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1 D. Schwappach
PD Dr. David Schwappach, MPHWissenschaftlicher Leiter
Stiftung für Patientensicherheit Schweiz
Masterstudiengang
"Management von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen"
Universität Witten
19. September 2008
Patientensicherheit aus Patientensicht:
Welchen Beitrag können Patienten für die Sicherheit ihrer Versorgung leisten?
2 D. Schwappach
Früher: - Patienten eher "passives Objekt" der Behandlung
- Vermeidung von patientenseitigen Fehlern ("compliance")
- Bei Zwischenfall oder Fehlern: Patienten als "Opfer"
Heute: Zunehmend aktive Rolle in der Sicherheitsdiskussion:
1. als aufmerksame Beobachter, Berichterstatter
2. als Partner bei der Durchführung von sicherheits-fördernden Massnahmen (z.B. Identitätskontrollen)
3. als "aktive letzte Hürde" zur Prävention von Fehlern
4. Spezialfall "Eltern" hospitalisierter Kinder
Die Rolle von Patienten in der Patientensicherheit
3 D. Schwappach
Sicherheit: Ein Thema für Patienten?
Waren Sie während der Hospitalisation besorgt, dass es bei Ihnen zu einem der folgenden Fehler und Probleme kommt?
% Ja
Medikationsfehler 17 %
Fehler der Pflegepersonen 15 %
Fehler der Geräte 10 %
Fehldiagnose 10 %
Fehler der Ärzte 10 %
Falsche Intervention 8%
Patientenverwechslung 6%
Äusserten mind. 1 Sorge 39%
Quelle: Burroughs , Jt Comm J Quality Patient Safety 2007, pp 5-13
Prädiktoren für Angst vor Fehlern
Aufenthalt Kinder- oder Lehrkrankenhaus
Mittleres Alter (30-60 Jahre)
Eltern von Kindern < 9 Jahre
Aufenthaltsdauer
Notfall-Aufnahme
Krankheitsschwere
Angst vor Fehlern korreliert mit Weiterempfehlungs-Bereitschaft !
4 D. Schwappach
Sicherheit: Ein Thema für Patienten?
Quelle: Schwappach. BMC Health Services Research 2008, pp 1-8
Hatten Sie während des Spitalaufenthaltes Sorgen, dass es zu Problemen oder Fehlern in Ihrer Behandlung kommt?
%
Ja, ich war sehr besorgt 4 %
Ja, ich war etwas besorgt 19 %
Nein, ich war überhaupt nicht besorgt 77%
Patienten, die einen Fehler erlebt haben, sind 6-mal häufiger besorgt um ihre Sicherheit !
5 D. Schwappach
- In den letzten Jahren zunehmend Befragung von Patienten zur Beobachtung "sicherheitsrelevanter Ereignisse"
- Hintergrund: Patienten beobachten häufig (Beinahe-) Zwischenfälle und Fehler
- Ziel: Erkennen von Problemfeldern ("Hot Spots")
- Verschiedene Methoden der Inzidenz-Messung erkennen verschiedene Ereignisse, Ihre Übereinstimmung ist begrenzt.
Patienten als Beobachter von Sicherheit
Patientenbefragung
Interne MeldesystemeAnalyse Dokumentation
Prospektive Studie,Beobachtung
Methoden sind Komplemente, keine Surrogate!
6 D. Schwappach
Ergebnisse Patientenbefragungen
Quelle: Weingart. J Gen Intern Med 2005, pp 830-836
- Nur 55% der von Patienten berichteten unerwünschten Ereignisse waren auch in der KG dokumentiert
- 31% der near-misses und 34% der medizinischen Fehler waren dokumentiert
- Keines der Ereignisse war im internen Meldesystem registriert
Regelmässige Interviews während und nach der Hospitalisation, danach Beurteilung und Klassifikation durch 2 unabhängige Kliniker
% Patienten
Event-Rate / 100 Patienten
Unerwünschte Ereignisse mit Schaden 8 % 8.8
Lebensbedrohlich (z.B. anaphylakt. Schock) 0 % 0
Ernst (z.B. Grosser Abszess) 1 % 0.4
Signifikant (z.B. Schmerzen) 5 % 5.7
Leichter Schaden 2 % 2.6
Anteil vermeidbare unerwünschte Ereignisse 5 % 5.7
Beinahe Fehler mit Schadenspotential 4 % 5.7
Lebensbedrohlich 1 % 0.4
Ernst 1 % 1.8
Signifikant 1 % 0.9
Leicht 2 % 2.6
Medizinischer Fehler mit minimalem Schadensrisiko (z.B. verzögerte Untersuchung)
9 % 12.7
7 D. Schwappach
Ergebnisse Patientenbefragungen
Abfrage des Vorkommens spezifischer Situationen während des Aufenthaltes
Schwappach CH, 2008
Agoritsas CH, 2005
Phlebitis wegen Infusion 16 % 11 %
Infektion 7 % 8 %
Fehlende Händedesinfektion 8 % /
Allergische Reaktion auf Medikament 13 % 8 %
Falsches Medikamenten / Infusion 1 % /
Medikamenten / Infusion zum falschen Zeitpunkt 4 % /
Falsche Dosis Medikamenten / Infusion 5 % 2 %
Dosis-Auslassung Medikamenten / Infusion 5 % /
KG, Röntgen, andere Dokumente nicht verfügbar 4 % 10 %
Unnötige Wiederholung einer Untersuchung 2 % 4 %
Geplante Untersuchung vergessen 5 % 2 %
Falsche Körperstelle (beinahe) behandelt (OP) 2 % (1) %
Patientenverwechslung 2 % 2 %
Sturz (mit Kopfverletzung oder Fraktur) 4 % (2) %
Quelle: Schwappach. BMC Health Services Research 2008, pp 1-8Agoritsas. J Gen Intern Med 2005, pp 922-928
- 45% Patienten haben mind. 1 Ereignis "sicher" oder "eventuell" erlebt
- Event-rate: 0.75 für sichere, 0.27 für eventuelle, 1.02 für alle Ereignisse
- Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses nimmt mit jedem Spitaltag signifikant zu
- 14% der Patienten mit mind. 1 Ereignis beurteilen dieses als "schwerwiegend"
- Neue Problemfelder
8 D. Schwappach
Aufmerksamkeit von Patienten – Beispiel Chemotherapie
Patientin registriert hohe Durchlaufgeschwindigkeit der Infusion
Patient weist auf fehlende orale Prämedikation hin
Bei gemeinsamer Kontrolle der Infusionsbeutel fällt der Patientin falsches Geburtsdatum bei gleichem Namen auf
Patientin wundert sich über fehlenden Lichtschutz
Patienten entwickeln anhand Erfahrung und Information Regeln und gleichen diese Regeln mit der Realität ab!
9 D. Schwappach
Patienten fällt sehr viel auf …
Oft kommunizieren sie dies auch …
Aber häufig leider zu spät …
Beteiligung von Patienten an der Fehler-Prävention
10 D. Schwappach
Patientin: Heute früh waren es ja zwei Tablettli.
Pflegende: Wie?
Patientin: Zwei blaue Tablettli.
Pflegende: Was?
Patientin: Gestern und vorgestern hatte ich nur ein blaues Tablettli am Morgen. Heute waren es zwei.
Pflegende: Heute?
Patientin: Ja. Heute. Zwei blaue Tablettli.
Pflegende: Sie hatten heute zwei blaue Tablettli?
Patientin: Ja.
Pflegende: Die haben Sie schon genommen?
Patientin: Ja.
Pflegende: Das hätte nicht passieren sollen.
Ein typischer Dialog …
11 D. Schwappach
Ziel: - Patienten beteiligen sich aktiv um Fehler rechtzeitig zu vermeiden.
Interventionen:- Information über "Signale", die darauf hinweisen, dass etwas falsch
läuft (z.B. plötzlich andere Medikamente)
- Kooperation bei sicherheitsfördernden Massnahmen (z.B. wiederholte Identitätskontrollen)
- Motivation von Patienten, Leistungserbringer aktiv auf die Einhaltung sicherheitsrelevanter Massnahmen hinzuweisen (z.B. Aufforderung zur Händehygiene)
Patientenbeteiligung an der Fehlerprävention
12 D. Schwappach
Kampagnen zur Patientenbeteiligung
13 D. Schwappach
Speak-Up Kampagne der Joint Commission
- Allg. Fehler in der Versorgung
- Arzneimittel
- Infektionen
- Untersuchungen / Diagnostik
- Chirurgie
14 D. Schwappach
Speak-Up Kampagne der Joint Commission
15 D. Schwappach
Speak-Up Kampagne der Joint Commission
16 D. Schwappach
Bereitschaft von Patienten zur Beteiligung
Quelle: Waterman. J Gen Intern Med 2006, pp 367-370
91% stimmen zu, dass Patienten helfen können, Fehler zu vermeiden.
98% stimmen zu, dass Krankenhäuser über Fehlervermeidung informieren sollten.
Bereitschaft und tatsächliche Aktivität von Patienten, sicherheitsrelevante Massnahmen durchzuführen
% bereit
% aktiv
Die Pflegeperson nach dem Sinn der Medikamente fragen 91% 75%
Fragen zur Behandlung stellen 89% 85%
Die Pflegeperson bitten, die Patientenidentität zu bestätigen 84% 38%
Die Mitarbeiter darauf hinweisen, dass ein Fehler passiert ist 78% 80%
Die Familie oder Freunde auf Fehler achten lassen 76% 39%
Den Mitarbeitern helfen, den Eingriffsort zu markieren 72% 17%
Die Mitarbeiter fragen, ob sie ihre Hände desinfiziert haben 46% 5%
17 D. Schwappach
Determinanten der Bereitschaft zur Partizipation
Quellen: Davis. Health Expec 2007, pp 259-267Davis. Qual Saf Health Care 2008, pp 90-96Hibbard. Med Care Res Rev 2005, pp601-616Peters. Health Psychology 2006, pp 144-152Nau. J Am Pharm Assoc 2005, pp 452-457
Wahrscheinlichkeit präventive Massnahmen durchzuführen
Demographische Merkmale:Alter
GeschlechtBildung
Krankheitsmerkmale:Krankheitsschwere
Frequenz BehandlungPassive /aktive Erfahrung
mit Fehlern
Selbstwirksamkeit Wahrgenommene Effektivität der Massnahmen
Unterstützung und Motivation durch Mitarbeitende
Angst vor FehlernRollenkonformität der
Massnahmen
18 D. Schwappach
Rollenkonformität und Motivation durch Mitarbeitende
Befragung chirurgischer Patienten (UK 2007): „Patient Willingness to Ask Safety Questions Survey“
Median
Würden Sie einen Arzt fragen: Haben Sie Ihre Hände desinfiziert?
“wahrscheinlich nicht”
Würden Sie eine Schwester fragen: Haben Sie Ihre Hände desinfiziert?
“wahrscheinlich nicht”
Befragung chirurgischer Patienten (UK 2007): „Patient Willingness to Ask Safety Questions Survey“
Median
Würden Sie einen Arzt fragen: Haben Sie Ihre Hände desinfiziert?
“wahrscheinlich nicht”
Würden Sie eine Schwester fragen: Haben Sie Ihre Hände desinfiziert?
“wahrscheinlich nicht”
Wenn Sie zuvor durch einen Arzt instruiert würden, würden Sie einen Arzt fragen: Haben Sie Ihre Hände desinfiziert?
“wahrscheinlich ja”
Wenn Sie zuvor durch einen Arzt instruiert würden, würden Sie eine Schwester fragen: Haben Sie Ihre Hände desinfiziert?
“wahrscheinlich ja”
Quelle: Davis. Qual Saf Health Care 2008, pp 90-96
19 D. Schwappach
- Kampagnen (bisher) wenig evaluiert
- Effektivität bei Hauptzielgrössen (z.B. Infektionen) daher unklar
- Erste Ergebnisse zeigen - kleine, positive Effekte in der Vermeidung von Medikationsfehlern- keinen (negativen) Einfluss auf die Beziehung zwischen
Pflegenden und Patienten- minimalen Einfluss auf Arbeitsbelastung der Pflegenden
Evaluation von Massnahmen
Quelle: Weingart. Int J Quality Health Care 2004, pp 499-507
20 D. Schwappach
- Die Beteiligung von Patienten an der Fehlerprävention bietet eine grosse Chance – sie sind die einzigen, die im gesamten Prozess anwesend sind
- Viele Patienten beobachten die Versorgung genau und wollen beteiligt werden
- Kernstück der Beteiligung von Patienten ist Kommunikation und Ermutigung
- Keine Verschiebung der Verantwortlichkeit für die Sicherheit
- Kultur muss ein "gemeinsames prüfen" nicht ein "gegenseitiges prüfen" sein
- Abgestuftes Massnahmenbündel entsprechend Kapazitäten und Risiken
nicht "one size fits all"
Schlussfolgerungen