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1984 Philosophie Und Frieden_BOOK

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Philosophie und Friedenavec un texte de Tugendhat

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  • Vorwort

    Die Entscheidung des Deutschen Bundestages fr die Stationierung

    von Pershing II Raketen und Cruise Missiles hat die politischen

    Ausgangsbedingungen und damit die aktuelle Diskussion ber Mittel

    und Wege der Friedenssicherung faktisch verndert. Seit Ende Novem-

    ber 1983 wird in Ost und West "nachgerstet" und "nach-nachgerstet".

    Viele neigen dazu, resignierend den Beschlu des Parlaments hin-

    zunehmen und der normativen Kraft des Faktischen sich zu beugen.

    Aber die wesentlichen Argumente gegen die Stationierung, wie sie

    in dieser Broschre vorgebracht werden, bleiben gerade angesichts

    von deren faktischer Verwirklichung gltig. Die Analyse sieht sich

    'oif-sogar besttigt, wenn heute eintritt, wovor in der Broschre gewarnt / - wurde: die Kriegsgefahr in Europa hat sich durch die Stationierung

    weiter erhht. Die erhhte Gefhrdung resultiert einerseits milit-

    risch aus der ungezgelten "Nachr-stung" und "Nach-Nachrstung" in

    beiden Militrblcken; andererseits aber sind auch die Absichtser-

    klrungen nicht in Erfllung gegangen, die da meinten, vollwertige

    Rstungskontrollverhandlungen seien nur mit Hilfe und nach der

    "Nachrstung" mglich. Der Abbruch der Genfer Verhandlungen hat den

    Befrchtungen Recht gegeben, da Rstungskontrollverhandlungen durch

    die Stationierung neuer Waffen stark erschwert werden. Erfolgreiche

    Verhandlungen sind derzeit nicht in Sicht.

    Die in dieser Broschre enthaltenen waren fr die Situa-

    tion vol'. der Bundestagsdebat:t:~ g_e_c'l~cht. Die Erklrung deutscher

    Philosophen zur Raketenstationierung (Sddeutsche Zeitung 17.11.83),

    die von den Vertretern unterschiedlichster philosophischer Richtungen

    unterzeichnet wurde, war von einer Arbeitsgruppe am Institut fr

    Philosophie der Freien Universitt Berlin verfat und zusammen mit

    den argumentativen Erluterungen "Die Irrationalitt der Raketen-

    stationierung" von Schul_t:_~__e_

  • Die bleibende Aktualitt, aber auch die Diskussion in Berlin

    und in der Bundesrepublik, die eine rege Nachfrage nach der Bro-

    schre ausgelst hat, waren Anla fr diese Neuauflage.; denn eine

    solche Nachfrage zeigt, da das Interesse an theoretis~hei: ___ ~:i::_be:i,.:t:_

    zur Kriegs-/Fr,iedems-Problematik fortbesteht. Anllich der "Nach-

    rstungs"-Debatte entstanden, bieten die Beitrge in "Philosophie

    und Frieden" heute einen Ansatzpunkt fr weitergehende Diskussio~~_i:i,

    etwa zur ethischen Verantwortbarkeit von Massenvernichtungswaffen,

    zu aktuellen militrstrategischen Fragen (z.B. dem neuen "Air-Land-

    Battle"-Konzept der USA), zu alternativen Rstungskonzepten u..

    Darber hinaus wird ber politische und rechtliche Konsequenzen aus

    dem "Nachrstungs"-Beschlu des Bundestages neu nachgedacht. Disku-

    tiert werden u.a. der Zusammenhang von Souvernitt und Krieg, von

    Systemkonkurrenz und Rstungseskalation; die chtung von Massenver~

    nichtungswaffen durch das Grundgesetz (analog zum Verbot des Angriffs-

    krieges); die Berechtigung von politischen Streiks, von Aktionen

    zivilen Ungehorsams; sowie die Strkung plebiszitrer Momente inner-

    halb der Verfassungsordnung. Die Fortfhrung dieser Diskussion, die

    auch im Institut fr Philosophie der Freien Universitt Berlin ge-

    fhrt wird, in Form weiterer Broschren ist geplant.

    Di_e Friedensinitiative am philosophischen Institut der Freien Universitt Berlin

    Sonderausgabe der Friedensinitiative am philos'ophischen Institut

    der Freien Universitt Berlin ab 20 Stck (Preis pro Exemplar DM 1.-)

    zu bestellen bei: Marshall Farrier, Letteallee 87, 1000 Berlin 51

    Stefan Gosepath, Zhringerstr. 8, 1000 Berlin 31

    Tel.: (030) 4917341

    8822436

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    Bezahlung an: Konto Nr. 655714402 (Marshall Farrier), Bank fr

    Handel und Industrie Berlin (BLZ 100 800 00)

    Bestellung des Buchhandels an Verlag und Versandbuchhandlung

    Europische Perspektiven GmbH, Goltzstrae 13b, 1000 Berlin 30.

    Preis pro Exemplar DM 3.60.

  • Erklcirung deutscher Philosophen zur Raketenstationierung

    Die Analyse der zugnglichen politischen und militrischen Tat-sachen hat uns zu der berzeugung gebracht, da die bevorstehenden Rstungsmanahmen in Europa und die strategischen Aufrstungsvor-haben der USA und UdSSR eine bisher ungekannte, nicht lnger zu verantwortende Steigerung der atomaren Kriegsgefahr darstellen. Vor allem die Stationierung amerikanischer Pershing II Raketen in der Bundesrepublik Deutschland bedeutet keine Strkung, sondern eine empfindliche Schwchung der Sicherheit unseres Landes. Die sich abzeichnende Mglichkeit qes vernichtenden Erstschlags durch neue treffgenaue Mittelstreckenwaffen mit extrem verkrzten ~orwarnzeiten erhht sprunghaft das Kriegsrisiko, sei es in Form eines gewollten, vorbeugenden Atomangriffs einer der beiden Super-mchte, sei es in Form unbeabsichtigter Kriegsauslsung durch automatisierte Vorwarnsysteme. Auch ein 'begrenzter' Atomkrieg aber macht menschenwrdiges Leben unmglich. Ihn in die militri-sche Planung einzubeziehen oder auch nur glaubhaft mit ihm zu drohen, ist moralisch unverantwortlich und durch keine angeblich bergeordneten Zwecke zu rechtfertigen. Werte schtzen zu wollen, indem man die Menschen, in deren Dienst sie stehen, zum bloen Mittel verselbstndigter politischer oder ideologischer Interessen macht, ist widersinnig oder Ausdruck eines menschenverachtenden Zynismus. Als Philosophen in Deutscnland knnen wir nicht schweigen, wenn deutsche Politiker im Begriff sind, Leben, Humanitt und Vernunft durch Unwissenheit, Leichtfertigkeit oder Befangenheit im atomaren Abschreckungsdenken aufs Spiel zu setzen.

    Erstunterzeichner:

    Dr. Antonio Aguirre (Wuppertal)

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  • Die Irrationalitt der Raketenstationierung

    (Erluterungen zur Erklrung deutscher Philosophen)

    Christoph Schulte /Gottfried Seeba /Bernhard Thle

    1 . Einleitung

    Die bevorstehende Stationierung von 108 Pershing II Raketen und

    96 Cruise Missiles in der Bundesrepublik, sowie weiteren 160 bzw.

    112 Cruise Missiles in Grobritannien und Italien hat in der

    europischen und amerikanischen ffentlichkeit weithin Beunruhigung

    ausgelst, ebenso die als Reaktion angekndigte Stationierung

    schnellf liegender sowjetischer Raketen in der DDR, CSSR und anderen

    Ostblocks~aaten. Sie entspringt der Besorgnis ber den Beginn. einer

    rapiden Eskalation des Wettrstens auf einer.qualitativ neuen

    Ebene, die Mitteleuropa an den Rand einer nuklearen Katastrophe

    bringt. Nach jngsten Umfragen lehnen etwa Dreiviertel der west-

    deutschen Bevlkerung die Haltung der Bundesregierung in dieser

    Frage ab; auch unter den Whlern der Regierungsparteien vom 6.Mrz

    bilden die Kritiker die absolute Mehrheit. Eine Zuordnung der

    Positionen zu berkommenen Parteien und Verbnden ist unmglich

    geworden. Verschiedenste gesellschaftliche Gruppen haben sich zu

    Wort gemeldet. Neben den schwerwiegenden moralischen Bedenken der

    Kirchen haben vor allem uerungen diverser Berufsgrupp~n Beach-

    tung gefunden, die aus ihrer jeweiligen fachlichen Kompetenz

    heraus unterschiedliche Aspekte der mit der Stationierung verbun-

    denen Gefahren beleuchten. Die Naturwissenschaftler haben einen

    groen Kongre zum Thema in Mainz veranstaltet; rzte und Juristen

    haben ffentlich Stellung bezogen.

    Aufgerufen zu ffentlicher Verantwortung sind gewi auch die Phi-

    losophen. Die undifferenzierte These von der Wissenschaft, die

    sich um die res publica nicht zu kmmern habe, gilt fr sie viel-

    leicht am allerwenigsten. 1 Fraglich kann lediglich sein, ob es

  • -2-

    gegenber der jetzt anstehenden Rstungsproblematik so etwas wie

    ( eine spezifisch hilosophische Korn etenz gibt, die sie zu eigener

    { Stellungnahme befhigt. Wenn es sie gibt, so ist sie darin zu

    J suchen, da Philosophen nach eigenem oder ffentlichem Verstndnis

    Anwlte sind fr Moralitt, Wahrheit und Vernunft. Die moralischen

    Entscheidungsgrundlagen in der Raketenfrage sind klar. Ungeachtet

    aller Di'.fferenzen ber Umfang und philosophische Begrndbarkeit

    moralischer Prinzipien drfte man darin weitgehend einig sein,

    X da es moralisch verwerflich und durch keine angeblich "hheren" Zwecke zu rechtfertigen ist , die Menschheit insgesamt oder die

    Einwohner ganzer Lnder und Stdte atomarer Vernichtung preiszu-

    X r geben. Nicht dies ist strittig, sondern die Feststellung, da das Wettrsten und speziell die bevorstehenden konkreten Rstungsma-

    nahmen uns der Vernichtung unverantwortbar nahe bringen. Die Fakten,

    die einen solchen Schlu zwingend machen, liefert natrlich nicht

    die Philosophie. Sie stammen in erster Linie aus dem technologi-

    schen und poli tischen Bere~ch. Was Philosophen als Philosophen

    beunruhigen mu, ist etwas anderes. Obwohl relevante Tatsachen

    in berwltigender Flle vorhanden und allgemein zugnglich sind, .

    und obwohl jeder Informierte und rational Denkende selbst die

    Konsequenzen aus ihnen ziehen knnte, bleiben sie weithin unbe-

    achtet, werden verdrngt oder von interessierter Seite bewut

    unterschlagen. Wahrheit und Vernunft sind es, die in der gegenwr-

    tigen Lage zuerst verloren zu gehen drohen, Moralitt erst in

    ihrem Gefolge. Menschen neigen dazu , wie die Philosophen seit der

    Antike wissen, wahre und lngerfristige Interessen aus dem Blick

    zu verlieren, wenn deren Wahrnehmung unangenehme oder unbequeme

    Folgen fr vordringliche gegenwrtige Wnsche hat. Es ist bequem,

    sich das Studium der Fakten und das Durchdenken ihrer Implikatio-

    nen zu ersparen im Vertrauen darauf, da die Politiker, die wir

    mit der Wahrnehmung unserer Interessen betraut haben, sich kraft

    ihres Amtes und ihrer mutmalich greren Kompetenz anders verhal-

    ten haben. Menschliche Kurzsichtigkeit und Bequemlichkeit machen

    aber - bittere Erfahrung zeigt es - auch vor Politikern keineswegs

    halt, gerade in der uns lnserfristig alle am unmittelbarsten

    betreffenden Rstungsfrage. Wir glauben, da es Philosophen gut

    ansteht, an diesen Zusammenhang zu erinnern.

    Die bevorstehenden Raketenstationierungen werden aus unterschied-

    lichen Grnden verworfen. Die verschwindende Minderheit derer, die

    die parlamentarisch-demokratische Verfassung der Bundesrepublik

  • -3-

    ohnehin nicht fr verteidigungswrdig halten und mit der Ablehnung

    seiner derzeitigen Rstungspolitik unsern Staat insgesamt treffen

    wollen, haben wir a limine auer Betracht gelassen. Unbercksich-

    tigt blieb auch die radikal pazifistische Position, die uns, obzwar

    moralisch respektabel, unter den gegenwrtigen Bedingungen realpo-

    litisch chancenlos scheint. Schwerer wiegen die Argumente' derer,

    die davon berzeugt sind, da das atomare Wettrsten eine Stufe

    erreicht hat, die auch einseitige Abrstungsschritte des Westens

    mglich und notwendig macht. Wir glauben in der Tat, da ein

    wirklicher Ausweg aus dem Rstungswettlauf nur mglich ist, wenn

    ein grundlegend neues, auch partielle Vorleistungen in Betracht

    ziehendes ~ic~~rheitskonzep:t:; fr Europa und, mutatis mutandis, alle brigen Regionen entwickelt wird, an denen die globalen

    Interessen der Supermchte unmittelbar aufeinandertreffen. Wenn

    wir uns dennoch entschieden haben, unsere Argumentation nicht unter

    diese Prmisse zu stellen, so deshalb, weil wir der Auffassung

    sind, da die verfgbaren Tatsachen ausreichen, um auch denjenigen

    von der Notwendigkeit einer Verhinderung der bevorstehenden Ma-

    nahmen zu berzeugen, der daran festhlt, da die Bundesrepublik

    und Westeuropa poiitisch und wirtschaftlich aufs engste mit Nord-

    amerika verflochten bleiben, da eine militrische Abschreckung

    gegenber dem Ostblock notwendig ist und konkret nur erreicht wer-

    den kaPn, wenn die NATO in ihrer jetzigen Form grundstzlich wei-

    terbesteht. Auch dann reicht die erdrckende Flle der Tatsachen

    aus, um den Brsseler Beschlu als eine politische Fehlentscheidung

    zu erkennen, die im hchsten Mae gefhrlich und zumindest fr

    Europa absolut inakzeptabel ist.

    2. Zur offiziellen Begrndung der NATO-"Nachrstung"

    In die Begrndungen, die von offizieller Seite fr die Behauptung

    gegeben werden, die beschlossenen Stationierungen seien fiir den

    Fall eines Scheiterns der Genfer Verhandlungen unverzichtbar, gehen

    folgende Annahmen als wesentliche Voraussetzungen der .11.rgumentation

    ein:

    (1) Mit der Aufptellung von SS 20 Mittelstreckenraketen sei ein Ungleichgewicht in diesem Bereich entstanden, das den Westen zu neuen Rstungsanstrengungen zwingt.

  • (2)

    (3)

    (4)

    -4-

    Da die Sowjetunion militrtechnisch durch die neuen SS 20 Raketen und Backfire-Bomber "ihre Uberlegenheit bei den nuklearen Mittelstreckensystemen sowohl qualitativ als auch quantitativ ausgebaut" habe, 2 sei eine "Nachrstung auf westlicher Seite mit vergleichbaren Mittelstreckenwaffen erforderlich. Die Stationierung amerikanischer Pershing II und Cruise Missiles erflle diesen Zweck.

    Ihre Stationi~rung sei vor allem deshalb erforderlich, weil andernfalls "die Glaubwrdigkeit der Abschreckungsstrategie des Bndnisses \[ . ] in Zweifel gezoge_n" werde. Die "Nachr-stung" sei notwendig, "wenn die Natostrategie der flexiblen Reaktion glaubwrdig bleiben soll".3

    Weiterhin sei die "Nachrstung" gerade auch fr die Westeuro-per unverzichtbar, weil sich mit der Stationierung amerika-nischer Mittelstreckenwaffen die Gefahr eines "Abkoppelns" der Amerikaner von den europischen Verbndeten deutlich verringere. Diese Waffen lieferten vielmehr die Gewhr, da die USA Europa ntigenfalls auch mit Interkontinentalraketen verteidigten. 4

    Halten diese Annahmen einer genaueren berprfung stand? Und zeigen

    sie wirklich, da wir-uns im Interesse unserer Sicherheit. mit der

    Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles auch auf dem

    Boden der Bundesrepublik abfinden mssen, falls die Genfer Verhand-

    lungen scheitern? Wir glauben, da dies nicht der Fall ist und da

    die von offizieller Seite vorgebrachten Argumente nicht der wahre

    Grund fr die Stationierung sein knnen.

    zu (1): Es ist richtig, da im Bereich von Mittelstreckenwaffen ein

    quantitatives und qualitatives Ungleichgewi?ht zugunsten der UdSSR

    besteht. Nach der im Rstungsjahrbuch 82/83 des "Stockholm Interna-

    tional Peace Research Institute" (SIPRI) genannten Schtzung han-

    delt es sich um ein Ungleichgewicht im Verhltnis von etwa 2:1.s

    Da damit europische Sicherheitsinteressen bedroht sind, kann und

    soll nicht bestritten werden. Im Interesse einer nchternen Beur-

    teilung der Sachlage sollte aber auf folgende Punkte hingewiesen

    werden, die von den Befl1rwortern der "Nachrstung" meist unter-

    schlagen werden:

    a) Eine massive Bedrohung Westeuropas durch sowjet. Mittelstrecken-

    waffen besteht seit etwa 20 Jahren.6

    b) Die SS 20 Raketen sind von der UdSSR als Ersatz fr die tech-

    nisch veralteten .SS 4 und SS 5 Raketen entwickelt worden. Sie stel-

    len daher nur eine Modernisierung eines bereits vorhandenen

    Potentials dar. Auch nach Einschtzung westlicher Experten war

    diese Modernisierung unter technischen Gesichtspunkten lngst

  • -5-

    erforderlich. Die Verwundbarkeit der SS 4 und SS 5 sowie ihre

    Unfallanflligkeit drften dafr ausschlaggebend gewesen sein. 7

    c) Es ist zu bercksichtigen, da das Ungleichgewicht im Mittel-

    streckenbereich vor allem darauf zurckzufhren ist, da die

    UdSSR ihre SS 4 und SS 5 Raketen, die durch SS 20 ersetzt wer-

    den sollen, bisher nicht im gleichen Umfang abgebaut hat.B Ob

    das lange so bleibt und ob die ersetzten Raketen wirklich noch

    einsatzbereit gehalten werden, scheint freilich uerst zwei-

    felhaft: die Unfallanflligkeit spricht dagegen, und ohne die

    (bislang unbewiesene) Bereitstellung neuer Flugkrpergeschwader

    wre fr beide Systeme (SS 4/5 und SS 20) nebeneinander gar nicht

    genug Bedienungspersonal vorhanden.9

    d) Weiterhin hat die UdSSP bei den Genfer Verhandlungen eine Redu-

    zierung ihres Mittelstreckenpotentials angeboten, das den alten

    Bestand (der sich der P.aketenzahl nach mit dem f.ranzsischen

    und britischen in etwa deckt) nicht berschreitet. Wenn sie diese

    Peduzierungsabsichten nicht vor einem erfolgreichen Abschlu in

    Genf verwirklicht, drfte das kaum verwundern.

    e) In die Vergleichsberechnung fr Mittelstreckenwaffen geht weder

    die groe Zahl der fr die Verteidigung Europas abgestellten

    amerikanischen Ubootraketen noch der demselben Zweck dienende

    und z.T. (156 Einheiten) fest in Europa stationierte Teil der

    amerikanischen Bomberflotte ein.10

    Aus alledem ergibt sich, da die Behauptung, die Aufstellung der

    sowjet. SS 20 habe das atomare Gleichgewicht in Europa entscheidend

    zuungunsten des Westens verschoben, mehr als zweifelhaft ist.

    zu ( 2) : Der Hinweis auf die mili trtechnische Sonderstellung der

    SS 20 ist zweifelhaft (amerikanische Poseidon-Raketen! 11) und im

    Blick auf die atomare Balance insgesamt irrelevant (val. zu (1)

    und zu (3)). Er ist darber hinaus auch nicht geeignet, eine "Nach-

    rstung" gerade mit Pershing II und Cruise Missiles zu rechtferti-

    gen. Denn zum einen sind diese Waffensysteme faktisch nicht als

    Reaktion auf die Aufstellung von SS 20 entwickelt worden; ihre

    Entwicklung reicht vielmehr weit davor zurikk. Zum andern stellen

    sie auch keineswegs den SS 20 technisch vergleichbare Waffensysteme

    dar. Pershing II wie Cruise Missiles sind ihnen an Treffgenauig-

    keit und Eindringfhigkeit weit berlegen, haben dagegen geringere

    Reichweite als die neuen sowjet. P.aketen, die sie daher auch gar

  • -6-

    nicht in ihren Stellungen treffen knnen. Weiterhin tragen die

    Pershing II und Cruise Missiles dank ihrer Treffsicherheit nur

    je einen, vergleichsweise "kleinen" Sprengkopf, whrend die SS 20

    vermutlich bis zu je drei Sprengkpfe mit sehr viel grerer

    Sprengkraft transportieren knnen. Von der Flugeigenschaft her

    sind die Cruise Missiles - sie fliegen relativ langsam, unter-

    fliegen aber dafr die sowjet. Radarabwehr in Baumwipfelhhe -

    mit den SS 2o ohnehin nicht zu vergleichen. Kurz: rein technisch sind die "Nachrstungs"-Waffen kein Gegenstck zur sowjetischen

    "Vorrstung". Vielmehr erffnen sie durch ihre geringe Flugzeit

    (Pershing II) und ihre extrem hohe Treffgenauigkeit den USA einen

    neuen und strategisch hchst bedeutsamen (siehe unten) technolo-

    gischen Vorteil.

    zu (3): Es trifft auch nicht zu, da durch die SS 20 Raketen die

    Glaubwrdigkeit der Abschreckungsstrategie in Frage gestellt ist:

    a) Ihre Glaubwrdigkeit beruht auf der Zweitschlagfhigkeit und

    ist folglich nur dann bedroht, wenn eine Seite in die Lage

    versetzt wird, die Zweitschlagfhigkeit der anderen Seite

    ernsthaft zu gefhrden. Davon kann aber aufgrund der Aufstellung

    von SS 20 Raketen keine Rede sein. Denn die Zweitschlagfhigkeit

    der NATO bleibt sowohl auf der Ebene der Interkontinental- wie

    auf der Ebene von Mittelstreckenwaffen voll erhalten, da die

    land-, luft- und seegesttzten Zweitschlagpotentiale der NATO

    auch durch einen kombinierten sowjet. Angriff mit Mittelstrecken-

    und Interkontinentalraketen nicht ausgeschaltet werden knnen.

    b) Und dies gilt nicht nur im allgemeinen, sondern auch im Rahmen

    der "flexiblen Reaktion". Die NATO ist nicht nur nach wie vor

    in der Lage, auf einen sowjet. Angriff der Anzahl der einzuset-

    zenden Raketen nach flexibel zu reagieren, z.B. mit einem "do-

    sierten" Einsatz von Interkontinentalraketen ; aufgrund der

    Treffgenauigkeit z.B. ihrerubootgesttzten und daher schwer

    verwundbaren Poseidon-Raketen ist eine flexible Reaktion auch

    hinsichtlich der Gre der Sprengkpfe gesichert.

    Ebendiese berlegungen wurden auch 1979 von seiten der Carter-

    Administration gegenber den "Nachrstungs"-Wnschen der europi-

    sche~ Verbndeten vorgebracht. 12 Erst nachdem die amerikanische

    Strategie eine grundstzliche Wendung erfuhr (vgl. unten) hat sich

    auch die Haltung der US-Regierung in dieser Frage ins Gegenteil

    verkehrt.

  • -7-

    zu (4): Das "Abkopplungsargument" ist nicht nur (a) ungeeignet,

    die "Nachrstung" zu begrnden, es macht auch (b) Voraussetzungen,

    die im Widerspruch zum Konzept der "flexiblen Reaktion", auf dem

    die eben diskutierte Argumentation der NATO beruht, stehen:

    a) Auch in Europa stationierte amerikanische Atomwaffen unterstehen

    den USA. Da aber der Einsatz solcher Waffen nur dann die_ "Ab-

    kopplung" der USA von Europa ausschliet, wenn er - aufgrund

    eines sowjet. Gegenangriffs auf amerikanisches Territorium -

    den Einsatz amerikanischer Interkontinentalraketen bedingt,

    ist zu erwarten, da die USA auch in Europa stationierte ame-

    rikanische Mittelstreckenwaffen nur in solchen Situationen

    einsetzen wrden, in denen sie ohnehin den Einsatz von Inter-

    kontinentalraketen bewut ins Kalkii.l einbeziehen. Dann haben

    amerikanische l'"i ttelstreckenwaffen auf europischem Boden

    aber berhaupt keinen Einflu auf die "A.nkopplung" der Inter-

    kontinentalwaffen. Das "Abkopplungsargument" widerlegt sich

    also selbst. 13

    Eine viel wirksamere Garantie fr die "Ankopplung" der USA

    stellt die Prsenz amerikanischer Truppen (von gegenwi3rtig

    ca. 300.000 Soldaten) in Europa sowie die enge wirtschaftliche

    Interessenverflechtung dar. Sollten d'iese beiden Faktoren nicht

    ausreichen, um eine "Abkopplung" der USA zu verhindern, dann

    ist auch nicht zu sehen, wie dies durch die Verwirklichung der

    "Nachrstung" gelingen knnte. 14

    b) Das "Abkopplungsargument" basiert auf der Voraussetzung, da

    ein Einsatz amerikanischer Mittelstreckenwaffen zwanoslufig

    zur Eskalation des Konflikts bis hin zum Einsatz von Interkon-

    tinentalraketen fhrt (s~o.). Diese Voraussetzung steht aber

    offensichtlich in krassem Widerspruch zur NATO-Doktrin der

    flexiblen Reaktion, die gerade auf der gegenteiligen Annahme

    beruht. 15

    Das "Abkopplungsargument" ist also in jeder Hinsicht untauglich.

    Alle vier Argumentationsvoraussetzungen halten einer genaueren

    berprfung somit nicht stand. Bei der NATO- "Nachrstung" handelt

    es sich, wie der frhere Generalinspekteur der Bundeswehr Jrgen

    Brandt vor dem Bundeskabinett selbst erklrt hat, "nicht darum,

    etwa dem Waffensystem SS 20 entsprechende Waffensysteme des Westens

    entgegenzusetzen." 16 Dies,ebenso wie die oben erwhnte Einschtzung

  • -8-

    der Carter-Administration,belegt, da fhrende. Mi:1-trs und Poli-

    tiker selbst nicht glauben, was sie die ffentlichkeit glauben

    machen .wollen, da nmlich das Gleichgewicht in Europa durch die

    Stationierung von SS 20 empfindlich gestrt sei.

    Aber selbst wenn man hiervon immer noch ausgehen wollte, stellen

    die vorgesehenen ''Nachrstungs "-Waffen keineswegs die einzig mg-

    liche militrische Reaktion dar. Es sei hier nur auf die Vorschlge

    von C.F. von Weizscker, der fr eine StatiDnierung von seegesttz-

    ten Mittelstreckenwaffen pldiert, 17 und von McGeorge Bundy, Sicher-

    heitsberater unter Kennedy und Johnson verwiesen, der argumentiert,

    20 oder 30 neue B-1 Bomber "jeder mit 20 oder 30 Cruise Missiles aus-

    gerstet, knnten all das vollbringen, was die Zankpfel [d.h. die

    landgesttzen Pershing II und Cruise Missiles] knnten, und noch

    dazu ohne zwietrchtige Aufregung in Europa. Anders als die

    Pershings wren diese Flugzeuge [ ... ]keine Erstschlagswaffen,

    die Moskau ins Flattern bringen." 18 Beide Vors.chlge beinhalten

    den Verzicht auf landgesttzte Pershing II und Cruise Missiles,

    die - inmitten dichtbesiedelter Rume in Westeuropa - A.ngriffs-

    ziele fr die Gegenseite bieten wrden und aus europischer Sicht

    ein untragbares Risiko sind.

    3. Der wahre Grund: eine vernderte Strategie

    Sind die offiziellen Begrndungen fr den NATO-Beschlu aber un-

    haltbar, so stellen sich zwei entscheidende Fragen:

    (1) Was sind die wahren Grnde?

    (2) Wie kommt es, da sie von der ffentlichkeit und auch von

    vielen Politikern offenbar nicht gesehen werden?

    Die Antwort auf Frage (1) mu lauten: die neuen Waffen werden

    beschafft, weil sie sich in ein gendertes,. fr Europa uerst

    gefhrliches strategisches Konzept der USA einfgen und hierfr,

    zumindest fr die kommenden 4-5 Jahre, auch unersetzlich sind.

    Um dies erkennen zu knnen,mu das Konzept zunchst spezifiziert

    und gegen seine unmittelbaren historischen Vorlufer abgehoben

    werden.

    Der Verlust der atomaren berlegenheit der USA im Verlauf der 60er

    Jahre hat im Pentagon - noch unter McNamara - die Befrchtung ge-

    weckt, die Pattsituation auf der obersten Ebene knne zur mili-

    trischen Handlungsunfhigkeit auf den unteren Ebenen fhren und

  • - 9 -

    die Lsung begrenzter Konflikte im Sinne der USA damit unmglich

    machen. Die Suche nach einem Ausweg hat in der NATO zur Er-

    setzung der Doktrin der "massiven Vergeltung" bzw. "gegenseitig

    gesicherten Zerstrung" durch die Doktrin der "flexiblen Reaktion"

    gefhrt. Sie macht strategische berlegungen und konkrete Planungen

    auch fr einen begrenzten A.tomkrieg notwendig. Fr die europ-

    ischen NATO-Partner scheint das solange vorteilhaft, als unter

    "flexibler Reaktion" ausschlielich gestufte militrische Re-

    aktionen auf einen vorausgegangenen militrischen Angriffsakt

    des Ostblocks auf Westeuropa verstanden werden: in einem solchen

    Fall "flexibel" zu reagieren scheint allemal vernnftiger als

    einen massiven Schlagabtausch einzuleiten! Dennoch enthlt das

    Konzept aus europischer Sicht 3 wesentliche Geburtsfehler:

    (a) Es ist dazu angetan, ber die (bei allen Experten unstrittige)

    Tatsache hinwegzutuschen, da eine Verteidiqunci Westeuropas

    mit atomaren Mitteln unmglich ist, da schon der geplante

    Einsatz des taktischen Potentials zu weitgehender Zerstrung

    bzw. Verseuchung der betroffenen Lnder fhren wrde. (Wenn

    man verteidigen will, mu man es konventionell tun.) Der Sinn

    auch der taktischen Atomwaffen kann nur der der Abschreckung

    sein. Als Drohung von seiten der betroffenen Europer ist ihr

    Einsatz dann aber ebenso glaubwrdig oder unglaubwrdig wie

    die Androhung massiver Vergeltung. Auf Westeuropa bezogen ist

    der Vorteil der "flexiblen Reaktion" also nur scheinbar.

    (b) Fast alle Atomwaffen, die in die Planungen fr eine "flexible

    Reaktion" eingehen, sind ihrem Sinn nach ambivalent: sie knnen

    defensiv, aber sie knnen auch offensiv eingesetzt werden. In

    der Bundesrepublik denkt gewi kaum jemand an einen offensiven

    Ersteinsatz. Auch die NATO schliet das als reines Verteidi-

    gungsbndnis offiziell aus. Htte die Bundesrepublik ein di-

    rektes Vetorecht fr die in ihrem Gebiet stationierten ameri-

    kanischen Atomwaffen ("zweiter Schlssel"), wre deren Verwen-

    dung zu anderen als reinen Abschreckungszwecken auch weitge-

    hend ausgeschlossen, da die deutsche Interessenlage dem grund-

    stzlich entgegen steht. Bekanntlich liegt aber die Verfgungs-

    gewalt ausschlielich in den Hnden der USA,deren Interessen

    sich nicht immer mit denen der Bundesrepublik decken mssen.

  • -10~

    (c) Die Interessenlage der USA ist prinzipiell eine andere als

    die der Westeuroper. Ihr Territorium ist durch Atomwaffen

    unterhalb der interkontinentalen strategischen Ebene (also

    z.B. durch die sowjet. SS 20) nicht bedroht; ihr Interesse

    daran, diesen Zustand zu erhalten, ist fraglos grer als ihr

    Interesse, die entsprechende Bedrohung Westeuropas, die seit

    20 Jahren besteht, abzubauen. ~ls Weltmacht mit globalen

    strategischen Interessen hat "militrische Handlungsfreiheit"

    und "Flexibilitt" fr sie naturgem einen sehr viel weiteren

    Sinn als den der glaubhaften Abschreckung eines Angriffs auf

    Westeuropa. Die hier stationierten Atomwaffen sind dabei, wie

    die alleinige Verfgungsgewalt deutlich macht, eingeschlossen:

    die USA knnen sie nicht nur selbstndig verlegen, sondern

    auch an ihrem Stationierungsort selbstndig zur Untersttzung

    von Aktionen in anderen Weltteilen operativ oder (wie schon

    geschehen 19 ) zur Drohung einsetzen. Als gleichrangige bzw.

    partiell berleg~ne Weltmacht stehen die USA zudem immer auch

    in der Versuchung, die UdSSR nicht nur (wie die westeuropi-

    schen Mittelmchte) von Aktionen gegen ihr Territorium abzu-

    halten, sondern sie als lstigen ~itkonkurrenten um globalen

    Einflu zurckzudrngen, zu berflgeln oder gar vollstndig

    auszuschalten.

    Die Geburtsfehler des Konzepts der "flexiblen Heaktion" mssen

    sich nicht zum Nachteil der Europer auswirken. Entscheidend ist,

    da die Frage, ob sie es tun, vom Wohlverhalten der Amerikaner ab-

    hngt. Anwlte einer eindeutigen berordnung der globalen milit-

    rischen Handlungsfreiheit ber die Interessen der Verbndeten hat

    es in den USA natrlich immer gegeben. Neu an der gegenwrtigen

    Situation ist ihr zunehmender und seit Reagans Regierungsantritt

    bestimmender Einflu auf die amerikanische Politik.

    Ein Groteil der Spitzenpolitiker oder Berater der Reagan-Ad-

    ministration (u.a. Nitze, Rowny, Lehman, Ikle, Perle, Gray, Kirk-

    patrick) rekrutiert sich aus Mitgliedern des "Committee on the

    Present Danger", das 1976, unter expliziter terminologischer ll:n-

    knpfung an ein entsprechendes Komitee aus der Zeit des kalten

    Krieges (1950), gegrndet wurde, um eine grundstzliche Abkehr

    von der Entspannungspolitik der 70er Jahre und eine Rckkehr zur

    "Pali tik der Strke" herbeizufhren. 20 Das Komitee bildete die

    politische Speerspitze einer breiten Gruppe von Politikern und

    sonstigen "Reprsentanten der ffentlichen Lebens" (unter ihnen

  • -11-

    Reagan und Weinberger selbst) , fr die die Verbindung von unan-

    gezweifel tem Glauben an nationale Strke und emotional verankertem

    Antikommunismus charakteristisch ist und deren politisches Handeln

    auf der berzeugung beruht, da die UdSSR keine der eigenen ver-

    gleichbare Weltmachtpolitik betreibt, sondern ideologisch fundierte

    Welteroberungspolitik, vergleichbar der Politik Hitlerdeutschlands.21

    Das Komitee startete groangelegte Kampagnen mit dem Ziel, die Unter-

    zeichnung bzw. Ratifizierung des SALT II Vertrags zu verhindern und die

    Position von Prsident Carters Abrstungsbeauftragtem Warnke zu unter-

    graben. Seine Aktivitten zwangen Carter selbst, insbesondere nach

    den Ereignissen in Iran und Afghanistan, zunehmend in c'l.ie poli ti-

    sche Defensive und fhrten schlielich Z? seiner (faktisch bereits zu spt erfolgten) opportunistischen Anpassung an den herrschenden

    Trend zur "Politik der Strke". Entscheidend fr den Erfolg des

    Komitees war jedoch der bestimmende Einflu, den einiqe seiner ~'i t-

    glieder auf die Auswertung der von der CIA gesammelten Daten ber

    die sowjet. Rstung gewannen (1976, im Rahmen des vom damaligen

    CIA-Direktor und heutigen Vizeprsidenten Bush mit der erklrten

    Vorgabe einer Negativrevision bestellten "Teams B") 22 Durch massive,

    durch ehemalige CIA-Mitarbeiter inzwischen aufgedeckte Manipulationen

    der Daten vor allem ber das Rstungsbuget und Zivilschutzrnanahmen

    der UdSSR wurde zunchst den Politikern und (ber diese) spter auch

    einer breiteren ffentlichkeit, vor alle!'1 im Wa.hlkampf 19 80, der

    gewnschte Eindruck vermittelt, die CIA habe Beweise, da die sowjet.

    Rstung tatschlich die vom Komitee unterstellten aggressiv-expan-

    sionistischen Zge trgt und erkennbar auf eine Situation zuluft,

    in der ein kalkulierter, gewinnbarer atomarer Offensivkrieg gegen

    die USA mglich wird. Der politische Erfolg des Komitees war perfekt,

    als mit Reagan ein Mann Prsident wurde, der seine Auffassungen von

    Anfang an teilte und bereit war, die von ihm und ~

  • -12-

    sind natrlich geheim. Doch drangen durch Indiskretionen und un-

    bedacht offenherzige .i'.ueruncren von Spitzenpolitikern gengend

    Informationen durch, um die Grundzge deutlich erkennen zu knnen.

    Im ZusammenhanC)' mit den bevorstehenden Stationierungsmanahmen

    sind zwei strategische Optionen der USA von besonderem Interesse:

    {A) Die Option auf ~inen vernichtenden Erstschlaq gegen die UdSSR,

    sei es in Form simultaner Ausschaltung aller bedeutenden Zweit-

    schlagswaffen, sei es in Form eines Primrschlags gegen die

    Kommandozentralen ("Enthauptung"), der eine Reaktion solange

    verzgert, da die nachfolgende Vernichtung des Restpotentials

    (durch gleichzeitigabgefeuerte lngerfliegende bzw. nachladbare

    krzerfliegende Systeme) mglich ist. berlegungen hierzu sind

    von Experten aus dem Beraterkreis der Regierung anaestellt worden

    u~d liegen z.T. sogar publiziert vor. 23 Namhafte andere Experten

    bezweifeln, da das Erstschlagskonzept, zumindest beim gegen-

    wrtigen Stand der Rstungstechnologie beider Seiten realisti-

    sche Erfolgschancen bietet. Weitgehend einig scheint man sich

    jedenfalls darin zu sein, da die fr Herbst 83 angekndigten

    Stationierungen allein keine Erstschlagsoption bieten, obgleich

    ernstzunehmende Be.denken auch in dieser Hinsicht geuert wur-

    den 24. Nicht ausschlieen lt sich jedoch, da sie den unent-

    behrlichen Teil eines Potentials bilden, das als Ganzes (etwa

    nach Stationierung der MX Interkontinental- und der treffgenauen

    Trident II Ubootraketen bis 1988) den Erstschlag denkbar macht.

    Auch dann drfte das Risiko fr die USA. gro bleiben. Sollte

    auch nur ein Teil des sowjet. Potentials der Vernichtung ent-

    gehen, knnte die Bevlkerung in Europa und den USA selbst

    immer noch schwer getroffen werden. Daher mu das Konzept Men-

    schenverluste in vielfacher Millionenhhe einbeziehen. (Gray

    und Payne nennen fr die USA 20 Millionen Tote als erreichbare

    Durchschnittszahl bei sorgfltiger militrischer Planung, 100

    Millionen Tote als Grenze, oberhalb derer das Konzept nicht

    mehr sinnvoll scheint.25) Man kann wohl davon ausgehen, da

    eine Regierung, die ber ein normales ~1a an Risikobewutsein

    und Rationalitt verfgt und nicht unter extremem Entscheidungs-

    druck steht, von einer solchen Option letztlich keinen Gebrauch

    machen wird, auch wenn man sich dessen nicht absolut sicher

    sein kann. Jedenfalls sind die Chancen, da es bei einer bloen

    Mglichkeit bleibt, in diesem Fall relativ gro.

  • -13-

    (B) Anders bei der Option auf "berlegene Abschreckung" ("dominant

    deterrence") .26 IhrGrundgedanke ist, da die USA, hnlich wie

    in der Kuba-Krise von 1962, die UdSSR durch Z\ndrohung begrenz-

    ter Schlge, auf die sie nicht in entsprechender Weise zu

    reagieren vermag, zur Unterlassung unerwnschter Aktivitten

    in beliebigen Weltteilen (z.B. am persischen Golf) zwingen

    knnen. Die Entwicklung hocheindringfhiger, schnellfliegender

    und extrem treffgenauer Raketen, die die qewnschte Wirkung

    auch mit relativ kleinen Atomsprengkpfen ohne weitreichende

    Nebenfolgen fr die Zivilbevlkerung erreichen, gibt die Mittel

    dazu an die Hand. Als erste der beiden Supermchte, sind die

    USA durch sie instand gesetzt, glaubwrdig mit przisen Schl-

    gen gegen militrische oder logistische Einrichtungen zu drohen.

    Gleichartige Reaktionen mu sie nicht befrchten. Will die

    Sowjetunion nmlich atomar reagieren, mu sie, ihrem Potential

    entsprechend, massiv eskalieren: mindestens bis zur Ebene ihrer

    weit weniger treffgenauen und ungleich verheerenderen SS 20

    Raketen, die US-Einrichtungen nur an ihren dichtbesiedelten

    europischen Stationierungsorten treffen knnen, nicht aber

    auf US-Territorium, das nur mit wesentlich lnger fliegenden

    und noch einmal erheblich grer dimensionierten Interkonti-

    nentalraketen fr sie erreichbar ist. Nach dem Kalkl der

    "berlegenen Abschreckung" wird eine rational agierende Sowjet-

    fhrung vor einer derart riskanten und fr sie nicht weiter

    kalkulierbaren Eskalation zurckschrecken und daher etwaige

    ihr schon zugefgte Schlge hinnehmen oder auf deren bloe

    Androhung hin im Konflikt mit den USA einlenken. Die Chance,

    da die Erpressung ohne Einsatz von Atomwaffen gelingt, ist

    dabei relativ gro. Sollten die USA sich jedoch angesichts

    sowjet. Unnachgiebigkeit zu ihm gentigt sehen, bleibt ihr

    eigenes Land im.mer noch durch zwei bedeutende strategische

    "Puffer" geschtzt: (a) der Hemmschwelle der Sowjets gegenber

    massiver nuklearer Eskalation und., sollte auch die berschritten

    werden,(b) Westeuropa als das primre Zielsowjet. Gegenschlge.

    Im Falle eines auf Europa begrenzten nuklearen Schlagabtauschs

    knnten die USA sich sogar gute Chancen ausrechnen, da die

    (territorial betroffene) UdSSR anschlieend so geschwcht ist,

    da die (nicht betroffenen) USA sich, wo nicht sofort, so doch

    zumindest whrend der nchsten Rstungsrunde als eindeutig

    berlegene Macht erweisen, diB ihrem Gegner die Bedingungen

  • -14-

    diktieren kann. Risikofrei fr die USA ist auch dies Kalkl

    nicht. (Auch wenn sich das Risiko angesichts der genannten

    militrischen Fakten ganz gewi nicht, wie die Bundesregierung

    glaubt oder uns glauben zu machen sucht, 27 daraus ergibt, da

    die UdSSR heute erklrt, sie werde einen atomaren Konflikt

    nicht auf Europa begrenzen!) Aber es ist bedeutend risiko-

    rmer fr sie. und zwar zum guten Teil deshalb, weil das vor-

    handene Risiko primr und berwiegend von Westeuropa getragen

    wird, bei vlliger Entscheidungsunabhngigkeit der US-Regierung!

    Fr die USA selbst liegt das Risiko in einer Grenordnung,

    die .es gemessen an den erreichbaren Vorteilen nicht allein

    denkbar, sondern sogar wahrscheinlich macht, da die Regierung

    bereit ist, es einzugehen.

    Da beide Optionen Grundlage der derzeit gltigen militrischen

    Leitlinien der USA sind, steht auer Zweifel. Nicht nur da ihre

    Vorkmpfer (darunter Gray und Payne) von der Reagan-Administration

    in Spitzenpositionen berufen bzw. zu offiziellen Beratern ernannt

    wurden. Auch die hchsten Entscheidungstrger (Reagan, Bush, Wein-

    berger u.a.) haben sich whrend des Wahlkampfs und des ersten

    Regierungsjahrs wiederholt offen in diesem Sinne geuert.28 Da

    sie danach - unter dem Eindruck der in der ffentlichkeit entstan-

    denen Unruhe und der erstarkenden amerikanischen und europischen

    Friedensbewegung - bedeutend zurckhaltender in ihren uerungen

    wurden, lie sich zunchst vielleicht als echte, realpolitischen

    Einsichten entsprungene Migung interpretieren, obgleich ein

    ernsthafter Sinneswandel eigentlich von Anfang an wenig wahrschein-

    lich war. Da es sich in Wahrheit nur um ein taktisches Manver

    gegenber der ffentlichkeit handelte, wurde sptestens dann klar,

    als verlliche Informationen ber interne, strategische und

    rstungspolitische Plne der Administration nach auen drangen.

    Auch das Konzept des vernichtenden Erstschlags, das schon in

    Carters "Prsidentendirektive 59" von 1980 (ausgearbeitet vom

    "Nationalen Sicherheitsrat" unter Brzezinski) enthalten war, 29

    ist unter Reagan erklrtes Planziel geworden. Das aufgrund von

    Indiskretionen in seinem wesentlichen Inhalt bekanntgewordene

    geheime Pentagon-Programm fr 1984-88 (entworfen von Chefberater

    Fred Ikle, unterzeichnet von Weinberger), das Ende Mai 1982 in

    der "New York Times" verffentlicht wurde und seiner Storichtung

    nach einem etwa gleichzeitigen, krzeren Dokument des Weien Hauses

    (unterzeichnet von Reagan) entspricht, 30 fhrt u.a. aus:

  • -15-

    "Die zivilen und militrischen Planer, die sich fr die Auffassung entschieden haben, da ein lnger andauernder Krieg mglich ist, sagen, die amerikanischen Atomstreitkrfte mten 'die berlegen-heit besitzen und ih der Lage sein, die Sowjetunion zu zwingen, die frhestmgliche Beendigung der Feindseligkeiten unter Bedingun-gen anzustreben, die fr die Vereinigten Staaten gnstig sind.'"

    "Grundlage der Atomkriegsstrategie wre die sogenannte Enthauptung, d.h. Schlge gegen die politische und militrische Fhrung und gegen die Verbindungslinien der Sowjetunion."

    "Die neue atomare Strategie fordert von den amerikanischen Streit-krften die Fhigkeit, 'die gesamte sowjetische (und mit der Sowjet-union verbndete) militrische und politische Machtstruktur auszu-schalten', fordert darber hinaus jedoch die sichere Vernichtung 'der atomar und konventionell ausgersteten Streitkrfte und der Industrien, die fr die militrische Macht von entscheidender Bedeu-tung sind.'"

    "Als Ergnzung der Militrstrategie in Friedenszeiten sollten [ .. ] die Vereinigten Staaten und ihre Verqndeten faktisch der Sowjet-union wirtschaftlich und technisch den Krieg erklren. Die Vereinigten Staaten [ ... ] sollten Waffen entwickeln, auf die die Sowjetunion nur schwer eine Antwort finden kann, die ihr un-verhltnismig hohe Kosten auferlegen, neue Gebiete einer umfas-senden militrischen Konkurrenz erffnen und frhere sowjetische Invesfitionen obsolet machen."

    "Diese Strategie [ ... ] 'sollte Investitionen auf Waffensysteme konzentrieren, die die vorhandenen sowjetischen Rstungsbestnde wertlos machen.' Sie sollte 'den Sowjets dadurch hhere Kosten auferlegen, da sie bei ihnen Unsicherheit hervorruft, ob sie noch in der Lage sind, einige ihrer vordringlichsten Auftrge zu er-fllen.'" 31

    Es handelt sich also nicht nur um abstrakte Gedankenspiele von

    Strategietheoretikern oder um unbedachte Entgleisungen bereifriger "Falken", sondern um sanktionierte praktische Politik.

    Die bereits angelaufenen konkreten Rstungs- und Zivilschutzpro-

    gramme entsprechen dem. An erster Stelle sind hier die zur Statio-

    nierung ansteh~nden Pershing II und Cruise Missiles selbst zu

    nennen. Diese Waffen, die sich vor allem durch Treffgenauigkeit,

    verbesserte Eindringfhigkeit (Pershing II und Cruise Missiles),

    sowie hohe Geschwindigkeit und damit extrem geringe Vorwarnzeit

    (Pershing II) auszeichnen, passen sehr viel besser in das Konzept

    einer "Kriegsfhrungsstrategie" (sei es in der Form des "vernich-

    tenden Erstschlags", sei es in der Form "berlegener Abschreckung")

    als in das Konzept der "Abschreckung durch Vergeltung"; und dies

    um so mehr, als diese Raketen aufgrund ihrer relativ hohen Verwund-

    barkeit (im Gegensatz etwa zu ubootgesttzten Waffen) als Zweit-

    schlagwaffe weniger geeignet sind. Hinzukommt, da in diesem Zusam-

    menhang auch das Beharren der USA auf frhzeitiger Stationierung

    landgesttzter Pershing II Raketen erst verstndlich wird. Denn

  • -16-

    bis zur Stationierung von ubootgesttzten Trident II Raketen (1988)

    sind die Pershing II die einzigen amerikanischen Waffen, mit denen

    punktgenaue Schlge gegen wichtige militrische Ziele in der UdSSR

    gefhrt werden knnen.

    Die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles stellt also

    nur einen ersten Schritt innerhalb eines umfassenden Rstungspro-

    gramms fr die zweite Hlfte der 80er Jahre dar, das zudem vor allem

    die folgenden Manahmen umfat: 32

    1. Stationierung von MX Interkontinentalraketen (geplant sind 100 MX bis 1986 in zustzlich gehrteten, aber relativ stark rum-lich konzentrierten Silos - ein weiterer Hinweis darauf, da sie fr einen Erstschlag vorgesehen sind);

    2. Ausbau der Bomber B-52-G und B-52-H mit zusammen 3000 Cruise Missiles;

    3. Bau von 100 B-1 Bombern mit zusammen 3000 Cruise Missiles (der B-1 Bomber zeichnet sich durch hohe Eindringfhigkeit aus);

    4. Hrtung der C-3-Strukturen (militrische und politische Kommando-und Kommunikationseinrichtungen);

    5. Ausbau von Trident I Ubootraketen, die gegenber den vorhandenen Poseidon-Raketen eine deutliche Verbesserung darstellen;

    6. Stationierung von 1720 seegesttzten Cruise Missiles;

    7. Entwicklung der Trident II Ubootraketen; und

    8. Effektivierung des nordamerikanischen Luftberwachungsnetzes.

    So besttigt sich die aufgrund der politischen Indizien bereits

    erhrtete Vermutung einer grundstzlichen Vernderung des strate-

    gischen Konzepts der USA aufs neue.

    Aber damit ist die Kette der Indizien noch nicht zu Ende. Denn in

    diesen Zusammenhang fgt sich auch das im Frhjahr 1982 dem Kongre

    vorgelegte amerikanische Zivilschutzprogramm nahtlos ein, fr

    das 4,3 Milliarden Dollar in 7 Jahren aufgewendet werden sollen. 33

    Die Verwirklichung dieses Projekts beruht auf der Annahme, da die

    USA "mit vernnftigen Schutzmanahmen [ ... ] einen Nuklearkrieg

    berleben und sich in relativ wenigen Jahren wieder erholen" kn-

    nen. 34 Fr das Haushaltsjahr 1983 sind bereits die im Rahmen des

    Projekts vorgesehenen Mittel fr Evakuierungsmanahmen bewilligt

    worden. All diese Manahmen mssen die Befrchtung verstrken, da

    die USA damit den bergang zur "Kriegsfhrungsstrategie" vollziehen.

  • -17-

    4. Die Haltung der amerikanischen Politiker

    Die Fakten ber die Rstung und die strategischen Leitplne der

    USA sind eindeutig und unbestreitbar. Dennoch mag man sich fragen,

    ob es den Politikern, die sie geschaffen haben, mit ihnen tatsch-

    lich ernst ist. Kann man vernnftigerweise annehmen, da mehr

    beabsichtigt ist als eine Demonstration der Strke, die etwaige

    sowjet. Erpressungs- oder Eroberungsplne bereits im Vorfeld als

    chancenlos erscheinen lassen soll? Aus europischer Sicht scheint

    etwas anderes kaum vorstellbar, und diese Deutung kann richtig sein.

    Aber sie mues nicht und das Gegenteil ist durchaus nicht unwahr-

    scheinlich. Illusionen ber die unterschiedliche Interessenlage

    der USA (s.o. S.10) sind zumindest ebensowenig am Platz wie Illu-

    sionen ber die politische Grundeinstellung der Mnner, die die

    Regierung bilden. Ihr Antisowjetismus hat nicht den Charakter

    nchterner politischer Gegnerschaft, sonde~n ist emotional gefrbt,

    nicht selten (z.B. bei Reagan selbst35J mit einem persnlichen bio-

    graphischen Hintergrund. Wenn sie von Kommunisten als "gottlosen

    Monstern" reden (Reagan36) oder erklren, die Sowjets htten

    "zwischen dem friedlichen Wandel ihres kommunistischen Systems

    oder dem Krieg" zu "whlen" (Reagan-Berater Prof. Pipes 37 ) , oder

    wenn sie die Situation des Westens gegenber der UdSSR immer wieder

    (Reagan zuletzt am 23.8.83 in Seattle) mit der Situation Chamber-

    lains gegenber Hitler vergleichen, mag das zum Teil demagogische

    bertreibung sein, weist aber auch als solche auf einen bedenkli-

    chen Mangel an Leidenschaftslosigkeit und kritischer Rationalitt.

    Zudem kann man nicht sicher sein, wieviel ehrliche berzeugung

    eingeht. George F. Kennan, langjhriger Botschafter und Sowjet-

    experte der USA, hat jedenfalls (neben anderen) darauf hingewiesen,

    wie mangelhaft und verzerrt die Kenntnisse der derzeitigen Ent-

    scheidungstrger ber die politische Situation in der UdSSR und

    die Handlungsgrundlagen ihrer Fhrung sind.38 Weit schwerer aber

    noch wiegt ihre erschreckende Unkenntnis ber die Folgen eines

    Atomkriegs. Wenn ein Mann wie Th.K.Jones, der bekannt war als

    Verfechter der Theorie, nach der die US-Bevlkerung einen Atom-

    krieg in selbstgegrabenen Erdlchern im Garten (!) berleben knne,

    als Experte "fr strategische und Nuklearwaffen mittlerer Reich-

    weite" im Staatssekretrsrang ( ! ) ins Pentagon berufen wurde ,3 9 ist

    das nur eines der zahllosen Indizien fr die Leichtfertigkeit,

    mit der die Reagan-Administration die Fragen nuklearer Kriegfh-

  • -18-

    rung behandelt. Sie zeigt sich auch in der unglaublich naiven An-

    nahme des oben erwhnten (von Reagan selbst geprgten) 4 0 offiziellen

    Zivilschutzprogramms vom Frhjahr 1982, Evakuierungsmanahmen allein

    knnten 80% der US-Bevlkerung vor einem Atomangriff schtzen.

    Zitiert sei in diesem Zusammenhang, stellvertretend fr viele &ndere,

    das Urteil von Dr. Herbert York, Mitarbeiter an der Hiroshima-Bombe

    und Chef der Verteidigungsforschung unter Eisenhower und Kennedy:

    "Was jetzt geschieht, ist folgendes: Je verrckter die Analytiker, desto mchtiger ihre Position. Sie sind in der Lage, ihre Vorstellung-en weiter voranzubringen denn je, weil die Leute an der Spitze ein-fach weniger informiert sind als frher. Weder der Prsident, noch die Leute unmittelbar hinter ihm im Weien Haus, noch der Verteidi-gungsminister haben irgendwelche Erfahrungen mit diesen Dingen, so da sie, wenn die Ideologen mit ihren phantastischen Geschichten kommen, irmner demjenigen glauben, der zuletzt bei ihnen war." 41

    Kein Zweifel, Reagan und Weinberger haben in ihrer Amtszeit Kenntnis

    hinzugewonnen; nur fragt sich, aufgrund welcher Erfahrungen und

    welcher Informationen seitens ihrer Berater? Wie gutglubig mssen

    wir sein, um ohne weiteres anzunehmen, ihr Risikobewutsein sei

    gro genug, um die von ihnen bestellten und sanktionierten strate-

    gischen Leitplne nicht so zu verstehen, wie sie formuliert sind,

    zumal zumindest im Falle der "berlegenen Abschreckung" Europa die

    Hauptlast des Risikos trgt?

    Mit unseren Hoffnungen auf ernsthafte Bereitschaft zu atomarer Ab-

    rstung steht es nicht anders. Da Politiker, die an ein verharmlo-

    sendes Gedankenspiel mit dem Atomkrieg gewhnt und von der lnger-

    fristigen technologischen berlegenheit ihres Landes fest berzeugt

    sind, wenig Interesse hierfr aufbringen, versteht sich von selbst.

    Tatschlich war und ist die Wiedergewinnung zumindest relativer

    strategischer berlegenhei t erklrte Absicht der US-P.egierung. Und

    ~ etwas an den Wahlkampfparolen vom strategischen Vorsprung der

    UdSSR und dem drohenden Verlust der amerikanischen Zweitschlagsf-

    higkeit gewesen wre, wre ohnehin klar, da an ernsthafte Abrstungs-

    verhandlungen - auch bei grundstzlicher l'.nerkennung der UdSSR als

    gleichrangige Weltmacht - solange nicht zu denken ist, wie der

    Vorsprung besteht. Nichts deucet auf ehrliche Abrstungsabsichten

    hin. Im Gegenteil, wie wenig Reagan an 11.brstung liegt, hat er

    (der amerikanischen ffentlichkeit, aber natrlich auch der Sowjet-

    union) unmiverstndlich zu erkennen gegeben, indem er die relevan-

    ten Positionen zunchst gar nicht und dann mit langjhrig bekannten,

    erklrten Abrstungsgegnern besetzte. Hier mag der Hinweis auf den

    fr die Genfer Gesprche entscheidenden Chefunterhndler Nitze

  • -19-

    gengen. 42 Nitze war nicht nur Hauptanalytiker von "Team B" und

    Grndur,gsmitglied des "Komitees gegen die vorhandene Gefahr",

    also aktiv an der Verhinderung des SALT II Abkommens beteiligt.

    Schon 1974 hatte er unter Protest die (von Nixon berufene) Dele-

    gation fr SALT II verlassen, weil sie auf reale strategische

    Paritt zwischen USA und UdSSR zusteuerte. Da Nitze an Paritt

    nicht interessiert war, berrascht nicht, wenn man wei, da er

    zu den frhesten Verfechtern der These von der Gewinnbarkeit eines

    "rational ausgefochtenen" begrenzten Atomkriegs und der daraus

    abgeleiteten Forderung nach extrem treffgenauen Raketen gehrte,

    wie sie heute in Pershing II und Cruise Missiles verfgbar sind.

    Nitzewar Mitautor des "Gaither-Berichts" von 1957, der von der

    drohenden (wie sich spter zeigte, real inexistenten) "Raketen-

    lcke" der USA sprach und den entscheidenden Ansto gab fr jenes

    massive Raketen-Aufrstungsprogramm, das den USA bis 1962 einen

    enormen Vorsprung vor der UdSSR brachte und seinerseits wieder

    entscheidend fr deren massive Raketenrstung in den 60er Jahren

    gewesen sein drfte. Mehr noch, Nitze entwarf das berHchtigte

    "NSC 68 Memorandum" von 1950, das Grundlage der offensiven US-

    Politik whrend des kalten Kriegs wurde und die Maxime des

    "Roll-Back" sachlich vorwegnahm. Pikanterweise empfiehlt dieses

    Papier des spteren Abrstungsunterhndlers der US-Regierung aus-

    drcklich, sie solle "unentwegt vernnftig klingende Abrstungs-

    vorschlge unterbreiten, von denen anzunehmen war, da sie die

    Sowjets nicht akzeptierten", um so "die Untersttzung der ffent-

    lichkeit fr die Aufrstung zu erlangen". 43 Es gehrt schon ein

    stupendes Ma an Leichtglubigkeit und politischer Torheit dazu

    zu glauben, da ausgerechnet dieser Mann ein verllicher Treu-

    hnder europischer Abrstungsinteressen ist! Was den Mittelstrek-

    kenbereich speziell angeht, ist die amerikanische Interessenlage

    ohnehin eine wesentlich andere als die der Europer. Die sowjet.

    ss 20 knnen die USA nicht erreichen, wohl aber die in Europa

    stationierten Pershing II und Cruise Missiles die UdSSR, und

    genau diese Waffen sind es ja, die das Konzept der "berlegenen

    Abschreckung" zumindest bis zur Stationierung der Trident II

    unbedingt braucht (s.o. S.15f.). Angesichts dessen ist die Redu-

    zierung des sowjet. Mittelstreckenpotentials auf eine als Verhand-

    lungsziel realistische Gre (etwa die Anzahl der brit. und frz.

    Systeme, wie von Andropow angeboten, oder sogar auf die Zahl der

    Sprengkpfe vor Einfhrung der SS 20) fr die USA einfach nicht

    attraktiv genug, um auf die Stationierung und die mit ihr gebotenen

  • -20-

    Optionen zu verzichten. Und selbst der (vllig unrealistische und

    von Reagan ersichtlich nur zur "Erlangung der Untersttzung der

    ffentlichkeit" vorgeschlagene) Totalabbau des sowjet. Mittelstrek-

    kenpotentials ist fr die USA nur insoweit von Interesse, als dies

    einem dringenden Wunsch der Verbndeten entsprche, die Bedrohung

    der bei ihnen stationierten eigenen Truppen abbauen helfen, den

    Militrhaushalt entlasten und ein relativ ruhiges Klima fr die

    letzte Entwicklungsphase der Trident II versprechen wrde. Da

    die Regierung nicht einmal bereit war, die Erklrung des Verzichts

    auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen anzubieten, wie es von Bundy,

    McNamara, Kennan und Gerard Smith (Chefunterhndler von SALT II),

    allesamt gewi keine Illusionisten bezglich der UdSSR, verlangt

    worden war, 44 spricht fr sich. Weder die objektive Interessenlage,

    noch die Personen der Unterhndler, noch die gemachten Verhand-

    lungsangebote geben Anla zu der Vermutung, da die Reagan-Admini-

    stration ernsthaft auf substantielle atomare Abrstungsschritte

    hinarbeitet.

    5. Risiken unabhngig von den Absichten der derzeitigen US-Regierung

    Unterstellen wir aber einmal das Gegenteil. Nehmen wir an, es sei

    trotz aller anderslautenden Anzeichen wahr, was die Bundesregierung

    versichert: da der Doppelbeschlu nur aus der Not greifbarer sow-

    jetischer berlegenheit heraus geboren wurde; da die neuen strate-

    gischen Leitlinien der USA keine Wende markieren, sondern, wie auch

    der Brsseler Stationierungsbeschlu, nur als Demonstration der

    Strke gedacht ist, ersonnen allein, um die Gegenseite endlich zur

    Migung und zur Aufnahme ernsthafter Abrstungsverhandlungen zu

    bewegen; da Prsident Reagan nicht im entferntesten daran denkt,

    den USA wirklich Erstschlagsfhigkeit oder relative berlegenheit

    im Sinne der "berlegenen Abschreckung" zu verschaffen und danach

    mit begrenzten Schlgen zu drohen; da er tatschlich nichts lieber

    tte, als auf die Stationierungsmanahmen zu verzichten, und da

    nur die obstinate Weig:erung der UdSSR, ihre einseitigen Vorteile

    aufzugeben, die Stationierung notwendig macht. Knnen wir dann be-

    ruhigter sein? Keineswegs. Wenn es zur angekndigten Stationierung

    von Cruise Missiles und vor allem von Pershing II F.aketen auf un-

    serem Territorium kommt, bleiben - unabhngig von aller Gutglubig-

    keit gegenber den Absichten der US-Regierung - wenigstens drei

  • -21-

    Gefahren, die in sich gro genug sind, um diese Manahmen fr

    uns absolut unannehmbar zu machen:

    1 Auch wenn

    wrde sie

    setzungen

    schaffen.

    die

    mit

    fr

    Wer

    derzeitige Regierung sie nicht anwenden wollte,

    den beschlossenen Rstungsmanahmen die Voraus-

    die Anwendung der genannten Strategiekonzepte

    garantiert, da eine knftige Regierung nicht jene

    Absichten hat,

    mit Sicherheit

    die die Gutglubigen unter uns bei der jetzigen

    ausschlieen zu knnen meinen? Sind nicht poli-

    tische Konstellationen denkbar, in denen die Macht in dia Hn-

    de von Skrupellosen oder Fanatikern kommt? Ja, sind nicht viel-

    fltige Situationen denkbar, in denen auch eine ansonsten un-

    tadelige Regierung unter Entscheidungsdruck kommt, der hinrei-

    chende rationale Abwgungen nicht mehr zult? Sind die Optionen

    einmal gegeben, mu man damit rechnen, da sie ins praktische

    politische Kalkl eingehen.

    2. Selbst wenn wir sicher sein knnten, da alle westlichen Ent-

    scheidungstrger niemals Gebrauch von ihnen machen werden, wer

    sagt, da die Fhrer im Ostblock sich dessen ebenso sicher sind

    und ihrerseits ebenso unzweifelhaft vor riskanten Aktionen zu-

    rckschrecken? Die bloe Tatsache, da die Optionen vorhanden

    sind (oder auch nur vorhanden sein knnten!) und da ent-

    sprechende Einsatzplne existieren, mu die sowjet. Fhrer in

    permanente Unruhe versetzen. Die extrem kurzen Vorwarnzeiten

    fr die in Deutschland stationierten Pershing II zwingt sie

    in dauernde Alarmbereitschaft. Kann man sicher sein, da sie nicht

    in fr sie zweideutigen Situationen (Manver, Truppenverlegungen,

    rhetorische Drohungen, Krisensituationen in anderen Weltteilen

    u.a.) unter Entscheidungsdruck kommen, der ihre Rationalitt

    einschrnkt und sie nervs reagieren lt? Mu in einer solchen

    Lage der eigene Erstschlag nicht als das kleinere bel erscheinen

    als das b~rraschtwerden durch einen vermeintlich oder real

    berlegenen Gegner? Nach dem (im Pentagon-Programm u.a.) ange-

    kndigten Versuch der USA, sie technologisch und wirtschaftlich

    aus dem Rstungswettrennen zu werfen (s.o. S.15), mu die Sowjet-

    union zudem davon ausgehen, da die Zeit gegen sie arbeitet. Die

    Erfahrung spricht nicht dafr, da ein auenpolitisch derart

    unter Druck geratenes und innenpolitisch zustzlich verunsicher-

    tes Regime einfach1 wie die Regierenden in Washington hoffen,

    "mit einem Winseln" 45 aufgibt.

  • -22-

    Das allermindeste was zu erwarten ist, ist die Aufstellung von

    Raketen mittlerer Reichweite in nahegelegenen Ostblocklndern

    (DDR,CSSR), wie bereits mehrfach angekndigt. Denn es ist klar,

    da die UdSSR, wenn schon nicht in der Treffgenauigkeit, so doch

    zumindest in der Geschwindigkeit und der entsprechend verkrz-

    ten Vorwarnzeit ihrer Raketen mit den USA gleichziehen mchte.

    (Da sie dabei erneut Europa in Geiselhaft fii.r die USA nimmt,

    mag inkonsequent erscheinen, erklrt sich aber, wie frher,

    daraus, da ihr von ihrem Potential her gar.nichts anderes i.ibrig

    bleibt.) Darber hinaus aber ist damit zu rechnen, da gewaltige

    Rstungsanstrengungen unternommen werden, um die US-Raketen auch

    in puncto Treffgenauigkeit zu erreichen oder zu berholen oder

    auf anderen Gebieten der Rstung Vorteile zu erringen. Schlie-

    lich drfte es auch in Moskau Strategen geben, die ebenso eifrig

    wie die amerikanischen Grays, Nitzes, Ikles und Perles an den

    Drehbchern fr "gewinnbare" Atomkriege arbeiten und die nun,

    unter dem Eindruck massiver amerikanischer Bedrohung, eine ebenso

    gute Chance haben, an die Schalthebel der Macht zu kommen. Als

    "selbsterfllte Prophezeiung" knnte dann tatschlich eintreten,

    was die Demagogen im Wahlkampf von 1980 ohne den Schatten eines

    Beweises behauptet und ebendamit in Wirklichkeit nur herbeige-

    redet haben: da auch der Westen - so wie heute bereits der

    Osten - in dem Bewutsein leben mu, da die Gegenseite erklr-

    termaen und rstungspolitisch manifest auf eine atomare Erst-

    schlagsoption hinarbeitet! Wie stabil diese Form des "strate-

    gischen Patts" wre, kann man sich ausmalen, ebenso wie die Rck-

    wirkung, die die Befrchtung, sie knne eintreten, auf die Bereit-

    schaft der US-Regierung haben mu, keinen Gebrauch von der er-

    strebten und sicher vor den Sowjets erreichten Erstschlags-

    bzw. berlegenen Abschreckungsoption zu machen.

    3. Gesetzt aber selbst, wir knnten, aller menschlichen Erfahrung

    zum Trotz, davon ausgehen, da die Entscheidungstrger auf bei-

    den Seiten zu jeder Zeit ber ein Hchstma an Rationalitt und

    moralischer Verantwortlichkeit verfgen und niemals ernsthaft

    an die Wahrnehmung ihrer atomaren Optionen denken. Die bloe

    Tatsache, da sich nach der Stationierung in Europa Atomraketen

    mit einer Flugzeit von wenigen Minuten gegenberstehen, gengt,

    um uns an den Rand des Atomkriegs zu bringen: zwar nicht (ex

    hypothesi) politisch wohl aber technologisch. Bekanntlich hat es

    schon in der Vergangenheit wiederholt atomare Fehlalarme gegeben,

  • -23-

    die bislang dank der relativ langen Vorwarnzeiten stets recht-

    zeitig gestoppt werden konnten. Die kurzen Vorwarnzeiten, die

    wir von Ende 1983 an zu erwarten haben, machen dies unmglich.

    Das gilt auch dann, wenn beide Seiten nicht (wie von der UdSSR

    bereits angedroht) zu computergesteuerter automatischer Ver-

    geltung bergehen. Denn die Zeit, die den amerikanischen und

    sowjetischen Entscheidungstrgern bleibt, wird, wie exakte

    Berechnungen von Informatikern auf dem Mainzer Kongre deutlich

    gemacht haben, in jedem Falle so klein sein, da rationale Re-

    aktionen nicht mehr zu erwarten sind, weil objektive Nachpr-

    fungen ausscheiden und subjektive Faktoren an ihre Stelle treten:

    "Angenommen, die Kreml-Fhrung erhlt die Alarmmeldung: Pershing-2-Raketen im Anflug. Die russischen Fhrer mssen mit dem Tod in wenigen Minuten rechnen, ohne Fluchtmglichkeit. Wie werden sie sich auf einen solchen Fall vorbereiten? Sobald die ersten Pershing-2-Raketen stationiert sind, also ab Ende 1983, wird unser Schicksal Tag und Nacht in jeder Sekunde am seidenen Faden der Fehlerfreiheit der russischen Warncomputer hngen." 46

    Oder sollen wir allen Ernstes annehmen, da die sowjetischen

    Computer prinzipiell zuverlssiger sind als die amerikanischen,

    die sich mehr als einmal als anfllig erwiesen haben?

    6. Die Haltung der deutschen Politiker

    Es gibt also eine berwltigende Flle von Evidenzen dafr, da

    die bevorstehenden Stationierungsmanahmen zwar im Interesse der

    USA, wie es die derzeitige "Politik der Strke" definiert, liegen,

    fr Westeuropaabe~ abgesehen von Klimaverbesserungen im Verhltnis

    zu den USA, keinerlei Vorteil bieten, sondern im Gegenteil eine

    dramatische Verschlechterung seiner Sicherheitslage mit sich bringen.

    Damitwird nun aber die bislang offen gebliebene Frage (vgl. S.8)

    unabweislich, wie denn in aller Welt eine deutsche Regierung und

    ein deutsches Parlament dazu kommen konnten, einem Vorhaben zuzu-

    stimmen, das den elementarsten Eigeninteressen zuwiderluft? Fr

    die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten und die Mehrzahl der Res-

    sortminister ist die Antwort einfach: sie gehen ebenso wie wir selbst

    davon aus, da die militrischen und sicherheitspolitischen Experten,

    die sie aus anderen zusammenhngen als rationale und verantwortunas-

    bewute Personen kennen, sich ihrerseits grndlich informiert und

    die deutschen Interessen wohl bedacht haben, ehe sie ihre Vorlage

  • -24-

    machten. Kritisch ist die Frage nur mit Bezug auf die Experten

    selbst, die man kaum als so uninformiert oder durchweg leichtfertig

    ansehen kann, da sie wissentlich eine derart gefhrliche Entwicklung

    einleiteten. Eine plausible Erklrung dafr,wie sie zu Befrwortern

    des Brsseler Stationierungsbeschlusses werden konnten, kann daher

    als eine Art Nagelprobe auf die Eichtigkeit der vorausgegangenen

    negativen Einschtzung gelten. Vor allem die Person des frheren

    Bundeskanzlers Schmidt ist hier von Bedeutung. Wenn berhaupt einem

    deutschen Spitzenpolitiker wird man ihm Kompetenz in der Sache und

    ein von emotionalen Vorur~eilen ungetrbtes, illusionsloses

    Verhltnis zur Politik der UdSSR und der USA zuschreiben mssen.

    Dennoch gab er seine Zustimmung zum Beschlu, ja gilt in der ffent-

    lichkeit sogar als derjenige, der die Sache ursprnglich ins Rollen

    brachte.

    Eine plausible Erklrung ist mglich. Im allgemeinen wird davon

    ausgegangen, da Schmidts Rede vor dem Londoner "International

    Institute for Strategie Studies" vom Okt. 1977 den entscheidenden

    Ansto zur "Nachrstung" gab. Das ist nicht falsch, trifft aber

    nur die Auenseite. vorausgegangen war ein Besuch von Fred Ikle

    bei Schmidt im Frhjahr 1977. 47 Ikle war damals aktives Mitglied

    des "Komitees gegen die vorhandene Gefahr" und damit intimer Ver-

    trauter des Vorsitzenden (R.Pipes) und der beiden Hauptanalytiker

    (P.Nitze, W.van Cleave) von "Team B", das 1976 die CIA-Daten um-

    interpretiert hatte. Ikle brachte diese angeblich neuen,bedrohlichen

    Daten mit und warnte zugleich vor der (damals noch nicht revidierten,

    mit den Unterhandlungen zu SALT II befaten) Sicherheit.spolitik

    Carters, die der sowjet. Rstung gegenber naiv sei. Ikle konnte

    voraussetzen, da Schmidt dieser Warnung glauben wrde, denn dessen

    geringe Meinung von Carters politischer Kompetenz war allgemein

    bekannt. Offensichtlich hat diese Intervention zusammen mit zu ver-

    mutenden weiteren whrend des Sommers 1977 die gewnschte Wirkung

    gehabt; Schmidt reagierte mit seiner Londoner Rede. Er forderte

    darin allerdings keineswegs die inzwischen als "Nachrstung" be-

    zeichneten konkreten Manahmen. Er warnte nur vor der Gefahr, da

    die Festschreibung des strategischen Potentials der Supermchte

    durch die SALT-Abkommen ohne Rcksicht auf die darunterliegenden

    Ebenen erfolgt, insbesondere auf den Mittelstreckenbereich, in dem

    die UdSSR (bei offenbarer Unttigkeit der USA) mit ihrer Moderni-

    sierung bereits begonnen hatte, und da die UdSSR hier einen Be-

    wegungsspielraum gewinnen knnte, den die USA nicht besitzen. Der

  • -25-

    Zusammenhang mit den SALT-Verhandlungen war essentiell, wie sich

    indirekt auch aus dem spteren (vergeblichen) Versuch von Minister

    Apel, die Ratifizierung von SALT II durch Hinweis auf diesen Zu-

    sammenhang zu befrdern, 48 und dem noch spteren (hilflosen) Ver-

    such der Bundesregierung ergibt, die "Nachrstung" trotz des in

    Washington gescheiterten SALT II Vertrages zu rechtfertigen. 4 9

    Im Text der Londoner Rede ist der Zusammenhang eindeutig:

    "Eine auf die Weltmchte USA und Sowjetunion begrenzte strategische Rstungsbeschrnkung mu das Sicherheitsbedrfnis der westeuropi-schen Bndnispartner gegenber der in Europa militrisch berlege-nen Sowjetunion beeintrchtigen, wenn es nicht gelingt, die in Europa bestehenden Disparitten parallel zu den SALT-Verhandlungen abzubauen. " 5 o

    Setzt man Schmidts Mitrauen in CartersVerhandlungsfhrung und seinen

    Glauben an die Korrektheit der ihm zugespielten CIA-Daten voraus,

    sind Warnungen dieser Art natrlich verstndlich.

    Mit diesem Vorsto aber waren der Bundesregierung und- den brigen

    Europern bereits, ohne da sie es ahnten, die nachfolgenden Ent-

    wicklungen weitgehend aus den Hnden geglitten. Er lieferte den

    Entspannungsgegnern in Washington die gewnschte innenpolitische

    Munition. Die ersten Schritte zur Torpedierung von SALT II waren

    getan. Es wurde mglich, das bekannte Paket aus iandgesttzten

    Pershing II und Cruise Missiles als Entgegenkommen gegenber dem

    "europischen Wunsch nach NATO-Aktivitten im Mittelstreckenbereich"

    zu offerieren, ohne mit besonders kritischer Prfung durch die zu-

    stndigen europischen und amerikanischen Gremien rechnen zu mssen.

    Man kann wohl davon ausgehen, da den europischen, partiell viel-

    leicht auch den amerikanischen Entscheidungstrgern die weitreichen-

    den technologischen Implikationen der neuen Waffen nicht sofort zu

    Bewutsein gekommen sind, zumal eine strategische Umorientierung

    der USA zugunsten "berlegener Abschreckung" oder "vernichtender

    Erstschlagfhigkeit" damals noch nicht im Gesprch war. Es ist sogar

    mglich, da auch die amerikanischen "Falken" die Chancen, die

    ihnen die neuen Waffen in Verbindung mit der anstehenden NATO-

    "Nachrstung" boten, erst im Verlauf der Planungen bemerkt haben.

    Als sie die Europer bemerkten, war es jedenfalls, wie es scheint,

    bereits zu spt. Schmidts Versuch, die Stationierung der Waffen

    zur See (auf Ubooten) ins Gesprch zu bringen, stie in den USA

    bereits auf kein Interesse mehr; die nachfolgende strategische Wende

    erklrt, warum. Ein Zurck von den Brsseler Beschlssen wre von

    einem gewissen Zeitpunkt an offenbar nur noch um den Preis eines

  • -26-

    offenen Konflikts mit den USA mglich gewesen, vor dem die Bundes-

    regierung aus vielfltigen denkbaren Grnden (unter ihnen massive

    amerikanische Drohungen) faktisch zurckschreckte. Ihr blieb nichts

    brig, als sich an den Verhandlungsteil der Beschlsse zu halten

    und ihren Einflu geltend zu machen, um die Gromchte wenigstens

    zur formellen Aufnahme von Verhandlungen zu bewegen - ein Vorhaben,

    das wohl vor allem durch den begleitenden Druck der beunruhigten

    ffentlichkeit gelang. Illusionen ber die Erfolgsaussichten in

    Genf drften die informierten Mitglieder der Bundesregierung sich

    von Anfang an kaum gemacht haben. Um die allein verbliebenen Hoff-

    nungen auf die Gesprche aber nicht von vorneherein niederzuschlagen,

    waren sie gezwungen, den Doppelbeschlu vor der ffentlichkeit in

    einer Weise zu verteidigen, die ihnen selbst nicht gerechtfertigt

    erscheinen konnte. Die vage Hoffnung, die USA knnten vielleicht,

    unter dem Druck der politischen Gesamtlage, doch noch zu ernsthaften

    Verhandlingen bergehen oder die UdSSR unerwartet groe Zugestnd-

    nisse im Mittelstreckenbereich machen, mag dabei ber die aufkommen-

    den inneren Konflikte hinweggeholfen haben. Diese Situation hat

    sich auch nach dem Regierungswechsel nicht grundstzlich gendert,

    auch wenn die Zahl derer, die Gutglubigkeit oder moralische Ver-

    drngungsfhigkeit an einer illusionslosen Einschtzung der Reali-

    tten hindert, grer geworden sein drfte. Da Konflikte vorhan-

    den sind, zeigen jedenfalls die gereizten und zunehmend nervseren

    Reaktionen auf ffentliche Kritik, insbesondere auf die moralischen

    Bedenken der Kirchen.

    7. Schlu

    Aln der Verhinderung einer "Nachrstung", deren unzumutbare Risiken

    oben aufgewiesen wurden, mssen die Europer unmittelbar interessiert

    sein. Sie haben aber natrlich auch ein vitales Interesse daran, da

    die Sowjetunion ihr Mittelstreckenpotential abbaut und von ihrem

    Konzept Abstand nimmt, ihre Sicherheitsinteressen gegenber den

    USA durch die Bedrohung Europas zu befriedigen. Letzteres ist gewi

    nur dann zu erreichen, wenn die Frage der europischen Sicherheit

    von den strategischen Interessen der Supermchte entkoppelt wird,

    was nur im Rahmen einer grundlegenden Revision des europischen

    Sicherheitssystems denkbar erscheint. Kurzfristig mssen sich unsere

    Hoffnungen auf Genf richten, wo zusammen mit der Verhinderung der

  • -27-

    untragbaren "Nachrstungs"-Manahmen auch eine sprbare Reduzierung

    der Bedrohung durch sowjet. Mittelstreckenraketen erreichbar wre.

    Es mag sein, da die Sowjetunion nur durch die Dr0hung mit neuen

    Waffen zu Verhandlungen hierber gebracht werden konnte. Aber die

    dadurch entstandene Chance darf nicht durch fehlende Kompromi-

    bereitschaft wieder verspielt werden, zumal ein Interesse der UdSSR

    am Erfolg der Verhandlungen erkennbar ist. Leider gibt es auf ame-

    rikanischer Seite wenig Anzeichen fr Kompromibereitschaft, wie

    aus den obengenannten (S.18f.) Grnden zu befrchten stand. Es wre

    die selbstverstndliche Aufgabe der europischen Regierungen, im

    eigenen Interesse hier klar Stellung zu beziehen. Das Gegenteil ist

    der Fall, zumal trichte Einlassungen deutscher Politiker (z.B.

    Alfred Dregger) die Amerikaner in ihrer Kompromiunwilligkeit noch

    r bestrken. Nur breitester ffentlicher Protest kann angesichts einer

    schlafenden, leichtfertigen oder amerikanischem Druck gegenber

    ngstlichen Bundesregierung die wahnwitzige, fr unser Land im

    hchsten Mae bedrohliche Entwicklung vielleicht noch in letzter

    Sekunde verhindern.

  • l'mrnerkungen

    1 "Da Knige philosophiren, oder Philosophen Knige wrden, ist nicht zu er-warten, aber auch nicht zu wnschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt. Da aber Knige oder knigliche (sich selbst nach Gleichheitsgesetzen beherrschende) Vlker die Classe der Philosophen nicht schwinden oder verstummen, sondern ffentlich sprechen lassen, ist Beiden zu Beleuchtung ihres Geschfts unentbehrlich und, weil diese Classe ihrer Natur nach der Rottirung und Clubbenverbndung unfhig ist, wegen der Nachrede einer P r o p a g a n d e verdachtlos." ( I. Kant: Zum ewigen Frieden, Abschn.1, Zusatz 2, AA VIII, 369)

    2 Kommunique der Sondersitzung der Auen- und Verteidigungsminister der NATO am 12. Dezember 1979 in Brssel, in: A.Mechtersheimer/P.Barth(ed.): Den Atom-krieg fhrbar und gewinnbar machen? Dokumente zur Nachrstung, Band 2, Reinbek., 1983' 25

    ebd., 26'

    4 Vgl. "Es geht um unsere Sicherheit: Bndnis. Verteidigung. Rstungskontrolle", Hg.Auswrtiges Amt, ref.fr ffentlichkeitsarbeit /Bundesministerium der Vertei-digung, Informations-und Pressestab, 3.erw.Aufl.,-Kln 1982, 54; Atomwaffen in Europa. Nachrstungsdruck und Abrstungsinitiativen. Rstungsjahrbuch 82/83, Hg. Stockholm Intern. Peace Res. Inst. ( SIPRI).; Reinbek 19 83, 60ff.

    SIPRI-Jahrbuch 1983, a.a.O., 35, 57f.

    W.Bittorf(ed.): Nachrstung, Reinbek 1981, 27ff.; SIPRI-Jahrbuch 1983, a.a.O., 36, 38, 43f.

    7 Bittorf(ed.) 1981, a:a.O., 19ff., 37ff.; SIPRI-Jahrbuch 1983, a.a.0.,35; H.J.Neuman: Kernwaffen in Europa, Hg. Intern.Inst.f.Strateg.Stud.(IISS) London, Bonn 1982, 126ff.

    Neuman 1982, a.a.O., 128; SIPRI-Jahrbuch 1983, a.a.O., 46f., 57

    9 Vgl. U.Albrecht: Kndigt den Nachrstungsbeschlu!, Frankfurt 1982, 71

    lO Bittorf(ed.) 1981, a.a.O., 51ff.; R.Scheer: With Enough Shovels. Reagan, Bush, and Nuclear War, New York 1982, dt.u.d.T. Und brennend strzen Vgel vom Himmel. Reagan und der 'begrenzte' Atomkrieg, Mnchen 1983, 128

    11 Vgl. Bittorf(ed.) 1981, a.a.o., 52f.

    l2 Vgl. die Nachweise bei G.Krell/H.J.Schmidt: Der Rstungswettlauf in Europa, Frankfurt 1982, 19f., repr.in: Mechtersheimer/Barth 1983, a.a.O., 30ff.

    13 Zur Kritik des "Abkopplungsarguments" vgl. SIPRI-Jahrbuch 1983, a.a.O. ,64ff.

    14 So auch der frhere US-Sicherheitsberater McGeorge Bundy; vgl. McG.Bundy: Es geht auch ohne Landraketen, in: Bittorf(ed.) 1981, a.a.O., 205

    15 Vgl. Anm.13

  • 16 zit. nach Mechtersheimer/Barth 1983, a.a.O., 36

    17 C.F.v.Weizscker: Gefahren der Rstung in den achtziger Jahren, in: Mechters-heimer/Barth 1983, a.a.0.,208ff.

    18 Bundy 1981, a.a.o., 204

    19 Demonstrative Alarmbereitschaft der F-111 Bomberstaffel in Lakenheath/Gro-britannien zur strategischen Absicherung der versuchten Geiselbefreiung in Iran; vgl. W.Bittorf: Raketen tten nicht - Menschen tten, in: Der Spiegel 37(1983) Nr.9, 161

    20 Vgl. hierzu und zum Folgenden R.J.Barnet: Wie es zur neuen Politik der Strke kam, in:' Bittorf(ed.) 1981, a.a.O., l80ff.; Scheer 1983, a.a.O., Kap.4

    21 Die uerungen amerikanischer Spitzenpolitiker, die dies belegen, sind Legion und jedem aufmerksamen Zeitungsleser oder Fernsehzuschauer der letzten Jahre bekannt; dokumentiert sind sie zudem in zahlreichen deutschen und amerikanischen Buchpublikationen.

    22 Vgl. hierzu und zum Folgenden Barnet 1981,, a.a.O., 183ff.; Scheer 1983, a.a.O., Kap.5

    23 C.S.Gray/K.Payne: Victory is Possible, repr.in: Mechtersheimer/Barth 1983, a.a.o., 59-72

    24 J.Wernicke: Wir haben nur noch wenige Monate Zeit, Hg. Die Grnen/Bunde~geschftsstelle, Bonn Juni 1983

    25 Gray/Payne 1983, a.a.O., 70f.

    26 Vgl. dazu vor allem Bittorf(ed.) 1981, a.a.O., 60ff. und Bittorf 1983, a.a.O., 156-176, wo auch diverse uerungen amerikanischer Politiker zitiert sind.

    27 Vgl. "Aspekte der Friedenspolitik", Hg. Bundespresseamt Bonn, Juni 1981, repr. (ausz.) in: Bittorf(ed.) 1981, a.a.O., 215

    28 Vgl. dazu vor allem Scheer 1983, a.a.O., Kap.3

    29 Vgl. Scheer 1983, a.a.o., 21ff.; Mechtersheimer/Barth 1983, a.a.O., 95ff.

    30 Vgl. Scheer 1983, a.a.O., 15f.

    31 tit. nach Mechtersheimer/Barth 1983, a.a.O., 83, 88, 84f. und 91

    32 Zum Folgenden vgl. SIPRI-Jahrbuch 1983, a.a.O., vor allem 210ff.

    33 Zu den Einzelheiten vgl. Scheer 1983, a.a.O., Kap.8

    34 Verff. der US-Bundesnotstandsbehrde, zit, nach Scheer 1983, a.a.O., 200

    35 Vgl. dazu Scheer 1983, a.a.O., 75

    36 Vgl. Scheer 1983, a.a.O., 55f., 235f.

    37 Vgl. Scheer 1983, a.a.O., 16

    38 Vgl. etwa Kennans .Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buch-handels; vgl. Barnet 1981, a.a.O., 175. hnlich uerten sich z.B. George W.Ball, Staatssekretr im Auenministerium unter Kennedy und Johnson, und der Oxforder Militrhistoriker Michael Howard (Zitate in Bittorf,ed. 1981, a.a.0.,168 bzw.

  • Bittorf 1983, a.a.o., 176)

    39 Zu Jones vgl. Scheer 1983, a.a.O., Kap.2

    40 Vgl. Scheer 1983, a.a"O., 198

    41 Zit. nach Scheer 1983, a.a.O., 25f.

    42 Zum Folgenden vgl. Scheer 1983, a.a.O., 161ff.; Bittorf 1983, a.a.0.,156ff.

    43 Zit. nach Scheer 1983, a.a.O., 165

    44 Vgl. dazu Scheer 1983, a.a.O., 175f.

    45 So Caspar Weinberger im Spiegel-Interview vom 28.9.1981, repr.in: Mechters-heimer/Barth 1983, a.a.O., 78

    46 Wernicke 1983, a.a.O., 6

    47 Hierzu und zum Felgenden vgl. Bittorf(ed.) 1981, a.a.O., 77ff.; Bittorf 1983, a.a.O., 172

    48 Vgl. Bittorf(ed.) 1981, a.a.o., 81

    49 Vgl. "Aspekte der Friedenspolitik" 1981, a.a.O., 217

    SO Zit. nach Mechtersheimer/Barth 1983, a.a.O., 24

  • Ernst Tugendhat

    Rationalitt und Irrationalitt der Friedensbewegung und ihrer Gegner+)

    I.

    Ich gehe aus von dem sich immer erneut wiederholenden schrecklichen Er-

    lebnis des Sich-gegenseitig-nicht-Verstehens in der Frage des gemeinsa-

    men berlebens. Fast die ganze westliche Welt ist wie gespalten in zwei

    groe, ber die nationalen Grenzen zusammenhngende Kommunikationssys~eme,

    die sich gegenseitig abzuschotten drohen und neue Grenzen schaffen, die

    quer durch Familien und Freundscha~ten verlaufen. Es sind nicht einfach

    entgegengesetzte politische Zielsetzungen. Die tiefere Differenz, die uns

    aneinander und, wenn wir dnnhutig sind, an uns selbst verzweifeln

    lassen kann, ist die Differenz in der Sprache, im Verstehen, in den un-

    ausgesprochenen Voraussetzungen, die in die beiderseitige Wahrnehmung

    der politischen Realitten eingehen-

    Wenn Menschen sich nicht mehr verstehen, knnen sie sich gegenseitig nur

    noch irrational erscheinen; das liegt einfach im Sinn des Nichtver-

    stehens. Es ist daher kein Zufall, da der hufigste wechselseitige Vor-

    wurf, der von de~ Gegnern der Friedensbewegung gegen diese und von dieser

    gegen jene erhoben wird, der Vorwurf der Irrationalitt ist. Ein solcher

    Vorwurf bedeutet immer, da die Grnde, die die anderen fr ihre ber-

    zeugungen anfhren, als unzureichend empfunden werden. Wenn wir die