rer Erzählungen zu überprüfen.

In Tabelle 1 habe ich alle zwanzig Angaben aufgeführt, die Purnima machte, bevor ihre frühere Familie ausfindig gemacht wurde. Diese Liste basiert auf verschiedenen Interviews mit Purnima und ihren Eltern. Ich werde einige ihrer Aussagen kommentieren.

Ich starb bei einem Verkehrsunfall. Die erste ungewöhnliche Äußerung, die Purnima häufig wiederholte, als sie ein kleines Kind war, lautete: „Menschen, die andere auf der Straße über­fahren, sind schlechte Menschen." Manchmal fragte sie ihre Mutter: „Meinst du nicht auch, dass Leute, die einen Unfall verursachen, schlecht sind?" Auch sprach sie von einem töd­lichen Unfall mit einem großen Fahrzeug. Ihre Mutter glaubte, dass ein Unfall in der Nachbarschaft geschehen sei, als die Äußerungen erstmals auftauchten (oder als sie ihnen zum ers­ten Mal Aufmerksamkeit schenkte). Sie war bestürzt über den Unfall, aber Purnima versuchte, sie zu beruhigen: „Denk nicht an diesen Unfall. Ich bin nach einem solchen Unfall zu euch gekommen." Sie erzählte ihrer Mutter, wie sie anschließend die Augen geschlossen habe und dann „hierher" gekommen sei. Sie sagte, sie habe nach dem Unfall einige Tage im Halbdun­

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kel (in der Atmosphäre) geschwebt. Sie habe Menschen gese­hen, die um sie trauerten und weinten, und sie habe ihren Körper vor und während des Begräbnisses gesehen. Es habe viele Menschen gegeben, die so wie sie durch den Raum ge­schwebt seien. Dann habe sie Licht gesehen, sei darauf zuge­gangen und „hierher" (nach Bakamuna, wo sie geboren wurde) gekommen.

1. Ich starb durch einen Verkehrsunfall und kam hierher.

2. Meine Familie stellte Räucherstäbchen her und hatte keine andere Beschäftigung.

3. Wir stellten Ambiga-Räucherstäbchen her.

4. Wir stellten Geta-Pichcha-Räucherstäbchen her.

5. Die Räucherstäbchenfabrik lag in der Nähe einer Ziegelbrennerei und eines Teiches.

6. Zunächst arbeitete nur unsere Familie, und dann wurden zwei weitere Leute eingestellt.

7. Wir hatten zwei Lieferwagen.

8. Wir hatten ein Auto.

9. Ich war der beste Hersteller von Räucherstäbchen.

10. In meinem früheren Leben war ich mit meiner Schwägerin Kusumi verheiratet.

11. Der Besitzer der Räucherstäbchenfabrik (ich) hatte zwei Ehefrauen.

12. Mein früherer Vater war schlecht (Mein jetziger ist gut.)

13. Mein früherer Vater war nicht Lehrer, so wie der jetzige.

14. Ich hatte zwei jüngere Brüder (die besser als die jetzigen waren).

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15. Der Name meiner Mutter war Simona. +

16. Simona war sehr hübsch. -

17. Ich besuchte die Rahula-Schule. +

18. Die Rahula-Schule besaß ein zweistöckiges Gebäude (anders als in Bakamuna). -

19. Mein Vater sagte: Du musst nicht zur Schule gehen, du kannst Räucherstäbchen herstellen.

20. Ich habe nur bis zur fünften Klasse die Schule besucht. +

+ richtige Aussagen (14) - falsche Aussagen (3)? nicht zu entscheiden (3)

Tabelle 1: Aussagen, die von Purnima laut ihren Eltern gemacht wurden, bevor sie erstmals Kontakt zu ihrer angeblichen frühe­ren Familie hatte, und wie sie zum Leben von Jinadasa Perera passen.

Meine Familie stellte Ambiga- und Geta-Pichcha-Räucherstäb- chen her und ging keiner weiteren Beschäftigung nach. Manch­mal erzählte Purnima von der Fabrikation von Räucherstäbchen und dass sie die Sorten Ambiga und Geta Pichcha hergestellt habe. Ihre Eltern gingen davon aus, dass sie von Ambiga sprach, weil eine Juwelierfirma dieses Namens im Fernsehen warb. Ihre Mutter vermutete, dass sie diese Dinge durcheinan­der brachte. Außerdem hielten sie es für möglich, dass sie von Geta Pichcha als einer Blume (ähnlich einem Jasmin) sprechen könnte, da sie diese Blumen in ihrem Garten hatten. Purnima hatte ebenfalls behauptet, dass Mitglieder ihrer Familie wie auch einige Außenstehende bei der Herstellung von Räucher­stäbchen mitgewirkt hätten. Sie wanderte häufig umher, hielt dabei die Hände hinter dem Rücken und imitierte, wie sie die anderen bei ihrer Arbeit beaufsichtigt hatte. Wir überprüften

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die Läden in Bakamuna und entdeckten nur zwei Sorten Räu­cherstäbchen, eine aus Kandy und eine aus Indien, kein Am­biga und kein Geta Pichcha.

ln meinem früheren Leben war ich mit einer Schwägerin na­mens Kusumi verheiratet. Ihre Eltern schlossen daraus, dass sie in ihrem vorherigen Leben ein Mann gewesen sei.

Weitere Aussagen werden später vorgestellt und erörtert.

Mit vier Jahren sah Purnima im Fernsehen eine Sendung über den Kelaniya-Tempel, der 145 Meilen entfernt von ihrer Hei­matstadt steht, und behauptete, diesen Tempel wiederzuerken­nen. Wenig später fuhr ihr Vater, Direktor einer weiterführen­den Schule, mit einer Schülergruppe zu diesem Tempel, einer Pilgerstätte für die Buddhisten Sri Lankas. Purnima durfte sich dieser Gruppe anschließen. In Kelaniya angekommen, gab sie an, auf der anderen Seite des Flusses gelebt zu haben, der am Rand des Tempelgrundstücks fließt.

Im Januar 1993 wurde W G. Sumanasiri als Lehrer nach Bakamuna berufen und lernte dort den Direktor näher ken­nen. Sumanasiri verbrachte seine Wochenenden in Kelaniya, wo er geheiratet hatte. Sie beschlossen, dass Sumanasiri Er­kundigungen einziehen sollte. Der Direktor beauftragte ihn, folgende Punkte zu überprüfen:

- Sie lebte auf der Seite des Flusses gegenüber dem Kelaniya- Tempel.

- Sie hat Ambiga- und Geta-Pichcha-Räucherstäbchen herge­stellt.

- Sie verkaufte diese Räucherstäbchen vom Fahrrad aus.

- Sie hatte einen tödlichen Unfall mit einem großen Fahrzeug.

Begleitet von zwei dort ansässigen Freunden sah sich Sumana­siri unter den Räucherstäbchenherstellern auf der anderen Sei­te des Flusses um. Dieses Gebiet ähnelt einer weitläufigen Stadt

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mit Feldern und Siedlungen eher dörflichen Charakters. Sie erfuhren von drei Räucherstäbchenherstellern, sämtlich kleine Familienunternehmen. Einer von ihnen nannte seine Produkte Ambiga und Geta Pichcha. Der Eigentümer war L. A. Wijisiri. Sein Schwager und Teilhaber Jinadasa Perera war bei einem Unfall mit einem Bus im September 1985 ums Leben gekom­men, als er die Räucherstäbchen mit seinem Fahrrad zum Markt brachte. Das war etwa zwei Jahre vor Purnimas Geburt. Das Haus und die Fabrik von Wijisiri und Jinadasa waren 3,8 Kilometer von der Fähre und fünf bis zehn Minuten zu Fuß vom Kelaniya entfernt. Sumanasiri informierte Purnimas Vater über seine Entdeckungen. Ein oder zwei Wochen später statte­ten Pumima, ihre Eltern und Sumanasiri Wijisiris Familie einen Besuch ab.

Als sie eintrafen, war Wijisiri nicht anwesend. Seine beiden Töchter waren zu Hause und die Ersten, denen Purnima be- gegnete. Als Wijisiri auf das Haus zuging, sagte Purnima zu den Umstehenden: „Das ist Wijisiri, der da kommt, das ist mein Schwager." Er hörte sie das genau in dem Moment sagen, als er das Haus betrat. Als Purnima erzählte, dass sie gekom­men sei, um ihren Schwager und ihre Schwester zu treffen, war er verwirrt und begriff nicht, dass sie von einem früheren Leben sprach. Er wollte sie wegschicken, weil er annahm, dass diejenigen, nach denen sie fragte, nicht anwesend seien. Erst als er darüber nachdachte und das kleine Mädchen sich nach verschiedenen Sorten von Schachteln und Ähnlichem erkun­digte, war er geneigt, ihr Glauben zu schenken. Sie war die Einzige, die sprach; niemand sonst sagte irgendetwas. So er­innerte Wijisiri sich an ihren Besuch. Diese Darstellung wurde von Purnimas Vater bestätigt.

Purnima teilte Wijisiri mit, dass sie diese Räucherstäbchen verkauft habe. Sie fragte: „Hast du das Äußere der Schachteln verändert?" Wijisiri wandelte Farbe und Design etwa alle zwei Jahre ab. Sie schien zu bemerken, dass die Schachteln sich von denen unterschieden, die Wijisiri in der Zeit mit Jinasada ver­kauft hatte. Dann erzählte sie von unterschiedlichen Verpa­

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ckungen und von einem Unfall, den Wijisiri vor vielen Jahren gehabt habe, und davon, dass Jinasada (also sie) nach diesem Unfall Salbe auf Wijisiris Knie aufgetragen habe. Sie erkun­digte sich nach Jinasadas Freunden wie Somasiri und Padma- siri. Padmasiri ist Wijisiris Bruder und war mit ihm an dem Tag zur Arbeit aufgebrochen, an dem Jinasada verunglückte. Sie hatten das Haus zusammen verlassen, sich dann getrennt und verschiedene Orte aufgesucht Sie erwähnte deren Namen. Diese Angaben überzeugten Wijisiri.

Purnima fragte auch nach ihrer Mutter und ihrer (Jinada- sas) früherer Schwester, Wijisiris Frau. Die Schwester arbeitete in Saudi-Arabien, und ihre Mutter war abwesend. Sie hielt sich in ihrem Elternhaus auf. Purnima zeigte sich beunruhigt, als sie erfuhr, dass ihre Mutter allein diesen entfernten Ort aufgesucht hatte. Wijisiris Familie war immer noch fassungs­los.

Purnima war mit auffallenden Muttermalen auf ihrer un­teren linken Brust zur Welt gekommen. Jemand in Wijisiris Familie erwähnte, dass Jinadasa auf der linken Seite seines Rumpfes verletzt worden sei. Daraufhin zeigte Purnima ihre Muttermale und sagte: „Das ist die Narbe, die mir durch einen Bus zugefügt worden ist." Dieser zusätzliche Umstand über­zeugte beide Familien davon, dass Purnima die Wiedergeburt Jinadasas war.

Jinadasa hatte tatsächlich zwei Ehefrauen. Nach mehreren Jahren des Zusammenlebens kam es zu Auseinandersetzun­gen mit seiner ersten Frau (Wijisiris Schwester). Im südlichen Sri Lanka lernte er eine Frau namens Nanda kennen und ver­ließ seine damalige Familie. Fünf Jahre lebte er dort und stellte mit einem Freund, M. Somasiri, Räucherstäbchen her. Während eines Besuchs in Colombo erfuhr Jinadasa von Wijisiris Un­fall, der diesen für mehrere Monate ans Bett fesselte. Er kehrte daraufhin zu seinem früheren Zuhause zurück, um seine Hilfe anzubieten. Einige Tage später ereilte ihn der Unfall.

Sagte Purnima irgendetwas, das nicht stimmte und nicht zu Jinadasas Leben passte? Sie hatte erzählt, dass ihr (Jinadasa)

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zwei Lieferwagen und ein PKW gehört hätten. Da es sich um ein Familienunternehmen handelte, stimmte es in gewisser Weise, aber genau genommen waren die Fahrzeuge in Wijisiris Besitz. Das ist die Quintessenz aus Wijisiris Bericht von der ersten Begegnung mit Purnima.

Uns war gesagt worden, dass Purnima einen alten Mitarbei­ter namens Somasiri erkannt habe. Er erzählte, dass er gekom­men sei, um sie bei ihrem ersten Besuch zu sehen. Er stand gerade inmitten einer Gruppe von Leuten. Da zeigte sie auf ihn und sagte: „Das ist mein Freund." Als Purnimas Vater nach ihm fragte, sagte sie: „Das ist Somasiri, mein Freund." Offen­sichtlich hatte sie auch Jinasadas jüngere Schwester G. Violet erkannt. Sie und Somasiri berichteten uns, dass sie auf sie ge­wiesen habe: „Das ist meine jüngere Schwester." Dieses waren die einzigen Namen, die Somasiri und Violet sie während ihres ersten Besuchs sagen hörten.

Weitere Bestätigungen von Purnimas Aussagen

Von den 20 Aussagen, die in Tabelle 1 angeführt werden, stim­men 14 mit Jinadasas Leben überein (1-5, 7, 8, 10, 11, 13-15, 17 und 20), drei sind nicht zu entscheiden (6, 9, 12), und drei Aussagen sind falsch (16,18,19). Beschäftigen wir uns zunächst mit den nicht korrekten Behauptungen. Wir haben unabhängig von seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester erfahren, dass Jinadasa die Rahula-Schule besucht hatte. Jedoch ergaben unsere Erkundigungen, dass diese Schule bis in die achtziger Jahre nicht über ein zweistöckiges Gebäude verfügte. Den An­gaben seiner Familie zufolge besuchte Jinadasa die Schule nur bis zur fünften Klasse. Dann verrichtete er Gelegenheitsarbei­ten, bis seine Schwester Wijisiri heiratete. Daraufhin verlegte er sich auf die Herstellung von Räucherstäbchen, und zwei Jahre später heiratete er Wijisiris Schwester. Demzufolge kann die Aussage nicht stimmen, dass Jinadasas Vater ihm aufgetra­gen habe, die Schule zu verlassen, um Geld mit der Herstel-

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lung von Räucherstäbchen zu verdienen. Die Feststellung, Jina­dasas Mutter sei sehr schön gewesen, stimmt nicht, und es ist unwahrscheinlich, dass es früher so gewesen ist.

Einige der zutreffenden Aussagen sind bereits erläutert worden. Betrachten wir Aussage 5: Im Umkreis von etwa 200 Metern von Jinadasas altem Wohnsitz befindet sich ein Teich. Die alte Fabrik, die etwa 100 bis 150 Meter entfernt an der Straße lag, war aufgegeben worden und verfallen. Ein Nachbar erzählte uns, dass es dort einen Brennofen gegeben habe (eine Einrichtung zur Herstellung von Ziegelsteinen) und dass es noch einen weiteren Brennofen ganz in der Nähe gebe. Punkt 13: Jinadasas Vater war ein armer Bauer (also nicht Lehrer). Punkt 14: Jinadasa hatte wirklich zwei jüngere Brüder (und zwei Schwestern).

Wir hatten keine Möglichkeit, die vagen Aussagen 9 und 12 (bester Räucherstäbchenhersteller, sein Väter sei ein schlech­ter Mann gewesen) zu überprüfen. Punkt 6: Zunächst arbeitete nur unsere Familie, dann wurden zwei Leute eingestellt. Es handelte sich ursprünglich um ein Familienunternehmen, aber schon bald wurden Leute beschäftigt, die in der Fabrik oder zu Hause arbeiteten. Wir konnten nicht genau feststellen, wann damit begonnen wurde, Leute einzustellen, aber nach und nach beschäftigten sie dreißig Leute, die Jinadasa als fleißigen und freundlichen Mann schätzten.

Am genauesten waren die Aussagen 3 und 4, in denen er­wähnt wurde, dass die Familie die Marken Ambiga und Geta Pichcha herstellte. Wijisiris Angaben zufolge entspricht das der Wahrheit, und uns wurden Packungen beider Erzeugnisse ge­zeigt. Seit Jinadasas Zeit hatte die Familie damit begonnen, zwei weitere Sorten herzustellen. Wir erkundigten uns in ver­schiedenen Geschäften in Sri Lanka nach Ambiga und Geta Pichcha. Wir fanden nur die Erzeugnisse von Wijisiri, die aber nur in wenigen Läden geführt wurden.

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Pumimas Kennmisse über die Räucherstäbchenherstellung

Wir kamen auf die Idee, Purnima zu fragen, was sie über die Herstellung von Räucherstäbchen wisse. Sie gab uns detail­lierte Antworten. Es gibt zwei Fabrikationsarten: zum einen mit Kuhdung, zum anderen aus der Asche von Brennholz (Holzkohle). Man fertigt daraus eine Paste. Dann wird ein dünner Stab aus Bambus geschnitten und auf diesen eine Art Klebstoff aufgetragen. Anschließend wird der Stab über die Paste gerollt und mit einer Substanz versehen, um ein ange­nehmes Aroma zu erhalten. Soweit sie sich erinnern könne, hätten sie ihre Räucherstäbchen aus Holzkohlenstaub herge­stellt.

Woraus wird Holzkohle erzeugt und auf welche Weise? „Wenn Holz verbrannt wird, erhält man Holzkohle." Wir frag­ten Purnimas Eltern, ob sie etwas über Räucherstäbchen wüss­ten. Ihr Väter hatte davon gehört, dass man sie aus Kuhdung herstellen könne, und erfuhr nun zum ersten Mal, dass dies auch mit Holzkohle funktioniert. Ihre Mutter wusste noch weniger darüber. Mein Dolmetscher hatte überhaupt nichts darüber gehört. Später baten wir Wijisiri, uns zu zeigen, wie sie ihre Räucherstäbchen herstellten. Er verfuhr genau so, wie Purnima es beschrieben hatte.

Jinadasas tödliche Verletzungen

Bei dem Unfall war Jinadasa sofort tot. Sein Bruder Chandra- dasa wurde in die Leichenhalle gerufen, um ihn zu identifizie­ren. Er sah massive Verletzungen, die von den unteren linken Rippen schräg nach oben über den Körper reichten und von den Rädern des Busses, der Jinadasa überrollt hatte, herrühr­ten. Es gelang uns, den Autopsiebericht einzusehen. Er enthielt eine detaillierte Beschreibung und eine Skizze der Verletzun­

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gen. Sie waren massig insbesondere auf der linken Brustseite, wo mehrere Rippen gebrochen waren. Der Autopsiebericht be­schreibt die inneren Verletzungen wie folgt:

Frakturen der Rippen 1 und 2, 8,9 und 10, links lateral.1 bis 5 anterior, 6 anterior und lateral und 7 lateral.8 und 9 anterior und posterior. 10 und 11 anterior.Die Leber war rupturiert.Die Milz war rupturiert.Die Lungen waren von gebrochenen Rippen durchdrungen. Äußerlich war eine Abrasio (Abschürfung), die schräg von der rechten Schulter über den Brustkorb zum (linken) unteren Ab­domen verlief, vorhanden. Es gab geringere Verletzungen der Beine und des Gesichts.

Stärken und Schwachpunkte im Fall Purnima

Lassen Sie mich die überzeugenden Seiten dieses Falles zu­sammenfassen. Die Wohnorte der beiden Familien lagen weit voneinander entfernt, und die Familien waren einander völlig fremd. Die Person, auf die Purnimas Angaben zutrafen, wurde über Dritte gefunden. 14 der 17 Angaben, die sich überprüfen ließen, konnten als zutreffend für das Leben Jinadasas bestä­tigt werden, der zwei Jahre vor Purnimas Geburt gestorben war. Purnimas auffällige Muttermale befinden sich in dersel­ben Körperregion wie die tödlichen Verletzungen, die Jinadasa erlitten hatte. Die Muttermale sind auf der linken Seite des Brustkorbs, also dort, wo die meisten der Rippen gebrochen waren und wo Jinadasa vermutlich die stärksten Schmerzen gehabt haben muss. Ebenso steckt einige Beweiskraft in den Kenntnissen über die Räucherstäbchenherstellung, die für ein Kind äußerst ungewöhnlich sind und die Purnima mit ihrem früheren Leben erklärt. Dies ist ein gutes Beispiel eines Falles mit unterschiedlichen Merkmalen, die sich zu einem Muster zusammenfügen und als Ganzes gesehen werden müssen: Er­

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innerungen, Muttermale und vielleicht auch technische Kennt­nisse. Insgesamt lässt sich sagen, dass der Fall von Purnima Ekanayake unter den Fällen von Kindern, die von Erinnerun­gen an ein früheres Leben erzählen, von ungewöhnlicher Qua­lität ist.

Die grundsätzliche Schwäche dieses Falles liegt in dem Umstand, dass keine Aufzeichnungen von Purnimas Aussagen gemacht wurden, bevor der Fall gelöst wurde. Dies geschah drei Jahre, bevor der Autor seine Untersuchungen aufnahm. Eine zweite Schwäche betrifft das Hineinspielen des Zufalls. Kann es reiner Zufall sein, einen Räucherstäbchenhersteller auf der anderen Seite des Kelaniya-Flusses in der Nähe des Kelaniya-Tempels ausfindig zu machen, der Ambiga- und Geta-Pichcha-Räucherstäbchen herstellt, der vor Purnimas Ge­burt bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt und dessen Hauptverletzungen sich auf der linken Seite des Brustkorbs befinden?

Es gibt nicht viele Räucherstäbchenhersteller in Sri Lanka. Wir stellten unsere eigenen Nachforschungen jenseits des Ke­laniya-Flusses an und konnten Sumanasiris Untersuchungen korrigieren: Von den drei Herstellern, von denen er gehört hatte, stellte tatsächlich nur einer Räucherstäbchen her, näm­lich Jinadasa. Der zweite stellte sich als Großhändler für Räu­cherstäbchen heraus, und der dritte war gerade zu der Zeit nach Alkoholmissbrauch gestorben. Die Wahrscheinlichkeit, in dieser Gegend rein zufällig eine Person zu finden, die zu Purnimas Aussagen passte, schien also ausgesprochen gering. Das Problem ist, dass wir diesen Sachverhalt nur subjektiv beurteilen können, denn es gibt keine Statistiken, die man heranziehen könnte, um einzuschätzen, wie unwahrscheinlich so etwas ist.

Purnimas Fall weist einige Besonderheiten auf, die unge­wöhnlich für solche Fälle in Sri Lanka sind. Sie spricht von Erinnerungen an ein Leben zwischen Tod und Geburt, wie der Autor sie nur einmal in einem Fall in Sri Lanka gefunden hat. Auch haben sich Purnimas Erinnerungen sehr viel länger als

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üblicherweise gehalten, denn sie sprach bis zum zehnten Le­bensjahr ohne äußeren Anstoß über ihr früheres Leben. In Purnimas Fall gibt es aber auch viele typische Merkmale. Sie begann in einem sehr frühen Alter, von ihren Erinnerungen zu erzählen, und hielt hartnäckig daran fest. Sie sprach von einem Leben, das ihrem zeitlich sehr nahe war, sich im selben Land abspielte und mit einem gewaltsamen Tod schon mit 36 Jahren endete. Manche Aspekte ihrer Erinnerungen spiegel­ten sich auch beim Spielen wider.

Schließlich zeigte Purnima sehr deutlich einige Eigenschaf­ten, durch die sich meinen Studien zufolge Kinder, die von Er­innerungen eines früheren Lebens sprechen, von anderen Kin­dern unterscheiden: Sie ist hoch begabt, verfügt über einen exzellenten Wortschatz und ein ausgezeichnetes Gedächtnis, ist die beste Schülerin ihrer Klasse, zeigt Abstraktionsfähigkeit und ist nicht so leicht beeinflussbar wie die meisten Kinder. Sie stellt hohe Ansprüche an ihre Eltern, ist kritisch und hat einen unabhängigen Geist. Sie strebt nach Perfektion, küm­mert sich um Ordnung und Sauberkeit, ist gelegentlich hitz­köpfig und überheblich; kurz gesagt: eine lebendige und be­merkenswerte Persönlichkeit.

Es ist nicht leicht, eine zufrieden stellende natürliche Erklä­rung für den Fall Purnima zu finden. Er ist einer der beeindru­ckendsten der so genannten gelösten Fälle, denn er weist Merkmale auf, die nur selten zu finden sind. Ich habe zuvor behauptet, dass etwa zwei Drittel aller Fälle in Sri Lanka unge­löst bleiben. Lassen Sie mich kurz einen solchen beschreiben.

Der Fall Chamalsa Ratnaweera

Chamalsa hatte gerade ihren fünften Geburtstag gefeiert, als wir sie 1995 das erste Mal in einer der Vorstädte Colombos trafen. Ihre Mutter sagte uns, dass sie noch nicht ganz zwei Jahre alt gewesen sei, als sie von einem früheren Leben zu sprechen begonnen habe. Sie erzählte wiederholt davon, dass

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sie von der Polizei mit einem dreirädrigen Gefährt (Auto- Rikscha) aufgegriffen und damit zu einem LKW gebracht wurde. Anschließend habe es ein „lautes Geräusch" gegeben (Schießerei; sie starb). Dann fügte sie hinzu: „Ich bin noch am Leben." Chamalsa traten Tränen in die Augen, als sie die Ge­schehnisse beschrieb. Sie schilderte sie so anschaulich, wie man es von einem Kind kaum erwarten würde. Chamalsa hat Angst vor dreirädrigen Fahrzeugen: Sobald sie eines hört, hockt sie sich auf den Fußboden, als würde sie Schutz suchen. Auch fürchtet sie sich vor schwarzer Kleidung und Polizeiuni­formen. Eines Tages trug ihr Großvater ein schwarzes Hemd. Als sie es sah, bekam sie Angst und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

Chamalsa sprach auch häufig von ihrem Freund Mithra- chandra; sie legte sogar die Hände auf die Brust, um ihre star­ken Gefühle für ihn zu demonstrieren. Manchmal setzte sie sich in eine Ecke und tat so, als telefoniere sie mit Mithra- chandra. War sie ungezogen, sagte ihre Mutter mitunter: Ich werde es Mithrachandra erzählen. Sofort war sie wieder artig.

Der Fall Chamalsa blieb ungelöst. Keine ihrer etwa 15 Aus­sagen war spezifisch genug, um sie auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Es ist allerdings interessant, dass in den zwei Jahren vor Chamalsas Geburt (1988-1990) in Sri Lanka Bürgerkrieg herrschte, bei dem häufig bis zu 30 Menschen (Politiker, Zivilisten, Militärangehörige und Polizisten in ihren Häusern) in einer Nacht getötet wurden. Schließlich, während eines Ausnahmezustands, kamen Hunderte von jungen Men­schen ums Leben, die den Kern der linksextremen terroristi­schen Bewegung JVP (Janatha Vimukthi Peramuna, was so viel wie „Bürgerbefreiungsfront" bedeutet) bildeten oder ihr zu­mindest zugerechnet winden. Sie waren von Polizei und Sicher­heitskräften zusammengetrieben und ohne Prozess getötet wor­den. Dieser traurige Abschnitt in der modernen Geschichte Sri Lankas wird in der Öffentlichkeit kaum behandelt, er ist vielmehr eine Art Tabu. Kann Chamalsa von den Ereignissen gewusst haben?

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In Chamalsas Fall gibt es sehr viele Besonderheiten im Ver­halten. Warum entwickelte sie die Phobien gegen dreirädrige Fahrzeuge, schwarze Kleidung und Polizeiuniformen? Phobien treten bei Kindern, die von einem früheren Leben erzählen, häufig auf, und sie werden oft mit den Beschreibungen der Umstände, die zu ihrem Tod geführt haben, in Verbindung ge­bracht.

Der Fall Ushan Gunasekera

Ushan ist vier Jahre alt, als wir ihn zum ersten Mal treffen. Er ist der Sohn wohlhabender Eltern, die nahe Colombo leben. Als er etwa zweieinhalb Jahre alt war, begann er von einem Leben in der Altstadt von Galle (der größten Stadt im Süden Sri Lankas) zu sprechen, wo er in der Ruhunu-Zementfabrik gearbeitet habe, die an der Hauptausfallstraße der Stadt steht. Eines Nachts habe eine große Party stattgefunden, er habe Whisky und Wein für ein anwesendes Mädchen gekauft und viel getrunken. Ein Autofahrer, der die beiden mitgenommen habe, sei in einen Zug gerast (eine Eisenbahnlinie verlief zwi­schen der Fabrik und der Hauptstraße). Ushan nannte seinen früheren Namen, die Namen seiner Eltern und den seines Bruders, der in der Armee Dienst tat. Er sprach von seiner Schwester, die am Gerichtshof innerhalb des alten Festungs­bezirks der Stadt gearbeitet habe, und er sprach von seinen Be­kanntschaften mit vielen hübschen Mädchen. Er schilderte das Leben eines jungen Mannes.

Einige seiner Aussagen waren spezifisch genug, um sie ei­ner Überprüfung zu unterziehen. Ushans Väter versuchte dies auch, war aber nicht erfolgreich bei der Identifizierung der Personen, die Ushan erwähnte, aber er erkundigte sich nicht in der Ruhunu-Zementfabrik. Wir trafen uns mit Herrn Pallia- gara, dem Personalchef des Werks. Er erklärte uns, dass in den vergangenen zehn Jahren einige Mitarbeiter verstorben seien, dass aber Ushans Beschreibung auf niemanden passe. Er ver­sprach uns, alle Angestellten ausfindig zu machen, die seit

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Gründung der Fabrik gestorben waren. Geht man von einem Unfalltod aus, kommt man zu folgendem Ergebnis: Ein Sicher­heitsbediensteter, verheiratet und Vater von drei Kindern, kam ums Leben, als er in der Nähe des Fabriktores auf seinem Fahrrad mit einem Bus zusammenstieß. Niemand war durch einen Unfall innerhalb des Fabrikgeländes getötet worden. Ein junger, allein stehender Angestellter, Vidana Patharana, hatte die Fabrik vor zehn Jahren verlassen, um in Saudi-Arabien zu arbeiten. Dort war er bei einem Verkehrsunfall ums Leben ge­kommen. Als er in der Fabrik arbeitete, hatte er nicht weit von dort bei einer Verwandten gelebt. Sie erzählte uns, dass er mit ein paar Freunden in einem Jeep in Saudi-Arabien unterwegs gewesen sei, als der Unfall geschah. Die Namen, die Ushan ge­nannt hatte, gab es in dieser Familie nicht, und es hatte auch niemand in dem erwähnten Festungsbezirk gelebt oder gear­beitet. Hier muss erwähnt werden, dass Ushans Vater mit Frau und Sohn bei einer Reise in den Süden Sri Lankas an Galle und der großen, von weitem sichtbaren Ruhunu-Zementfabrik vorbeigekommen war, bevor Ushan anfing, aus seinem frühe­ren Leben zu erzählen.

Welche Schlüsse ziehen wir aus den Berichten?

Wenn ein Kind damit beginnt, in einem Land mit weit verbrei­tetem Glauben an Reinkarnation über Ereignisse aus seinem früheren Leben zu sprechen, dann besagt die herkömmliche Interpretation, dass es sich an ein vergangenes Leben erinnert. Offensichtlich gibt es aber auch andere Erklärungen, sowohl die eines übernatürlichen Überlebens als auch natürliche. Die Erstere schließt das Besitzergreifen oder das Überschatten des Kindes durch einen verstorbenen Geist ein, der die Ereignisse, die das Kind beschreibt, erlebt hat. Inbesitznahme erscheint weit hergeholt, da das Kind seine derzeitige Identität beibe­hält, obwohl solche Kinder gelegentlich von sich selbst in der dritten Person sprechen (nämlich wie die frühere Person).

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Es bestehen verschiedene mögliche natürliche Erklärungen, wie die anthropologische, die psychologische oder die Erklä­rung durch den Zufall. Zunächst die anthropologische: Zu der Zeit, in der die Kinder sprechen lernen, machen sie unklare Aussagen, die nur schwer zu verstehen sind. In der verbalen Interaktion zwischen dem Kind und den Eltern entsteht die Darstellung eines früheren Lebens. Gegen diese Interpretation spricht in vielen Fällen die Tatsache, dass einige der Aussagen des Kindes von den Eltern zurückgewiesen werden, zum Bei­spiel dass die derzeitige Mutter nicht die wirkliche Mutter sei oder dass das Kind in sein altes Zuhause zurückkehren wolle. Wenn diese Äußerungen sehr hartnäckig wiederholt werden, belasten sie die gesamte Familie.

Es kann psychologische Gründe geben, die ein Kind ver­anlassen, Berichte aus einem früheren Leben zur Sprache zu bringen, wenn ein Kind mit reicher Fantasie in starker Iso­lation oder unter sehr schwierigen Umständen aufwächst. Es sucht Zuflucht in den Fantasiegebilden eines schöneren Le­bens. Diese Möglichkeit wird durch psychologische Studien un­terstützt, in denen sich bei diesen Kindern starke Tendenzen zur psychischen Dissoziation und zu Tagträumen zeigen (Ha­raldsson 1997; Haraldsson, Fowler und Periyannanpillai 2000). Außerdem sprechen die Kinder häufig von einem Leben mit mehr Komfort und mit einem höheren sozialen Status im Vergleich zu ihrem jetzigen Leben. Dieser Auslegung wider­spricht, dass die große Mehrheit der Kinder von einem gewalt­samen Tod berichtet und dass Phobien ein gemeinsames Merk­mal dieser Fälle sind, in Verbindung mit den Symptomen post­traumatischer Störungen. Nur wenige dieser Vorstellungen oder Fantasien erscheinen angenehm oder erfreulich. Aber diese Theorie könnte durchaus einige der Fälle erklären.

Wie verhält es sich mit den außergewöhnlichen Fällen, wie bei Purnima, insbesondere in Bezug auf die Muttermale? Die­se ausgeprägten Muttermale, die mit Jinadasas Verletzungen übereinstimmen, haben sich in der Embryonalphase gebildet, also bevor Umwelteinflüsse und psychologische Faktoren ins

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Spiel kamen. Daher reicht eine psychologische Erklärung nicht aus. Eine mögliche dritte Interpretation wäre die Annahme des Zufalls, wie zuvor kurz erwähnt. Ich überlasse dem Leser die Entscheidung. Meiner Meinung nach ist diese Interpretation natürlich möglich, aber kaum überzeugend, wenn man die verhältnismäßig starken Übereinstimmungen betrachtet, die in diesem Fall gegeben sind, nämlich im Hinblick auf die Vor­stellungen/Erinnerungen, die Muttermale und die Ereignisse in Jinadasas Leben.

Das Hauptanliegen dieses Kapitels war es, anhand einer kurzen Darstellung einiger Fälle einen Eindruck von Untersu­chungen aus diesem Bereich zu vermitteln. Es übersteigt den Rahmen dieses Beitrags, eine detaillierte Analyse der verschie­denen möglichen Interpretationen vorzunehmen, aber diese Fälle haben die Leser hoffentlich dazu angeregt, sich zu über­legen, welche der möglichen Erklärungen sie plausibel finden.

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Literatur

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Die Existenz anderer Welten und ihre Bedeutung für Psychotherapie und Heilung

Roger J. Woolger

Roger J. Woolger, Ph.D., ist Vertreter der jungschen analyti­schen Psychologie, Reinkarnationstherapeut und Begründer der Integralen Regressionstherapie. Der in Großbritannien geborene Psychologe ist als Pionier auf dem Gebiet der transpersonalen Psychologie international bekannt. Er hat in Oxford und London sowie am C. G. lung Institut in Zürich studiert. Er lebt in einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Maryland und lehrt in Nord- und Südamerika ebenso wie in Europa. Sein Buch über Reinkarnationstherapie, Other Lives, Other Selves, wurde in viele Sprachen übersetzt, auf Deutsch ist es unter dem Titel Die vielen Leben der Seele: Wiedererinnerungen in der therapeutischen Arbeit erschie­nen.

Seinem ersten Antrieb nach ist philosophisches Denken einfach Metaphysik, denn es ist ein Darüberhinaus- gehen... Wie man sagt, beginnt es mit dem Staunen. Eine anfängliche Verwunderung kennzeichnet die Eröffnung einer neuen Dimension der Transzendenz.

Pierre Thevenaz, What is Phenomenology? (S. 162f.)

Die sichtbare Welt wurde geschaffen, um der unsichtbaren Welt zu entsprechen, und es gibt nichts in dieser Welt, das nicht ein Symbol für etwas in jener anderen Welt ist Al-Ghazzali

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Mein Hauptanliegen besteht darin, Gründe für das Vorhan­densein paralleler Welten spiritueller und visionärer Natur anzuführen, die mit dieser Welt interagieren und sie völlig durchdringen. Indem ich eine multidimensionale Sicht auf die Wirklichkeit einnehme, verwerfe ich ausdrücklich die ein­dimensionale materialistische Vorstellung der Realität, wie sie von der herrschenden Wissenschaft vertreten wird. Diese be­trachtet mentale Ereignisse als energetische Produkte von Ge- hirnschaltungen und biochemischen Prozessen. All diese wis- senschaftlichen, energetischen, materialistischen Anschauungen des Geistes sind im Grunde reduktionistisch und dadurch in ihrer Sicht eingeschränkt, dass sie, ohne es zu merken, ihre eigenen Metaphern allzu wörtlich nehmen. So ist es im Geiste dieser Konferenz mein Ziel, über das Gehirn und den Materia­lismus hinauszugehen und der spirituellen Sichtweise in ihrer Überstimmung mit den großen religiösen Traditionen wieder zur Geltung zu verhelfen.

Bewusstsein als Energiefeld oder Atomteilchen

Wenn du dich an dem Wort „Geist“ störst,stell dir Geist als die feinste Form der Materie vor...

Sri Aurobindo (Green 1977, S. 63)

Wenn das Fleisch dem Geist zuhebe entstanden ist, so ist das ein Wunder.

Aber wenn der Geist dem Leib zuliebe entstanden ist, so ist das ein Wunder der Wunder.

Thomas-Evangelium (29)

Eine wichtige Frage, die mich schon immer an der materialisti­schen Vorstellung des Geistes gestört hat, lautet: Wie kann das Bewusstsein im Gehirn sein und wie kann der Geist ein Teil der natürlichen Welt sein, wenn beides keine gänzlich materiel­len Dinge zu sein scheinen, die Raum und Zeit unterliegen?

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Es ist mir immer wie eine Analogie zu der Frage erschienen: Befindet sich tatsächlich Musik in meiner CD? Oder: Gibt es wirklich elektromagnetische Energie in einem Magneten? Sol­che Analogien können sehr irreführend und ausgesprochen verlockend sei. Denn der Physiker wird sagen, dass die Musik von der CD (sofern sie ordnungsgemäß abgespielt wird) als Schallwellen ausgesendet wird und dass der Elektromagne­tismus, der den Magneten umgibt und durchdringt, ein Ener­giefeld ist. Das lässt den Gehirnphysiologen zu der Ansicht ge­langen, das Gehirn lasse sich, in Analogie hierzu, als von einem Energiefeld umgeben ansehen, das Gedankenwellen überträgt. Dann fühlt er sich vollkommen berechtigt, nach den neurona­len oder biochemischen Bahnen zu suchen, auf denen sich die Energie der Gedanken bewegt.

Durch eine Reihe logisch erscheinender Schritte - genau genommen sind es Analogieschlüsse - hat der Materialist den Geist geschickt in der Natur lokalisiert, wie es bei dem Philo­sophen C. D. Broad heißt. Das wird bekräftigt durch die offen- sichtliche Tatsache, dass es keine Musik mehr gibt, wenn ich die CD und den CD-Player zerstöre; ohne Magneten gibt es keinen Magnetismus, und Denken findet nicht mehr statt, wenn ich von einem Bus überfahren werde. Physikalische Ge­gebenheiten der einen oder anderen Form sind zweifellos notwendige Bedingungen für Wellenmuster, Magnetismus, für Energiefelder und dafür, dass Gedanken entstehen.

Aber ist das die ganze Wahrheit? Sicher weicht meine Vor­stellung von Musik um einiges von einer Schallwelle ab, und einen Gedanken fassen ist nicht gleichbedeutend mit der Ak­tivierung einer neuronalen Schaltung.

Der Philosoph Martin Heidegger hat einmal gesagt, Wissen­schaft basiere auf einem Erklärungsschema, das dafür sorge, alles Untersuchte in etwas Räumliches zu verwandeln, das ge­trennt von dem bestehe, was uns gegenüber ist. Es macht kei­nen Unterschied, ob der Untersuchungsgegenstand ein Stuhl, ein Mensch, ein Atom, eine Sinneswahrnehmung oder ein Körper ist. In gewissem Sinne ist er einfach da. Und wenn er

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außerhalb ist, dann hat er Dinge in sich und ist „im" Raum. Das, so Heidegger, sei unsere Vorstellung von Objekten (Avens 1982, S. 165).*

Das ging so weit, dass die Wissenschaft aus dem Geist oder dem Bewusstsein ein Objekt der Untersuchung machte - nicht einen Untersuchungsgegenstand** wohlgemerkt was im letzten Jahrhundert viel Anregendes und Provokatives hervorbrachte. Die epiphänomenale Sicht des Geistes, die das Bewusstsein als eine Energiefrequenz oder ein Feld, das das Gehirn und das Nervensystem umgibt und durchdringt, behandelt, hat einige der größten wissenschaftlichen Denker in den Bann geschlagen. Man denke zum Beispiel an Ebner Greens außergewöhnliche Arbeiten, die er im Laufe von fast dreißig Jahren an der Menninger Foundation in Kansas durch­geführt hat: Dabei hat er Schwingungsveränderungen in Bio- feldern, so sein Ausdruck, aufgezeichnet und erfolgreich die Felder verschiedener praktizierender Yogis, Heiler und Scha­manen vermessen (Green 1977).

In den traditionellen Lehren des Hinduismus werden diese Felder als Shtula, Energiehüllen oder feinstoffliche Körper, be­zeichnet. Es gibt ausgeklügelte Hierarchien zwischen ihnen, die wie Schwingungsoktaven ansteigen. Barbara Brennans Buch Hands of Light (1988) zeigt uns hellseherische Bilder dieser feinstofflichen Körper oder Felder. Mit ihnen können wir ver­stehen, in welcher Beziehung sie zu Wilhelm Reichs Theorie der Energieströme und -blockaden im Körper stehen. Eine an­dere westliche Version dieser Yoga-Lehren ist David Tansleys Theorie und Praxis dessen, was er Radionics (1972) nennt. So­wohl bei Tansley als auch bei Brennan finden sich Beschrei­bungen einer Hierarchie feinstofflicher Körper- ätherisch, emo­tional, mental und spirituell genannt -, die den physischen

* Avens' radikale Kritik der Parapsychologie diagnostiziert eine tiefe Läh­mung durch einen Dualismus, der die Seele ausschließt. Seine Arbeit sollte von allen, die in diesem Bereich forschen, gelesen werden.

** Engl, subject = Gegenstand; das Wortspiel ist mit „Objekt" und „Subjekt" in der deutschen Übersetzung nicht nachvollziehbar,- Anm. d. Übers.

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Körper umgeben. (Interessanterweise gibt Tansley als Quelle für sein Modell Alice Baileys theosophischen Kommentar von 1927 zu den Yoga-Sutras von Patanjali an, dem locus classicas der Hindu-Lehren.)

Auf den Gebieten der Hypno- und Regressionstherapie ha­ben sowohl David Cheek (Rossi und Cheek 1994) als auch Graham Farrant (Satprem 1982) unabhängig voneinander den Begriff des zellulären Bewusstseins eingeführt und behauptet, dass das Gedächtnis eigentlich „in den Zellen" gespeichert sei - sicherlich wieder eine Metapher, aber eine, die stark an Popularität gewinnt. (Inwieweit sie von Sri Aurobindos Leh­ren, wie sie Satprem in seinem Buch The Mind of the Cells wiedergibt, beeinflusst sind, vermag ich nicht zu sagen.) Kürz­lich ist im Journal of the Scientific and Medical Network (Net­work 1997, April, S. 63) ein Hinweis auf Professor Sarkars Vor­stellung der Mikrovita erschienen, kleinster Energieelemente, die er als letzte Quellen des Lebens beschreibt. Man könnte diese Modelle atomistisch nennen - im Gegensatz zu den „Feld"-Metaphern zur Lokalisierung des Bewusstseins.

Überhaupt haben Psychotherapeuten, die mit Regression, Psychodrama, Wiedergeburt und anderen Tiefenerfahrungs- therapien arbeiten, über viele Jahre recht ungenau von „Kör­perbewusstsein" gesprochen. Vor kurzem schlug Larry Dossey den Begriff „nicht-lokaler Geist" vor, um die vorherrschende Theorie, die das Gehirn als Sitz des Bewusstseins betrachtet, in Frage zu stellen. In meiner eigenen Praxis bei der Erfor­schung unerklärlicher Schmerzen fand ich es hilfreich, den Begriff „ätherische Erinnerung" oder „ätherisches Bewusstsein" zu verwenden und damit der Theorie der feinstofflichen Kör­per zu folgen. Das erlaubt mir, von einer ätherischen Erinne­rung an Verletzungen zu sprechen, die „in" den Füßen oder „rund um" die Schultern verankert ist.

Um zu den Feldtheorien zurückzukehren: Viele Menschen sind mit der russischen Arbeit zur Kirlian-Aura vertraut, die durch die Anthologien von Stanley Krippner und John White (Krippner und Rubin 1973, White und Krippner 1977, White

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118 Roger J.Woolcek

1979) bekannt wurde. Neueren Datums ist die Idee des Bio­plasmas, eines „fünften Zustandes der Materie", die auf den Kirlian-Konzepten aufbaut und von Viktor Inyushin vorge­schlagen wurde. Inyushin (White und Krippner 1977, S. 115) be­hauptet, dass neben Feststoffen, Flüssigkeiten, Gasen und Plas­ma ein fünfter Zustand der Materie existiert, das Bioplasma, das sich im Biofeld wie folgt verhält:

Ein lebender Organismus kann als „biologisches Feld" oder „Biofeld", als „Feld" im Sinne einer Region aus Kraftlinien, die aufeinander wirken, beschrieben werden. Dieses Biofeld hat eine klare räumliche Anordnung und ist durch verschiedene physikalische Felder - elektrostatische, elektro­magnetische, akustische, hydrodynamische und möglicherweise weitere, unzulänglich erforschte - abgegrenzt und geformt.

Offensichtlich ist für Inyushin das Biofeld oder das Energie­feld, das aus Bioplasma besteht, ein feineres Derivat existie­render Energiefelder im Körper. Was wir hier vorfinden, ist materialistische Philosophie in Form eines Energiemonismus. Alle Ereignisse, psychische ebenso wie physische, werden als die eine oder die andere Form von Energie erklärt; jedes ein­zelne Ereignis lässt sich auf größere oder kleinere Energiefel­der zurückführen, die alle Aspekte der Realität beinhalten.

Diese ziemlich typischen materialistischen Theorien des feinstofflichen Energiekörpers oder Energiefeldes lokalisieren auf unterschiedliche Weise Energie und Geist nicht nur rund um den Körper, sondern auch an bestimmten Stellen im Kör­per: im Gehirn, in den Meridianen, sogar in den Zellen - als „zelluläres Bewusstsein" Sogar in esoterischen Lehren werden der Geist oder die feinstofflichen Energien als im ätherischen Feld oder in den Chakren befindlich betrachtet. So legen auch Barbara Brennans hellseherische Bilder von Auren den Raum um den physischen Körper herum als Ort des Energiekörpers

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fest; und Rutengänger wie Sig Lonegren lehren, wie man die Ausdehnung verschiedener feinstofflicher Körper misst, die den physischen Körper wie Blasen in unterschiedlichen Aus­maßen umgeben.

Selbst wenn wir von „feinstofflichen Körpern" sprechen, stellen wir sie uns als feine Materie vor, die eine Ausdehung im Raum besitzt, und bestätigen damit Heideggers Behaup­tung, dass jede Wissenschaft jedwedes Objekt oder Wesen, das sie untersucht, außerhalb, uns gegenüber, im Raum verortet. Es ist nicht überraschend, dass das Wort „subtle" ins Deutsche übersetzt Feinstoffliches bedeutet, was wörtlich so viel wie fei­ner Stoff oder feine Materie heißt. Und weil dieser Gebrauch einfacher Metaphern nicht in Frage gestellt wird - nur wenige Wissenschaftler scheinen Phänomenologie studiert zu haben -, überkonkretisieren unsere Theoretiker ständig ihre Vorstellun­gen und fallen unwillkürlich einem ziemlich unproduktiven Reduktionismus zum Opfer, bei dem alles zu einer Art Ener­gie, Schwingung oder Feld wird.

Wie sehr wir auch dem Holismus anhängen und den Dra­chen des Cartesianismus erschlagen und einen Dialog eröffnen wollen: Ich glaube einfach, dass ein solcher alles durchdrin­gender Reduktionismus den unbewussten Wunsch offenbart, den Geist innerhalb der Dimension der Materie zu behalten, in der die linke Gehirnhälfte oder das rationale Bewusstsein sicher sein kann, ihn zu verstehen und zu kontrollieren. Wenn wir den Geist oder das Bewusstsein als Objekte oder Energien verstehen, die sich „draußen" im Raum, „in" einem Großhirn, einer Zelle oder einem Chakra befinden, klammem wir uns an einen eindimensionalen Monismus und verfallen der Verlo­ckung des Szientismus. Das, so befürchte ich, ist der Antrieb, der hinter vielen anderweitig höchst originellen „wissenschaft­lichen" Untersuchungen über Bewusstsein und Energie steht, die heutzutage durchgeführt werden. Mir scheint es in erster Linie eine Abwehr gegen das „Wunder" des Hinüberwechselns in höhere Dimensionen zu sein, gegen einen „Übergang" der dem wahren Geist der Metaphysik entspricht.

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Materie als Emanation des Geistes

Ein guter Künstlers lässt sich von seiner Intuition führen, wohin sie will.Ein guter Wissenschaftler befreit sich von Vorstellun­gen und hält seinen Geist offen für das, was ist.

Laozi, Daodejing

Bewusstsein erschafft die materielle Welt.

Amit Goswami, Das bewusste Universum

Meines Erachtens ist das einfache kleine Wort „in" hauptver­antwortlich dafür, dass wir uns der Philosophie des Materia­lismus unterwerfen. Durch meine kurz ausgeführten Beispiele ist vielleicht deutlich geworden, wie dieses unschuldige kleine Wort uns vollständig in die Irre führt, indem es eine verbor­gene räumliche Metapher enthält und uns damit über die tat­sächlich bestehende Gefolgschaft dem Materialismus gegen­über täuscht. Der unhinterfragte Gebrauch des Wortes „in" engt leider viele neurologische Forschungen ein und hat den Status eines wissenschaftlichen Mythos bezüglich des Verstan­des, der Energie und des Geistes angenommen, eines Mythos im jungschen Sinn als etwas, von dem jedermann in allen Fäl­len überzeugt ist.

Denn wenn wir von Geist als Energie oder von Energie als Bewusstsein sprechen, neigen wir dazu - selbst wenn wir ab­solut sicher sind, dass diese Phänomene in einen ätherischen oder nicht-physischen Bereich gehören -, sie uns als „inner­halb" des Gehirns vorzustellen oder als Fließen „durch" un­sere Energiefelder. Wir machen uns nicht bewusst, dass dies Metaphern sind und keine empirischen Wahrheiten im wört­lichen Sinne. Vielleicht wird es deutlicher, wenn wir etwas sa­gen wie „Ich fühle es in meinem Herzen" oder „In meinem tiefsten Innern weiß ich es" Auch wenn unsere Energiefelder

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Reaktionen zu zeigen scheinen, die den Körperbereichen ent­sprechen, glauben wir zu wissen, dass Emotionen dort eigent­lich nicht so gespeichert sind wie z.B. Glukose oder Proto­plasma. Man betrachte das Beispiel der bezaubernden Aus­sage: „Du wirst dein Herz in keinem Tempel wiederfinden, wenn du nicht den Tempel in deinem Herzen findest." Das lässt sich schwerlich anders als metaphorisch verstehen. Wir suchen keinen Kardiologen auf, um den Tempel in unserem Herzen aufzuspüren, und auch keinen Archäologen, damit dieser unser Herz in einem Tempel entdeckt! Doch sobald wir von Erinnerungen als „in unserem Gehirn gespeichert" spre­chen, verschwindet unser Bewusstsein für das Metaphorische sofort.

Der indische Mystiker und Dichter Kabir (1977, S. 4) sah dieses Dilemma in einem ironischen Gedicht voraus:

„Du weißt, dass der Same im Innern des Ross­kastanienbaums ist;und im Samen sind die Blüten des Baumes und die Kastanien und der Farbton.

So ist auch im Innern des menschlichen Körpers der Sameund im Innern des Samen ist wiederum der menschliche Körper...

Denker, hört und sagt mir, was wisst ihr von dem, was nicht im Innern der Seele ist?

Nimm einen Krug Wasser und setze ihn aufs Wasser nieder -

nun hat er Wasser in sich und außer sich.Wir müssen dem keinen Namen geben, wenn nicht dumme Menschen wieder über den

Körper und die Seele zu sprechen beginnen ..

Sri Aurobindo formulierte es ähnlich: „Der ganze Körper ist im Geist, doch nicht der ganze Geist ist im Körper." Von ihm

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stammen auch die Sätze, mit denen er Madame Blavatsky paraphrasierte:

„Wenn du dich an dem Wort ,Geist' störst, stell dir Geist als die feinste Form der Materie vor.Doch wenn du dich an dem Wort Geist nicht störst, kannst du dir die Materie als dichteste Form des Geistes vorstellen."

Die materialistische Sichtweise erfordert eine aufwärts gerich­tete Bewegung, sodass der Geist als feinere Form oder Schwin­gung der Materie erscheint, aber irgendwie als zweitrangig, als evolutionäres Nebenprodukt. Im Gegensatz dazu betrachtet der spirituelle Standpunkt Materie als niedere Emanation oder dichtere Manifestation des Geistes, deren Greifbarkeit und Solidität letzten Endes eine Illusion ist. So wie der berühmte Physiker David Bohm behauptete (Weber 1986, S.45f.): „Mate­rie ist gefrorenes Licht."

Vergleichen wir diese beiden radikal entgegengesetzten Welt­anschauungen, lässt sich sagen, dass die Ontologie des Materia­listen letzten Endes Materie als etwas Reales ansieht und des­halb die Ursprünge des Bewusstseins „innerhalb" der Materie ausfindig machen muss. Der Geist ist dann eine Art weiter entwickeltes oder höheres Schwingungsphänomen (die epiphä­nomenale Sicht des Geistes), dessen „transzendente" Aspekte reduktionistisch als Manifestationen irgendeiner Art von bio­logischer Energie erklärt werden müssen.

Auf der anderen Seite sieht eine spirituelle Ontologie das Bewusstsein als grundlegend real an (Neuplatonismus, Buddhis­mus, Advaita Vedanta) und betrachtet Materie als niedere oder dichtere Manifestation des Geistes oder des Bewusstseins, eine Kondensation des Geistes in eine physische Form, eine nach unten gerichtete Inkarnation. (Es ist nicht verwunderlich, dass die wissenschaftlich ausgerichteten Seelenforscher zu Madame Blavatskys Zeiten durch all die angeblichen Materialisationen von Geistern herausgefordert wurden.)

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Mit unserem Wissen über Radiowellen, Laserstrahlen, Atom- teilchen, Mikrobiologie, Kirlian-Phänomene usw. erliegen wir leicht der verführerischen Anziehungskraft des energetischen Modells, das von den Materialisten vertreten wird. Es gibt un­serem Dünkel Nahrung, dass wir als Wissenschaftler schließ­lich die alles umfassende Sicht der Dinge erreicht und die letzten Grenzen des Wissens überschritten hätten. So kommt es, dass wir das, was wir nicht verstehen, mit uns bekannten Begriffen erklären. Nichtsdestoweniger sind biologische Meta­phern wie „Bioplasma" oder „zelluläres Bewusstsein" ursprüng­lich auf materialistische Paradigmen zurückzuführen; dies zu ignorieren würde bedeuten, sich durch unsere Wortwahl und die Vorliebe für bestimmte moderne Formulierungen hinrei­ßen zu lassen. So bleibt die Wissenschaft in einem selbst er­richteten begrifflichen Gefängnis stecken.

Auf Grund meiner eigenen und der Erfahrungen meiner Patienten mit spirituellen und jenseitigen Begegnungen halte ich es für eine Verzerrung zu behaupten, Phänomene des Geis­tes könnten auf biologische Komponenten reduziert werden, ob es sich dabei um Bioplasma, Mikrovita oder sogar um ätherische Energie handelt. Aber das besagt nicht, dass Geist sich nicht in Formen manifestieren kann, die auf diese Weise von visionärem oder hellseherischem Bewusstsein wahrgenom­men werden können. Fast alle biologischen und materialis­tischen Metaphern führen dazu, dass man den Behälter für das nimmt, was er enthält - wie im Fall von Kabirs Krug im Wasser.

Unabhängig davon, wie genial die Theorien der Physik und Biologie auch sein mögen, solange solche Disziplinen keine Wege finden, jene höheren Dimensionen anzuerkennen, die nicht in Raum und Zeit sind und das Reich des Physischen einschließen und überschreiten, werden sie sich niemals auf fruchtbare Weise mit der Meta-Physik verbinden können. Ohne diesen Schritt werden alle wissenschaftlichen Unterneh­mungen, so großartig oder ausgeklügelt sie auch sein mögen, stets eindimensional und reduktionistisch bleiben. Wir brau-

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chen, um mit Henry Corbin zu sprechen, „eine Kosmologie von der Art, dass die verblüffendsten Informationen der mo­dernen Wissenschaft bezüglich des physikalischen Univer­sums ihr untergeordnet bleiben".

Ich behaupte und stütze mich dabei auf die metaphysi­schen Lehren der großen religiösen Traditionen, dass die spiri­tuelle Dimension anders und von einer höheren Ordung ist als die Energiefelder, durch die sich der Geist in der körperlichen Welt manifestiert. Mehr noch, es gibt ein dazwischen liegendes Crossover-Universum, in dem der Geist sich durch die mate­rielle Welt manifestiert und wir uns mutatis mutandis in unse­ren spirituellen oder ätherischen Körpern aus dem Materiellen fortbewegen und hinüber ins Spirituelle gelangen können. Es ist diese feinstoffliche Zwischenwelt auf halbem Wege, die oft in Form psychischer Felder erfahren wird: als paranormale Kräfte oder übernatürliche Wesen, als hellseherische oder fein­stoffliche Wahrnehmungen, als ekstatische Vision oder mysti­sche Verzückung.

Eine Untersuchung dieser Reiche zeigt deutlich, dass alle derartigen Phänomene, die oft als „bloße" Einbildung abgetan werden, tatsächlich - ontologisch gesprochen - nicht etwa aus einer niederen, sondern aus einer höheren Quelle stammen, auch wenn ihre Inhalte manchmal von einer spirituell gerin­gen oder „dämonischen" Qualität sind. Der kürzlich verstor­bene Sir George Trevelyan war fest von der Notwendigkeit überzeugt, die Imagination und die visionären Fähigkeiten wieder als jene spirituelle Funktion in ihr Recht zu setzen, die diese „höheren" Reiche wahrnehmen kann. In seinem Bericht über die Arbeit des Mediums W. Tudor Pole, der in frühere Leben schauen konnte, schreibt Sir George:

„Für ihn [Tudor Pole] sind diese Erinnerungen ganz entschieden nicht das Produkt der Imagina­tion; denn jenes Wort hat seinen Wert verloren und bezeichnet nur noch das Ausspinnen von Fantasien. In seinem wahren Sinn beinhaltet es

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einen Eintritt in eine höhere ,Frequenz' durch bildliches Denken, in eine Welt der Wirklichkeit und des Seins jenseits der Begrenzungen durch unsere fünf Sinne. Dies ist der erste Schritt der Untersuchung und eine Erkundung der spirituel­len Reiche, die unsere physische Welt des Lebens und Seins durchdringen...[Solche] Erinnerungen sind ein Beispiel dafür, dass sich heute im menschlichen Denken etwas entwi­ckelt. In unserem Zeitalter erlangen wir ein neues Verständnis der Wahrheit, dass die spirituellen Rei­che die physischen absolut durchdringen [Hervor­hebung von mir]. Tatsächlich wird die Welt mate­rieller Formen als Bild oder Widerspiegelung der spirituellen angesehen, die sie hervorbringt. Die Reiche des Geistes sind nicht weit entfernt, son­dern liegen innerhalb der Sinnenwelt und müssen dort durch unser intuitives Denken erfasst wer­den" (Pole und Lehmann 1983, Einleitung).

Was ist Imagination?

Oh der Geist, der Geist hat Berge; stürzende Klippen schrecklich, kahl, von niemandem ergründet.Sie für gering halten mag, wer nie dort hing.

Gerard Manley Hopkins

Nach fast zwei Jahrzehnten, in denen ich als Psychotherapeut Klienten durch viele Formen so genannter Regressionserfah­rung geführt hatte - vergessene Kindheitsszenen, Geburtstrau­mata, Eindrücke aus anderen Leben, Welten jenseits des Todes und außergewöhnliche visionäre Räume -, stellte ich viele mei­ner grundlegenden Annahmen über Imagination, Bilder und sogar Archetypen in Frage. Obwohl ich in der jungschen Tra-

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dition ausgebildet bin, die die Imagination als Sprache der Seele ansieht, schien es mir nicht länger so, als ob wir nur Bil­dern - und seien es auch archetypische Bilder - begegneten, und es half nicht weiter, sie damit zu erklären, dass sie in einem bestimmten Zustand der Bewusstseinsveränderung auf­tauchten. So viele der Visionen sind so lebendig und führen zu einer so tief greifenden Veränderung bei dem, der sie er­fährt, dass ich mich fragte, ob ich nicht tatsächlich mit einer solchen Sprache einer noch gefährlicheren Form des Reduk­tionismus - dem psychologischen Reduktionismus - unterlag. Geriet ich in die Falle und glaubte an die Verunglimpfung all dieser Erfahrungen durch ignorante Kritiker, nämlich dass es sich um „bloße Einbildung (Imagination)" oder, schlimmer noch, um „bloße Archetypen" handelte?

Tatsächlich haben Leute über all die Jahre zu mir gesagt: „Ihre Klienten erfinden all das nur, weil es modem ist, frühere Leben und außerkörperliche Erfahrungen zu haben." Das Pro­blem bei diesem Einwand ist, dass er eine sehr große Frage in sich birgt: Was ist denn Imagination? Nun weiß jeder, wie es ist, wenn man sich etwas einbildet, etwas imaginiert, doch das allein erklärt nicht, woher unsere Bilder kommen, wie sie pro­duziert oder reproduziert werden. Man braucht nur für ein paar Monate seine Träume zu studieren, um von der erstaun­lichen Vielfalt und Reichweite der Bildwelten überwältigt zu sein, die darin hervorgebracht werden. Die Psyche scheint einen unerschöpflichen Vorrat fremdartiger und exotischer Bilder zu haben, von denen die meisten kaum erklärlich sind.

Die akademische Psychologie in ihrer derzeitigen Form wird durch die Definition von „Imagination" auf eine harte Probe gestellt. In den normalen Handbüchern der Psychologie taucht der Begriff nicht auf, man findet ihn nicht einmal im Register. Wörter wie „Bild" oder „Einbildung" mag es geben, aber nicht „Imagination" Um „Imagination" in universitärem Zusammen­hang zu studieren, muss man schon in den Fachbereich Litera­tur wechseln, in dem der Begriff in der Literaturtheorie auf­taucht - dann geht es um Coleridge, Wordsworth und andere

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Dichter. Die Literaturtheoretiker sind allerdings sehr darauf bedacht, ihre Schriften nicht als psychologische erscheinen zu lassen. Vielleicht ist die psychiatrische Abteilung medizinischer Hochschulen, in der es um Täuschungen, Halluzinationen und exotische Fantasien geht, der einzige Ort, an dem man sich ernsthaft und genau mit Imagination beschäftigt, und hier sieht man darin nichts als Symptome geistiger Erkrankungen. Dies alles zusammen bietet nicht unbedingt eine wohlwol­lende Sichtweise der Imagination!

Dennoch kommen die Psychiater einer annehmbaren, ja so­gar respektablen Theorie der Imagination am nächsten. Die frü­hen Pioniere der Psychoanalyse, insbesondere Sigmund Freud und C. G. Jung, gehörten zu den Ersten, die die Imagination ernsthaft erforschten und die sie im Anschluss an eine gewisse deutsche philosophische Tradition „das Unbewusste" nannten. Dank ihrer hartnäckigen Untersuchungen kam es dazu, dass der amerikanische Philosoph und Psychologe William James das Unbewusste sogar als „größte Entdeckung des 20. Jahrhun­derts" ansah. Es ist schade, dass er über die Imagination nicht dasselbe geäußert hat, denn immer noch heißt es abwertend, wenn von einer ungewöhnlichen Erfahrung die Rede ist: „Das ist bloße Einbildung (Imagination)." Es ist leider so weit ge­kommen, dass die Imagination inzwischen als eine der min­derwertigsten und trivialsten Aspekte des Geistes angesehen wird. Von William Blakes „heiliger Imagination" sind wir mitt­lerweile weit entfernt.

Vor den Psychoanalytikern waren die großen Dichter und Seher die Meister der Imagination. Dante unternahm seinen imaginativen Abstieg zu den visionären Welten der Hölle und dann aufwärts durch das Purgatorium bis ins Paradies. Bis in tiefste Tiefen erforschte Shakespeare in seinen Tragödien und Komödien die menschliche Seele, was den Kritiker Harold Bloom dazu veranlasste, ihn mit den großen mystischen Sehern des Sufismus in eine Reihe zu stellen. William Blake kämpfte mit seinem eigenen inneren Universum visionärer Fürsten­tümer und Kräfte und brachte so Werke hervor, die ewigen

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Bestand haben. Goethe fasste den dauerhaften Konflikt zwi­schen gut und böse in seinem Faust, einem großartigen seheri­schen Werk, in die Form des Dramas. Was den visionären Mut dieser großen Erforscher der kreativen Kraft der Imagination angeht, so waren Freud und Jung deren Haupterben. In ihrer therapeutischen Praxis offenbarte die Imagination eine enor­me Kraft, die sich in der Welt der Träume und Wachträume manifestierte. Ihr Werk zeugt von einem unvergänglichen Res­pekt vor der gewaltigen heilenden und imaginativen Kraft der Seele.

Das wirkliche Problem beim Verständnis der Imagination liegt in unserer Gewohnheit, die großen Seher-Traditionen nicht zur Kenntnis zu nehmen und stattdessen den engen Vor­urteilen der Schulpsychologie zu viel Kraft zu widmen - einer Disziplin, deren nahezu fundamentalistisches Pochen auf Wis­senschaftlichkeit die multidimensionalen Bereiche der Seele vollständig ausschließt. James Hillman äußerte einmal über diese Form des Akademismus: „Die Sprache der Psychologie ist eine Beleidigung für die Seele." Auch hier scheint die linke Gehirnhälfte (die rationale Seite) wieder den Versuch zu unter­nehmen, die rechte Gehirnhälfte (die kreative Seite) zu über­stimmen. Sie leugnet, dass Letztere eine einzigartige, nur ihr zugängliche Form des Wissens besitzt.

Die schamanische Parallele

Fehlt dir der Fuß zur Reise, so wähle den Weg in dich selbst:

Nimm auf, dem Rubinschachte gleichend, in dich alle Strahlen der Zeit

Reise, o Freund, aus dir selber und in dein eigenes Herz:

Solch Reise verwandelt das Staubkorn in goldene Herrlichkeit

Dschalaluddin Rumi

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Meine persönlichen Erfahrungen als Psychotherapeut waren so, dass es mir nicht immer leicht fiel, meinem eigenen imagi­nativen Vermögen oder dem meiner Klienten zu trauen. Aller­dings stellte ich fest, dass ich sie mit der Interpretation ihrer Erfahrungen innerhalb eines rationalen oder selbst symboli­schen Rahmens (nach Freud und sogar Jung) daran hinderte, sich gegenüber weitaus tieferen Erfahrungen zu öffnen. Immer starker gelangte ich zu der Einsicht, dass ich mein eigenes, von der linken Gehirnhälfte gesteuertes Bedürfnis nach Inter­pretation aufgeben müsse. Die Interpretation, in der ich mitt­lerweile nur eine andere Form reduktionistischer Aktivität sehe, hält uns als Heiler und Klienten beide davon ab, jene spirituellen Dimensionen nutzbar zu machen, die durch Ima­gination vermittelt sind. D.h., wir lassen die spirituellen Di­mensionen nicht vollständig in unsere Arbeit einfließen. Das hindert uns daran, jene Erfahrung des Staunens oder des „Dar- überhinausgehens" zu machen, die dem Philosophen Pierre Thevenaz zufolge das Wesen echter Metaphysik ist.

Ein wenig widerstrebend bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass ich an einer Art schamanischer Reise teilnahm, wenn ich meinen Klienten in die „Welten" folgte, die sie in ihrer „Imagi­nation" und „Erinnerung" erfuhren. Ohne es zu wissen, war ich in ihre feinstofflichen Welten eingetreten und mit ihnen gereist, ohne dass mir zunächst klar war, dass Schamanen genau das tun: Sie reisen. Denn worin liegt letztlich der Unter­schied zwischen „Regression" und „Reisen" oder zwischen „psychischer Aufspaltung" und „Seelenverlust"? Es ist nur eine Frage der Sprache, die man wählt - die der Psychoanalyse oder die des Schamanismus. Ebenso wenig macht es einen Unter­schied, ob man eine Couch, ein Pendel oder eine Rassel be­nutzt; wenn durch die jeweilige Technik mit Erfolg ein Trance­zustand erzeugt wird, wird sie eine Person befähigen, „den Weg in sich selbst zu wählen", wie es bei Rumi so schön heißt.

Je mehr wir als Psychotherapeuten unsere rationale, von der linken Gehirnhälfte gesteuerte Geisteshaltung ablegen - und, wie Coleridge sagt, absichtlich unseren Zweifel beiseite

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schieben - und die visionäre Sicht der rechten Gehirnhälfte auf die Wirklichkeit annehmen können, desto stärker werden wir jener feinen Bewusstheit begegnen, die Henry Corbin, der große Sufismus-Forscher, als spirituelle Imagination bezeich­net. Wenn wir diese sehr wirksame Form der Bewusstheit erst einmal kultivieren, werden wir zwischen Wirklichkeiten reisen und anderen Welten jenseits der körperlichen Welt begegnen können und auf diese Weise Zugang zur universellen Quelle von Heilung haben, zum Geist

Als mir das klar geworden war, führte mich meine Arbeit dazu, eine Vielzahl esoterischer Quellen zu studieren, insbe­sondere das Tibetische Totenbuch, die Upanishaden, die von Henry Corbin entdeckten persischen Mystiker, Platon und den mystischen Neuplatonismus Plotins, aber auch moderne Seher wie Shakespeare, William Blake und Emmanuel Swedenborg. Unter all diesen Traditionen und Sehern besteht Einigkeit, dass es höhere oder feinere Sinne gibt, die durch bestimmte strenge spirituelle Praktiken methodisch geweckt werden kön­nen. Diese spirituellen Übungen schließen häufig auch das „Sterbenlernen" ein, um in einem visionären Sinn in diesen höheren Welten wiedergeboren zu werden. Tatsächlich wird klar, dass ein wesentliches Merkmal aller Mysterienkulte der alten Welt darin besteht, die Angst vor dem tatsächlichen Tod zu überwinden und zu erfahren, dass die Seele unsterblich und immer in der Lage ist, in höhere Wirklichkeiten zu reisen, sofern sie nur richtig angeleitet ist.

Was früher im Verborgenen in den Schulen der Gnosis und des Neuplatonismus gelehrt wurde, wird heutzutage in Kliniken, Krankenhäusern und therapeutischen Praxen wieder­entdeckt - man könnte es als spirituelle Phänomenologie des Sterbens bezeichnen. Wenn zum Beispiel Menschen bei einer therapeutischen Sitzung in ein so genanntes früheres Leben regredieren und sich erinnern, wie es war, in diesem früheren Leben zu sterben, dann berichten sie im Allgemeinen auch, was es genau bedeutet, in ein höheres oder „anderes" Reich zu gelangen - das der tibetische Buddhismus als Bardo bezeich­

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nen würde. In diesem anderen Reich stellen die Menschen nicht selten fest, dass sie mit visionären Sinnen ausgestattet sind, Zugang zu höherer Intelligenz haben und die Fähigkeit besitzen, mit außerweltlichen „Lichtwesen" in Kontakt zu tre­ten, die als Ahnen oder sogar als göttliche Wesen erscheinen können.

Die vielen spontanen Berichte von Nahtoderfahrungen, die in den letzten Jahren aufgezeichnet und durch die Schriften von Raymond Moody und Kenneth Ring bekannt gemacht wurden, weisen starke Ähnlichkeit mit dem eben Geschilder­ten auf. Alle diese Aufzeichnungen und Erfahrungen kommen den zahlreichen Berichten schamanischer Reisen in tiefer Tran­ce zu höheren und niederen Geisteswelten sehr nahe, bei de­nen der Schamane in einem von seinem physischen Körper losgelösten ätherischen oder Leuchtkörper unterwegs ist und mit spirituellen Mächten in Kontakt und in Verhandlung tritt, um Schutz oder Heilung zu erreichen. Bei der Betrachtung die­ser erstaunlichen Parallelen ist der deutsche Ethnologe Holger Kalweit (1992) zu dem Schluss gekommen, dass für ihn „die Erfahrung des Heraustretens aus dem eigenen Körper mit der Nahtoderfahrung identisch ist".

Visionäre Welten: der mundus imaginalis des Henry Corbin

Meine Seele, es gibt ein Land weit jenseits der Sterne.

Henry Vaughan

Es bandelt sich hier nicht um Irreales. Der mundus imaginalis ist eine Welt autonomer Formen und Bilder... Es ist eine vollkommen wirkliche Welt, die den ganzen Reichtum und die ganze Vielfalt der wahrnehmbaren Welt in einem spirituellen Zustand bewahrt Henry Corbin (1966)

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Wenn wir in die visionäre Welt gelangen, sind wir durch ma­terielle Raum-Zeitlichkeit in keiner Weise beschränkt. Bilder bewegen sich extrem schnell; wir können sofort in andere Wirklichkeiten und Dimensionen hinein- und aus ihnen he­raustreten. Damit dies auf konstruktive Weise und nicht zufäl­lig geschieht, sollte man sich am besten in Konzentration und Meditation üben. Aus diesem Grund hat Jung seine Technik der aktiven Imagination entwickelt, die eine spontane Begeg­nung mit den bildlichen oder spirituellen Formen ermöglicht, die er Archetypen nannte und die in jener transpersonalen psy­chischen Wirklichkeit ihren Ursprung haben, die er als „kol­lektives Unbewusstes" zu bezeichnen pflegte.

Wenn wir uns durch multiple Wirklichkeiten bewegen und „den Weg in uns selbst wählen", gelangen wir zum wahren Wesen des Gebets, was nicht viel anderes ist als die Reise von Schamanen in höhere und niedere Welten. Tatsächlich eröffnen die Arbeit mit einem vielschichtigen archetypischen Bild und die Übung, solchen Bildern zu folgen und sie im Bewusstsein festzuhalten, einen geheimen Zugang aus der materiellen Welt sinnlich erfahrbarer Wirklichkeit in die multidimensionalen bildlichen Welten des Geistes und reinen Seins. Eine solche Übung liefert zugleich den Schlüssel zur Heilung.

Die multidimensionale oder visionäre Welt spiritueller For­men war den arabischen und persischen Sufis als alam al- mithal bekannt. In Henry Corbins grundlegenden Studien zu Sohrawardi, Avicenna und Ibn Arabi (1972) ist dieser Begriff als mundus archetypus oder mundus imaginalis ins Lateini­sche übertragen. Archetypus bedeutet im Sinne der Sufis eine spirituelle Form, und die Welt, in der diese reinen Formen wohnen, ist in Henry Corbins Worten „eine vollkommen wirk­liche Welt, die den ganzen Reichtum und die ganze Vielfalt der wahrnehmbaren Welt in einem spirituellen Zustand be­wahrt". In seinen Schriften macht Corbin auch eine sehr be­deutsame Unterscheidung zwischen dem Imaginären - Fanta­sien, die wir mit unserem rationalen Verstand im Wachzustand erzeugen - und dem lmaginierten, das aus dem mundus imagi-

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nalis oder der höheren Wirklichkeit spiritueller Imagination stammt.

Der mundus imaginalis ist in der esoterischen und spirituel­len Tradition unter verschiedenen Bezeichnungen bekannt. In Platons Symposion wird er Zwischenwelt (metaxy) genannt. Im tibetischen Buddhismus heißt die Gesamtheit dieser Wel­ten, die individuell als Baidos oder „Dazwischen" bezeichnet werden, Sambhogakaya, was so viel heißt wie „Körper der Glückseligkeit" (wir werden später auf diese Kosmologie zu­rückkommen). Zu den Bardos gehören Zustände nach und zwischen verschiedenen Leben ebenso wie solche vor dem Ge­borensein; sie sind zwischen der physischen Wirklichkeit und dem reinen Geist. In der westlichen Welt bezieht man sich auf diese Zwischenwelt manchmal mit Begriffen wie unsichtbare Welt, verborgene Welt, Geisteswelt oder mittleres Reich.

Dieses Reich ist auch die Welt der feinstofflichen Körper, die im Zusammenhang mit der oben erwähnten Frage, wie wir die feinstofflichen Energiefelder lokalisieren können, zu diskutieren sein wird. Hören wir, was Corbin außerdem zum mundus imaginalis sagt:

„Dies ist die Welt der ,feinstofflichen Körper' von der wir unbedingt eine gewisse Vorstellung haben müssen, um zu verstehen, dass es eine Verbin­dung zwischen dem reinen Geist und dem mate­riellen Körper gibt" (Corbin 1972, S. 9).

„Diese Welt im feinstofflichen Zustand, die viele Gradstufen umfasst und den Sinnesorganen nicht zugänglich ist, ist der wirkliche Ort aller psycho­spirituellen Ereignisse (Visionen, Charismen, wun­dertätige Vorgänge, die die Gesetze von Raum und Zeit verletzen). Diese werden einfach als imagi­när und das heißt als unwirklich angesehen, so­lange man im rationalen Dilemma eines platten Dualismus verbleibt, der nur die Wähl zwischen

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,Materie' und ,Geist' zulässt, die der zwischen be­schichte' und ,Mythos' entspricht" (Corbin 1977,S. 79).

Unverzichtbar ist auch das Bewusstsein, dass wir mit dem fein­stofflichen Körper das feinstoffliche Organ oder die Fähigkeit haben, die uns einen Eintritt in den mundus imaginalis gestattet. Diese Fähigkeit ist die kreative Imagination, die Einbildungs­kraft, durch die, wie Corbin unterstreicht, der Geist handelt.

Alles in allem führen Corbins Arbeiten zu einer großen Erweiterung und Verdeutlichung der Natur und Dynamik vi­sionärer Reisen oder mystischer Pfade wie Dantes Abstieg in die niedere Welt des Inferno und dann in die höhere Welt des Paradiso. Mohammed unternahm seine mi'raj oder Nachtreise in einem vergleichbaren visionären Zustand. Aus dieser Per­spektive steht es gänzlich außer Frage, dass Menschen, die eine Nahtoderfahrung haben, im schamanischen Sinne auf Reisen sind, da sie vorübergehend den Körper verlassen und einer höheren Wirklichkeit begegnen. (Ein guter Überblick über die Literatur zu solchen Reisen findet sich bei Zaleski 1988.) Wir sprechen über wirkliche, wenn auch feinstoffliche oder imaginierte spirituelle Orte, nicht über bloße Fantasiepro­dukte, die korrekterweise der niederen Einbildungskraft, der des Ego, zuzuordnen wären. Als Paulus in den „siebten Him­mel" gehoben wurde, durchlebte er zweifellos eine ekstatische Erfahrung des Heraustretens aus dem eigenen Körper und besuchte währenddessen einen bestimmten Landstrich des mundus imaginalis.

Sohrawardis Vision: Hinter den Berg Qaf gehen

Und der Felsen, den er berührte, war die Höhleder Augen aller MenschenUnd er berührte die Quelle des Sehens.

Vernon Watkins, Taliesin and the Spring of Vision

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Ein Mann, der auf Glas schaut, mag mit dem Auge darauf verweilen.Und wenn es ihm beliebt hindurchzuschauen, dann erspäht er die Himmel.

George Herbert, The Elixir

In Corbins Auslegung von Der rote Engel, einer der großen Sufi-Erzählungen des Mystikers Sohrawardi (1972, S. 2-6), wird uns gezeigt, wie es möglich ist, in diese Welt zu gelangen, in der Raum und Zeit bloß relative Zustände sind. In der Ge­schichte heißt es, dass ein Gefangener gerade den aufmerk­samen Augen seiner Wärter entkommen sei. In anderen Wor­ten: Er ist der physischen Welt auf eine ganz ähnliche Weise entflohen, wie es in dem berühmten Gedicht von Johannes vom Kreuz heißt: „ging unbemerkt ich aus, als Ruhe schon be­friedete das Haus" (Oft haben Menschen solche Erfahrungen nachts, wenn sie plötzlich aufwachen und feststellen, dass sie sich nicht in ihrem Körper befinden.)

Dieser Gefangene ist der Fremde, der Außenseiter in uns allen, der sich danach sehnt, nach Hause zurückzukehren. In Der rote Engel ist der Gefangene entflohen und findet sich in der Wüste mit einem Wesen wieder, das alle Anmut eines He­ranwachsenden hat. Dieses Wesen bezeichnet sich selbst als ältestes Kind des Schöpfers und erklärt: „Ich komme von hin­ter dem Berg Qaf. Dort warst du am Anfang und dorthin wirst du zurückkehren, wenn du einmal von deinen Fesseln befreit bist" (Corbin 1972, S. 3).

Sohrawardi berichtet über den kosmischen Berg Qaf, er sei

„der Gipfel hinter dem Gipfel und das Tal hinter dem Tal, aus himmlischen Sphären gebildet und jedes das andere umschließend. Wo ist dann die Straße, die daraus herausführt, was ist die Entfer­nung? Und der junge Mann sagt: ,So weit du auch reisen magst, du wirst immer zum Ausgangspunkt

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zurückkommen' - so wie die Kompassnadel zum magnetischen Punkt zurückschwingt. Heißt das ein­fach, dass du dich verlassen musst, um zu dir zu­rückzukehren? Nicht ganz, denn in der Zwischen­zeit wird ein sehr wichtiges Ereignis alles verändert haben. Das Selbst, das man dahinter, jenseits des Berges Qaf, findet, ist ein höheres Selbst, das Selbst, das als ein ,DU' erfahren wird. Wie Khezir (oder Khadir, der mysteriöse Prophet oder Gesandte des Islam] muss der ewige Wanderer, der Reisende, schließlich in der Quelle des Lebens baden." (Cor­bins Zusammenfassung)

Weiter heißt es:

„Derjenige, der die Bedeutung der wahren Wirk­lichkeit erkannt hat, ist an der Quelle angelangt.Wenn er aus der Quelle auftaucht, ist er mit einer Gabe ausgestattet, die ihn dem Balsam gleich macht, von dem ein in der hohlen Hand aufgefan­gener Tropfen, der gegen die Sonne gehalten wird, zum Handrücken hindurchgeht. Wenn du Khadir bist, kannst auch du ohne Schwierigkeiten über den Berg Qaf hinausgehen" (Corbin 1972, S. 3).

Die Region jenseits des Berges Qaf beginnt am konvexen Zent­rum der neunten Sphäre der Sphären, die in der islamischen Kosmologie die Grenze der bekannten Wirklichkeit darstellt. Es ist die Sphäre, die den Kosmos als Ganzen einhüllt. Das heißt, der Eintritt in die spirituelle Welt jenseits des Berges Qaf bedeutet, die höchste Sphäre zu verlassen, die alle in unserer Welt möglichen Orientierungen bestimmt. Wenn diese Grenze einmal überschritten ist, sagt Corbin, verliert die Frage nach dem „Wo", also nach der Verortung im Raum, ihre Bedeutung - zumindest in der Bedeutung, die es hat, wenn wir davon spre­chen, dass das „Wo" verlassen wird. Mit Corbins (1972, S. 3) Worten:

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„Das Verlassen des ,Wo' ist gleichbedeutend mit dem Verlassen der äußeren oder natürlichen Er­scheinungen, die die verborgenen inneren Wirklich­keiten verhüllen, so wie die Mandel in ihrer Schale verborgen ist Für den Fremden, den Gnostiker, steht dieser Schritt für die Rückkehr nach Hause oder zumindest für das Streben in diese Richtung.

Doch so merkwürdig dies auch erscheinen mag, wenn die Reise einmal abgeschlossen ist, erweist es sich, dass die Wirklichkeit, die bis hierher eine in­nere und verborgene war, nun das, was zuerst au­ßen und unsichtbar war, einhüllt, umgibt oder ent­hält. Als Ergebnis der Internalisierung hat man sich aus der äußeren Wirklichkeit bewegt. Fortan umhüllt, umgibt und enthält die spirituelle Wirk­lichkeit die so genannte materielle Wirklichkeit."

Andere haben diese Grenze überschritten, diese Schwelle zwi­schen dem Physischen und dem Spirituellen, und sind „hinein"- gegangen, so dass der innere Körper zum ganzen Universum wurde. „Die wirbelnden Himmel, die viel-schichtige Welt, die siebentausend Schleier fanden wir im Körper", heißt es im Lied des großen türkischen Mystikers Yunnus Emre. Dies ist auch eines der großen Themen des indischen und tibetischen Tantra und findet sich ebenfalls in den Glaubenssätzen vom mystischen Leib Christi und dem kosmischen Menschen der Kabbala, Adam Kadmon.

Die drei Körper oder Welten des Buddha

Mitte aller Mitten, Kern der Kerne,Mandel, die sich einschließt und versüßt, dieses Alles bis an alle Sterne ist dein Fruchtfleisch: Sei gegrüßt.

Rainer Maria Rilke, Buddha in der Glorie

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Um einige dieser schwierigen und oftmals paradoxen Vorstel­lungen zusammenzufassen, möchte ich dem Leser ein Dia­gramm präsentieren, anhand dessen sich die metaphysische Metaphorik der drei Welten, auf die sich Corbin und viele an­dere Traditionen beziehen, vielleicht besser erklären läßt.

Die drei Körper oder Welten des kosmischen Buddha

DharmakayaSunyata, reines Licht der Leere (tibetisch)Grundleuchten (Sogyal) Erzengelhafte Intelligenzen (Sufismus)Advaita, die Nicht-Zweiheit (Vedanta)Gottheit (Meister Eckhart) Al-Haqq (Sufismus)Xvamah (Mazdaismus)

SambhogakayaAlam al-mithal (Sufismus) Mundus imaginalis/archetypus Metaxy: Zwischenreich (Platon) Bardo oder „das Dazwischen“ (tibetisch)Alaya vijnana (Yoga) Feinstoffliche Welt, feinstoff- liche Körper, Reich der Dämo­nen oder Geister Traumzeit (australische Abori­gines)Anima mundi (Hermetiker) Kollektives Unbewusstes (C. G. Jung)Nagual (Tolteken/Yaqui)

NirmanakayaPhysische, sinnlich wahrnehm­bare Wirklichkeit Samsara (Hinduismus/ Buddhismus)Tbnal (Tolteken/Yaqui)

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Das Diagramm besteht aus drei einander überlappenden Krei­sen, die die drei einander durchdringenden Wirklichkeiten in der klassischen Kosmologie des Mahayana-Buddhismus sym­bolisieren. Auf der untersten Stufe der Manifestation steht die physische oder wahrnehmbare Welt, der Nirmanakaya. Darü­ber und aus metaphysischer Sicht in Berührung damit befindet sich die feinstoffliche Zwischenwelt des Sambhogakaya, und schließlich gibt es die höchste der Welten, den Dharmakaya, die formlose Welt des reinen Geistes oder höherer engelhafter Intelligenzen, aus der alle anderen Welten emanieren.

In absteigender Ordnung werden die Welten alle symbo­lisch als Körper oder Kayas gedacht, d. h. als Manifestationen des reinen Bewusstseins, was die tiefe BedeuUing von Buddha ist. (Die drei durch die Kayas, die Körper des Buddha, symboli­sierten Welten werden bei Lauf 1977 ausführlich vorgestellt.)

1. Der Dharmakaya ist das, was in älteren Übersetzungen des Tibetischen Totenbuchs als „reines Licht der Leere", sunyata, charakterisiert wird. Wie Dharma ist es die höchste Wahrheit und verwandt mit dem mysteriösen und unerkennbaren Dao des Daoismus. In den Kosmologien der Sufis und Neuplatoni- ker wie Sohrawardi, Plotin und Proklos wohnen hier die engel­haften Intelligenzen. Es ist die höchste „Wohnung" oder besser die Quelle reinen Leuchtens oder das „Grundleuchten" wie es gelegentlich übersetzt wird. Es ist ein Zustand, in dem man nicht einmal davon sprechen kann, Visionen des Lichts zu ha­ben, denn wenn man das erreicht, ist man die Vision; es gibt keine Unterscheidung mehr zwischen Subjekt und Objekt. Es ist ein Zustand jenseits aller Unterscheidung, was im Vedanta Advaita oder Nicht-Zweiheit genannt wird.

2. Der Sambhogakaya emaniert aus dem Dharmakaya. Er ist die visionäre Welt multipler Universen und feinstofflicher For­men, wie sie weiter oben unter dem von Henry Corbin gepräg­ten Begriff mundus imaginalis ausführlich vorgestellt worden ist. Er liegt quasi auf halbem Wege zwischen der physischen

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Welt und der letzten und formlosen Wirklichkeit, die reines Licht ist. Hier sind alle Seinsmöglichkeiten in feinstofflichen Körpern oder archetypischen Formen gegeben, ebenso aber die Spuren früherer Welten, von den griechischen Platonikem als daimones und von Homer als Schatten der Toten bezeichnet; diese Reiche schließen die Vorläufer aller Traditionen ein. Kürzlich hat Patrick Harpur (1995) vorgeschlagen, diesem ganzen Reich den neuen Namen „dämonische Wirklichkeit" zu geben, und unterstrichen, wie sehr es in Form von Feen, Geistern und paranormalen Phänomenen die physische Welt durchdringt.

In diesem mitderen Reich ereignen sich die tibetischen ßardo-Erfahrungen von Begegnungen mit den Ahnen und mit den zornigen und gütigen Göttern, und hier tauchen Visionen früherer Leben auf. Kosmische Städte, die Wohnungen der Götter und die endlosen visionären Himmel und Höllen ko­existieren hier in nicht-räumlicher Beziehung zueinander (da­rüber unten mehr|. Hier sind die gesamte Erinnerung der Menschheit und alle menschliche Erfahrung in einem psychi­schen Schwebezustand in der alaya-vijnana oder dem „Spei­cherbewusstsein" bewahrt, das den akasha oder das universel­le ätherische Feld bildet (Zimmer 1951, S. 526; vgl. Sogyal 1992,S. 111). In den Lehren der Häretiker wird dieses universelle Fassungsvermögen, das alle Spuren der Erinnerung und alle feinstofflichen Formen bewahrt, ob sie nun engelhafter oder dämonischer Natur sind, als anima mundi oder Weltseele be­zeichnet. Diese Wirklichkeitsebene ist in westlichen Traditio­nen als Geisteswelt oder Astralwelt bekannt.

3. Der Nirmanakaya, symbolisiert durch den unteren Kreis, ist die vergängliche materielle Welt in Raum und Zeit, die der Geburt, dem Verfall und dem Tod unterliegt. Er ist die sinn­lich wahrnehmbare Welt, die Welt der Physik und Biologie, die aus Zellen, Teilchen und Lichtwellen besteht. Aus der multi­dimensionalen Sicht der heiligen Tradition ist er eine Manifes­tation, eine Verkörperung oder sozusagen ein „Download" hö­

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herer Welten. In den hinduistischen und buddhistischen Leh­ren heißt er samsara, Welt des Werdens, und wird als im Kern illusionär angesehen, als ein Spiel flüchtiger Umstände - aus dem „Stoff, aus dem die Träume sind", um Shakespeare zu zitieren. „So sollten wir über diese fließende Welt denken" sagt Buddha in ähnlicher Tonlage in seinem Diamantsutra:

„Ein Stem in der Morgendämmerung, eine Blase in einem Fluss,Ein aufleuchtender Blitz in einer Sommerwolke,Eine flackernde Lampe, ein Trugbild und ein Traum."

Im Raum und Zeit der Vision

Eines Tages gab die Sonne zu:Ich bin nur ein Schatten.Ich wünschte, ich könnte dir zeigen Das unendliche Erglühen,Das mein strahlendes Bild geworfen hat Ich wünschte, ich könnte dir zeigen,Wenn du allein oder in der Dunkelheit bistDas erstaunliche LichtDeines eigenen Seins. Hafiz

Mystiker und Dichter aus allen großen Traditionen haben be­schrieben, wie die Schnittstellen zwischen diesen drei Welten beschaffen sind. Der Sufi Al-Ghazzali sagt: „Die sichtbare Welt wurde geschaffen, um der unsichtbaren Welt zu entspre­chen, und es gibt nichts in dieser Welt, das nicht ein Symbol für etwas in jener anderen Welt ist." Und C. G. Jung spricht davon, dass derjenige, der fleischlich denke, Fleisch bleiben werde, derjenige aber, der symbolisch denke, Geist werde.

Die feinstoffliche Welt wird oft als Spiegel der physischen Welt betrachtet, deren physische Formen vergleichsweise ver-

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schwommen erscheinen. Wie Alice im Wunderland müssen wir vielleicht durch die Spiegel hindurchgehen. „Ein Mann, der auf Glas schaut, mag mit dem Auge darauf verweilen, und wenn es ihm beliebt hindurchzuschauen, dann erspäht er die Him­mel" heißt es bei George Herbert.

Aus einer rein materialistischen Sicht vielleicht am schwers­ten zu verstehen ist die tatsächliche Beschaffenheit des psychi­schen Raums in dem mundus imaginalis; schwer begreiflich erscheint, wie es sein kann, dass Wesen in ihren spirituellen Formen oder feinstofflichen Körpern sich innerhalb und zwi­schen den vielen visionären Zwischenwelten bewegen können. Denn in der feinstofflichen Welt finden wir tatsächlich un­terscheidbare Weisen einer psychischen oder spirituellen Ver- ortung im Raum. Innerhalb dieses polarisierten Kosmos gibt es „höhere" und „niedere" Welten, „Himmel" und „Höllen" „engelhafte" und „dämonische" Reiche. Wie kann es denn sein, dass Schamanen und Seher wie Dante innerhalb und zwischen diesen anderen Welten reisen können?

Einen wichtigen Hinweis gibt uns der große seherische Rei­sende Emmanuel Swedenborg:

„Obwohl alle Dinge im Himmel am Ort und im Raum erscheinen wie in der Welt, haben die En­gel gleichwohl keinen Begriff oder keine Vorstel­lung von Ort und Raum. Alles Fortschreiten und alle Bewegungen in der spirituellen Welt sind durch Veränderungen der inneren Zustände be­wirkt ... daher sind alle, die einander nahe sind, in einem ähnlichen Zustand, und die, die von­einander entfernt sind, befinden sich in einem unähnlichen Zustand. Räume im Himmel oder im spirituellen Reich sind nichts als äußere Zu­stände, die inneren entsprechen."

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Jene Seelen, die einen bestimmten Zustand inneren Wachs­tums erreicht haben, werden zu anderen Seelen ähnlicher Be­schaffenheit hingezogen. In der geistigen Welt gibt es eine Art Polarisierung der Formen als Auf- und Abstieg. In der Regres­sion und in schamanischen Reisen zu den Ahnen-Bewohnern der Zwischenwelt trifft man häufig auf „Seelenschwärme" oder Seelen-Familien, die zueinander gehören; sie befinden sich auf einer ähnlichen spirituellen Stufe. Auch diejenigen, die sich an Erfahrungen des Heraustretens aus dem eigenen Körper beim Nahtod erinnern, berichten, dass sie durch Schich­ten oder Ebenen gelangt und dabei auf verschiedene Ansamm­lungen von Existenzen gestoßen seien.

In meinem Buch über frühere Leben erzähle ich die Ge­schichte einer jungen Frau, die sich daran erinnerte, als römi­scher Zenturio gestorben zu sein, der an der Christenverfol­gung beteiligt war (Woolger 1987). In den Bardo-Reichen nach dem Tod gelangt der Zenturio in seinem feinstofflichen Kör­per in eine niedere Ebene und sieht dort Tausende Seelen von Christen, die das Martyrium durchlitten haben und sich in einem Zustand tiefer Verwirrung und des Zorns auf Christus befinden, weil dieser sie nicht gerettet hat. Der Zenturio war noch zum Christentum übergetreten und einen friedvollen Tod gestorben. Als Ergebnis dessen stellte er fest, dass er über die verwirrten Seelen in eine höhere Ebene der Glorie, des Lichts und der Lobpreisung aufstieg. Die Seele des Zenturios war offensichtlich in die engelhaften Reiche gelangt.

Die Bildlichkeit, die durchweg in Beschreibungen höherer Welten auftaucht, ist die des Lichts. Es wird uns etwa berich­tet, das von der höchsten aller Welten, dem Dharmakaya, aus­gehende Licht sei in allen Stufen der Wirklichkeit ständig an­wesend. Doch weil dieser universelle Glanz jenseits der Form ist, ist es weder innen noch außen, und es ist innen und außen zugleich; tatsächlich ist es überall und nirgendwo, worauf der Platoniker mit den Worten hinweist: „Gott ist eine Sphäre, de­ren Zentrum überall und deren Peripherie nirgends ist." (Eine ausführliche Erörterung dieses schwer fassbaren Zitats findet

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sich bei Borges 1964.) Solche paradoxen Metaphern der dua­listischen Mystik sprengen unausweichlich die festgefügten Formen der binären Logik, und die Vorstellung von Zeit und Raum wird auf kaum beschreibliche Weise erweitert. Im An­gesicht solchen höchsten Wissens „wird die ganze Natur er­schüttert, alle Geistlichen werden zu Narren und alle Heiligen und Engel erblinden" wie es in der anonymen Schrift The Cloud, of Unknowing (Die Wolke des Unwissens) heißt. Der Verfasser der Psalmen Davids hatte ähnliche Ehrfurcht vor den wundersamen Dimensionen des göttlichen Geistes, der abso­lut unbegrenzten Macht des Geistes, als er schrieb:

„Wie schwierig sind für mich, o Gott, deine Gedanken, wie gewaltig ist ihre Zahl!Wollte ich sie zählen, es wären mehr als der Sand.Käme ich bis zum Ende, wäre ich noch immer bei dir."

Psalm 139

Alle Lehren stimmen darin überein, dass wir bei unserer Reise „in das eigene Herz" wie es bei Rumi heißt, wie „Lichtstrah­len" sind, und dieses Licht ist nichts anderes als „das reine Licht der Leere", das alles ewig durchdringt und aufrechterhält. Dante sah dieses Licht in seiner Schau des Paradieses als J'amor che move il sole e l'altre stelle“ - „die Liebe, die bewegt die Sonn und Sterne" wie es in der Schlusszeile der Divina Comedia heißt Generell gilt, dass nur große Seher und Heilige die enorme Helligkeit dieses Lichtes wahrnehmen und ertra­gen können. Rumi bestätigt dies, nämlich dass „die Körper hei­liger Männer und Frauen die Fähigkeit haben, das unbedingte Licht auszuhalten, das Gebirgsketten in Stücke zerschlagen kann" Damit nicht genug: Die größten Meister verleiben sich jenes Licht mittels des gereinigten Gefäßes ihres feinstoff­lichen Körpers sogar ein - der in vielen Traditionen dann pas­

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senderweise Leuchtkörper genannt wird. „Wenn er an einem Haus vorbeiging, drang das Licht von Josephs Anditz durch das Lattenwerk und hinterließ ein Leuchten auf der Mauer. Die Menschen bemerkten dies und sagten: Joseph macht wohl gerade einen Spaziergang."' (Rumi)

Im Angesicht dieses Lichts und solcher erleuchteter Wesen sind wir wie Jesu Jünger geblendet von so viel Helligkeit, wie es in der gnostischen Pistis Sophia beschrieben ist:

„Und jenes mächtige Licht ergoss sich über Jesus und umhüllte ihn vollständig, während er abseits von seinen Jüngern saß, und eine ungewöhnliche Leuchtkraft ging von ihm aus. Das Licht, das ihn umgab, war anders als alles, was die Menschen jemals erschaut hatten.

Und die Jünger hatten Jesus wegen des Lichts, in dem er erstrahlte und das um ihn war, nicht er­kannt, weil ihre Augen geblendet waren von dem ungeheuren Licht, das Jesus umgab. So sahen die Jünger nur das Licht, das mit vielen gewaltigen Strahlen alles durchströmte ... und sich zu einem riesigen, unermesslichen Lichtkreis schloss. Er reichte von unter der Erde bis ganz in den Him­mel hinein - und als die Jünger das Licht sahen, befiel sie große Unruhe und Furcht.

Und sie wurden gewahr, dass, als das mächtige Licht Jesus erreicht hatte, es ihn nach und nach ganz umhüllte. Dann stieg Jesus in das Licht auf, und es umgab ihn ein übermäßiges Strahlen in einem unvergleichlichen Licht. Und die Jünger sahen ihm nach und niemand von ihnen sprach. Aber sie alle verharrten in tiefem Schweigen."

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Schluss: Der Stoff, aus dem die Träume sind

Von solcher Art also ist das Potenzial der Erleuchtung und Ver­klärung, wenn alle drei Welten sich in einem Wesen oder an einem Ort manifestieren. „Wo auch immer der Fußabdruck ge­funden wird, liegt in dieser Hand voll Staub das Einssein der Welten" heißt es beim Sufi Ghalib. Denn tatsächlich „ist das Reich des Vaters über der Welt ausgegossen, doch die Men­schen sehen es nicht" (Thomas-Evangelium, 113). Nur durch das „Reinigen der Türen der Wahrnehmung" (Blake) und die Öffnung gegenüber den seherischen Fähigkeiten innerhalb des feinstofflichen Körpers können wir zu unserem göttlichen Be­wusstsein erwachen, zum Licht in uns. Dann und nur dann werden das multidimensionale Wesen der Dinge und ihre letztliche Einheit manifest. Shelley beschreibt dies wie folgt:

„Der Eine bleibt, die Vielen verändern und vergehen;des Himmels Licht scheint ewig,Erdschatten fliegen.Leben, wie ein Dom aus vielfarbigem Glas, befleckt den weißen Glanz der Ewigkeit...Blumen, Ruinen, Statuen, Musik und Wort - schwer ist's,die Herrlichkeit, die sie durchflutet, mit Wahrheit doch zu sagen." Adonais (1821)

Die letzten Worte sollten vielleicht einem der größten Seher aller Zeiten Vorbehalten sein; sie stehen in seinem letzten und absichtsvoll hermetischen Werk* Zum Beschluss also Pros-

* Zu Shakespeares Hermetik siehe Yates 1975, Dawkins 2000, Huxley 1968.

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peros gebieterische Beschwörung des mundus imaginalis in Shakespeares Stunn (4,1), ein wehmütiges Echo auf die oben zitierten Buddha-Worte:

„Das Fest ist jetzt zu Ende; unsre Spieler,Wie ich Euch sagte, waren Geister, und Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft.Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden Die wolkenhohen Türme, die Paläste, die hehren Tempel, selbst der große Ball,Ja, was daran nur Teil hat, untergehn Und, wie dies leere Schaugepräng' erblasst,Spurlos verschwinden. Wir sind solcher Zeug Wie der zu Träumen, und dies kleine Leben Umfasst ein Schlaf."

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Erleuchtung und Verdunkelung

Charles T. Tart

Charles T. Tart, Mitglied der Core Faculty des Institute of Transpersonal Psychology, emeritierter Professor für Psycho­logie an der University of California in Davis und Senior Research Fellow des Institute of Noetic Sciences, ist für seine Forschungen zu Bewusstseinserweiterungen, transpersonaler Psychologie und Parapsychologie international bekannt. Zwei seiner elf Bücher sind zu Klassikern geworden - Altered Sta­tes of Consciousness und Transpersonal Psychologies. Sein 1986 erschienenes Buch Waking Up: Overcoming the Ob­stacles to Human Potential integriert die Achtsamkeitsschu­lung des Buddhismus und der Sufis - aufbauend auf Studien von G. I. Gurdjieff - in die moderne Psychologie. Auch in Li­ving the Mindful Life und in seinem jüngsten Buch Mind Science: Meditation Training for Practical People (2000) unternimmt er eine weitere Erkundung der Möglichkeiten des Erwachens. Er hat sich mit Aikido, buddhistischer Medi­tation, dem Werk von Gurdjieff und anderen Bereichen der psychologischen und spirituellen Entwicklung beschäftigt. Zu seinen wichtigsten Zielen gehört es, Brücken zwischen Wissenschaft und Spiritualität zu schlagen und westliche und östliche Ansätze des persönlichen und gesellschaftlichen Wachstums zu kultivieren und miteinander zu verbinden.

Ich habe immer daran geglaubt, dass die Wissenschaft und insbesondere die Psychologie insofern umfassend sein sollte, als sie alle Aspekte des menschlichen Bewusstseins in Betracht

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zieht - nicht nur diejenigen, die gerade zufällig in Mode sind. Und während meiner langen Arbeit auf dem Gebiet der Psychologie habe ich festgestellt, dass bestimmte Dinge ein­fach nicht in Mode waren. Ich habe zum Beispiel zu Beginn meines Berufslebens viel über Hypnose geforscht, wobei es mir manchmal gelang, die Wirklichkeit eines Menschen voll­ständig zu verändern, indem ich mit ihm eine halbe Stunde lang sprach. Die Psychologie hat diese Art von Dingen prak­tisch nicht zur Kenntnis genommen. Ich habe nicht begreifen können, wie man solche starken Effekte einfach ausblenden konnte. Und dann habe ich eine ganze Vielzahl „unmoderner" Phänomene untersucht: Dinge wie Hypnose und Träume, ver­änderte Bewusstseinszustände im Allgemeinen, Meditation, die Entfaltung menschlichen Potenzials, Biofeedback, Parapsycho­logie. Viele dieser Bereiche haben inzwischen Eingang in die Schulpsychologie gefunden, was mich sehr freut. Im Folgen­den möchte ich mich auf einen Bereich konzentrieren, der noch immer völlig außerhalb liegt, den ich aber für höchst wichtig halte. Ich werde ihn „Erleuchtung" nennen.

Fürs Erste möchte ich von einer Definition dessen, was ich unter Erleuchtung verstehe, Abstand nehmen. Ich kann eine solche Definition ohnehin nicht wirklich geben, doch wir wol­len so tun, als ob ich sie später liefern könnte, und ein vor­läufiges Einvernehmen darüber erzielen, was damit gemeint sein könnte. Ich werde auch „Bewusstsein" nicht erklären, doch wenn es mir gelingt, den Begriff unter neuen Aspekten zu beleuchten, wäre ich schon zufrieden. Wir können das Be­wusstsein natürlich nicht erklären, doch es macht viel Spaß, es zu versuchen.

Erleuchtung ist ein wichtiges psychologisches Ziel für Hun­derte von Millionen Menschen auf unserem Planeten. Doch sie befinden sich zum größten Teil nicht unter uns, sondern im Mittleren und Femen Osten, und daher schenken wir ihnen keine Aufmerksamkeit. Unsere kulturellen Begrenzungen sor­gen dafür, dass die Wissenschaft überhaupt und die Psycholo­gie im Besonderen gegenüber Fragen der Erleuchtung nahezu

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blind sind. Erleuchtung wird in Einführungstexten zur Psycho­logie mit keinem Wort erwähnt. Für mich hat dieses man­gelnde Interesse der Psychologie für Erleuchtung etwas Ironi­sches, denn es scheint mir, dass die moderne Psychologie auf eine seltsame Weise ein größeres Wissen über die Hindernisse auf dem Weg zur Erleuchtung hat als die Traditionen der spiri­tuellen Erleuchtung selbst! Ich habe dieses Faktum gelegent­lich so beschrieben, dass wir ein tiefes Wissen von Verdunke­lung haben.

Für mich persönlich kann ich das nur unterstreichen. Ich weiß wirklich nicht, was Erleuchtung ist, aber persönlich und beruflich habe ich mich über fünfzig Jahre lang mit der Ver­dunkelung beschäftigt und nehme für mich in Anspruch, über einigen Sachverstand auf diesem Gebiet zu verfügen. Gleich­wohl will ich so vermessen sein, hier in aller Kürze etwas da­rüber zu sagen, was Erleuchtung für unser Leben bedeuten kann.

Sie könnten einwenden, dass von den Traditionen der Er­leuchtung her gesehen unser normales Bewusstsein stark ein­geschränkt sei und dass wir recht eigentlich in einem sehr beschränkten Bereich unserer Möglichkeiten gefangen seien. Wenn wir auch in der modernen Psychologie über einige sehr wirksame Techniken verfügen, so nutzen wir sie doch nur, um unsere Gefängniszellen auszuschmücken und sie für uns an­genehmer zu machen, statt sie für eine tiefere Erleuchtung einzusetzen, was möglich wäre. So glaube ich letztlich doch daran, dass die Kenntnisse der modernen Psychologie uns da­bei helfen können, uns in Richtung der Erleuchtung zu be­wegen.

Definitionen

Wir alle hier sind gut geschulte Intellektuelle und wissen da­her, dass wir als Erstes unsere Begriffe definieren müssen. Als Psychologe habe ich im Encyclopedic Dictionary of Psychology (Harre und Lamb 1983) nachgeschlagen, um zu sehen, was

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darin über Erleuchtung steht, und siehe da, es gibt keinen Eintrag - so viel zur üblichen Definition der Erleuchtung in der Psychologie! Dann habe ich mir mein Handexemplar des Webster's New Collegiate Dictionary genommen und bin auf den Eintrag „Erleuchtung" gestoßen: 1. Der Akt oder das Mittel des Erleuchtens, der Zustand des Erleuchtetseins. Das klingt gut, bringt uns aber nicht wirklich weiter. 2. Aufklärung* eine philosophische Bewegung des 18. Jahrhunderts, die durch das In­fragestellen traditioneller Lehrmeinungen und Werte und durch eine Tendenz zum lndividualismus geprägt ist und großen Wert auf die Idee eines allgemeinen Fortschritts der Menschheit, die empirische Methode in den Wissenschaften und den freien Gebrauch der Vernunft legt.

Ich dachte mir: Das war eigentlich nicht das, worüber ich sprechen wollte, es steht aber sicherlich nicht im Widerspruch dazu. Das ist schon in Ordnung, auch wenn der Begriff „Indi­vidualismus" in diesem Zusammenhang ein wenig komisch erscheint. Und 3. Erleuchtung im Buddhismus, ein seliger End­zustand, der durch das Fehlen von Wünschen oder Leid gekenn­zeichnet ist. Beim Nachdenken darüber bin ich darauf gekom­men: Das klingt so, als ob man tot wäre! Also ist das ebenfalls keine wirklich passende Definition, zumal es sich nach mei­nem Verständnis nicht um ein Fehlen von Wünschen handelt, sondern darum, dass die Neigung sich etwas zu wünschen, fehlt, was etwas ganz anderes ist

Wie Sie nun alle einsehen werden, ist Erleuchtung per se nicht definierbar. Erleuchtung bezieht sich auf eine tief grei­fende Änderung nicht nur in Ihrem Bewusstsein, sondern in Ihrem ganzen Seinszustand; wenn wir dagegen etwas zu defi­nieren versuchen, dann ist unsere Fähigkeit, zu definieren und Wörter zu gebrauchen, ein Teil des gesamten - riesigen! - Spektrums unserer Totalität als Menschen. Ich bin nie davon

* Das englische „enlightenment" bedeutet auf Deutsch sowohl „Erleuch­tung" als auch „Aufklärung"; das Spiel mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs lässt sich im Deutschen nicht wiedergeben; Anm. d. Übers.

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ausgegangen, dass ein Teil dazu in der Lage wäre, das Ganze zu definieren. Und ich bin immer wieder erstaunt, wenn Men­schen sich in den Wahnsinn treiben, weil sie etwas nicht adäquat definieren können, als ob das bedeuten würde, dass wir mit seiner Realität nicht umgehen könnten. Das ist nicht meine Sorge. Für mich sind Wörter ein geeignete Art und Weise, um auf Realitäten zu zeigen, und wenn wir nur sorg­fältig und präzise auf sie zeigen können, ist schon alles in Ordnung.

Das allerdings ist schwierig. Ich habe zum Beispiel zu meiner Katze viele Male gesagt: „Schau mal da drüben", und wenn die Katze mir überhaupt Aufmerksamkeit schenkt, dann schaut sie auf meinen Finger. Wörter können uns also he­reinlegen: Statt in die Richtung zu schauen, in die die Wörter zeigen, bleiben wir bei den Wörtern selbst stecken. Für die­jenigen, die es gern kunstvoller hätten, könnte man sich auf Gödels Theorem berufen und zeigen, dass der Teil eines Gan­zen nie aus sich heraus ganz erklärt werden kann. Ich werde meine Wörter heute also sorgfältig setzen, doch die Wörter, die ich benutze, sind als „Zeiger" gemeint. Wenn sie auf etwas zeigen, von dem Sie ein gewisses Verständnis aus Ihrer Erfah­rung haben, so dass Sie einige aufschlussreiche Verbindungen hersteilen können, dann ist dies umso besser. Wenn Sie aber in den Wörtern gefangen bleiben, ist das womöglich gefährlich.

Die Erfahrung des Dr. S.

Wie wir alle wissen, wird das Thema der Erleuchtung vielfach mit Unsinn und Psychopathologie in Verbindung gebracht, wie auch mit schlichter Verrücktheit - doch das ist nichts Be­sonderes. In allen Lebensbereichen finden sich Elemente des Pathologischen und Verrückten. Also sollten wir uns dadurch nicht stören lassen. Ich werde mich heute auf die Frage „Was ist Erleuchtung?" konzentrieren und versuchen, Ihnen etwas vom Wesen dieses Phänomens zu vermitteln.

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Die Beispiele, die ich Ihnen heute gebe, stammen aus­drücklich nicht aus den großen spirituellen Traditionen. Ich habe einen großen Respekt vor diesen Traditionen, doch auch sie sind jeweils in ein bestimmtes Begriffssystem eingebunden. Ich werde mich in meinen Beispielen auf Menschen beziehen, die keine vorgefertigten Überzeugungen zum Thema Erleuch­tung haben, denen nicht daran hegt, dass es so klingt, als ob ihre Erfahrung mit einer bestimmten Lehre übereinstimmte.

Zunächst möchte ich Ihnen ein Beispiel für eine Spontan­erfahrung liefern, das die Erleuchtung in einem bestimmten Wortsinn als besonderen Zustand der Bewusstseinsverände­rung illustriert. Das ist von großer Bedeutung.

Das Beispiel stammt von einem Anästhesisten. Als er die im Folgenden beschriebene Erfahrung machte, war er ein ziem­lich radikaler Atheist, doch die meiste Zeit scherte er sich überhaupt nicht um irgendetwas Spirituelles. Er war ein viel versprechender junger Wissenschaftler, der viele Forschungs­stipendien hatte, sich schnell habilitierte und viele gute Auf­sätze veröffentlichte, sodass man ihm mit Sicherheit bald eine ordentliche Professur anbieten würde. Er aber war nach der besonderen Erfahrung, die im Folgenden beschrieben wird, gar nicht mehr darauf aus, sogleich einen Ruf zu erhalten; viel­mehr war es ihm wichtig, mehr Zeit für die Erforschung seines eigenes Geistes zu haben. In der akademischen Welt, in der ein Lehrstuhl mit Erfolg und Sicherheit gleichzusetzen ist, be­deutet dies viel!

Es folgt eine recht genaue Beschreibung seiner Erfahrung. Einer der Gründe dafür, dass sie so präzise ist, liegt darin, dass ich zu ihm bei der ersten Begegnung gesagt habe: „Sie sollten das aufschreiben." Daran war mir gelegen, weil er danach auch einige Erfahrungen mit psychedelischen Drogen gehabt hatte. „Wie Sie wissen", sagte ich ihm, „gibt es viele Veröffent­lichungen zu der Frage, ob psychedelische Drogen echte mys­tische Erfahrungen hervorrufen können; im Großen und Gan­zen handelt es sich allerdings um einen klassischen Fall eines Blinden, der einem anderen Blinden als Führer dient. Die Ar­

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beiten stammen von Leuten, die weder eine spontane mysti­sche Erfahrung noch eine psychedelische Erfahrung gehabt ha­ben und sich doch anmaßen, über deren Realität zu urteilen." Er hatte auf beiden Gebieten Erfahrungen. Also bestand er darauf, dass ich mit ihm arbeitete und ihm so lange Fragen stellte, was genau er mit diesem oder jenem meinte, bis er es klar formulieren konnte. Daher gibt es in diesem Fall eine ge­wisse Präzision. Dr. S., wie ich ihn nennen will, ist noch nicht so weit, dass er sich in das Licht der Öffentlichkeit wagt, aber er steht kurz davor.*

„Mein Erleben eines kosmischen Bewusstseins ereignete sich unerwartet, als ich eines Abends allein war und einen besonders schönen Sonnen­untergang beobachtete. Die Erfahrung begann mit einem leichten Prickeln an der Schamleiste zwi­schen Genitalien und Anus. Das Gefühl war un­gewöhnlich, wenn auch weder besonders ange­nehm noch unangenehm. Nach den ersten paar Minuten habe ich auf das Prickeln nicht mehr geachtet, oder ich habe es vergessen. Dann nahm ich wahr, dass sowohl im Raum wie auch am Himmel draußen die Stärke des Lichts langsam zuzunehmen schien. Das Licht schien von über­allher zu kommen, nicht nur von der untergehen­den Sonne. Tatsächlich ging von der Sonne kein besonders starkes Leuchten aus. Das Licht gab der Luft eine gewisse helle Undurchdringlichkeit, sodass die Wahrnehmung eher ein wenig getrübt als besonders geschärft war. Bald wurde es sehr hell, doch das Licht war nicht im Geringsten un-

* Allan Smith und ich haben inzwischen gemeinsam einen Aufsatz über seine Erfahrung veröffentlicht: „Cosmic consciousness experience and psychedelic experiences: A first person comparison" Journal of Con­sciousness Studies 5 (1998), Heft 1, S. 97-107.

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angenehm. Mit dem Licht ging eine Veränderung der Stimmung einher. Ich fühlte mich sehr gut und immer besser, schließlich spürte ich eine freudige Erregung. Während dies geschah, schien die Zeit langsamer und langsamer zu vergehen. Die Prozesse des Immerhellerwerdens, des Stei- gens der Stimmung und der Verlangsamung der Zeit liefen zusammen ab. [Hier befragte ich ihn nach den Zusammenhängen zwischen diesen Phä­nomenen.] Es ist schwer zu schätzen, in welcher Zeitspanne sich diese Veränderungen ereigneten, denn das Zeitgefühl war ja selbst betroffen. Aller­dings gab es ein Gefühl der stetigen Veränderung und nicht eines plötzlichen Sprungs oder mehre­rer Sprünge in einen neuen Zustand. Schließlich gab es überhaupt kein Gefühl für die vergehende Zeit mehr. Dieses Gefühl ist schwer zu beschrei­ben, doch es wäre besser zu sagen, es gab keine Zeit oder kein Gefühl von Zeit. Nur der gegen­wärtige Augenblick existierte. Meine Hochstim­mung ging in einen ekstatischen Zustand von ei­ner Intensität über, wie ich sie mir nie hätte vor­stellen können oder für möglich gehalten hätte. Das farblose weiße Licht um mich herum ver­schmolz mit dem rötlichen Licht des Sonnen­untergangs zu einem alles umhüllenden intensi­ven Lichtfeld. Die Wahrnehmung anderer Dinge verblasste.

An diesem Punkt verschmolz ich mit dem Licht, und alles, mich eingeschlossen, wurde zu einem einheitlichen Ganzen. Es gab keine Trennung zwi­schen mir und der übrigen Welt. Tatsächlich wäre die Behauptung irreführend, dass es ein Univer­sum, ein Selbst oder irgendein Ding gegeben hät­te. Genauso gut könnte man sagen, dass es nichts gab, wie dass alles da war. Die Beschreibung, dass

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das Subjekt mit dem Objekt verschmilzt, wäre nahezu adäquat für den Eintritt in das kosmische Bewusstsein, doch während des kosmischen Be­wusstseins gibt es weder Subjekt noch Objekt.Alle Wörter und alles diskursive Denken hatten aufgehört, und ein Beobachter hätte das, was ge­schah', nicht kommentieren oder kategorisieren können. Es gab keine unterscheidbaren Ereignisse, die sich zutrugen, nur ein zeitloses einheitliches Empfinden des Seins."

Er fuhr fort, dass es unmöglich sei, das kosmische Bewusstsein zu beschreiben, teils auch deshalb, weil Beschreibung den Ge­brauch von Wörtern einschließt und es in jenem Zustand keine Wörter gibt

„Meine hier gelieferten Beschreibungsversuche stammen daher, dass ich bald nach dem Schwin­den des kosmischen Bewusstseins, als ein gewis­ser Geschmack des Ereignisses noch da war, da­rüber nachgedacht habe. Das auffälligste Element des kosmischen Bewusstseins bestand vielleicht darin, dass es mit einem absoluten Wissen darum begleitet war. Dieses Wissen ist ein tiefes Ver­ständnis, das sich ohne Wörter ereignet.

Ich wusste mit Sicherheit, dass das Universum ein einziges Ganzes war und dass Güte und Liebe den Grund bildeten. Die gütige Natur, der Grund und das Sein, mit dem ich vereinigt war, war Gott. Allerdings hat meine Erfahrung Gottes als Grund und Sein wenig mit der anthropomorphen Vorstellung Gottes in der Bibel zu tun. Jener Gott ist von der Welt getrennt und hat viele menschli­che Eigenschaften. ,Er' zeigt Liebe, Zorn und Ra­che, erteilt Befehle, belohnt, bestraft, vergibt usw. Gott, wie er im kosmischen Bewusstsein als der

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wahre Grund und das Sein des Universums erfah­ren wird, hat keine menschlichen Eigenschaften im normalen Wortsinn. Das Universum kann von Gott ebenso wenig getrennt werden wie mein Körper von den Zellen, aus denen er besteht. Außerdem wäre Liebe die einzige Emotion, die ich mit Gott in Verbindung bringen würde, doch es müsste heißen, dass Gott Liebe ist, und nicht, dass Gott liebt. Anders gesagt: Gott als Liebe zu charakterisieren, die den Grund des Seins aus­macht, ist nur eine Metapher, doch eine bessere Beschreibung einer unbeschreiblichen Erfahrung kann ich nicht geben. Das Wissen kosmischen Bewusstseins hat mich die wahre Natur des Uni­versums dauerhaft spüren lassen. Jedoch hat es viele der Fragen, die uns zu Recht in unserem normalen Bewusstseinszustand als so bedeutend Vorkommen, nicht beantworten können. Aus der Perspektive des kosmischen Bewusstseins werden Fragen wie ,Was ist der Sinn des Lebens?' oder ,Gibt es ein Weiterleben nach dem Tode?' nicht beantwortet, weil sie nicht relevant sind. Das heißt, ontologische Fragen werden während des kosmischen Bewusstseins durch den Seinszustand, in dem man sich befindet, voll beantwortet, wo­hingegen Fragen, die sich sprachlich artikulieren lassen, ganz nebensächlich sind. Schließlich ver­blasste das kosmische Bewusstsein. Die Zeit ver­änderte sich, das Licht und die Hochstimmung vergingen. Als ich wieder denken konnte, war die Sonne untergegangen; ich schätze, das Ereignis wird etwa zwanzig Minuten gedauert haben."

Es ist kaum zu bestreiten, dass dies das normale Bewusstsein übersteigt

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Methodologische Annahmen

Ich möchte nun die Annahmen aufführen, von denen ich bei der Beschäftigung mit diesem Erlebnis ausgehe. Ebenfalls möchte ich darauf hinweisen, dass es sich um Annahmen handelt, die aus der Perspektive unseres normalen Bewusst­seinszustands getroffen werden, doch sie können von ver­schiedenen veränderten Bewusstseinszuständen aus einer Prü­fung unterzogen werden. Es müssen also nicht notwendiger­weise Annahmen bleiben, obwohl sie für diejenigen, die so etwas nicht erfahren haben, weiterhin als solche erscheinen. Die Tatsache, dass diese Annahmen überprüfbar sind, hat für mich erhebliche Bedeutung. So groß mein Interesse an spiri­tuellen Dingen auch ist - und es ist wirklich sehr groß -, füh­le ich mich doch der Wissenschaft verpflichtet und halte sie für nützlich. Allerdings meine ich, dass ein Verstehen von Er­leuchtung mit Wissenschaftlichkeit vollständig vereinbar ist. Ich möchte einen frühen „Psychologen" zitieren, der sich für die Psychologie der Motivation sehr interessierte: Gautama Buddha.

„Glaube nicht an etwas einfach nur, weü du es gehört hast. Glaube nicht an Traditionen nur des­halb, weil sie über viele Generationen weiterge­tragen wurden. Glaube nicht an etwas, weil viele darüber sprechen und munkeln. Glaube nicht an etwas, weil du es in deinen religiösen Büchern ge­schrieben findest. Glaube nicht an etwas allein aufgrund der Autorität deiner Lehrer und der Älteren. Wenn du aber nach Beobachtung und Untersuchung herausfindest, dass etwas mit der Vernunft übereinstimmt und für das Wohl des einen und aller förderlich ist, dann akzeptiere es und lebe ihm gemäß."

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Ich kann dem nur zustimmen und halte dies für eine vollkom­men wissenschaftliche Einstellung.

Die Tatsache, dass diese Annahmen überprüfbar sind, ist für mich deshalb so wichtig, weil es bei der Erleuchtung, wie Sie sehen werden, nicht um blinden Glauben geht: Es geht nicht darum, den Verstand nicht zu gebrauchen und etwas glauben zu müssen, wie widersprüchlich es auch sein mag. Es gibt natürlich viel blinden Glauben um uns herum, im Wissenschaftsbetrieb ebenso wie in anderen Bereichen. Doch diese Annahmen sind mit dem grundlegenden Ansatz der Wissenschaften vereinbar. Nicht vereinbar sind sie mit dem, was die Soziologen „Szientismus" nennen, wonach die derzei­tigen Befunde der Wissenschaft - nach dem Vorbild der Phy­sik - als absolute Antworten genommen werden, die vor Häre­sie geschützt werden müssen. Es ist mir nicht daran gelegen, die Kriterien des Szientismus zu erfüllen.

Hier also sind die Annahmen:

Die erste besteht darin, dass unsere alltägliche Erfahrung nur eine Teilmenge aller Möglichkeiten darstellt. Das alltägliche, „normale" Bewusstsein habe ich mit dem Terminus technicus Konsens-Bewusstsein bezeichnet, weil die Art, wie unser indi­vidueller Geist arbeitet, in hohem Maß das widerspiegelt, was wir durch unsere Kultur als real und wichtig anzusehen ge­lernt haben.

Die zweite Annahme ist ähnlich wie die erste, doch sie bringt ein gewisses Werturteil mit sich: Die alltägliche Erfahrung ist eine eingeschränkte oder verkürzte Version all der Möglich­keiten menschlichen Bewusstseins. Und hier möchte ich einen Begriff von Willis Harman verwenden, den Begriff Konsens- Trance, den ich mit voller Absicht pejorativ verwende. Diese beschränkte Version unseres möglichen Bewusstseins, diese Konsens-Trance geht tatsächlich mit einer gewissen Dumpf­heit, Unwissenheit, mit Leid, Willenlosigkeit usw. einher.

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Was meine ich nun damit? Ich möchte eine Parallele zu eini­gen Hypnose-Experimenten ziehen, die wir vor vielen Jahren im Laboratorium durchgeführt haben. Wir konnten eine Per­son hypnotisieren und ihr sagen: „Sie können Ihren Arm nicht beugen, sosehr Sie es auch versuchen, Sie können ihn einfach nicht beugen." Viele Menschen in dieser Situation mühten und mühten sich ab, konnten ihren Arm aber nicht beugen. Wenn ich Ihnen jetzt sage, dass Sie Ihren Arm nicht beugen können, dann können Sie ihn trotzdem ohne weiteres beugen. Doch in dem eingeschränkten Zustand der Hypnose, den wir im Laboratorium kontrolliert herbeigeführt haben, standen der jeweiligen Person nicht alle ihre Fähigkeiten zur Verfügung, und sie konnte den Arm tatsächlich nicht beugen. In einem gewissen Sinne akzeptierten sie die Realität, die ihnen durch die Hypnose suggeriert wurde, als gegeben, statt sich an eine größere Wirklichkeit zu erinnern.

Das Problem, den Arm nicht beugen zu können, kann vom allmächtigen Hypnotiseur durch den Hinweis, dass es doch geht, oder durch das Nachlassen der Hypnose gelöst werden - im letzten Fall hört das Problem eher auf zu existieren, als dass es „gelöst" wäre. Eine in der spirituellen Tradition viel benutzte Analogie besteht darin, dass das normale Konsens- Bewusstsein so etwas wie ein nächtlicher Traum sei. In einem gewissen Sinne haben wir beim Träumen im Vergleich zum Wachzustand eine eingeschränkte Intelligenz: Es steht dem Träumenden nicht sein ganzes Wissen zur Verfügung, der Wille ist beschränkt usw. Und daher leiden wir im Traum oft, wenn wir etwas zu tun versuchen, das uns im normalen Leben ganz leicht fiele, etwas, das überdies keinerlei Bedeutung hat. Außerdem sind wir uns im Traum im Allgemeinen unseres tatsächlichen Zustands nicht bewusst, wir wissen also nicht, dass wir schlafen und träumen. Wir meinen uns in einer Welt zu befinden. Wie bei der Hypnose verschwinden beim Erwa­chen zum normalen Bewusstsein die Probleme des Traums, ohne dass sie „gelöst" worden wären. Von den Traditionen der Erleuchtung her ergibt sich Ähnliches: Wenn wir wahrhaft er­

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wachen, werden wir aus jener Perspektive feststellen, dass wir uns jetzt in einem traumgleichen Zustand der Konsens-Trance befinden und dass, wie die Erfahrung von Dr. S. illustriert, viele Dinge, die uns als große Probleme Vorkommen, vom an­deren Seinszustand aus einfach verschwinden. Dies also sind meine Annahmen.

Das Leid und seine Ursachen

Stellen wir nun die Frage: Warum leiden wir?Aus der Perspektive der Erleuchtung sind die vier edlen

Wahrheiten - um erneut den alten Motivationspsychologen Gautama Buddha zu zitieren - eine Antwort: Die erste edle Wahrheit ist die Wirklichkeit des Leids. Ich habe noch nie je­manden erlebt, der dies abgestritten und behauptet hätte, dass wir niemals leiden würden. Also ist das eine allgemein gültige Wahrheit. Die zweite edle Wahrheit besteht in einer Untersu­chung der Ursachen des Leids, die dritte edle Wahrheit besagt, dass das Leid überwunden werden könne, und die vierte gibt uns Übungen zur Überwindung des Leids.

Was aber meinte er mit dem Leid und seinen Ursachen? Er nannte drei Hauptursachen des Leids. Die erste ist die Unwis­senheit, und zwar in zweierlei Bedeutung, zum einen in der üblichen: Wenn Sie nicht wissen, wie man einen Reifenwech­sel vornimmt und an Ihrem Auto einen Plattfuß haben, dann leiden Sie, während Sie darauf warten, dass jemand anders das erledigt. Wenn Sie hingegen wüssten, wie man vorzugehen hat, und in Eile wären, würden Sie diesem Leid aus dem Weg ge­hen. Diese Art von Unwissenheit lässt sich durch Ausbildung beheben. Tatsächlich können wir im Westen mit dieser Art von Unwissenheit ganz gut fertig werden.

Doch Buddha ging es vor allem um eine viel tiefere Un­wissenheit, darum, dass wir nicht wissen, wer wir wirklich sind, oder - da er gern Negative benutzte - wer wir wirklich nicht sind. Wir wissen nicht, dass wir eine transpersonale Na­

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tur haben, dass es bei uns etwas gibt, das unendlich viel größer ist als unser normales, gewohntes Selbst - deshalb sind wir Nichtwissende. Weil uns dieses Wissen mangelt, verschwenden wir unsere Energie, unseren Willen und unseren Glauben an Dinge, die viel zu beschränkt sind. Wir verschwenden unsere Energie an zwei weit verbreitete Überzeugungen: dass wir nichts weiter sind als unser materieller Körper und unsere nor­male Persönlichkeit. Gurdjieffs Begriff der „falschen Persön­lichkeit" eignet sich, wie ich finde, besonders gut zur Beschrei­bung unserer Identifikation mit unserem normalen Selbst, denn diese Persönlichkeit wurde, während sie sich herausbil­dete, durch so viele Dinge, die nicht in unserer Macht standen, verursacht, ohne dass wir wirklich eine Wahl gehabt hätten.

So drückt sich unsere fundamentale Unwissenheit darin aus, dass wir uns mit unserem Körper und unserer falschen Persönlichkeit gleichsetzen. Wenn man das einmal tut, ergibt sich einiges ganz von selbst. Dieser Körper ist für Verletzun­gen, Leid und Tod anfällig, und meine falsche Persönlichkeit ist ebenfalls verwundbar. Es muss mir nur jemand einen miss­billigenden Blick zuwerfen, und schon bin ich verletzt. Ich muss etwas tun, damit die Leute mich mögen.

Als Ergebnis dieser Gleichsetzung mit unserem Körper und unserer Persönlichkeit, als Ergebnis dieser Unwissenheit über unsere wahre Natur verbringen wir Buddha zufolge unser Leben zwischen den beiden entgegengesetzten Polen von Be­gehren und Abscheu, den beiden Hauptursachen des Leidens. Einerseits möchte ich von allem, was mich irgendwie schützt oder mich glücklich macht, immer mehr haben, ich brauche es, ich möchte es festhalten, ich bin gierig darauf, es zu haben. Andererseits muss ich alles, was meine Persönlichkeit oder meinen Körper bedroht, wegstoßen, ich entwickle eine Abnei­gung dagegen, und so besteht das Leben aus einem beständi­gen Oszillieren zwischen diesen beiden Polen: Begehren und Abscheu, gekoppelt mit einer tiefen Unwissenheit.

Nach Buddhas Analyse basiert das Kräftespiel des Konsens- Bewusstseins also auf Unwissenheit, Begehren und Abscheu,

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und dies führt zu einer Störung der Wahrnehmung unserer selbst, anderer Menschen und der Welt ringsum. Ich werde nun für einen kurzen Moment selbst in diesen gestörten Be­reich hinübergleiten, denn wenn ich dieses Phänomen von ei­nem moderneren psychologischen Standpunkt aus beschreibe, könnte es meiner Ansicht nach klarer werden. Die Buddhisten haben eine Vorstellung übernommen, die auch im Hinduis­mus zu finden ist, nämlich die, dass wir in einer Täuschung befangen sind. Samsara ist im Buddhismus der Ausdruck da­für. In der Übersetzung wird ihm üblicherweise die Bedeutung gegeben, dass die Welt nicht wirklich ist, doch das ist gar nicht der Hauptpunkt. Es geht nicht darum, dass die Welt nicht wirklich ist, sondern darum, dass unsere Wahrnehmung der Welt so tief gestört ist, dass die Erfahrungswelt, in der wir le­ben, in vielerlei Hinsicht eine Täuschung und nicht die wirk­liche Welt ist.

Als Ergebnis dessen, dass wir einer Täuschung unterliegen, leiden wir. Wenn wir uns darüber täuschen, was jemand ande­res von uns will, d. h., wenn wir ihm das Falsche geben, dann nimmt er uns das übel, und von diesem Punkt aus nimmt alles Weitere seinen Lauf. Die tibetischen Buddhisten haben eben­falls einen schönen Begriff für das normale Bewusstsein. Sie nennen es einen fabrizierten Zustand, und „fabrizieren" lässt sich auf zweierlei Weise betrachten. Zum einen einfach im Sinne des Herstellens: Wir tun eine Menge, um unser normales Bewusstsein zu erschaffen, auch wenn wir daran so gewöhnt sind, dass wir es überhaupt nicht bemerken. Doch Fabrizieren kann auch bedeuten, dass etwas ausgedacht oder erfunden wird, dass wir nicht die Wahrheit sagen, sondern lügen.

Die virtuelle Realität von Erfahrung

Lassen Sie uns nun dieselbe Frage „Warum leiden wir?" von einem modernen psychologischen Standpunkt aus betrachten. Wie auch immer man das Wesen des Bewusstseins letztlich

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bestimmen mag, ist doch klar, dass es mit dem Gehirn und dem Nervensystem eng verbunden ist. Dieser eingebaute „Computer" scheint jedem von uns bei der Geburt mitgegeben zu sein, unsere Augen scheinen auf den Bildschirm zu starren, und so haben die Programme in dem Computer einen großen Einfluss darauf, was wir sehen. Wir wissen zum Beispiel, dass das, was wir sehen, zu großen Teilen ein Ergebnis der Ver­arbeitung von Sinnesdaten in unserem „Computer" ist. Die Tatsache, dass wir Farben auf bestimmte Weise sehen, ergibt sich aus der Art und Weise des Aufbaus unserer Augen. Die Tatsache, dass wir Töne hören, ergibt sich aus der Art und Weise des Aufbaus von Ohr und Gehirn. Die Tatsache, dass wir zum Beispiel in diesem Raum einzelne Personen sehen, ergibt sich u.a. aus unserem Nervensystem. Wenn wir unser Gesichtsfeld einfach als die Lichtmuster wahrnehmen würden, die tatsächlich unsere Augen erreichen, wären die Dinge sehr verschwommen und bunt. Doch das Gehirn nutzt, um den visuellen Eindruck zu schärfen, kunstvoll einen Prozess, der „laterale Inhibition" genannt wird. Ingenieure nennen so etwas „Randschärfung". Dieser Vorgang sorgt dafür, dass die Ränder des Wahrgenommenen schärfer erscheinen, als sie tatsächlich sind, was für die Unterscheidung zweier Objekte voneinander sehr nützlich ist, da diese dann nicht mehr ineinander ver­schwimmen. Also ist das Bewusstsein, so wie wir es normaler­weise erfahren, sehr stark von der Funktionsweise des Gehirns gesteuert, und in vielerlei Hinsicht lässt sich diese nicht ver­ändern. Doch wir wissen aus der Psychologie, dass unsere Wahrnehmung u.a. auch von unseren Sehnsüchten, Ängsten und Verteidigungsmechanismen gesteuert ist, von unseren kulturbedingten Neigungen, bestimmte Dinge gern zu sehen und andere Arten von Dingen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Und diese Dinge ließen sich möglicherweise verändern.

Vor etlichen Jahren habe ich einen System-Ansatz (Tart 1975) entwickelt, um sowohl das normale Konsens-Bewusst- seins als auch verschiedene Formen veränderter Bewusstseins­zustände zu verstehen. Ich habe diesen Ansatz jetzt erweitert,

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indem ich ein wundervolles Modell benutze, das dazu dienen kann, die Beschaffenheit des normalen Bewusstseins zu erklä­ren. Es ist das Modell der computergenerierten virtuellen Reali­tät. Sie setzen dazu eine Art Brille auf, die dafür sorgt, dass der Computer die Bilder, die Sie sehen, steuert. Es gibt einen klei­nen Sensor an Ihrem Kopf, der dem Computer übermittelt, wann Sie nach oben oder nach unten schauen oder den Kopf drehen, und das Bild wird darauf abgestimmt. Wenn nun ein Bild sich entsprechend den eigenen Kopfbewegungen verän­dert, dann kommt das Bewusstsein sehr schnell zu dem Ergeb­nis: „Was du siehst, ist Realität." Es gibt einen kleinen Sensor an Ihrer Hand, der fragt: „Wo ist die Hand? Greift sie zu, öffnet sie sich, bewegt sie sich nach oben oder unten, wird die Hand­fläche gedreht?" Sie sehen eine vom Computer erzeugte Hand, die sich so bewegt, wie sich nach Ihrem Gespür Ihre Hand bewegt. Das Gehirn folgt einer ganz schlichten Regel, die tief in ihm verankert ist. Wenn sich etwas mit Ihnen und Ihrer Absicht folgend bewegt, dann gehört es zu Ihnen. (Deshalb sind Sie so aufgebracht, wenn jemand vor Ihr Auto läuft, wenn Sie es fahren. In einem ganz realen Sinne breitet sich, wenn wir Auto fahren, unser Körperbild zwischen den vier Kotflügeln aus.) Ich habe die Computer-Analogie in meinen System-An­satz aufgenommen, denn wir wissen ja, wie leicht wir in diese computergenerierten virtuellen Realitäten vollständig eintau- chen. Dabei ist mir jedoch eines klar geworden - nämlich dass wir über virtuelle Realität schon alles wissen, denn: Wir leben in einer solchen.

Ich nenne dies eine virtuelle Bio-Psycho-Realität, eine bio­logisch-psychologische virtuelle Realität. Unsere Sinnesorgane nehmen Informationen auf, doch unsere neuronalen Prozesse konstruieren eine Realität, eine „Realisierung" des Resultats dieses Konstruktionsprozesses. Das beste Beispiel für diese Realität liefern unsere Träume. Wenn Sie nachts träumen, befinden Sie sich in einer Welt. Für diejenigen, die viel und in­tensiv träumen, weist diese Welt dieselbe Vielfalt von Eigen­schaften auf wie die normale Welt Das, was wir im Traum

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erfahren, ist, formal betrachtet, der Prozess der Weltsimulation; die virtuelle Bio-Psycho-Realität läuft auf dieselbe Weise ab wie im Wachzustand, außer dass im Wachzustand die Welt, anders als im Traum, nicht bloß eine von uns erschaffene ist. Das Schauspiel wird nicht nur im inneren Theater aufgeführt, sondern durch die Sinneswahrnehmung wird massiv etwas von außen zugeführt, mit dem das Schauspiel, die simulierte Welt, in Übereinstimmung stehen muss.

Gerade in diesem Moment lebt jeder von uns in gewisser Weise im Innern dieser virtuellen Realität, dieser Simulation. Doch diese Simulation muss dem körperlichen Input durch die Sinne sehr wohl Rechnung tragen. Wenn dies unterbleibt, stirbt das Individuum. Wenn Ihre virtuelle Realität Ihnen sagt, es gibt dort vorne kein Kliff, alles ist wunderbar, und Sie ge­hen immer weiter geradeaus, dann stürzen Sie ab und kom­men zu Tode, ohne für Nachkommen sorgen zu können,- so hat die evolutionäre Auslese entschieden dafür gesorgt, dass die interne Simulation mit der äußeren Realität weitgehend übereinstimmen muss.

Doch es gibt ein seltsames Phänomen: Die meisten von uns verwenden nicht den größten Teil ihrer Zeit und Energie da­mit, sich mit der körperlichen Welt zu befassen. Die meiste Zeit und Energie verwenden wir in einer sozialen Realität, und hier erscheinen die Dinge willkürlicher und hegen viel weni­ger auf der Hand.

Hier ein Beispiel: Als ich vor Jahren einen Vortrag im Mitt­leren Westen der USA hielt, blickte ich nach etwa fünf Minu­ten Vorlesung auf und sah unter den Zuhörern eine Frau, die genau wie meine Mutter aussah. Nun, meine Mutter - Gott hab' sie selig - war eine wunderbare Frau, doch sie hatte ganz andere Interessen als ich, und ich habe mit ihr nie viel über meine Sachen gesprochen, denn ich wusste, dass sie sie ver­mutlich missbilligen würde. Vom Kopf her wusste ich, dass es nicht meine Mutter sein konnte. Sie würde niemals quer durch die USA fliegen, um sich einen Vortrag von mir anzu­hören. Doch die Frau sah ganz wie meine Mutter aus - und

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sie schaute während des gesamten Vortrags düster drein. Die automatische Weltsimulation in meinem Geist, diese virtuelle Bio-Psycho-Realität, lief auf Hochtouren und gab mir ein: „Sie ist mir auf die Schliche gekommen, sie weiß, dass ich etwas Schlimmes getan habe." Ich musste sehr an mich halten, nicht in die Richtung dieser Frau zu schauen. So sehr ich auch vom Intellekt her wusste, dass es sich nicht um meine Mutter han­deln konnte, es ging mir weiter durch den Kopf: „Oh Gott, sie ist mir auf die Schliche gekommen." Wir leben in einer sozia­len Realität, in der unsere Simulation der Realität, unser inne­res Bild, oft ziemlich gestört ist.

Deshalb hat Buddha davon gesprochen, dass das Leid aus unserem Leben gemäß den Bedingungen des Samsara - in meinen Worten: aus dieser Simulation - herrührt. Wir sind einfach zu gut im Simulieren. Die Simulation kann so real wirken, dass wir daraus jede Menge Befriedigung ziehen - das wissen wir durch die moderne Psychologie. Wenn uns die äußere Wirklichkeit also nicht glücklich macht, fällt es uns leicht, eine innere Simulation zu erzeugen, die wir ohne Um­schweife als Realität hinnehmen: So erscheint alles in ein gol­denes Licht getaucht und bietet größere Befriedigung.

Wenn dies hier ein Treffen der Anonymen Alkoholiker oder der Anonymen Drogenabhängigen wäre, dann könnte ich mich mit den Worten vorstellen: „Hi, ich heiße Charley. Die Droge meiner Wahl sind Gedanken. Ich werde von Gedan­ken betrunken, ich liebe sie. Sie steuern mein System." Diese „Gedankensucht" ist eine weit verbreitete Krankheit in der akademischen Welt, und davon loszukommen fällt schwer. Ich habe es versucht, clean zu bleiben, aber es ist wirklich nicht einfach!

Wir haben die Fähigkeit, bildliche Vorstellungen zu erzeu­gen, die so real erscheinen wie die meisten Wahrnehmungen und auf jede erdenkliche Weise innere Befriedigung verschaf­fen. Sie kappen unsere Verbindung zur Realität dessen, was tatsächlich um uns herum geschieht, und in einem sehr realen Sinn auch unser Verbindung zu einer transpersonalen Wirk­

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lichkeit, jener größeren Wirklichkeit dessen, was wir wirklich sind. Daher ist das Bewusstsein im tibetischen Sinne etwas Fabriziertes, von daher leben wir in einer virtuellen Bio-Psy­cho-Realität, einer erschaffenen Wirklichkeit, die in gewisser Hinsicht gut und nützlich sein mag, in anderer Hinsicht je­doch massiv gestört ist. Unglückseligerweise gelten viele dieser schweren Störungen nach den derzeit gültigen gesellschaftli­chen Maßstäben als „normal". Jeder, der sie nicht hat, gilt demnach als verrückt, und so bestärken wir uns gegenseitig in unserer Normalität.

Ich möchte hierzu nicht weiter ins Detail gehen und ver­weise für eine vertiefende Lektüre auf meine Bücher Waking Up (Tart 1986) und Living the Mindful Life (Tart 1994). Und wie ich schon erwähnt habe, sind diese Gedanken über Ver­dunkelung nicht gerade ermutigend,- deshalb möchte ich die Sache aufhellen und über Erleuchtung sprechen, das Haupt­thema meines Vortrags.

Kosmisches Bewusstsein

Was Erleuchtung ist, kann ich wirklich nicht definieren. Ich werde es aber verdeutlichen, und ich werde eine Unterschei­dung treffen bzw. hinsichtlich der Erleuchtung ein Kontinuum beschreiben.

Auf der einen Seite bezieht sich der Begriff „Erleuchtung" auf besondere Zustände veränderten Bewusstseins, die aber nur vorübergehend sind; sie mögen einige Nachwirkungen haben, doch sie gehören zu den intensiven Erfahrungen, die mit der Zeit weitgehend verblassen. Andererseits wird mit „Erleuchtung" eine dauerhafte Veränderung in der Natur des ganzen Seins eines Menschen bezeichnet. Um die veränderten Zustände und einige ihrer Nachwirkungen zu illustrieren, möchte ich Ihnen nun die klassische Beschreibung des kosmi­schen Bewusstseins darstellen, wie sie derjenige gegeben hat, der diesen Begriff geprägt hat. Und Sie werden einige faszinie­

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rende Parallelen zu den Erfahrungen feststellen, die Dr. S. ein Jahrhundert danach gemacht hat. Der Begriff „kosmisches Be­wusstsein" stammt von Richard Maurice Bucke, einem Arzt aus dem 19. Jahrhundert. Die Erfahrung wurde ihm ziemlich unerwartet zuteil. Er wollte ihr objektiv begegnen, und da er sich nach den wissenschaftlichen Gepflogenheiten seiner Zeit richtete, hielt er es für angebracht, durch eine Beschreibung in der dritten Person für diese Objektivität zu sorgen - als hätte jemand anderes die Erfahrung gemacht. Wie froh wäre ich, wenn es so einfach wäre und Objektivität durch die Rede in der dritten Person erreicht werden könnte! Die wundervolle Beschreibung möchte ich nun wiedergeben:

Bucke berichtet, ihm sei diese Erfahrung zu Frühlingsan­fang zuteil geworden, als er gerade 36 Jahre alt war. Er hielt sich damals gerade in England auf. Mit zwei Freunden hatte er den Abend mit der Lektüre von Wordsworth, Shelley, Keats, Browning und vor allem Whitman verbracht. (Auf diese Weise verbringen natürlich auch wir alle unsere Abende - ohne Fernseher und mit solchen anregenden Tätigkeiten.) Die drei blieben bis Mitternacht zusammen, und Bucke stand eine lange Fahrt in der zweirädrigen Droschke bevor. Er stand ganz unter dem Eindruck der Ideen, Bilder und Gefühle, die die abendliche Lektüre und das Gespräch mit den Freunden in ihm ausgelöst hatten, und war in einer friedvollen, ruhigen Stimmung - im Zustand einer stillen, fast passiven Freude.

Ohne jegliche Vorwarnung fand er sich plötzlich in eine flammende Wolke gehüllt. Einen Augenblick lang dachte er an ein Feuer, einen großen Brand in der Stadt. Das Nächste, dessen er gewahr wurde, war, dass das Licht in ihm selbst war. Direkt danach überkam ihn ein Gefühl der Ekstase, einer übergroßen Fröhlichkeit, begleitet bzw. unmittelbar gefolgt von einer intellektuellen Leuchtkraft, die sich kaum beschreiben lässt. In sein Gehirn (er glaubte natürlich, dass es das Gehirn war, wie so viele Menschen heute) drang ein kurzer Lichtblitz von höchster (brahmischer) Helligkeit ein, der seitdem sein Leben erleuchtete. Auf sein Herz fiel ein Tropfen höchster

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(brahmischer) Glückseligkeit, der von da an und immerfort einen himmlischen Nachhall in ihm hinterließ. Nun sah und wusste er, dass der Kosmos keine tote Materie, sondern eine lebendige Wesenheit ist, dass die menschliche Seele unsterb­lich ist und dass das Universum so gestaltet und geordnet ist, dass alles genau zusammenpasst und zum Wohle aller zu­sammenwirkt. Er sah und wusste, dass das grundlegende Welt­prinzip die Liebe ist und dass alle absolut gewiss sein können, schließlich glückselig zu werden. Er behauptet, in den weni­gen Sekunden, die die Erleuchtung dauerte, mehr erfahren zu haben als in den voraufgegangenen Monaten oder sogar Jah­ren des Studiums,- vieles, was er erfahren habe, sei durch Ler­nen und Studieren nie zu erreichen. Die Erleuchtung dauerte kaum länger als ein paar Augenblicke, doch ihre Wirkung war unauslöschlich. Das, was er damals gesehen und gewusst hat, konnte er nie vergessen, und er hat auch nie die Wahrheit dessen, was sich seinem Geist offenbart hat, bezweifelt, ja überhaupt nicht bezweifeln können.

Nebenbei bemerkt, als ich einem Kollegen eine vorläufige Version dieses Vortrags zugänglich machte, frage er mich: „Wa­rum geben Sie so wunderbare Berichte wieder, die uns so fern liegen? Warum sprechen Sie nicht lieber über das, was wir normale Menschen tun können?" Ich habe mich dennoch ent­schlossen, Ihnen diese eher ungewöhnliche Erfahrung mit­zuteilen, da ich sie inspirierend finde, zumal sie tatsächlich nicht jenseits dessen liegt, was wir tun können - und in eine bestimmte Richtung zeigt.

Im Folgenden möchte ich die andere Seite des Spektrums von Erleuchtungserfahrungen ansprechen, bei der die Beto­nung weniger auf einem zeitweilig veränderten Bewusstseins­zustand - hier als Folge eines Lichtblitzes, der dann verblasst - liegt, sondern auf einer dauerhaften Veränderung des Seins.

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John Wren-Lewis

Zur Verdeutlichung möchte ich auch hier auf eine Quelle zurückgreifen, die frei von jedem traditionellen spirituellen Hintergrund ist, und über die Erfahrungen eines theoretischen Physikers im Ruhestand berichten, eines Briten mit Namen John Wren-Lewis. Seine Frau Anne Faraday hat vor ein paar Jahren einige wunderbare, sehr populäre Bücher über Träume veröffentlicht. John wollte mit all diesem mystisch-verrückten Kram nichts zu tun haben. Meine Frau Judy und ich hatten Gelegenheit, mit ihm und Anne gemeinsam zu speisen und uns mit ihnen über Träume, für die wir uns ebenfalls interes­sierten, auszutauschen; das Essen fand einige Jahre vor sei­ner Erleuchtungserfahrung statt. Wir erlebten John als einen äußerst angenehmen Zeitgenossen, der sich gegenüber den sonderbaren Freunden seiner Frau sehr höflich verhielt, dem aber anzumerken war, dass er sich für all das nicht interes­sierte.

John und Anne waren in Thailand, weil sie etwas über die Senoi herausfinden wollten. Das ist jener Stamm, über den Kilton Stewart in meinem Buch Altered States of Consciousness (Tart 1969) geschrieben hat, dass es dort angeblich ein wunder­bares System gibt, am Morgen mit Träumen zu arbeiten, luzide Träume während der Nacht zu erzeugen usw. Es ist ein sein- interessanter Bericht - vielleicht hat der eine oder andere von Ihnen ihn gelesen. Mittlerweile ist klar geworden, dass der Bericht weitgehend fiktiv und nicht als echte ethnologische Studie zu verstehen ist (Domhoff 1985, Domhoff 1991). Es hat nie Menschen gegeben, die all diese Dinge wirklich getan ha­ben. Und dennoch hat dies seine „Wahrheit" insofern, als es funktioniert, wenn man an solche Dinge glaubt und sie aus­probiert. Die beiden jedenfalls waren deshalb für ein Jahr in den Dschungel gegangen. Als sie gerade in einen Bus kletter­ten, half ihnen ein netter junger Mann mit dem Gepäck, stieg mit ihnen ein und bot ihnen Süßigkeiten an, es war, glaube

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ich, Schokolade von Cadbury. Anne hat ihr Stück nicht ge­gessen, weil es etwas muffig roch, doch John wollte nicht un­höflich erscheinen und aß die Schokolade.

Der Bus fuhr weiter, John wurde müde, schlief ein und lief plötzlich blau an. Anne war klar, dass etwas nicht stimmte. Es folgte eine lange, komplizierte Geschichte, wie sie es gerade noch schaffte, ihn rechtzeitig in eine Klinik zu bringen. Dort wurde er mit Medikamenten voll gepumpt, um sein Leben zu retten. Er war vermutlich klinisch tot, doch in solchen Fällen konzentriert man sich ganz auf die Wiederbelebung und ach­tet nicht so sehr darauf, ob jemand die Schwelle zum Tod überschritten hat oder nicht. Außerdem weiß man ja von Nahtoderfahrungen: Das „Nah" bedeutet, dass man eben nicht wirklich tot ist. John hatte offenbar mit der Schokolade eine hohe Dosis Morphium, vermischt mit Kokain, zu sich genom­men. Dieser Trick wird in Thailand von Dieben angewandt, die Touristen außer Gefecht setzen und dann ihr Gepäck steh­len wollen, doch manchmal fällt die Dosis zu stark aus, und ihre Opfer kommen dabei um.

Die Erfahrungen, die John machte, waren zwar sehr anre­gend, und doch sei diese Methode nicht zur Nachahmung empfohlen. Das „Nah“ ist nämlich eine heikle Angelegenheit, und die meisten Leute, die so „nah" sind, können überhaupt nichts über interessante Erfahrungen erzählen - weil sie näm­lich im Grab liegen.

Meine Frau und ich hatten das Vergnügen, mit John und Anne vor ein paar Jahren zwei Wochen in Australien zu ver­bringen. Dabei hatte ich Gelegenheit, mit ihm ausführlich über sein Erlebnis zu sprechen: Dass etwas anders war, stellte er erst nach ungefähr einer halben Stunde fest, nachdem er im Krankenhaus wieder zu Bewusstsein gekommen war. Die erste halbe Stunde war er zu sehr abgelenkt, um darauf zu achten. Man hat mit ihm Untersuchungen angestellt, ihn über seinen Zustand befragt usw. Schließlich kamen die Ärzte zu dem Er­gebnis, dass mit ihm alles in Ordnung sei, und ließen ihn allein, doch er schlief nicht. Ihm fiel das recht schöne Kran­

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kenhauszimmer auf, in dem er sich befand, doch logisch stellte er fest: „Schönes Krankenhauszimmer? Alles andere als das!" Hier ist die erste Beschreibung, die er über seine Er­kundung des Bewusstseins- bzw. Seinszustands, in dem er sich befand, gegeben hat - ein Zustand, in dem er sich seitdem dauerhaft befindet:

„Alles, was ich sah, nahm ich anders wahr als sonst. Doch in diesem Fall betraf die Wirkung mehr als das Sehen, irgendwie schienen auch die anderen Sinne beteiligt zu sein - der Geruch von der Toilette, das Summen der Insekten und das Spüren der Bettlaken. Und es war nicht nur eine Sache der Sinne. Es war, als ob das bloße ,Sein' eines jeden Gegenstands hervorragte und mich grüßte."

Ich zitiere aus einer frühen Manuskriptfassung seines Buches The 9:15 to Nirvana, dessen Titel auf die Abfahrtszeit des Bus­ses anspielt, mit dem alles begann: „Die strahlende Schwärze des Seins ..."

Okay, die meisten Menschen berichten nach einer Nahtod­erfahrung vom Licht. Doch John hat das Gefühl, dass etwas Tieferes, etwas, das hinter dem Licht hegt, Teil dieser Erfah­rung gewesen sei. Sie werden ein Gespür dafür bekommen, wenn ich darüber spreche und dabei den Begriff „Dunkelheit" verwende.

„Die strahlende Schwärze des Seins in meinem Hinterkopf erkannte und begrüßte sich selbst, besser: ihr Nicht-Selbst, in jedem anderen Ding, sowohl die Gegenstände und Ereignisse des äuße­ren Universums als auch die Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen und Vorstellungen in John Wren- Lewis' persönlichem innerem Universum. Wenn ich ,in meinem Hinterkopf' sage, sind das nicht

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bloße Worte. Die Erfahrung war so handgreiflich, dass ich tatsächlich die Hand auf meinen Kopf legte, um zu prüfen, ob ich nicht eine Schädelver­letzung erlitten hätte. Ich hatte plötzlich das un- abweisliche Gefühl, als ob die Ärzte mir hinten die Schädeldecke entfernt und mein Gehirn auf irgendeine Weise der unendlichen Dunkelheit des Alls ausgesetzt hätten. Die Öffnung an meinem Hinterkopf erlebte ich als eine gewaltige Befrei­ung, als ob irgendein Gehirn-Katarakt entfernt worden wäre, so dass für mich zum ersten Mal in meinem Leben echte Wahrnehmung möglich wäre. Ich verstand die wahre Bedeutung der be­rühmten Feststellung William Blakes, dass alles in seiner wahren, unendlichen Natur wahrgenom­men wird, wenn die Tore der Wahrnehmung ge­reinigt werden."

Er dachte: „Das muss irgendeine Nachwirkung der Drogen sein, auch wenn mein Körper eigentlich genug Zeit gehabt ha­ben müsste, um all die Drogen auszuscheiden. Es wird sicher­lich vergehen."

Abgesehen von sehr wenigen Augenblicken großer Ablen­kung ist es jedoch in den letzten zehn Jahren nicht vergangen. Sein alltäglicher Zustand hat sich jetzt verändert, und es hat seine Sichtweise der Dinge verwandelt, zum Beispiel hinsicht­lich der Frage des Todes.

„Die Angst vor dem Tod ist verschwunden, denn ich erlebe mein Lebendigsein nicht mehr als et­was, das speziell mir zuzurechnen ist, als Eigen­schaft oder Besitz eines individuellen psycho­physiologischen Organismus mit Namen John Wren-Lewis. Diese Perspektive verlieh der bloßen Tatsache der Existenz in jedem Moment eine tie­fe, friedvolle Erfüllung, die die seichten und ver­

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gänglichen Freuden, die John auf seinem bisheri­gen Lebensweg kennen gelernt hatte, bei weitem überstieg - die Erfahrung der Ewigkeit in jedem Augenblick. [So nimmt John sein jetziges Be­wusstsein wahr.] Die Erfahrung der Ewigkeit in jedem gegenwärtigen Augenblick lässt die ganze Angelegenheit einer möglichen Unsterblichkeit unbedeutend erscheinen. Die Sehnsucht nach Un­sterblichkeit hingegen bringt eine Sorge um das abgesonderte zeitliche Selbst zum Ausdruck, die den Zugang zu den Freuden und der Heiterkeit der Ewigkeitserfahrung versperren kann."

Er spürt ein konstantes Einssein mit allem Leben, mit allem Sein. Ich möchte dies hier nicht im Einzelnen ausführen. Er fragte sich auch selbst: Hatte er nicht eine Veränderung erlebt, von der man meinen könnte, dass sie allein wirklich bedeu­tenden religiösen Gestalten Vorbehalten sei? Wie in aller Welt war so etwas einem so normalen Menschen wie ihm passiert? Und doch sagt ihm seine eigene unmittelbare Erfahrung, dass nichts Besonderes daran ist In seinen Worten:

„Meine Erfahrung lieferte nicht den geringsten Hinweis, dass ich etwas Besonderes oder auch nur etwas halbwegs Besonderes wäre. Im Gegen­teil: Meine Selbstempfindung als Sammelpunkt des einen unendlichen Bewusstseins war zugleich eine Empfindung aller anderen, ja alles anderen als ebenso beschaffen. Sogar die Tatsache, dass andere Leute um mich herum sich dieses ,So- seins' nicht bewusst zu sein schienen, hob mich in keiner Weise heraus, außer dass ich vielleicht besonderes Glück gehabt hatte."

Ein weiteres Merkmal, das oftmals mit Erleuchtung verbunden ist, besteht in einem von Mitgefühl bestimmten Blick auf das

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Leben - nicht in dem Sinne, dass John freundlich, großzügig und mitleidsvoll sein soll, sondern dass ihm dieses Mitfühlen innerlich gegeben ist. Nach ein paar Wochen konnte er all das besser verstehen und in Worte fassen, als seine Frau in Malay­sia sehr krank wurde und es große Schwierigkeiten gab, sie in ein Krankenhaus zu bringen. Eine Zeit lang überdeckte dies seinen neuen Zustand. Er war einfach zu sehr mit der Situa­tion beschäftigt, seine Frau unbedingt in die Klinik bringen zu müssen. Und dann stellte er fest:

„Ewigkeitsblindes Bewusstsein nimmt es als selbstverständlich hin, dass der Einzelne nur da­durch Befriedigung erlangen kann, dass seinen persönlichen Bedürfnissen und Vorheben entspro­chen wird. Demnach scheint der Impuls, anderen Menschen zu helfen, daraus zu resultieren, dass man sich in gewisser Weise mit ihnen gefühls­mäßig identifiziert. Die Wörter ,Mitgefühl' und ,Mitleid' selbst legen dies in ihrer ursprünglichen Bedeutung nahe. Aus meiner Perspektive, aus dem Nirwana-Bewusstsein heraus, sieht die ganze Si­tuation völlig anders aus. Aus der Erfahrung des Ewigen ,fließt' automatisch umsorgende Energie, die zeitlichen Dingen zugute kommt - als direk­ter Ausdruck der ewigen Liebe für die Erzeug­nisse in der Zeit. Es bedeutet für einen Mystiker, der tatsächlich im Nirwana-Bewusstsein lebt, kei­ne große Anstrengung oder Entsagung, seine per­sönlichen Bequemlichkeiten und Vorlieben hint­anzustellen, um jemand anderem zu helfen, denn persönliche Bequemlichkeiten und Vorlieben sind als Quelle des erfüllten Lebens sekundär. Indem man anderen in der Not hilft, hat man direkten Anteil an der höchsten Erfüllung: der ewigen Lie­be für die Erzeugnisse in der Zeit."

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John macht nun unmissverständlich klar, dass er nicht als ein Heiliger angesehen werden möchte - und das ist er sicherlich auch nicht. Die entsprechenden Stereotypen sind jedenfalls auf ihn nicht anwendbar. Er trinkt zum Beispiel immer noch gern Wein und isst Fleisch. Er hält sich nicht für einen wun­derbaren Menschen, der die Welt rettet. Er hat nur automatisch Mitgefühl. Dies entspricht den frühesten Traditionen der Er­leuchtung, in denen sich eine nahezu universelle Botschaft findet: Bei den höchsten Stufen der Erleuchtung ist, auch wenn es noch andere Bestandteile geben mag, immer automatisches Mitgefühl gegeben. Wenn Sie also eine Art der Erleuchtung haben, die nicht mit Mitgefühl einhergeht, sollten Sie weiter an sich arbeiten. Denn dann sind Sie noch nicht ganz dort an­gelangt, d.h., es bestehen noch ernste ungelöste Probleme.

Ein weiteres Stereotyp, das den verschiedensten Zuständen der Mystik und der Erleuchtung zugeschrieben wird, muss am Wegesrand liegen bleiben: dass man sich dadurch in so etwas - um es sarkastisch auszudrücken - wie einen blöde lächeln­den glückseligen Menschen verwandelt. Man sitzt in einem ekstatischen Zustand da und denkt: Oooooooom ... Das mag zwar für den Einzelnen schön sein, hat für die Welt jedoch keinerlei Wert. Eine solche Veränderung trat bei John nicht auf; vielmehr meinte er, dass seine Tatkraft und seine Intelli­genz eher noch gesteigert worden seien.

Ich werde Ihnen aus Johns Manuskript noch ein weiteres Beispiel für seinen veränderten Bewusstseinszustand geben. Am Tag nach der Entlassung aus dem Krankenhaus musste sich John noch ein wenig ausruhen, bevor Anne und er am nächsten Tag wieder den Bus um 9.15 Uhr nehmen wollten. Es war ihnen klar, dass weitere psychologisch bedeutsame Veränderungen zu beobachten sein würden, und so hielten sie Ausschau nach einem ruhigen Hotel. Es wurde ihnen ein Haus empfohlen, in dem aber leider, wie häufig in Thailand, Prostitution betrieben und lautstark gefeiert wurde. Es war alles andere als ruhig, doch es führte zu einer interessanten Erfahrung.

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Am nächsten Morgen ging John früh, während Anne noch schlief, nach unten, um vor der Abfahrt des Busses noch etwas zum Frühstück aufzutreiben. Hier sein Bericht:

„Nachdem ich die Treppe hinabgestiegen war, empfing mich auf dem Weg zum Speisesaal jede Menge Erbrochenes, wahrscheinlich ein Überbleib­sel des Gelages, das hier in der Nacht stattgefun­den hatte. Und ich war wirklich erstaunt, dass mir die Begegnung mit dem Erbrochenen ebenso will­kommen war wie die mit einer schönen Blume, umso mehr, als ich als Folge der übertriebenen frühkindlichen Sauberkeitserziehung meiner - was die Hygiene angeht - neurotischen Mutter in die­ser Hinsicht sehr empfindlich war.

Als ich nun auf das Dunkle in Gestalt dieses Erbrochenen stieß, erlebte ich jene Fähigkeit, ei­nander widersprechende Gefühle zu genießen, wirklich zu genießen: eine Fähigkeit, die für das mystische Bewusstsein charakteristisch ist. Einer­seits sah und roch ich halb verdautes Essen, ver­mischt mit Gallensaft - das waren recht faszinie­rende Wahrnehmungen, die mich wie wunderba­re Kunstwerke berührten, bei deren Entstehung ich persönlich anwesend war. Und gleichzeitig erlebte ich, wie ich mit Abscheu reagierte. Auch dies erschien mir wie ein kleines Wunder: Der Abscheu war so stark, dass mir selbst alles hoch­zukommen drohte - ein schöpferischer Akt von Johns Leib-Seele, in dem die neurotische Furcht seiner Mutter noch gegenwärtig war. Doch tief darunter spürte ich als wesentlichen Bestandteil meiner Einsicht den Frieden vollständigen Seins jenseits aller Vernunft. Und während ich noch unschlüssig war, auf welche Weise ich um dieses göttliche Erbrochene herumgehen sollte, bemerkte

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ich, dass meine neue Form der Aufmerksamkeit mich auf keine Weise davon abhielt, aufzupas­sen, dass meine Schuhe nicht schmutzig wurden.Im Gegenteil, die Fähigkeit, meine beschränkten Ängste aus der Perspektive des Dunklen wahrzu­nehmen, verlieh mir eine viel größere Geschick­lichkeit im Umgang mit dem praktischen Pro­blem, meine Schuhe nicht schmutzig zu machen, als ich sie vermudich mit zusammengebissenen Zähnen gehabt hätte. Wie ich in den Jahren seit­her immer wieder bemerkt habe, hindert mich das mystische Bewusstsein, dass im Angesicht der Ewigkeit alles perfekt ist, keineswegs daran, praktische Aufgaben innerhalb der Zeitlichkeit erfolgreich zu lösen. Wenn der Alltag nicht mehr von ängstlichen Gedanken über das Morgen be­herrscht ist, lässt er sich viel besser bewältigen."

Ich möchte also noch einmal betonen, dass bestimmte Be­wusstseinsveränderungen jemanden vorübergehend in den Zu­stand blöd lächelnder Glückseligkeit verwandeln können, doch nicht alle Erleuchtung scheint dies mit sich zu bringen. Wenn Sie in die Geschichte zurückschauen, kommen Sie zu dem Schluss, dass einige der größten Mystiker sich in der Welt sehr gut zurechtgefunden und auch in praktischen Dingen sehr viel erreicht haben.

Merkmale der Erleuchtung

Lassen Sie mich also einige jener Merkmale der Erleuchtung, die ich zu verdeutlichen versucht habe, zusammenfassen und aus einer erweiterten Perspektive betrachten. Es gibt eine Ver­änderung in der Beziehung zum Tod. Die Angst davor ist ver­schwunden oder vielleicht sogar das Interesse an diesem Thema. Es gibt ein tiefes Gefühl der Offenheit, der Beziehung

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zum ganzen Leben oder zu allem im Universum. Es gibt das Gefühl, alles, was man wissen sollte, vollständig zu wissen, und zugleich das Gefühl, niemand Außergewöhnliches zu sein. Das Ganze ist einfach so, wie es ist. Es gibt ein automatisches Mitfühlen gegenüber jedem anderen Sein und ebenso ein Ge­fühl größerer Wirksamkeit und Intelligenz in vielen Fragen des praktischen Lebens.

Es mag nun eine gewisse Untertreibung darin hegen, wenn man behauptet, solche Fälle eines vorübergehend veränderten Zustands oder eines dauerhafteren Wandels im Sein wären für die Wissenschaft und die Psychologie von einigem Interesse. Sie sind von höchstem Interesse. Ein solcher Zustand ist natür­lich persönlich erstrebenswert. Es wäre mir sehr lieb, das Uni­versum so zu erfahren wie John oder Bucke. Und ich glaube auch, dass wir uns in diese Richtung bewegen müssen, damit der Planet Erde überlebt. Man darf nicht vergessen, das Haupt­merkmal der normalen Konsens-Trance ist das Vereinzeltem, und wenn ich also wählen muss zwischen mir und dir als ein­zelnen Wesen, dann entscheide ich mich für mich. Die Leute mögen uns erzählen, dass wir alle eins sind, doch man mag darum noch so viele Worte machen - wenn mir mein Instinkt sagt, dass ich meine eigene Haut retten muss, oder wenn es um das Wohlbefinden meiner Person geht, sind derartige Ideen für mich ohne Belang. Doch wenn es Mittel und Wege gibt, Menschen zu einer unmittelbaren Erfahrung des kosmischen Bewusstseins zu verhelfen, kann sich wirklich etwas ändern.

Wie bereits erwähnt, spreche ich hier natürlich über einige aufregende Beispiele, doch es geschehen stillere und zartere Dinge, wenn man sich in diese Richtung bewegt - und die sind gleichwohl bedeutend. Ich werde noch ein wenig darüber sprechen, was jeder und jede von uns tun kann, um ein wenig mehr Erleuchtung zu erfahren.

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Schritte in Richtung der Erleuchtung

Immer stärker ist mir die Notwendigkeit klar geworden, uns Menschen aus der westlichen Welt von der Idee abzubringen, dass sich spirituelle Fragen im Nu lösen lassen. Im Gegenteil: Schon der erste Schritt auf dem spirituellen Pfad - sich an grundlegende moralische Prinzipien zu halten - ist alles an­dere als einfach. Jemand hat mir gegenüber einmal bemerkt, dass es aus der Perspektive eines Buddhisten schwer sei, sich in einen ruhigen meditativen Zustand zu versetzen, wenn man den ganzen Tag über geplündert und gemordet habe. Ein wenig tiefer geht die Sache schon, doch aus der Perspektive höchs­ter Erleuchtung sind wir wirklich alle eins, und daher ist es dumm, jemand anderen zu verletzen - man verletzt sich auf diese Weise selbst, und wenn Sie so mit sich selbst umgehen, wie können Sie sich dann für irgendeinen neuen Aspekt Ihrer selbst öffnen? Die Voraussetzung des Erleuchtungswegs ist al­so eine elementare Moralität, und das heißt, dass wir wichtige Entwicklungsschritte nicht gehen können, wenn wir nicht ler­nen, miteinander umzugehen.

Viele Leute finden die Vorstellung der Erleuchtung anzie­hend, weil sie in der Welt nicht zurechtkommen. Statt das Pro­blem zu erkennen und anzugehen, finden sie es leichter, die Welt als Ganze für korrupt zu erklären, einem spirituellen Weg zu folgen und damit allem auszuweichen. Das geht nicht! Wie Jack Engler, ein amerikanischer Psychologe und buddhis­tischer Lehrer, einmal mit aller Deutlichkeit festgestellt hat: „Sie müssen erst jemand sein, bevor Sie niemand sein können." Also beginnen Sie mit der elementaren Moralität, und entfal­ten Sie dann Ihre Konzentration und ihre Fähigkeit zur Ein­sicht.

Unser normaler Verstand ist furchtbar zersplittert und sprunghaft; wir können uns auf nichts lange konzentrieren - was uns daran hindert, irgendetwas tiefer zu verstehen, zumal wir in dieser virtuellen Bio-Psycho-Realität leben, die von der

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tatsächlichen Wirklichkeit weit entfernt ist. Dieser normale sprunghafte Verstand erzeugt eine Pseudo-Wirklichkeit, eine virtuelle Realität, die uns ständig an der Nase herumführt. Der buddhistische Pfad legt daher zum Beispiel großen Wert auf konzentrierte Meditation, wobei Sie lernen, Ihren Geist auf ei­nen Gegenstand zu richten und dabei zu bleiben: nicht indem Sie die Zähne zusammenbeißen und jeden Gedanken, der sich aufdrängt, zu verbannen versuchen, sondern indem Sie lernen, immer wieder auf den einen Gegenstand zurückzukommen.

Dies führt dazu, dass es Ihnen immer besser gelingen wird, Acht zu geben. Und wenn diese Fähigkeit genügend ausgebil­det ist, können Sie sie für eine quasi wissenschaftliche Unter­suchung des eigenen inneren Wesens nutzen. „Wie bin ich wirk­lich, wie sehe ich mich in meiner direkten Erfahrung, nicht: wie denke ich, sein zu sollen? Was erfahre ich tatsächlich in diesem Augenblick, bevor ich die Erfahrung mit Schichten von Gedanken und Gefühlen zudecke?" So wenden Sie sich von der einfachen Konzentration der Einsicht in ihr wahres Selbst zu und erreichen schließlich immer tiefere Ebenen der Einsicht.

Zu den besonders wichtigen Einsichten zählt die des Phä­nomens, das oftmals Leere genannt wird - eine irreführende (wenn auch gebräuchliche) und nihilistische Übersetzung des buddhistischen Begriffs, die „Nichts" impliziert, was überhaupt nicht zutreffend ist. Ein besseres Wort wäre Unbeständigkeit■ Wir sollen uns des stetigen Wandels bewusst werden und ler­nen, uns mit dem Wandel zu identifizieren, sowohl in der äußeren Welt als auch in uns selbst. Im Buddhismus werden Unbeständigkeit und Vergänglichkeit nicht zuletzt deshalb so sehr betont, weil unser normaler Verstand die Tendenz hat, die Dinge zu stark zu konkretisieren und sie so zu behandeln, als ob sie ewigen Bestand hätten. Jemand hat mir einen missbilli­genden Blick zugeworfen, und ich bin auf ewig unglücklich. Nein, das ist nur ein augenblickliches Ereignis!

Wenn Sie die Unbeständigkeit des normalen Selbst zu er­kennen beginnen, werden Sie nicht mehr so viel Energie da­

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rauf verwenden und sich nicht mehr so stark damit identifi­zieren, und dann eröffnet sich die Möglichkeit, einen Blick auf das tiefere Selbst zu werfen. Vielleicht beginnen sich jene Er­fahrungen des kosmischen Bewusstseins zu ereignen. Und Sie werden schließlich die Einsicht entwickeln, von der hier be­reits die Rede war: die Einsicht, dass die Wirklichkeit von mit­fühlender Natur ist.

Es gibt nun einen heiklen Punkt, an dem der Buddhismus sehr raffiniert vorgeht. Ein Bestandteil der besagten Erleuch­tungserfahrungen ist die Erkenntnis, dass alles vollkommen ist. Ein Kind wird von einem Lastwagen überfahren? Das tut der Vollkommenheit keinen Abbruch. Der Krieg in Bosnien? Auch nicht. Zur Erfahrung der Erleuchtung gehört die Erkenntnis, dass es eine Perspektive gibt, von der aus alles vollkommen ist, und doch gehört es zu den tieferen Einsichten, dass Mit­gefühl unserer Natur entspricht. Man darf also das Gefühl, dass alles vollkommen ist, nicht als Grund dafür heranziehen, nicht auf mitfühlende Weise zu handeln. Das wäre ein schlim­mer Fehler. Sie müssen also stets bestrebt sein, Menschen zu helfen, Liebe zu geben und, wann immer möglich, Mitgefühl zu zeigen, auch wenn aus einer anderen Perspektive alles voll­kommen ist.

Wenn Sie das alles ein wenig verwirrend finden, ist das schon in Ordnung. Es ist nicht davon auszugehen, dass dies von der Ebene unseres normalen Bewusstseins aus verständ­lich wäre, doch es besteht die Möglichkeit, es zu erfahren. Wie ich schon ausgeführt habe, basiert die Argumentation auf be­stimmten Annahmen, doch ist es möglich, diese einer kriti­schen Prüfung zu unterziehen,- und in manchen Fällen kann auch erfahren werden, ob sie wahr sind.

Welchen Beitrag kann die Psychologie dazu leisten, dass wir erleuchtet werden? Wie kann die moderne wissenschaft­liche Psychologie und die Wissenschaft im Allgemeinen hilf­reich dabei sein? Wie ich weiter oben gesagt habe, hat die Psychologie Expertenwissen über Verdunkelung, jedoch keine Vorstellung von Erleuchtung. Wir wissen, welche Missdeutun­

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gen, Verwechslungen und Verzerrungen bei unserer Simulation der Welt auftreten können. Ich möchte Ihnen einige Beispiele für uns bekannte psychologische Mechanismen geben, die zur Verdunkelung beitragen.

Dazu habe ich mir die Einleitung eines Buches zur Ein­führung in die Psychologie angeschaut. Ich habe hier eine lange Liste, doch ich möchte Ihnen nur ein paar Begriffe nen­nen, um Ihnen zu verdeutlichen, dass wir über das, was mit Verdunkelung einhergeht, einiges wissen: Abwehr, Aggression, Akzeptanz, Angst, Ärger, Aversion, Bemächtigung, Besetzung, Betäubung, Bewusstseinsstörung ... Ich bin noch immer beim Buchstaben B . . .

Wir wissen eine ganze Menge über Verdunkelung, und ich hege die Hoffnung, dass wir mit der Erweiterung der Perspek­tive in der Psychologie und in der Wissenschaft generell diese Blockaden weitaus besser begreifen werden. Sie halten uns davon ab, unser transpersonales Selbst, unser Nicht-Selbst zu erfahren, und hindern uns daran, uns so zu entfalten, dass wir dieser umfassenderen Perspektive gerecht werden. Insbeson­dere hoffe ich, dass wir eines Tages so weit kommen, dass wir den Leuten eine gezielte Hilfe geben können, damit sie wach­sen und den Weg des Spirituellen beschreiten. Derzeit ist es noch so, dass Menschen, die in spirituellen Dingen gut sind, wenn man sie um Rat fragt, häufig antworten, man solle das­selbe tun, was sie getan hätten. Und doch kann, wie wir aus der modernen Psychologie wissen, der für eine Person wunder­bare Pfad des spirituellen Wachstums für eine andere Person gänzlich ungeeignet sein und eine dritte sogar in die Psychose treiben. Es wäre einfach wundervoll, wenn wir genügend Wis­sen darüber hätten, worin die jeweiligen individuellen Hin­dernisse auf dem Weg zur Erleuchtung liegen, und wir z. B. Vorhersagen könnten, dass es für einen bestimmten Typus von Personen nicht angezeigt wäre, Sufitänze auszuprobieren, weil eine dreißigprozentige Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs einer Psychose besteht, wohingegen Zen-Sitzungen eine sehr gute Wirkung haben dürften.

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An dieser Stelle möchte ich schließen, in gewisser Weise sehr plötzlich. Ich habe Ihnen nicht wirklich erzählt, was Erleuch­tung ist, ich habe nur darauf gezeigt. Ich hoffe, es ist mir ge­lungen, Ihre Gedanken auf anregende Weise in Gang zu setzen, und nun hegt alles Weitere an uns. Vielen Dank.

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Literatur

Domhoff, G. W 1985. The mystique of dreams: a search for Utopia through Senoi dream theory. Berkeley/California: University of California Press.

Domhoff, G.W 1991. Senoi, Kilton Stewart and the mystique of dreams: further thoughts on an allegory about an allegory. Luci­dity 10, S. 327-333.

Harre, R. und R. Lamb 1983. The encyclopedic dictionary of psycho­logy. Oxford: Blackwell.

Tart, C. 1969. Altered states of consciousness: a book of readings. New York: John Wiley & Sons.

Ders. 1975. States of consciousness. New York: Dutton.

Ders. 1986. Waking up: overcoming the obstacles to human potential. Boston: New Science Library.

Ders. 1994. Living the mindful life. Boston: Shambhala.

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Stanislav Grof, einer der Begründer der

transpersonalen Psychologie. Autor zahl­

reicher, auch ins Deutsche übersetzter

Bücher.

Peter Fenwick ist Neurophysiologe in Ox­

ford.

Michael Grosso ist Professor für Philoso­

phie an der New Jersey City University.

Erlendur Haraldsson ist Professor für Psy­

chologie in Reykjavik.

Roger Woolger, Jungianischer Analytiker

und Pionier der transpersonalen Psycho­

logie.

Charles T. Tart, einer der Begründer der

transpersonalen Psychologie. Autor zahl­

reicher, auch ins Deutsche übersetzter

Bücher.

Gibt es ein Weiterleben nach dem Tod?

Wie sind menschliche Extremerfahrungen

wie Nahtoderlebnisse, Erinnerungen an

frühere Leben oder außerkörperliche Er­

fahrungen zu erklären? Wo liegen die

Grenzen des menschlichen Bewusstseins?

Die transpersonale Psychologie widmet

sich diesen faszinierenden Fragen - ein

spannender Brückenschlag zwischen

Naturwissenschaft und Spiritualität mit

weit reichenden Konsequenzen für die

Entfaltung des mensch­

lichen Potentials.