37
ERNST TUGENDHAT Verlag Europäische Perspektiven at1ona 1tä und rrat1onalitä e r1e ens ewegun nd re egne

1983 Rationalität Und Irrationalität Der Friedensbewegung_BOOK

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Tugendhat1983

Citation preview

  • ERNST TUGENDHAT

    Verlag Europische Perspektiven

    at1ona 1t und rrat1onalit e r1e ens

    ewegun nd re egne

  • ERNST TUGENDHAT

    Rationalitt und Irrationalitt der Friedens-bewegung und ihrer Gegner Versuch eines Dialogs

    Verlag und Versandbuchhandlung Europische Perspektiven GmbH

    Scluiftenreihe des AK atomwaffenfreies Europa e. V. Band 7

  • CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek: Tugendhat, Ernst Rationalitt und Irrationalitt der Friedensbewe-gung und ihrer Gegner. Berlin 1983: Verlag und Versandbuchhandlung Europische Perspektiven GmbH, Goltzstrae 13 b, 1000 Berlin 30. ISBN 3-89025-007-6

    Copyright 1983 Verlag und Versandbuchhandlung Euro-pische Perspektiven GmbH, Berlin Umschlaggestaltung und Layout: Karl-Heinz Hppner, Berlin Satz: Sabine Rabbel, Berlin Druck: Oktoberdruck, Berlin

    Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfltigung und Verbreitung sowie der bersetzung, vorbehalten.

    Ernst Tugendhat, geboren 1930 in Brnn, 1938 emigriert in die Schweiz, 1941 nach Venezuela. B. A. Stanford University (USA) 1949, Dr. phil. Freiburg i. Br. 1956. Professor fr Philosophie seit 1966, seit 1980 an der Freien Universitt Berlin. Seit Dezember 1982 Mitglied im Vorstand des Arbeitskreises atomwaffenfreies Europa.

    Der vorliegende Text ist ein Vortrag, den er im Auditorium Maximum der Freien Universitt auf der am 20. Oktober 1983 vom Institut fr Philosophie getragenen Veranstaltung 11Die ato-mare Bedrohung" gehalten hat.

  • Ernst Tugendhat, Rationalitt und Irrationalitt der Friedensbewegung und ihrer Gegner. Versuch eines Dialogs.

  • I. Ich gehe aus von dem sich immer erneut wieder-holenden beklemmenden Erlebnis, da man sich in der Frage des gemeinsamen berlebens gegen-seitig nicht versteht. Fast die ganze westlich~ Welt ist wie gespalten in zwei groe, ber die nationalen Grenzen zusammenhngende Kommu-nikationssysteme, die sich gegenseitig abzuschot-ten drohen und neue Grenzen schaffen, die quer durch Familien und Freundschaften verlaufen. Es sind nicht einfach entgegengesetzte politische Zielsetzungen. Die tiefere Differenz, die uns an-einander und, wenn wir dnnhutig sind, an uns selbst verzweifeln lassen kann, ist die Differenz in der Sprache, im Verstehen, in den unausge-sprochenen Voraussetzungen, die in die beider-seitige Wahrnehmung der politischen Realitten eingehen.

    '\ Wenn Menschen sich nicht mehr verstehen, knnen sie sich gegenseitig nur noch irrational erscheinen; das liegt einfach im Sinn des Nicht-

    v~r..s~hens. Es ist daher kein Zuf a 1, da der hu-figste wechselseitige Vorwurf, der von den Geg-nern der Friedensbewegung gegen diese und von dieser gegen jene erhoben wird, der Vorwurf der Irrationalitt ist. Ein solcher Vorwurf bedeutet

    .,__.. -immer, da die Grnde, die die anderen fr ihre berzeugungen anf"hren, als unzureichend emp-funden werden. Wenn wir die Grnde der anderen nicht mehr verstehen knnen, knnen wir nur noch versuchen, ihre berzeugungen aus Motiven zu erklren, die ihnen selbst nicht bewut sind.

    l Ein solches Vorgehen impliziert, da wir die an-dere Seite nicht mehr als Dialogpartner ernst nehmen knnen, da wir nicht mehr mit ihr, son-dern !l_Ur n.och be!: sie sprechen. Dieser Rekurs auf die dahinterliegenden psychologischen und so-zialpsychologischen Motive ist rational und sogar

    7

  • unerllich, wenn wir eine Position nicht mehr direkt verstehen knnen. Er ist aber nicht ratio-nal, wenn er vorzeitig einsetzt, d. h. wenn wir

    l nicht vorher. alles getan haben, die Grnde der anderen Seite im Dialog zu verstehen. Im konkre-ten Fall ist der vorschnelle Vorwurf der Irratio-nalitt in beiden Richtungen wenig berzeugend, weil sich doch niemand einreden kann, da alle Vertreter der jeweils anderen Seite dumm oder bswillig oder beides sind.

    Im politischen Kampf liegt es nahe, den Geg-' ner zu diffamieren. Der Dialog wird mglichst

    rasch abgebrochen, jede Seite sucht sich diejeni-gen Aspekte der anderen heraus, wo sie mglichst schwach erscheint. Platon stellte dieser rhetori-schen Methode, wie er sie nannte, diejenige ge-genber, die er als die philosophische bezeichnete, wobei 11philosophisch" einfach besagt, da m~_!! einen Dialog anstrebt, in dem es nicht um Punkte-sammeln, sondern um grtrnogliche gegenseitige Wahrhaftigkeit geht, und das heit: um grt-mgilche intersubjektive Rationalitt. Platons Forderung,dadieI>olitiker m diesem Sinne Philosophen werden mssen, ist ber die Jahrhun-derte belchelt worden. In der gegenwrtigen

    ' .. Frage aber, in der es um unser Uberleben geht, knnen wir uns den Verzicht auf gegenseitige Verstndigung nicht leisten. Jedes Versumnis an Rationalitt ist ein weiterer Schritt an den Ab-grund. Rationalitt ist aber wesensmig inter_-subjektive Rationalitt, weil wir nur, wenn wir uns den Gegengrnden der anderen Seite ausset-zen, die Triftigkeit und das Gewicht der eigenen Grnde ermessen knnen.

    Ich werde mir also im folgenden einen Dialog-partner vorstellen, der auf der anderen Seite steht und von dem ich wei, da er weder dumm noch bswillig ist, und von dem ich voraussetze, da

    8

  • er ein ebenso starkes Bedrfnis nach Verstndi-gung hat wie ich. Das Gesprch mit Rudolf - das ist der Name, den ich meinem Freund gebe - soll den Sinn haben, das Panorama der hier strittigen Gesichtspunkte mitsamt ihren Hintergrundannah-men auszuleuchten. . ... ,

    Dem Kontrahenten von. Rudolf gebe ich keinen el:>~nsolchen fiktiven Namen, sondern hier bleibe ich : in 1. Person, um einen falschen Anschein von Objektivitt zu vermeiden. Ich~~lL11'!eir1J:E~.t=.:_

    !!l.~.11.! ... nichtyerleljg~~n,. k:h .. s.~.~h~_nicl"lt ber: d~Q. Parteien. Darber hinaus ist natrlich klar, da auch .. der~ Dialog im ganzen subjektiv insofern ist, als das Gesprch von mir konstruiert wird und ich es bin, der meinem Freund seine Argumente in den Mund legt. Ich kann dabei nicht mehr tun als mich zu bemhen, ihn mit den strksten Argu-menten auszustatten, die ich aus Gesprchen, aus der Literatur und aus eigener Reflexion kenne, und es ist natrlich ganz ausgeschlossen, da ich dabei auch nur annhernd wirkliche Objektivitt erreiche. Wre es dann nicht besser, so knnte man mir entgegenhalten, auf den gespielten Dia-log zu verzichten und einen Diskurs mit einem lebendigen Partner zu suchen, der Argumente bringen wrde, die ich gar nicht antizipieren kann? Doch das eine schliet das andere nicht aus. Podiumsdiskussionen und Interviews haben ihre eigenen Chancen, aber auch ihre eigenen Schwierigkeiten.

    Nun wird Rudolf zunchst gar nicht bereit sein, sich ohne weiteres auf eine Argumentation einzulassen, die mit dem Titel dieses Vortrags berschrieben ist. 11Kann man denn berhaupt", so hre ich ihn fragen, 11von der Friedensbewegung sprechen? Besteht nicht die sogenannte Friedens-bewegung aus einem Gemisch der verschiedensten Positionen? Und wenn die Friedensbewegung keine

    9

  • bestimmte Position darstellt, ist auch die Rede von ,ihren Gegnern' ebenso unbestimmt. Auer-dem ist die Selbstbetitelung ,Friedensbewegung' schon deswegen rgerlich, weil sie unterstellt, da nur diejenigen, die sich zu dieser Bewegung zhlen, auf Frieden ausgerichtet sind. Das Ziel der Friedenserhaltung haben wir doch aber alle, wir unterscheiden uns nur in unserer Vorstellung ber die geeignetsten Mittel."

    11Ganz recht", antworte ich, 11hier sind durch-aus Unterscheidungen erforderlich. Die globale Bezugnahme auf ,die Friedensbewegung' im Titel war jedoch ntig, weil sie einen Stellenwert im ffentlichen Bewutsein hat. Von ihr mssen wir also ausgehen. brigens hat die globale Bezug-nahme auf ,die' Friedensbewegung hufig gerade einen verdeckten rhetorischen Stellenwert, wenn die Friedensbewegung von Deinen Freunden als irrational bezeichnet wird. Man geht dann davon aus, da bestimmte Fernziele vieler, die sich zur Friedensbewegung zhlen, utopisch, unrealistisch und in diesem Sinn irrational sind, und bertrgt das dann stillschweigend auf bestimmte Nahziele, die von der Friedensbewegung gefordert werden, wie die Verhinderung der Nachrstung."

    Ich stimme also mit Rudolf darin berein, da wir die Frage der Rationalitt und Irrationalitt der Friedensbewegung und ihrer Gegner berhaupt nur klren knnen, wenn wir verschiedene Ebenen unterscheiden. Wovon ich ganz absehe, sind die-jenigen gewi groen Teile der Friedensbewegung, denen man Uninformiertheit ber die militrpoli-tischen Details vorwerfen kann. Sich nicht oder nur einseitig zu informieren in einer Frage, die man fr berragend wichtig hlt und von der man wei, da sie ko~trovers ist, und gleichwohl eine bestimmte Position zu beziehen, ist eine Haltung, auf die in der Tat wie auf keine andere die Be-

    10

  • zeichnung Irrationalitt pat, aber diese Haltung findet sich natrlich auf der anderen Seite genau-so, ja quantitativ in wesentlich grerem Aus-ma, ein Umstand, der seine einfache Erklrung darin findet, da der Groteil derer, die nicht zur Friedensbewegung gehren, das Problem eben nicht fr berragend wichtig halten. Im brigen ist diese Form der Irrationalitt - das Versumnis, sich angemessen zu informieren - natrlich ein graduelles Phnomen. Das macht es freilich nicht besser, ja es ist das eigentliche Hauptbel. Rudolf

    ( ist fr mich so definiert, da er ungefhr gleich informiert ist wie ich, keiner von uns ist ein Ex-perte. Wir einigen uns daher leicht dahingehend, da wir darauf verzichten, diesen Pauschalvorwurf gegenseitig zu erheben, und statt dessen, wo wir im Gesprch auf Stellen stoen, an denen wir merken, da wir unzureichend sachkundig sind, dies zum Anla nehmen wollen, uns besser zu in-formieren. Man kann das auch so ausdrcken: ich unterstelle, da wir beide wenigstens den Willen zur Rationalitt haben.

    Auf Rudolfs Forderung, die Rede von der Frie-densbewegung so zu przisieren, da man sich mit wohldefinierten Positionen auseinandersetzen kann, will ich jetzt in zwei Stufen antworten.

    ~ Der kleinste gemeinsame Nenner der europischen Friedensbewegung besteht in der Ablehnung der sogenannten Nachrstung. Damit ist der entschei-dende Punkt der aktuellen Auseinandersetzung bezeichnet. Aber weder Rudolf noch ich sind willens, das Gesprch auf . diesen doch etwas vor:-dergrndigen Aspekt einzuschrnken. Wrden wir uns auf diese enge Definition beschrnken, liee sich auch die Gemeinsamkeit der Friedensbewe-gungen auf den verschieoenen Kontinenten nie t verstehen - in Europa, Nordamerika, Japan, Au-stralien.

    11

  • Worin besteht diese Gemeinsamkeit? Man kann sie, meine ich, in zwei empirischen Annahmen und einer Zielsetzung zum Ausdruck bringen. Die beiden empirischen Annahmen lauten: 1. der Atomkrieg ist wahrscheinlich, 2. seine Wahr-scheinlichkeit nimmt zu. Die Zielsetzung lautet: der Atomkrieg mu .\l("lbedingt verhindert werden. Dabei liegt die Betonung auf dem Wort 11unbe-dingt". Hingegen ist die unbedingte Verhinderung von Krieg berhaupt (ich betone: die unbedingte) zwar auch eine in den Friedensbewegungen ver- , breitete Zielsetzung, aber kein Konsens. Ich will also als wesentliches Definiens der Friedensbewe-gung festhalten, da sie _zwar nicht durchgngig ~~2:1-~~~lr:ig_~ P.ct~~f..!S..!!ss;h ist.L \V9.11l.i:i~~r: .. _~':Jr:.
  • 0

    T If

    ---~~ ,._ .... ,,._ l..L!~!..L'.''--'-'-'-'-'''-'

    eine ~ impliziert. Den Atomkrieg wenn irgend mglich vermeiden wollen, heit, ihn vermeiden wollen, es sei denn, man kann ohne ihn ein anderes, ebenso groes oder noch gre-res bel nicht vermeiden, z.B. die Unfreiheit. Fr die Gegner der Friedensbewegung ist also der Frieden ein hoher Wert, aber nicht der hchste: entweder es gibt einen anderen noch hheren Wert (ich erinnere an Alexander Haigs Ausspruch 11Es gibt Wichtigeres als den Frieden") oder man sagt, wie man es von bundesrepublikanischen Po-litikern hrt, da die zwei Werte Frieden und Freiheit gleichrangig sind. Damit ist jetzt klar, inwiefern die Friedensbewegung diese Bezeich-nung zu Recht trgt: sie vertritt die Auffassung, da dem Frieden, genauer gesagt: der Vermeidung eines atomaren Kriegs die hchste Prioritt zu-kommt.

    Ich kann mich jetzt auch mit Rudolf leicht ber die Gliederun unseres Ges rc~ einigen: im ersten Teil wird das Nahziel der Friedensbe-wegung zur Diskussion stehen: die Ablehnung der Nachrstung, im zweiten Teil ~rundstzliche Position des Nuklearpazifismus. Zwischen beiden ~inlogTScherZusammenhang: es wre im Prinzip denkbar (obwohl es aus guten Grnden empirisch nicht vorkommt), da ein Nu-klearpazifist die Nachrstung bejaht, wenn er nmlich der Meinung wre, da die Nachrstung den Ausbruch des Atomkrieges unwahrscheinlicher macht; und allemal ist natrlich die umgekehrte Kombination mglich (und empirisch sogar sehr verbreitet), da jemand den Nuklearpazifismus ablehnt und gleichwohl gegen die Nachrstung ist.

    Solange ich mit Rudolf ber die Nachrstung diskutiere, kann ich deswegen die Frage der letz-

    1 ten Wertsetzungen weitgehend offen lassen und unterstellen, da es uns beiden um dasselbe Ziel

    13

  • I

    geht, nmlich die Wahrscheinlichkeit eines Atom-krieges zu vermindern. Allerdings ist Rudolf der zustzliche Gesichtspunkt besonders wichtig, da wir auch unsere politische Erprebarkeit verhin-dern mssen. So oder so ist die Frage der _Ratio-nalitt, mit der wir es in diesem ~~ Teil zu tun haben werden, weitgehend jene einfachste Form von Rationalitt, die die Frage betrifft, welches die geeignetsten Mittel sind, um einen

    '..: vorgegebenen Zweck zu erreichen. Im zweiten Teil werden wir es dann mit anderen -Aspekten von Rationalitt zu tun haben. Erstens mit Ein-schtzungsfragen, die auch schon in den ersten Teil hereinspielen werden, also z.B. die Frage, ob es rational - und das heit jetzt: realittsad-quat - ist, die Wahrscheinlichkeit eines Atom-kriegs fr ziemlich hoch oder fr ziemlich gering zu halten. Diese Einschtzung_~gen sind zum Teil nicht objekti~bar. Hier besteht dann Rationalitt darin, sich wechselseitig uber den Stellenwert dieses subjektiven Faktors und seine Tragweite klar zu werden. Zweitens werden wir uns uber unsere letzten Wertsetzungen ver-stndigen mssen. Hier kann intersubjektive Ra-tionalitt nicht darin bestehen, die eine Wertset-zung als rationaler als die andere zu erweisen - eine Wertsetzung ist nicht an und fr sich ra-

    1 tionai -, sondern nur darin, da wir uns wechsel-t seitig helfen, die eigene Wertsetzung und ihre

    1 Im likationen nicht im Halbdunkel zu belassen.

    n. Also zunchst zur Nachrstung. Ich will anneh-men, da Rudolf seine positive Einstellung zur Nachrstung ungefhr so begrndet: 11 Die Russen", sagt er, 11haben die Zeit der politischen Entspan-nung dazu gentzt, ihre Rstung sowohl im kon-ventionellen. wie im atomaren und hier insbeson-

    14

  • dere im Mittelstreckenraketenbereich enorf!l zu erhcihen. Auerdem ist ihre expansionistische Tendenz bekannt, sowohl aufgrund ihrer Ideologie wie aus jngster historischer Erfahrung, siehe Af-ghanistan. Da mir aber Deine und Deinesgleichen Naivitt und Verharmlosungstendenz bezglich der Gefahr, die aus dem Osten droht, bekannt ist, verzichte ich auf nhere Ausfhrungen zu diesem Punkt, weil ich Dich in wenigen Minuten ohnehin nicht uberzeugen knnte. Glcklicherweise knnen wir bei unserer Frage von Hypothesen ber die Absichten der sowjetischen Fhrung ganz ab-sehen. Die bloe Tatsache des Ungleichgewichts der Waffen reicht aus. Ich zitiere aus Kissingers Rede vom l. September 1979 in Brssel: ,Ich bin nicht einmal der Meinung, da die derzeitigen sowjetischen Fuhrer besonders abenteuerlustig wren.' Aber: ,Noch nie in der Geschichte ist es vorgekommen, da eine Nation berlegenheit in allen wesentlichen Waffenkategorien erlangt und nicht auch versucht hat, daraus irgendwann ir-gendeinen auenpolitischen Gewinn zu erzielen.' (1) Ich bin bereit zuzugestehen, da Kissinger bertreibt, wenn er von ,allen wesentlichen Waf-fenkategorien' spricht, aber fr erwiesen halte ich die sowjetische berlegenheit bei den konven-tionellen Waffen und bei den landgesttzten Mit-telstreckenraketen. Wegen der russischen ber-legenheit bei den konventionellen Waffen knnen wir es uns nicht leisten, von der Doktrin der fle-xiblen atomaren Abschreckung abzugehen. Und die sowjetische berlegenheit bei den Mittel-streckenraketen hat in der flexiblen Abschrek-kungsstrategie ein ,Fenster der Verwundbarkeit' geffnet. Es besteht die Gefahr der Abkopplung zwischen Europa und den USA, zwischen der Ab-schreckung durch die Kurzstreckenraketen und der durch die Interkontinentalraketen. Es ist also

    15

  • nur rational - und das Gegenteil wre irrational -zu wnschen, da die USA ihrerseits Mittel-streckenraketen aufstellen, wenn die Sowjetunion die ihren nicht abbaut. Genau das ist ja der Sinn des NATO-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979."

    11Schn, Rudolf. Was Deinen ersten Punkt be-trifft, meine Naivitt: ich halte die sowjetischen Fhrer nicht fr gute Menschen, ich traue ihnen jede Skrupellosigkeit in der Durchsetzung ihrer Absichten zu. Aber mir erscheint, wie Du schon vermutet hast, Deine Einschtzung ihrer Absich-ten ganz unrealistisch. Ich wrde Dir die Lektre des Buches Im Schatten der Atombombe von George Kennan empfehlen, der immerhin der Va-ter der amerikanischen Eindmmungspolitik ist. In seinem dort abgedruckten Expose von 1978 ber ,Ziele sowjetischer Strategie' gibt er sehr przise die Kriterien an, die nach seiner Meinung fr militrische Interventionen von seiten der so-wjetischen Fhrer gelten, soweit man das aus ih-rem Verhalten und aus ihrer Ideologie entnehmen kann. Gewi, auch das ist nur eine, wenn auch empirisch fundierte Meinung, und Du kannst gel-tend machen, da die entgegengesetzten Meinun-gen einen ebensolchen Anspruch auf empirische Fundierung erheben. Hier bleibt uns also als ra-tionales intersubjektives Verhalten nur die Bereit-schaft, uns beide sachkundiger zu machen und im brigen anzuerkennen, da es hier verschiedene Einschtzungen gibt. Wir werden immer solche Einschtzungsfragen praz1se einzugrenzen und festzustellen haben, welcher Stellenwert ihnen fr die weitere Argumentation zukommt. Im kon-kreten Fall stimme ich mit Dir berein, da un-sere unterschiedlichen Einschtzungen der sowje-tischen militrpolitischen Absichten fr unser jetziges Problem - die Nachrstung - zwar einen 16

  • emotionalen, demagogisch verwertbaren, aber keinen rationalen Stellenwert haben. Ich will noch einen Schritt weiter gehen. Ich wiU fr den gan-zen Verlauf unserer heutigen Argumentation Dei-ne von mir fr unwahrscheinlich gehaltene Ein-schtzung hypothetisch bernehmen.

    Es gibt nun einen zweiten Komplex empirischer Ungewiheit, den wir vielleicht lmlich behandeln knnen. Ich meine die Frage nach dem Ausma des Ungleichgewichts bei den Mittelstreckenrake-ten. Nach den Schtzungen des Stockholmer Frie-densforschungsinstituts (SIPRI) handelt es sich um ein Verhltnis von 2: 1 zugunsten der Sowjetunion. Du weit, da es viele andere Schtzungen gibt, die von dieser in beiden Richtungen abweichen, wobei die Differenzen zu einem groen Teil in der Unsicherheit des Begriffs Mittelstreckenrake-ten grnden: werden auch die franzsischen und britischen Mittelstreckenraketen gezhlt, und wenn ja, nur die jetzt vorhandenen oder auch die geplanten; werden auch die sogenannten forward based systems der Amerikaner gezhlt; werden auch die seegesttzten Systeme gezhlt, und wenn ja, welche, usw. ber diese Fragen streiten sich sowohl die Experten wie die Abrstungsdele-gationen. Mssen auch wir uns ber sie streiten? Aus Deiner Perspektive mten wir es wohl, denn Du bist der Meinung, da der Gesichtspunkt des Gleichgewichts auf jeder Ebene wesentlich ist. Da ich aber diesen Gesichtspunkt des Gleichge-wichts nicht fr wesentlich halte, fllt es mir leicht, Dir auch in dieser zweiten Einschtzungs-frage entgegenzukommen. Setze also das numeri-sche Ungleichgewicht so ungnstig fr den Westen an, wie Du magst; ich bin bereit, diese Voraus-

    1 setzung hypothetisch zu bernehmen. Und nun kann ich mich auf den Punkt konzen-

    trieren, der keine Einschtzungsfrage ist, sondern

    17

  • das Prinzip betrifft, das Du wie selbstverstnd-lich unterstellst, eben das des Gleichgewichts. An dieser Stelle mu ich aus der Rolle fallen und ein bses Wort verwenden. Ich halte dieses Gleich-_g~w ict1 !_!i~Egl11Tl ~-f\!L ga5; Q!~~~g~sa.ITl t~- ~-JSr&uiri-enta.: _tJC>l1 .. der Nachrstungsbefrworter beherrscht, fr ge111ag()gisc:h, und zwar deswegen, weil es an der Oberflche einen so groen Anschein an Plausibi-litt und also Rationalitt hat und erst, wenn man genauer nachsieht, sich als irrelevant er-weist. Der __brts~[!~i[l d~L Pl_Jli!t ergibt sich daraus, da diese Kategorie des numerischen Gleichgewichts in der Tat fr alle herkmmlichen Formen von Waffen und Kriegen relevant war. Auf den sprichwrtlichen Mann auf der Strae, der sich auf die Sache nicht genauer einlt, mu daher das Argument, da ein Ungleichgewicht besteht, einen tiefen Eindruck machen. Die Rus-sen haben landgesttzte Mittelstreckenraketen, wir haben keine, also werden wir uns gegen sie gewi nur so schtzen knnen, da wir auch wel-che auf stellen.

    Ist das denn aber der Fall? Wie sieht denn die Situation aus, wenn man sich genauer auf sie ein-lt? Die Funktion der Atomraketen ist, da sie der Abschreckung\ dienen sollen, d. h. man droht

    dem ~Gegner mit einem fr ihn unakzeptablen Schaden. Dafr ist aber kein Gleichgewicht er-

    : forder lieh. Ein einziges amerikanisches Poseidon-U-Boot mit seinen 140 Atomsprengkpfen wre zur Abschreckung gegen einen Angriff der SS-20 ausreichend."

    11 Und die Ankopplung an die USA?", wirft Ru-dolf ein.

    11 Wenn die USA diese Ankopplung wnschen, knnen sie sie mit dem einen U-Boot herstellen, und wenn sie sie nicht wnschen, werden sie sie auch durch landgesttze Raketen nicht herstellen."

    18

  • 11 Angenommen, Du httest dqmit recht," sagt Rudolf, 11da Gleichgewicht irrelevant ist, dann wrde doch bestenfalls folgen, da die Herstel-lung des Gleichgewichts durch die Nachrt:istung nicht notwendig ist, aber sie wre immerhin op-tisch besser, und vor allem ist ihre Androhung wichtig, um die Sowjets zu einer Reduktion der SS-20 zu veranlassen; und aus Deiner eigenen Ar-gumentation wrde folgen, da sie doch auch nichts schaden knnte. Warum wehrt Ihr Euch dann so furchtbar gegen sie?"

    11 Weil", so antworte ich, 11durch die vorgesehe-nen neuen Raketen ein anderes und das fr das atomare Zeitalter einzig entscheidende Prinzip verletzt wird, das Prinzip der relativen Stabili-tt. D(ls ~ntscheidende Argljm~nt g~g~n die. l'.lac~ _i:ljstung laut~.t, da sie sich zustzlich destabili-sierend auswirken mu, d. h. da sie die Gefahr des Ausbruchs der atomaren Katastrophe in hohem Mae vergrert. Die Begrt:indung kennst Du doch: sowohl die Pershing II wie die Cruise Missile haben eine bisher von keiner Rakete erreichte Treffge-nauigkeit, und sie eignen sich beide zu einem berraschungsangriff, die eine wegen ihrer extrem kurzen Flugzeit, die andere wegen ihrer Fhigkeit, von Radar unerkannt zu fliegen. Zwar haben auch die SS-20 eine ziemlich weitgehende, wenngleich wesentlich geringere Treffgenauigkeit, aber der entscheidende Unterschied ist, da die neuen amerikanischen Raketen einen Teil des sowjeti-schen Kernlandes bedrohen werden, whrend es keine entsprechende sowjetische Bedrohung der USA gibt. In diesem Zusammenhang ist hufig zu Recht an die Kubakrise erinnert worden. Der Ver-such der Sowjetunion, ein Mittelstreckenpotential unmittelbar vor den USA auf zubauen, ist damals von Kennedy als so bedrohlich empfunden worden, da er der Sowjetunion ein Ultimatum stellte, mit dem er den Atomkrieg riskierte.

    19

  • Auerdem mu die Stationierung dieser Rake-ten auch im Lichte von zwei neuen amerikani-schen Strategiekonzeptionen gesehen werden, von denen die erste so entscheidend ist, da sie gera-dezu zum Auslser der Friedensbewegung wurde. Sie betrifft die aus dem letzten Regierungsjahr von Carter stammenden Plne, wie man einen nuklearen KrJeg .. dljf Ch_. seJ~llan, an dem auch unser Verteidigungs-minister Wrner beteiligt ist. Er ist im allgemei-

    20

  • nen weniger bekannt, aber Du kennst natrlich aus der FAZ die ausfUhrlichen Darstellungen die-ses Plans durch Adelbert Weinstein (2). Die neue Strategie, die zum Teil offenbar inzwischen unter dem Titel 11airland battle" bereits in das 11field manual" der amerikanischen Armee eingegangen ist (3), besteht darin, sofort beim Ausbruch von Feindseligkeiten die Reserven der Sowjetarmee und das ganze militrische System des Hinter-landes zu zerstren - 2 685 feste und bewegliche Ziele, wie Weinstein berichtet. Ermglicht wird dieses neue Vergehen durch die modernen Przi-sionswaffen, die aber sollen transportiert werden (ich zitiere nur Deinen Gewhrsmann Weinstein) durch Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles, angeblich mit nichtnuklearen Sprengkpfen (wie sollen aber die Sowjets wissen, was fr Spreng-kpfe die anfliegenden Raketen enthalten?). Es heit, dieser Plan soll es ermglichen, die Atom-schwelle anzuheben, faktisch ist aber damit die Grenze nicht nur zwischen defensiver und offen-siver Kriegsfhrung, sondern auch zwischen kon-ventionellem und nuklearem Krieg von vornherein aufgehoben, da erstens die Beschrnkung auf kon-ventionelle Sprengkpfe wohl kaum gewhrleistet ist (4) und da zweitens die Sowjetunion ja nun ih-rerseits versuchen wrde, diese Raketen und Flug-krper sofort zu vernichten, gegebenenfalis ato-mar.

    Ich komme also zu dem Ergebnis - und ich sehe nicht, wie man das bestreiten kann -, da die Sta-tionierung der Pershing II und der Cruise Missiles sich in mehrfacher Hinsicht extrem destabilisie-rend auswirken wrde.''

    11Zugestanden," sagt Rudolf, 11da Du recht hast, da der Begriff der Destabilisierung der hier entscheidende ist, willst Du denn behaupten, da die laufende Stationierung der SS-20 sich nicht destabilisierend auswirkt?"

    21

  • 11Politisch sicher, militrisch ist es umstritten. Da wir aber hier nicht in die Details einsteigen knnen, will ich Deine Frage schlicht mit Ja be-antworten, obwohl ich aufgrund des eben Ausge-f (ihrten das Ausma der durch die SS-20 erzeug-ten Destabilisierung allemal fr wesentlich gerin-ger halte als das Ausma an Destabilisierung, das die neuen amerikanischen Raketen erzeugen wr-den. Aber wie immer: was willst Du denn mit dem jetzigen Argument sagen? Willst Du sagen, wenn die Sowjets eine sich destabilisierend aus-wirkende Manahme vollziehen, haben die Ameri-kaner ein Recht, dasselbe zu tun? Aber ist denn hier von Rechten die Rede? Schleichen sich hier nicht wieder unsachgeme und insofern nicht-rationale Gleichgewichtsvorstellungen herein, dies-mal sogar aus dem Rechtsbereich? Im Bereich des Rechts mag es der Fall sein, da wenn einer etwas gegen einen zweiten tut und der zweite daraufhin etwas Entsprechendes gegen den ersten, ein Ausgleich eintritt. Aber Destabilisierung der einen Seite plus Destabilisierung der zweiten Sei-te fhrt nicht zu Null, zur Stabilisierung, sondern zu potenzierter Destabilisierung.

    Ich glaube, wir sind jetzt so weit, da wir uns ganz auf die einzig relevante Frage konzentrieren knnen: ist die Nachrstung rational in dem Sinn, da sie ein geeignetes Mittel ist, unsere Sicher-heit und Nichterprebarkeit zu erhhen? Das wre nur dann der Fall, wenn diese neuen Raketen da-zu geeignet wren, die Sowjetunion von einem Angriff mit ihren SS-20 abzuschrecken. Dazu sind sie aber nicht geeignet, weil diese landgesttzten amerikanischen Raketen im Gegensatz z.B. zu U-Boot-gesttzten Raketen durch einen Angriff der SS-20 vernichtet wrden, ehe sie zurckschlagen knnten. _Qie. Y~l1--~-~!-1'!C1~h_r:_~!~K 'v'()~g_esehenen Raketen sind als Zweitschlagswaffen untauglich,

    22

  • sie sind nur den~bar als Erstverwendungswaffen. Daraus folgt; da - sle--nicht nur unge-e1gnet sind, einen Angriff der SS-20 zu verhindern, sondern geradezu geeignet, die Wahrscheinlichkeit eines solchen Angriffs zu erhhen. Diese Raketen sind, wie das ausgedrckt worden ist, Magneten. Sie knnen daher nur zur Zerstrung Europas fhren, nicht zu seiner Verteidigung, nicht zu einer Ab-schreckung eines Angriffs, sondern nur dazu, ei-nen solchen zu provozieren. Das heit doch nun aber: nicht weil wir die SS-20 nicht fr bedroh-lich halten, sondern weil und wenn wir sie fr be-drohlich halten, ist es irrational, die vorgesehe-nen neuen Raketen zu stationieren.''

    11 Es bleibt mir gleichwohl noch ein gewichtiger Einwand", sagt Rudolf. 11Siehst Du denn nicht, da die Friedensbewegung Moskau in die Hnde arbei-tet? Und da Ihr damit den Amerikanern bei den Genfer Verhandlungen. in den Rcken fallt? Wenn die Sowjets nicht mit der Nachrstung rechnen mten, htten sie sich nicht an den Verhand-lungstisch gesetzt und nicht einmal die wenigen Konzessionen gemacht, die sie gemacht haben."

    11 Da das Nahziel der Friedensbewegung mit den Interessen Moskaus bereinstimmt, ist richtig, Rudolf, aber wieso ist das ein Argument? Es wre ein Argument nur dann, wenn alles, was Moskau ntzt, dem Westen schadet und umgekehrt. Aber dieses Argument ist nur beschrnkt anwendbar. Wenn das von der einen Seite zu befrchtende bel die erhhte Wahrscheinlichkeit des Atom-kriegs ist, ist dieses bel dasselbe, das auch von der anderen Seite zu bef.rchten ist. Auch dieses Argument ist also, hnlich wie das Gleichge-wichtsargument, unsachgem und daher irratio-nal und gleichwohl ebenso demagogisch stark, weil auch dieses Argument eine so groe vorder-grndige Plausibilitt besitzt.

    23

  • Zu Deinem anderen Punkt - Verhandlungsbereit-schaft und Konzessionen der Sowjetunion - mchte ich sagen: Du siehst selbst, da bei der jetzigen Verhandlungsbasis der Amerikaner zwar einige, aber doch nur wenige Konzessionen der Sowjet-union zu erhalten sind. Ich stimme mit Dir ber-ein, da die Sowjets nicht freiwillig Konzessionen machen. Aber ich htte mir eine ganz anders ge-artete Verhandlungsposition der Amerikaner ge-wnscht, die auf Verringerung, nicht auf Steige-rung der gegenseitigen Bedrohung ausgerichtet wre."

    11 Du weichst aus", wirft Rudolf ein. 11Der Ver-handlungsrahmen ist nun einmal vorgegeben, und da trgt doch die Friedensbewegung zu einer Schwchung der amerikanischen Position bei, ja oder nein?"

    11Ja", gebe ich zu. 11 Aber man kann nun einmal nicht beides haben, wir stehen hier vor einer Gterabwgung. Natrlich freue ich mich ber jede Reduktion der SS-20, die die Amerikaner aus den Russen herauspressen, aber vor die hliche Wahl gestellt, die Drohung mit der Nachrstung und dann also auch deren wahrscheinliche Reali-sierung zu bejahen oder uns notfalls mit der un-verminderten Zahl der SS-20 abzufinden, wre es irrational, nicht das geringere bel zu whlen."

    11La uns noch einmal einen Blick zurckwer-fen", sagt Rudolf. 11 Deine Argumentation ist viel-leicht triftig, wenn man, wie Du, unterstellt, da die Wahrscheinlichkeit eines Ausbruchs des Atom-kriegs relativ hoch ist. Wenn man diese Wahr-

    , scheinlichkeit jedoch fr extrem gering hlt, bleibt dann nicht auch die von Dir fr den Fall der Nachrstung nachgewiesene Erhhung dieser Wahrscheinlichkeit immer noch gering? In diesem Fall gewinnen aber die von Dir als vllig sekun-dr angesehenen Pluspunkte der anderen Seite

    24

  • greres Gewicht: erstens, da wir bei einem Ja zur Nachrstung keine Krise im Bndnis riskie-ren, zweitens, da wir Konzessionen von der So-wjetunion erreichen, drittens, da sich die NATO nicht durch Nachgeben bei den Verhandlungen eine politische Ble gibt und viertens, da wir weni-ger erprebar sein wrden. So schreibt z.B. Alois Mertes in einem Artikel im Europa-Archiv dieses Jahres, da die Gefahr eines Krieges als ,uerst gering anzusehen ist' und die eigentliche Gefahr vielmehr in der ,schleichenden Unterwerfung' un-ter die sowjetische Erpressung liegt und deswegen die Nachrstung rational geboten ist (5). Kannst Du die Rationalitt dieser Position bestreiten?"

    11Nun, Rudolf, es fllt mir immer noch schwer, mir eine Situation vorzustellen, die so definiert wre, da die Russen uns eher atomar unter Druck setzen knnten, wenn wir die neuen Rake-ten nicht haben, als wenn wir sie haben, wobei Du Dir noch einmal vor Augen fuhren mut, da sie keine Zweitschlagswaffen, also keine Droh-verhinderungswaffen sind, aber es mag sein, da ich da etwas bersehe. In diesem Fall wre also eine Position wie die von Mertes rational, d. h. es wre rational, die Nachrstung zu befrworten, wenn man erstens glaubt, die tatschliche Gefahr eines Kriegsausbruchs praktisch ausschlieen zu knnen, und wenn man sich ausschlielich auf die Bedrohung aus dem Osten konzentriert und die Bedrohungswahrnehmungen der Sowjetunion auer acht lt. Das ist also die mgliche Rationalitt der Nachrstung, aber das ist eben eine imma-nente Rationalitt, die wesentliche Aspekte der Situation ausblendet und deswegen im ganzen ir-rational ist."

    Doch hat Rudolf hier gewi seinen Finger auf einen wesentlichen Punkt gelegt. Mertes ist kein Einzelfall. Soweit ich sehe, ist es ziemlich allge-

    25

  • mein fr die Befrworter der Nachrstung cha-rakteristisch, da sie die Wahrscheinlichkeit eines Krieges fr sehr gering halten, whrend die Geg-ner der Nachrstung sie fr hoch halten. Von die-

    l ser Einschtzungsfrage scheint ziemlich viel ab-zuhngen. m.

    Damit komme ich zum zweiten Teil unserer Aus-einandersetzung, der die grundstzliche Position der Friedensbewegung betrifft, ihr Insistieren auf einem Nuklearpazifismus. Dieser Forderung liegen zwei Prmissen zugrunde: 1. ein Atomkrieg ist das grte denkbare bel, 2. der Atomkrieg ist unter gegenwrtigen Bedingungen wahrscheinlich und wird wahrscheinlicher. Die erste Prmisse sollte eigentlich unkontrovers sein. Wie steht es mit der zweiten?

    11Ich frchte, Rudolf, da eine Position wie die von Mertes nicht konsistent ist. Man kann nicht, wie er es tut, erstens die Drohung mit dem Atom-krieg fr politisch essentiell halten und zweitens meinen, da die Wahrscheinlichkeit der Realisie-rung dieser Drohung nahe an Null liegt, denn dann wre die Drohung nicht glaubhaft. Die Begrn-dung, die Mertes fr das niedrige Risiko gibt, ist verblff end blauugig. Er schreibt: 11angesichts der berlebensinteressen der Gromchte". Wis-sen wir denn nicht, da das eigentliche Problem, von Computerfehlern einmal abgesehen, darin liegt, da sich die Beteiligten wider Willen durch Drohungen in eine ausweglose Situation man-vrieren knnen, in der ihnen das Geschehen aus der Hand gleitet? Das liegt nicht an menschlicher Schwche, sondern gehrt einfach zum Sinn einer Drohung. Bei der Kubakrise hat Chruschtschow nachgegeben, weil die Sowjets in der Atomrstung noch extrem unterlegen waren, aber es scheint

    26

  • inzwischen festzustehen, da er deswegen ge-strzt ist. Was wird das nchste Mal passieren? Wenn der Bedrohte nicht nachgibt, steht der Be-drohende unter Handlungszwang, oder seine Dro-hung wird knftig nicht mehr ernst genommen. Und wenn es das nchste Mal noch einmal gut gehen sollte, was wird beim ubernchsten Mal passieren?

    Weizscker schreibt in seinem Buch Wege in der Gefahr: ,Der dritte Weltkrieg ist wahrschein-lich' (S. 110), und im 8. Kapitel fUhrt er das ma-thematisch in einer Form aus, die von Afheldt wie folgt zusammengefat wird: ,Soll die Ab-schreckung uber lange Zeit glaubwrdig bleiben, mu die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes der Waffen ber lange Zeit grer als Null sein. Ist diese Wahrscheinlichkeit aber konstant grer als Null, so wird sie ber sehr lange Zeitrume gleich 1, der Krieg also sicher.' (6)"

    Rudolf wirft ein, das sei eben eine berlegung 11ber sehr lange Zeitrume".

    11Gewi, ber kurze Zeitrume lt sich da nichts mathematisch Przises angeben. Sicher aber scheint, da die Wahrscheinlichkeit, wie im-mer wir sie fr einen kurzen Zeitraum ansetzen, zur Zeit rapide zunimmt, selbst wenn die Nach-rstung ausbleiben sollte. Das liegt vor allem an den bei beiden Supermchten vorhandenen Ideen ber die Fhrbarkeit eines begrenzten Atomkrie-ges. Die global gesehen noch grere Gefahr als die Nachrstung besteht in den amerikanischen Plnen fr ein Totrsten der Sowjetunion, insbe-sondere fr eine enorme Aufrstung durch U-Boot-gest.tzte punktgenaue cruise missiles, der die Sowjetunion vorerst nichts quivalentes ent-gegenzusetzen hat. Hier liee sich das Zitat von Kissinger, das Du anfangs angefhrt hast, in um-gekehrter Richtung mit Bezug auf die jetzt vor-

    27

  • gesehene konventionelle und atomare berrstung der Amerikaner anwenden. Auf sowjetischer Seite kann das zu einer Kurzschlureaktion fnren.

    Ich will das nicht weiter ausfnren. Es ist klar, da die Frage, wie wahrscheinlich die Atomkata-strophe ist, subjektiv ist; nur die Annahme, da sie nahe an Null ist, ist unrealistisch und insofern irrational. Nun besteht rationales Handeln darin, da es angesichts der in der Handlungssituation gegebenen verschiedenen Alternativen zwei Para-meter bercksichtigt: erstens die Wahrscheinlich-keit und zweitens den Wert bzw. Unwert der Al-ternativen. Der Unwert des Ereignisses, mit dem wir es hier zu tun haben, ist aber der denkbar hchste. Wieder ist es nicht mglich, das Produkt dieser beiden Meinungen, der Meinung ber die Wahrscheinlichkeit und der Meinung ber den Un-wert des Ereignisses, auf eine objektive mathe-matische Formel zu bringen. Auch hier spielen natrlich subjektive Faktoren eine Rolle. Ver-schiedene Personen sind verschieden risikofreudig. Manche tun alles, um ein verhltnismig unwahr-scheinliches, aber besonders furchtbares Ereignis zu verhten, und sind relativ unbesorgt angesichts verhltnismig wahrscheinlicher, aber weniger schlimmer Ereignisse, andere verhalten sich um-gekehrt. Aber wie immer sich die Individuen psy-chologisch unterscheiden mgen, bei gleicher

    \Wahrscheinlichkeit mu die Angst bei zunehmen- der Furchtbarkeit des Ereignisses wachsen, ,mu', wenn das Subjekt rational ist. Hufig wird der Friedensbewegung vorgeworfen (natrlich nicht von Rudolf, der dafr zu klug ist), da sie ir-rational sei, weil sie von Angst bestimmt ist. Man begeht hier den Fehler anzunehmen, da Af-

    ! fekte irrational sind. Aber Affekte sind nur dann irrational, wenn sie nicht realittsgerecht sind, aber genauso irrational ist die Affektlosigkeit,

    28

  • wenn sie nicht realittsgerecht ist. Angesichts einer wahrscheinlichen und ungeheuren Gefahr ist nicht die Angst, sondern die Angstfreiheit irra-tional.

    Nun ist rationales Handeln ein Wahlen zwi-schen bestehenden Alternativen. Wir werden also prfen mssen, wie die Alternative aussieht, ob das Produkt von Wahrscheinlichkeit und Unwert der Alternative grer oder kleiner ist als die Gefahr, die wir mit dem Atomkrieg riskieren, al-so dem Ereignis, dessen Unwert der denkbar hch-ste ist und dessen Wahrscheinlichkeit irgendwo zwischen 0 und 1 liegt. Wegen der genannten subjektiven Faktoren kann diese Frage - das wis-sen wir jetzt von vornherein - keine eindeutige Antwort finden. Hier gehrt die Einsicht in die Subjektivitt der Faktoren, in die nicht eindeutige Entscheidbarkeit mit zur Rationalitt. Es wre aber wiederum irrational, wegen dieser subjekti-ven Faktoren die Rechnung gar nicht erst aufzu-machen.

    Zunchst ist zu klren, worin die Alternative berhaupt besteht. Sie besteht in dem Verzicht des Westens auf atomare Abschreckung, d.h. auf Abschreckung gegenber einem konventionellen Angriff, anders formuliert: in einem Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen, wobei dieser Verzicht, um glaubhaft zu wirken, natrlich nicht nur in einer Erklrung bestehen drfte, sondern in einer entsprechenden Vernderung des militri-schen Aufbaus, insbesondere also in einem Abbau smtlicher Kurzstreckenatomraketen. Das ist der aufsehenerregende Vorschlag, den die vier bedeu-tenden amerikanischen Politiker McGeorge Bundy, George Kennan, Robert McNamara und Gerard Smith im vorigen Jahr in einem Aufsatz gemacht haben, der gleichzeitig in ,Foreign Affairs' und im ,Europa-Archiv' erschien (7). Dieser Vorschlag

    29

  • kann natrlich eine wirkliche Alternative nur be-deuten, wenn der Osten dasselbe tut. Den verba-len Verzicht auf Ersteinsatz hat aber die Sowjet-union bereits ausgesprochen, und die Bereitschaft zu einer Vernichtung smtlicher Kurz- und Mittel-streckenraketen hat Andropow am 27. August in einem Prawda-Interview erneut angeboten, und man knnte ihn also beim Wort nehmen. Schlie-lich hat die Drohung, auf einen konventionellen Angriff mit einem atomaren Gegenschlag zu ant-worten, von Anfang an und immer nur zur westli-chen, nie zur stlichen Strategie gehrt. Wrde der Vorschlag der vier Amerikaner realisiert, so hiee das, da beide Supermchte nur noch In-terkontinentalwaffen behielten, die lediglich noch den Sinn htten, sich gegenseitig zu neutralisie-ren. Damit wre die Gefahr einer atomaren Ka-tastrophe nicht ausgeschaltet, aber ihre Wahr-scheinlichkeit drastisch reduziert, und das gengt fr unsere jetzige berlegung."

    11Gewi," ruft Rudolf, 11aber nun wollen wir doch sehen, was wir uns damit einhandeln! Der Aufsatz der vier Amerikaner wurde in einem Ar-tikel von vier Deutschen, nmlich Karl Kaiser, Georg Leber, Mertes und dem General Schulze in der nchsten Nummer derselben Zeitschriften be-antwortet (8). Du solltest ihn lesen, denn er ist vorzglich, und hier wirst Du nicht die bliche Begrndung fr die Doktrin der atomaren Ab-schreckung finden, da sie nmlich billiger sei; ich stimme Dir darin zu, da dieses Argument, das die Drohung mit dem Massenmord mit Ko-stengesichtspunkten begrndet, von unbegreifli-cher Frivolitt ist. Nein, die Begrndung lautet hier so, da wir doch auch einen konventionellen Krieg vermeiden mssen und das nur durch die atomare Abschreckung erreichen knnen. Es sei, so fhren die Autoren aus, das unkalkulierbare

    30

  • Risiko, das in der Androhung der flexiblen atoma-ren Erwiderung liegt, das den Frieden sichert."

    11Ich vermag", so antworte ich, 11dieses Argu-ment nicht so stark zu finden wie Du. Eine Zeit-lang mag die Drohung mit der atomaren Eskala-tion zur Kriegsverhtung beigetragen haben, ob-wohl auch das nicht nachweisbar ist. Bei der heu-tigen technischen Entwicklung, die einen begrenz-ten Atomkrieg denkbar gemacht hat, scheint mir sogar die genau entgegengesetzte Argumentation plausibler, da nmlich die Wahrscheinlichkeit eines Kriegsausbruchs mit Atomwaffen in Europa heute hher ist als sie es ohne wre. Aber selbst wenn wir von dieser neuesten Entwicklung ab-sehen, wird die Doktrin der flexiblen Erwiderung heute zunehmend als eine Tuschung angesehen, weil die Selbstabschreckung genauso gro ist wie die Abschreckung des anderen. Wir haben schon vorhin gesehen, da eine Drohung nicht lngerfri-stig aufrechterhalten werden kann, ohne da da-mit gerechnet werden mu, da das angedrohte Ereignis auch eintritt. Ich bin also der Auffassung, da die Drohung mit dem Atomkrieg, die wenig-stens verstndlich war, als die eine Seite ein Mo-nopol dieser Waffen hatte, verstndlich, wenn auch menschenverachtend, nicht mehr rational ist.

    Wenn Du jedoch im Gegensatz zu mir glaubst, da die vier deutschen Autoren doch soweit recht haben, da der Ausbruch eines europischen Krie-ges jedenf aHs wahrscheinlicher wird, wenn der Westen nicht mit dem Ersteinsatz von Atomwaf-fen droht, dann mu sich fr Dich die Frage stel-len, ob Du zwischen den zwei Mglichkeiten die-jenige Alternative vorziehst, deren Wahrschein-lichkeit geringer ist, die aber das uerste denk-bare bel darstellt, oder die andere, deren Wahr-scheinlichkeit nach Deiner Meinung grer ist

    31

  • und die zwar auch ein sehr groes, aber begrenz-tes bel darstellt. Du mut dann bei der Wahr-scheinlichkeit zwischen zwei Zahlen whlen, die beide zwischen 0 und 1 liegen, beim Ausma des bels aber zwischen einer endlichen Gre und einer quasi unendlichen Gre, denn bei dem Atomkrieg ist zwar die Mglichkeit gegeben, da er begrenzt bleibt, aber ebenso die Wahrschein-lichkeit, da er das Ende der Gattung und das Ende des Lebens berhaupt bedeutet, also in die-sem Sinn fr uns eine nicht mehr endliche, be-grenzte Gre darstellt.

    Wenn man, wie ich, annimmt, da die Wahr-scheinlichkeit des Krieges durch den Verzicht auf Ersteinsatz von Atomwaffen sogar geringer wird, ergibt sich die Option fr den Nuklearpazifismus von selbst. Er beruht dann aber auf dieser empi-rischen Annahme hinsichtlich der Wahrscheinlich-keiten. Fr den Nuklearpazifisten charakteristisch ist es, da er auch dann, wenn man, wie Du, an-nimmt, da die Wahrscheinlichkeit des Krieges ohne Atomdrohung grer wre und ganz egal wieviel grer, gegen die Drohung mit dem Atom-krieg pldiert, weil er die Mglichkeit des grt-denkbaren bels unbedingt ausschlieen will."

    f Diese Position, die, wie wir anfangs gesehen haben, zu der von mir vorgeschlagenen Definition der Friedensbewegung gehrt, ist noch nicht an-gemessen dargestellt, solange die Alternative nur lautet: konventioneller Krieg. Um zu der letzt-lich entscheidenden Differenz zwischen Rudolf und mir vorzudringen, ist ein weiterer Schritt er-forderlich. Die Notwendi keit und die Art des konventionellen Krie e_s mssen ih_rerseits in Fra-g~gestellt werc!en. Die Option gegen jede Bereit..: schaft zum kriegerischen Handeln schliee ich hier aus. Das wre die Position des radikalen Pa-zifismus, und auf die ist die Friedensbewegung,

    32

  • wie schon gesagt, nicht im ganzen festgelegt. Oie Zwischenposition der Friedensbewegung zwischen Nuklearpazifismus und radikalem Pazifismus lt sich nicht exakt bestimmen, weil es da natrlich die verschiedensten Schattierungen gibt. Ich kann also hier nur eine mgliche, meine eigene Posi-tion vertreten. Sie lt sich in zwei Punkten zu-sammenfassen:(T;' den politischen Mitteln - allen nur denkbaren 'vertrauensbildenden Manahmen -wird vor de11 .. militrischen eindeutige Prioritt eingerumt;(2> es wird nicht nur nicht atomar, sondern bernaupt nicht militrisch gedroht: der Westen schliet den Ersteinsatz von Waffen und die Mglichkeit eines offensiv gefnrten Krieges nicht nur wie bisher mit Worten aus, sondern durch die Art der Strategie und der Waffen, also: strikt def~nsive. Verteidigu11g. Oie bisher ausgear-beitetste Konzeption dieser Art findet sich in Horst Afheldts Buch Verteidigung Wld Frieden (1976). Man braucht Afheldts Konzeption nicht im einzelnen zu bernehmen; worauf es ankommt, ist, berhaupt erst einmal zu sehen, da hier die eigentliche und zwar durchaus realistische Alter-native liegt. Da sie so weitgehend in der ffent-lichen Diskussion ausgeblendet wird, ist irrational. Auch hier besteht die Irrationalitt darin, da man in veralteten Denkschemata befangen bleibt, die oberflchlich plausibel erscheinen, sich aber auf die Besonderheit der militrischen Situation, die durch die neueste Waffentechnologie bestimmt ist, gar nicht einlassen. Man begrndet die Not-wendigkeit von Atomwaffen und speziell Neutro-nenwaffen mit der groen sowjetischen ber-legenheit an Panzern; dabei scheint es geradezu ein Gemeinplatz der neuesten militrtechnischen Literatur zu sein, da die moderne Technik der przisionsgelenkten Munition groe Panzerarmeen obsolet gemacht hat (9).

    33

  • 11La uns aber", wird Rudolf jetzt sagen, 11den fr Dich ungnstigsten Fall ins Auge fassen, da-mit wir die zugrundeliegenden Wertungen klren knnen. Nimm also an, dieses rein defensive Kon-zept fhrt nicht zum Erfolg; nimm an, wie Du mir am Anfang zugestanden hast, der Osten hat und behlt ausgesprochen aggressive Absichten gegen Westeuropa, es gibt keinen Atomschirm, die Sowjets lassen sich nicht von der konventio-nellen und gegebenenfalls rein defensiven Vertei-digung des Westens abschrecken und die Verteidi-gung bricht auch wirklich zusammen."

    11Dieses Risiko", antworte ich, 11 mu ich in Kauf nehmen. Mit einem Risiko ist jede Konzeption belastet, und die Unehrlichkeit der blichen Ar-gumentationen besteht darin, da sie diese Risi-ke(l. nicht explizit machen. Die Frage ist, welche

    1Risiker'f' eher ertrglich und eher zu verantworten sind.11

    11Darin stimme ich Dir zu11 , sagt Rudolf. Wir werden uns rasch darber einig, da sowohl die Friedensbewegung wie ihre Gegner ihre Stand-punkte hinsichtlich ihrer letzten Wertsetzungen meist unklar, ohne sich letzte Rechenschaft zu geben, d. h. nicht rational darstellen. Beide sind dann unehr lieh und demagogisch, wenn sie nur die

    , positive Seite ihrer Position beschwren. Wenn Alois Mertes, stellvertretend fr viele, schreibt, da 11Frieden und Freiheit . gleichrangige ethi-sche Hchstwerte sind" (10), so klingt das natr-lich sehr schn, ist aber logisch unhaltbar. Die Realitt ist hlicher, als es die Festredner in beiden Lagern wahrhaben wollen. Wir mssen whlen, ob wir im Konfliktfall der Vermeidung des atomaren Krieges oder der Erhaltung unseres politischen Systems den Vorrang geben wollen. Die Position von Mertes lautet, ohne Beschni-gung: um unser politisches System zu erhalten,

    34

  • riskieren wir den Atomkrieg (und das heit: der Frieden ist nicht gleichrangig, sondern steht an zweiter Stelle). Und die nuklearpazifistische Po-sition lautet, ohne Beschnigung: wenn wir unser politisches System nur mit der Drohung, d.h. mit der Inkaufnahme des Atomkriegs erhalten knnen, mssen wir seinen Untergang riskieren. In beiden Fllen handelt es sich, das mu deutlich unter-strichen werden, nur um Risiken, aber gerade auf die Risiken kommt es letztlich an. Welches Risiko ist grer? Das ist hier die einzige Frage. ber den Vergleich der Wahrscheinlichkeiten kann man verschiedener Meinung sein, ber den Vergleich der bel eigentlich nicht. Oder doch?

    Zwar reden viele so, als ob der Verlust unseres politischen Systems ein mit dem Atomkrieg ver-gleichbares bel ist, aber ich vermag in solchen Reden nur Unernsthaf tigkeit und einen merkwr-digen Mangel an Phantasie zu erkennen. Es ist auch eine falsche Unterstellung, da die entge-gengesetzte Position mit der Devise 11lieber rot als tot" zu umschreiben ist. Denn das Wort 11tot" ist hier unpassend. Es bezieht sich auf einzelne. Der Untergang des Ganzen ist aber etwas anderes als der Tod vieler einzelner. Auch wer bereit ist, das eigene politische System, dessen relative Vor-zge er sehr wohl kennt, mit der Waffe zu ver-teidigen, ist gegebenenfalls nicht bereit, dafr die Existenz der Welt zu riskieren. Es war seit eh und je der Sinn der Maxime 11dulce et decorum es pro patria mori", da es fr den einzelnen, weil er sich wesentlich als Teil eines Ganzen ver-steht, sinnvoll ist, sich fr die Erhaltung der In-tegritt des Ganzen zu opfern. Aber fr welches Ganze opfern wir uns in einem Atomkrieg? In ei-nem Atomkrieg opfert sich keiner mehr fr das Ganze, sondern das Ganze wrde von uns ge-opfert. Die unbedingte Absage an den Atomkrieg

    35

  • entstammt gerade nicht, wie ihr immer wieder flschlich unterstellt wird, der Prokkupation um das eigene bloe berleben. Ich habe im Gegen-teil die Beobachtung gemacht, da es in erster Linie die extrem individualistisch orientierten Personen sind, die den Atomkrieg nicht so sehr frchten, weil fr sie die Vernichtung des Ganzen lediglich eine Form des eigenen individuellen To-des ist, der nur quantitativ millionenfach verviel-fltigt wre. Fr diejenigen hingegen, die sich primr aus einer sie transzendierenden Ganzheit verstehen (und fr Menschen ist das eigentlich konstitutiv), besteht das qualitativ Neuartige und Einzigartige am Atomkrieg in der Vernichtung des Ganzen selbst, und zwar des universalen Gan-zen, das alle partikularen Ganzheiten rumlich und zeitlich umfat.

    Demgegenber sind alle politischen Risiken - und es sind in meinen Augen sehr unwahrschein-liche Risiken - bis hin zu dem extremen Fall ei-ner sowjetischen Bemchtigung ganz Europas oder der ganzen Erde, bel von einer - wenn man sich nichts vormacht - nicht vergleichbaren Dimension. Die Drohung mit dem Atomkrieg, deren Perversi-tt die meisten von uns ber die Jahrzehnte durch schiere Gewlmung vergessen haben, impliziert einen bei Lichte besehen geradezu phantastischen atlantischen Ethnozentrismus. Wenn wir bedenken, wieviele Lnder heute ohnehin vom sowjetischen System beherrscht sind (und wir akzeptieren das), in wievielen anderen Lndern, die im Zusammen-hang unseres eigenen westlichen Systems stehen, Terror und Folter herrscht (und wir nehmen das hin, frdern es indirekt sogar), ferner in wie groen Teilen der Erde Millionen Menschen jhr-lich Hungers sterben, was sie nicht mten ohne unser Rsten (und wir nehmen auch das hin), sol-len wir es vorziehen, auf die bloe und bei ruhi-

    36

  • gern Blick entfernte Mglichkeit hin, da auch uns ein Schicksal drohen knnte, das von den eben aufgezhlten nicht einmal das schlimmste wre, mit dem Untergang nicht nur unserer Gegner und nicht nur von uns selbst, sondern von allen zu drohen? Ebenso grotesk erscheint dieses Konzept in der zeitlichen Dimension. Wer wei denn, wie

    1 sich die Welt, wenn sie einmal unter einer einzi-, gen, und sei es totalitren Hegemonialmacht 1 steht, weiter entwickeln wird? Wie knnt ihr euch

    anmaen, das zu antizipieren und zu sagen, dann soll die Welt lieber ein fr allemal aufhren zu existieren?

    11Nun will ich Dir eine letzte Frage stellen," sagt Rudolf, 11um zu sehen, wie prinzipiell Du es meinst. Nimm an, es sind nicht die Sowjets, son-dern die Nazis, wie she es dann fr Dich aus?"

    11Du weit, Rudolf, da ich alles Erdenkliche tun wrde, was in Grenzen bliebe, tten und das eigene Leben riskieren, aber das Grenzenlos~

    ~" te auch dann bedingungslos verITileden wer-den. Versuche Dir doch aUch hier die Situation konkret vorzustellen. Ich sehe jetzt sogar davon ab, da der Atomkrieg das Ende der ganzen Gat-tung bedeuten kann. Denke ihn Dir begrenzt. Und nun denke an das Schlimmste, was wir mit den Nazis verbinden. Denke Dir, es wre jetzt so in Osteuropa. Nach wie vor wrden Menschen in Stdten und Drfern zusammengetrieben und er-schossen. Nach wie vor gbe es Gaskammern. Und nun - eine Befreiung durch Androhung und gege-benenfalls Realisierung des Atomkriegs? Bedenke doch, da bei dem jetzt bevorstehenden Holocaust diejenigen von uns, die nicht sofort tot sind, die-jenigen, die noch Waffen haben sollten, von sich aus bitten wrden, sie und ihre Kinder zu er-schieen, und da wir, sollte es noch Gaskammern geben, freiwillig an ihren Toren Schlange stehen wrden."

    37

  • Anmerkungen

    l) Kissingers Rede ist abgedruckt in: A. Mech-tersheimer /P. Bahrdt (Hrsg.), Den Atomkrieg fiihrbar wtd gewinnbar machen?, Rowohlt 1983, s. 48 ff.

    2) Vgl. die Frankfurter Allgemeine Zeitwtg vom 12.11. (S. 7) und 30.11.1982 (S. 12).

    3) Vgl. den Bericht von R. Nikutta in der taz vom 27. 9.1983, S. 9.

    4) Laut Nikutta ist in dem neuen 11field manual" von vornherein die 11Integration konventionel-ler, atomarer und chemischer Waffen" vorge-sehen.

    5) A. Mertes, 11Friedenserhaltung - Friedensge-staltung", Europa-Archiv 1983, s. 187 ff.

    6) H. Afheldt, Verteidigwtg wtd Frieden, Hanser 1976, s. 22.

    7) Europa-Archiv 1982, s. 183ff. 8) Europa-Archiv 1982, S. 357 ff. 9) Vgl. z.B. Paul F. Walker, 11Wirksame Verteidi-

    gung mit intelligenten Abwehrwaffen", in: Spektrum der Wissenschaft," 10/1981, abge-druckt in: U. Albrecht (Hrsg.), Rstung wtd Abriistwtg, Spektrum der Wissenschaft, 1983, s. 100 ff.

    10) A. Mertes, 11Sicherheitspolitik fr die 80er Jahre", in: D. Lutz (Hrsg.), Sicherheitspolitik am Scheideweg ? , Schriftenreihe der Bundes-zentrale fr politische Bildung, Bonn 1982, s. 71 ff.

    38