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2 Politische Dynamik im europäischen Raum: Dimensionen der · nationalen Politik gekennzeichnet ist. Europäisierungseffekte können das politische System transformieren. Sie können

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2 Politische Dynamik im europäischen Raum: Dimensionen der Europäisierung, Europa- und EU-Strategien

2.1 Der Europäisierungsbegriff: Einleitung

„Europäisierung“ wird, ähnlich wie Begriff und Konzept der „politischen Kultur“, in der Politikwissenschaft anders benutzt als in der politischen Öffentlichkeit. Während der öf-fentliche Diskurs den Begriff mit vielfachen Konnotationen versieht, richtet sich der Blick der Fachwissenschaft auf einen recht klar umrissenen Gegenstand. Im Fall der politischen Kultur handelt es sich um die Einstellungen der Bevölkerung im Hinblick auf das politische System bzw. die „subjektive Dimension von Politik“ (Almond/Verba 1963; Berg-Schlosser 1994: 345), während die weitere Öffentlichkeit den Begriff mit der Kultiviertheit politi-scher Prozesse in Verbindung bringt (Kaase 1983). Europäisierung bezieht sich in der Fachsprache auf diejenigen politischen Veränderungen, die in den Mitgliedstaaten der EU aufgrund von Impulsen der EU-Ebene geschehen: „Europanisation is always (to a certain extent) a process of domestic political change caused (somehow) by processes of European integration“ (Vink 2003: 72). Innerhalb des Rahmens dieser Festlegung existiert allerdings eine ganze Reihe von Konzepte mit unterschiedlichen Ansatzpunkten, Perspektiven und Konnotationen. Deren Systematisierung und Nutzbarmachung für die Analyse des bundes-deutschen Regierungssystems stellt das Ziel des folgenden Kapitels dar.

In der Einleitung wurde soeben der Unterschied zwischen den Konzepten der Integra-tion und Europäisierung erläutert. Als Ausgangspunkt der Erörterung muss die Frage ste-hen, ob mit der Ausdifferenzierung der beiden Konzepte eine vollständige Abtrennung erfolgt ist oder zu erfolgen habe. Aus Gründen der Analysehygiene wird eine solche Tren-nung mitunter gefordert (z.B. Eising 2003), denn als Folge dieses Schrittes ließen sich zwei einander entgegen gerichtete Vektoren des europäischen politischen Prozesses sauber un-terscheiden. Aus verschiedenen Gründen hat sich jedoch eine derart klare Trennung der Konzepte nicht eingestellt. Eine ganze Reihe von Ansätzen stellt Integration und Europäi-sierung nicht in Kontrast zueinander, sondern behandelt sie nebeneinander und verzichtet auf eine strikte Unterscheidung der beiden Phänomene. Europäsierung hat sich demzufolge als „weites Feld“ etabliert, in der Europäisierung von Nationalstaaten sowie der EU aus-geht, sich auf die EU-Ebene und auf Nationalstaaten auswirkt, und dabei verschiedene Sys-temebenen in unterschiedlichem Ausmaß betrifft (Axt/Milososki/Schwarz 2007). Daher existiert bis heute jenseits der Festlegung auf die Wirkungsrichtung kein einheitlich aner-kanntes Referenzmodell der Europäisierung. Die unterschiedlichen Konnotationen des Be-griffs leben nebeneinander fort und führen zu einer großen Vielfalt vorliegender Konzepte.

Die fehlende Eindeutigkeit des Europäisierungsbegriffs dürfte nicht zuletzt auf die na-türlichen Überschneidungen mit dem Phänomen der europäischen Integration zurückzufüh-ren sein. Dieser „Vorgang oder Ergebnis des Zusammenwachsens oder -fügens von zuvor selbständigen Größen zu einer Einheit“ (Schmidt 2004a: 322) stellt selbst kein klar abge-grenztes Konzept dar. Der EU-Vertrag kennt in seiner Präambel die Formel der „immer engeren Union der Völker Europas“, womit alle gesellschaftlichen Sphären – Kultur, Poli-tik, Wirtschaft, Recht – angesprochen sind. Wie in der Einleitung bereits skizziert bedeutet Europäisierung dagegen zunächst nichts Weiteres als „Europa-Werdung“; dafür steht das an „Europa“ gehängte grammatikalische Suffix. Auch dieser Begriff kann sich auf eine

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große Bandbreite von Bedeutungen beziehen, von der Entstehung einer europäischen Iden-tität („the growth of a European continental identity (…) over and above national identi-ties“)1 bis zur Annäherung von Kulturen oder Sinnhorizonten im Rahmen fallender Grenz-zäune und sinkender Transaktionsschwellen. Insofern ist es wenig verwunderlich, wenn ein Akteur wie die Europäische Kommission die beiden Begriffe mitunter synonym verwen-det2 und auch wissenschaftliche Autoren den Forderungen nach einer strikten Trennung nicht folgen (z.B. Sturm 2005b). In der politischen Sphäre folgt dies im Übrigen einer län-geren Tradition, denn bereits die (erhoffte oder befürchtete) Annäherung des zaristischen Russland an Westeuropa oder die Eingliederung des Saarkonfliktes in einen gesamteuropä-ischen Horizont wurden mit dem Begriff der Europäisierung markiert (Brückner 1887; Mettig 1913; Deutscher Saarbund 1952). Der Begriff der Europäisierung, so lässt sich fes-thalten, wird einerseits stets für Prozesse verwendet, die eine von der europäischen Ebene kommende Diffusion implizieren. Zusätzlich – aber niemals ausschließlich – kann Europäi-sierung jedoch auch eine von nationalen Gesellschaften und Staaten Dimension beinhalten, die dann den monovektoralen in einen multivektoralen Prozess verwandelt.

Eine weitere Bruchlinie der Europäisierungsforschung betrifft damit die grundsätzli-che Reichweite von Europäisierung. Wenn sie zugleich eine Entgrenzung vormalig nationa-ler Einheiten und die darauf folgende Reaktion von Nationalstaaten bezeichnet, steht der politische Raum der EU zunächst nicht im definitorischen Mittelpunkt. „Europa“ lässt sich nicht auf die EU begrenzen. Dementsprechend bezieht sich „Europäisierung“ gleichzeitig auf das geographische Konstrukt Europa wie auf den politischen Herrschaftsraum der Eu-ropäischen Union, was von vornherein eine begriffliche Unschärfe impliziert. Beate Koh-ler-Koch hat diesbezüglich einmal vorgeschlagen, von „EU-isierung“ zu sprechen (Kohler-Koch 2000). Diese Konvention würde den Begriff genauer machen, kann aber wegen der nach der deutschen Grammatik nicht regelkonformen Ableitung nicht befriedigen. Darüber hinaus wird im Übrigen kontrovers diskutiert, ob Europäisierung ein allein auf EU-Mitglieder bezogenes Phänomen darstellt. Den mitteleuropäischen Staaten wurden bereits vor ihrem Beitritt zur EU in den Jahren 2004 und 2007 umfangreiche Europäisierungseffek-te attestiert (z.B. Lippert/Umbach/Wessels 2001; Grabbe 2002; Hughes/Sasse/Gordon 2004; Lippert/Umbach 2005; Schimmelfennig/Sedelmeier 2005). Entsprechend wird von einigen Autoren zwischen einer „Mitglieds- und Beitrittseuropäisierung“ unterschieden (Axt/Milososki/Schwarz 2007). Darüber hinaus werden mitunter auch Länder mit einer sehr fernen Beitrittsperspektive wie die Türkei oder die Ukraine mit dem Paradigma der Europäisierung in Verbindung gebracht (Wolczuk 2004; Schimmelfennig/Engert/Knobel 2005). Neben seiner multivektoralen Wirkungsrichtung weist der Europäisierungsbegriff demzufolge auch einen diffusen geographischen Bezug auf.

Zuletzt besteht in der Europäisierungsforschung keine einheitliche Haltung dazu, in-wiefern Prozesse der Europäisierung zu einer Angleichung von Prozessen und Ergebnissen von Politik in den Mitgliedstaaten führen. Die Aufgabe von Souveränitätsrechten einerseits und die Adaption von Impulsen der EU-Ebene andererseits hatten zu Beginn des Integrati-onsprozesses die Erwartung hervorgerufen, die Ausrichtung der politischen Aktivitäten auf

1 Der Eintrag findet sich bei Wikipedia (http://en.wikipedia.org/wiki/Europeanization, aufgesucht am 9.9.2008). 2 Entscheidung 97/761/CE, siehe Journal Officiel L 310 du 13.11.1997. Dort bezeichnet die Kommission die Integration der Mitgliedstaaten in den Binnenmarkt mit dem Begriff der Europäisierung. Auch die deutsche, fran-zösische und polnische Version des Eintrags bei Wikipedia erläutert den Begriff der Europäisierung allein über das Phänomen der europäischen Integration; aufgesucht am 9.9.2008.

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ein neues europäisches Zentrum würde homogenisierend wirken (Haas 1968). Die Europäi-sierungsforschung hat indes gezeigt, dass die Reaktion der Mitgliedstaaten auf die von ih-nen selbst ins Leben gerufene Integration von Bruchlinien zwischen der EU-Ebene und der nationalen Politik gekennzeichnet ist. Europäisierungseffekte können das politische System transformieren. Sie können aber auch zu einer Verfestigung des Nationalen führen, etwa wenn sich binnenstaatliche Akteure – aus welchen Gründen auch immer – gegen Impulse von der EU-Ebene wehren (Radaelli 2003). Europäisierung kann und darf deshalb nicht als homogener Prozess betrachtet werden. Vielmehr fallen die Reaktionen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich aus, und auch zwischen den einzelnen Dimensionen der na-tionalen Politik lassen sich bedeutende Unterschiede feststellen (Börzel 2006). Europäisie-rung kann also auch Gegenläufigkeit oder Nicht-Linearität bedeuten, und aus der vorgela-gerten Handlung der Souveränitätsabgabe kann nur in begrenztem Maße auf den späteren Gestaltungswillen und -spielraum im Nationalstaat rückgeschlossen werden.

Vor dem Hintergrund allein dieser drei Bruchlinien ist wenig verwunderlich, wenn immer wieder auf die Ko-Existenz verschiedener Konzepte der Europäisierung verwiesen wird (vgl. erneut Axt/Milososki/Schwarz 2007). Ein Teil der Konzeptvielfalt geht auf un-terschiedliche Prämissen und/oder Theorieschulen zurück, ein anderer auf unterschiedliche Abbildungs- oder Erklärungsabsichten im Hinblick auf den Gegenstand. So zielen Teile der Literatur ausschließlich auf den Policy-Bereich ab, andere haben die Politics- und/oder Polity-Ebene im Blick (siehe unten).

Was bedeutet dies für die Auseinandersetzung mit einem vielschichtigen Gegenstand wie einem Regierungssystem mit der Gesamtheit seiner Strukturen und Prozesse? Die Me-thodenlehre der Politikwissenschaft weist hier auf das inverse Verhältnis von Erklärungs-reichweite und Erklärungsgenauigkeit hin. Je umfassender der von einem Konzept zu erfas-sende Gegenstand, mit desto geringerer Präzision können Erklärungen entwickelt werden (Sartori 1970). Allerdings hat das nicht automatisch zur Folge, dass für die Analyse entwe-der ein wenig spezifisches – dafür aber umfassendes – oder ein genaues – dafür aber nur auf Teilbereiche bezogenes – Konzept herangezogen werden müssen. Vielmehr besteht auch die Möglichkeit, mehrere nebeneinander stehende Konzepte mit unterschiedlicher Reichweite heranzuziehen.

Dieser Weg wird in der vorliegenden Schrift begangen, indem drei sich ergänzende Europäisierungskonzepte mit unterschiedlichen vektoralen Ausrichtungen simultan ver-wendet werden. Dieses Vorgehen bietet den Vorteil, viele einzelne Aspekte der Europäisie-rung des deutschen Regierungssystems im Hinblick auf Makroentwicklungen, Institutionen und Interaktionen in den Blick nehmen zu können. Analysen können auf der Ebene der Polity, der Politics und den Policies erfolgen. Die EU-Ebene wird gleichermaßen als Ziel und Ausgangspunkt von Europäisierungsbemühungen verstanden. Je nach Lagerung von Teilgegenständen (z.B. Parteiensystem, politische Kultur) werden jeweils einschlägige Europäisierungskonzepte verwendet, unter Abstraktion möglicher Aussagen und Hypothe-sen konkurrierender Modell. Während die Vorzüge dieses Konzept-Eklektizismus in der Nutzung vieler Perspektiven auf unterschiedliche Systemebenen bestehen, liegt ein starker Nachteil ebenfalls auf der Hand. Mit der Verwendung unterschiedlicher Modelle ist zu erwarten, dass sich bei der Analyse widersprüchliche Ergebnisse einstellen werden. Wo sie auf die Verwurzelung einzelner Europäisierungskonzepte in unterschiedlichen Denkschulen zurückgehen, muss dann im Einzelnen geprüft werden, ob und welche Prämissen die Aus-sagen gegenläufiger Hypothesen prägen.

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Trotz aller Vielfalt beruft sich die Untersuchung auf den oben bereits angedeuteten gemeinsamen Kern aller Konzepte von Europäisierung, der sich mit der begrifflichen Ver-festigung seit etwa Mitte der 1990er-Jahre verbindet. Zum einen ist damit die immer vor-handene (aber nicht ausschließlich gesetzte) Wirkungsrichtung von der EU-Ebene hin zum Mitglied- bzw. Nationalstaat gemeint, zum anderen die konzeptionelle Nähe der Europäi-sierung zu Institutionen, Prozessen und Inhalten. Bis heute gültig ist daher eine Definition von Robert Ladrech aus dem Jahre 1994, nach der Europäisierung verstehen ist als

(…) a process re-orienting the direction and shape of politics to the degree that EC political and economic dynamics become part of the organizational logic of national politics and policy-making (Ladrech 1994). Im weiteren Verlauf wurden einige von Ladrechs Setzungen von der Forschung nicht

übernommen, so der gleichgewichtige Einfluss politischer und ökonomischer Dynamiken oder die Konzentration auf die Organisationslogik. Als wegweisend erwies sich jedoch die begriffliche Festlegung auf die Wirkungsrichtung, mithin das Verständnis von Europäisie-rung als Resultante von Impulsen von der EG/EU-Ebene auf die nationalen Mitgliedstaaten. An diesem Vorschlag orientierte sich eine große Zahl der in den Folgejahren entstandenen Europäisierungsforschung, so etwa die jeweils konzeptionell und empirisch ausgerichteten Sammelbände von Cowles/Caporaso/Risse (2001), Featherstone/Radaelli (2003), Falkner u.a. (2005) oder Graziano/Vink (2006).

Auf der Basis dieser Überlegungen wird im Folgenden nicht ein einziges, sondern mehrere Europäisierungskonzepte diskutiert und den Analysen der später folgenden Kapitel zugrunde gelegt. Dabei gehe ich von der simultanen Existenz des „Misfit-Modells“ (Kap. 2.2), der „Transformationsmodells“ (Kap. 2.3) sowie des „Makroprozessmodells“ (Kap. 2.4) aus. Sie werden nun als Abfolge von Kritikrunden dargestellt, wobei die jeweils später erläuterten Modelle auf Blindstellen der vorangegangenen reagieren. Dies geschieht vor-rangig, um den inneren Zusammenhang der drei Konzepte aufzuzeigen. Nochmals: Eine pauschal bessere Eignung des zuletzt erläuterten Modells sollte daraus indes nicht abgelei-tet werden. Darüber entscheiden vielmehr empirisch vorfindbare Situations- und Kontext-bedingungen, die zum Abschluss des Kapitels diskutiert werden.

2.2 Das Misfit-Modell: Europäisierung als EU-induzierter Adaptionsprozess

Der größere Teil der Europäisierungsforscher verwendet – trotz einiger Vorläufer letztlich beginnend mit Risse/Cowles/Caporaso (2001) – ein Grundmodell der Europäisierung, wel-ches im misfit zwischen nationalstaatlicher und EU-Ebene den zentralen Parameter für den Charakter des innerstaatlichen Wandels aufgrund EU-Einflusses sieht (siehe Abbildung 1). Der Begriff des misfit steht für die Passfähigkeit der nationalen Strukturen angesichts des Europäisierungsdrucks: je geringer die Passfähigkeit, desto größer der Druck auf die inners-taatlichen Strukturen zur Adaption.

Abbildung 1: Grundmodell des Misfit-Konzepts

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(1) Europäisie-

rungsprozesse

(2) „Passfähigkeit“ („misfit“) zwischen Europäisierung

und innerstaatlichen Strukturen = Adaptions-

druck

(3a) Intermediäre Institutionen

(4) Innerstaat-

licher Wandel

(3b) Akteursprak-

tiken

Quelle: Risse/Cowles/Caporaso (2001: 6).

Im Rückblick wies das Ausgangsmodell in dieser Grundfassung bemerkenswerte Schwächen auf. Erstens irritierte die Verwendung des Begriffs der Europäisierung für den Beginn des Prozesses. Europäisierung schien damit zugleich die Ausgangsbedingung und den gesamten Prozess zu bezeichnen. Zweitens beschränkte sich der innenpolitische Wan-del, wenn die Begriffe in den Feldern (2) und (4) beim Wortlaut genommen wurden, auf innerstaatliche Strukturen, nicht jedoch auf die ebenfalls wichtigen politischen Prozesse. Und drittens erschien in Feld (3) die Opposition von intermediären Institutionen, also ge-sellschaftlichen Organisationen, und den Praktiken von Akteuren als eklektisches Artefakt ohne hinreichende systematisierende Aussagekraft.

Dennoch erwies sich die Vorlage als fruchtbar. Durchgesetzt hat sich die Konzipie-rung unter der Bezeichnung als „Top-Down-Modell“ (siehe vorher bereits Knill/Lehmkuhl 1999), wobei die oben vorgestellte Kernidee von Ladrech nicht nur beibehalten, sondern konsequent weitergedacht wurde. Der zusätzliche Schritt des Top-Down-Modells besteht in der Frage nach den Bedingungen für die Einflechtung von EU-Impulsen in die nationals-taatlichen Prozesse und Institutionen. Nur wenn sich die Einflüsse von der EU-Ebene inso-fern mit nationalen Gegebenheiten als inkompatibel erweisen, dass Handlungen, Regeln oder Strukturen angepasst werden müssen, kommt es überhaupt zu Europäisierung. In ge-wisser Weise wird die Passfähigkeit im Top-Down-Modell damit systematisch als Defizit der nationalstaatlichen Ebene verstanden. (Selbstverständlich handelt es sich nicht um ein normatives, sondern um ein funktionales Defizit.) Europäisierung wird notwendig, wenn nationale Gegebenheiten nicht zur EU-Ebene passen. Geht es Akteuren der nationalstaatli-chen Ebene darum, anders herum auf der EU-Ebene Änderungen im Sinne der National-staaten herbeizuführen, handelt es sich um europäische Integration, nicht um Europäisie-rung.

Europäisierung in diesem Sinn ist daher auch eng mit Compliance, d.h. Regelgehor-sam im Hinblick auf Entscheidungen der EU-Ebene, verbunden. Dieser Gehorsam kann durchaus nicht immer als erzwungen gelten, sondern aus der zweckrationalen Sicht von nationalen Regierungen durchaus erwünscht sein (Börzel 2001; Börzel 2002a). Das gilt besonders für zwei Typen von Entscheidungen. Erstens können sich von der EU kommende neue Regeln – Richtlinien, Verordnungen, usw. – auf Materien beziehen, die einzelne Na-tionalstaaten selbst nicht (mehr) regeln können. Die EU-Ebene wird dann zum funktionalen Ersatz für nationales Handeln. Zweitens kann es sich auch um Beschlüsse handeln, die einzelne Regierungen allein im binnenpolitischen Rahmen nicht durchsetzen können und daher „über Bande“ auf der EU-Ebene herbeiführen (vgl. Putnam 1988). Im ersten wie im

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zweiten Fall entsprechen dann die Bedingungen der Regelbefolgung in etwa den Erforder-nissen bei der Implementation nationaler Beschlüsse: Bestimmte – im legalen Sinn legitime – Mehrheitsverhältnisse führen zu Entscheidungen mit Bindungswirkung für alle, und nachgeordnete Ebenen sind zur Ausführung dieser Entscheidungen verpflichtet.

Jenseits dieser zwei Entscheidungstypen gilt jedoch das Defizitmodell. Je größer der misfit, desto höher der Druck zu innerstaatlichem Wandel. Ohne diesen Druck würden die heimischen politischen Akteure annahmegemäß nicht tätig; jedenfalls fielen die dann vor-angetriebenen Beschlüsse nicht mehr unter das Phänomen der Europäisierung. Damit haftet dem Misfit-Modell die systemische Eigenschaft an, politische Gestaltungsfähigkeit in ge-wisser Weise auszublenden. Handlungsfähigkeit auf der Makro- bzw. der EU-Ebene wird dem Phänomen der europäischen Integration zugewiesen, Europäisierung ist beschränkt auf die Reaktionsfähigkeit der nationalen Ebene.

Unter welchen Bedingungen und mit welchen Regelmäßigkeiten erfolgen jedoch bin-nenstaatliche Reaktionsprozesse? Misfit, oder fehlende Passfähigkeit, stellt lediglich eine notwendige Bedingung innerstaatlichen Wandels dar. Veränderungen in der nationalen Politik können indes erst entstehen, wenn weitere „hinreichende“ innerstaatliche Bedingun-gen das Veränderungspotenzial auch zur Entfaltung kommen lassen. Auf diesen Problem-komplex richtet sich eine Fortentwicklung des Misfit-Modells, das von Tanja Börzel und Thomas Risse in Anlehnung an das Grundmodell erarbeitet wurde und in Abbildung 2 dar-gestellt wird (vgl. Börzel/Risse 2003). Abbildung 2: Bereinigung des Modells – Europäisierung als EU-induzierter

Adaptionsprozess

„Passfähigkeit“ („misfit“) zwi-schen Europäi-sierung und innerstaatlichen Strukturen (= Anpassungs-druck)

Institutionen und Akteure reagieren auf Ge-legenheitsstrukturen: Zahl von Vetopositionen Passfähige formale Institutionen

Redistribution institutioneller Ressourcen

Innerstaatlicher Wandel im Hinb-lick auf: Polity Politics Policies

Normen und Ideen lösen Wandel aus: Norm-Unternehmer Passfähige informale Institutionen

Soziales Lernen, Norminternalisierung, Identitätsensentwicklung

Nach: Börzel/Risse (2003: 69).

Wie leicht zu erkennen ist, handelt es sich um eine Bereinigung und Differenzierung

des Modells aus Abbildung 1: Der Begriff der Europäisierung wird wieder für den gesam-ten Prozess reserviert, der innerstaatliche Wandel in erheblich erweiterter und differenzier-ter Form gefasst, und die zusätzlich zum Misfit für den innerstaatlichen Wandel notwendi-gen Bedingungen werden als „ermöglichende Faktoren“ (Börzel/Risse 2003: 63) ausbuch-stabiert und entlang einer wichtigen theoretischen Bruchlinie zwischen soziologischem und rationalistischem Institutionalismus (siehe entsprechend March/Olsen 1989; North 1992) differenziert. Damit gehen die Autoren von einem Institutionenverständnis aus, in dem Regeln auch auf informale Institutionen zurückgehen können und so das Handeln politi-

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scher Akteure in ähnlicher Weise beschränken wie formale Institutionen. Innerstaatlicher Wandel kann sich dadurch auch in der ideellen Dimension abspielen, was eine weitere Neuerung gegenüber dem Grundmodell darstellt. Allerdings ergibt sich modellgemäß auch die Diffusion von Normen und Ideen nur in eine Richtung, nämlich von der EU-Ebene zum Nationalstaat.

Durch seine Differenzierungsfähigkeit im Hinblick auf unterschiedliche Dimensionen sowie durch seine theoretische Grundierung stellt das fortentwickelte Misfit-Modell ein leistungskräftiges Instrument zur Konzipierung nationalen staatlichen Wandels als Reaktion auf Impulse der EU-Ebene dar. Auch in der erweiterten Fassung entkommt das Modell indes nicht den kritischen Nachfragen nach seiner empirischen Relevanz. Konzipiert wer-den die Grunddeterminanten binnenstaatlicher Anpassungsprozesse, nicht jedoch deren Wahrscheinlichkeit. Dabei handelt es sich um eine empirische Frage: Je mehr EU-Entscheidungen aus sachgerechten Gründen auf der EU-Ebene getroffen werden, desto häufiger ist das Misfit-Modell als einschlägig anzusehen. Überall dort, wo der transnationa-le Rahmen die funktional adäquate Ebene darstellt (z.B. bei der Bekämpfung transnationa-ler Kriminalität oder im Hinblick auf die Funktionsweise des Binnenmarktes), ist die natio-nale Ebene in der Tat als – ihrerseits komplexes – Reaktions- und Ausführungsorgan anzu-sehen.

Zur entscheidenden Frage wird dann allerdings, inwiefern die mitgliedstaatliche und die EU-Ebene als getrennt angesehen werden dürfen. Lassen sich die EU-Ebene und die nationale Ebene so kategorisch trennen, wie das Modell suggeriert? Entscheidungen der EU-Ebene entstehen, selbst wenn sie von der Kommission vorbereitet werden, fast immer unter Beteiligung des Ministerrates, in dem die später für die nationale Umsetzung zustän-digen Regierungen vertreten sind. Auch wenn sich die Anzeichen für häufigere Durchfüh-rung von Mehrheitsentscheiden mehren (Hix 2005: 87-89), gilt dort – und natürlich erst recht im stets einvernehmlich entscheidenden Europäischen Rat – noch immer das Prinzip des konsensualen Entscheidens (Hayes-Renshaw/Wallace 2006).

Insofern stellt sich nicht nur die Frage, welche formalen und informalen Institutionen das Ausmaß und den Charakter binnenstaatlichen Wandels beeinflussen. Zusätzlich muss zur Debatte stehen, unter welchen Bedingungen Regierungen in der Brüsseler Verhand-lungsarena überhaupt so weit gehen, einen später entstehenden Misfit in Kauf zu nehmen. Dabei wird relevant, welche Akteure und Instanzen sich an der Existenz des europäischen Policy-Zyklus orientieren. Wie sich im Verlauf der Analyse des deutschen Regierungssys-tems zeigen wird, sind hierbei die Gewichte sehr unterschiedlich verlagert. Teile der Bun-desregierung und Interessengruppen sind in ihrem Wirken bereits recht stark auf die EU-Dimension der nationalen wie transnationalen Politik geeicht. Die Parteien, der Bundestag, aber auch die politische Öffentlichkeit nehmen Brüssel sowie erst recht Luxemburg (EuGH) und Straßburg (EP) lediglich als periphere Bestandteile des deutschen politischen Systems wahr.

Während diese inhaltlichen Aspekte in den folgenden Kapiteln diskutiert werden sol-len, bleiben an dieser Stelle jedoch die konzeptionellen Implikationen relevant. In mehrerlei Hinsicht erscheinen die Fundamente des Misfit-Modells bedroht. Erstens erscheint wenig plausibel, dass im einem iterativen Verhandlungsspiel die Regierungen dauerhaft – im Sin-ne des Two-Level-Game – mit verdeckten Präferenzen agieren, um binnenpolitisch nicht durchsetzbare Entscheidungen auf die EU-Ebene zu verschieben. Zweitens können Regie-rungen von Mitgliedstaaten Entscheidungen in Brüssel so lange blockieren, bis die Resulta-

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te mit dem übereinstimmen, was dieselben Regierungen auch ohne EU-Ebene entschieden hätten. Die meisten einschlägigen Studien gehen von der determinierenden Rolle der EU-Regierungen im Ministerrat und damit insgesamt im Entscheidungsprozess der EU aus (Mattila 2004; Pajala/Wildgren 2004; Hix 2005; Hayes-Renshaw/Wallace 2006). Mangels eines demos der EU stützen sich die Regierungen in ihrem Legitimationsbestreben haupt-sächlich auf die nationalen Bevölkerungen (Kielmannsegg 2003) und sollten daher annah-megemäß nur unter in Ausnahmefällen solche Ratsentscheidungen zulassen, die stark von ihren individuellen Präferenzen abweichen. Wenigstens bei den „wichtigen nationalen Interessen“, bei denen seit dem Luxemburger Kompromiss 1966 von jedem Staat eine kon-sensuale Entscheidung eingefordert werden kann, ist dies in der EU kaum je der Fall gewe-sen.

Dies gilt drittens besonders in solchen Bereichen, in denen eine substantielle (Teil)-Zuständigkeit der Mitgliedstaaten nach wie vor gegeben ist und sich der Charakter einer EU-Entscheidung ohne determinierenden Einfluss der supranationalen Institutionen ergibt. Wenn politische Konflikte innerhalb von Mitgliedstaaten oder im Rat zwischen deren Re-gierungen bestehen, ist die Bereitschaft zur Hinnahme von binnenpolitischen Compliance-Problemen nicht sehr wahrscheinlich. Bevor Mitgliedsregierungen sich auf verlangsamende und sanktionierbare Reaktionen auf Vorgaben aus Brüssel einlassen, gilt der Modus „Wei-terverhandeln“ immer noch als weniger unattraktive Alternative.

Alle drei Einwände schränken den Anwendungsbereich des Misfit-Modells ein, ohne es jedoch gleichzeitig unbrauchbar zu machen. Die Gefahr der Unterkomplexität ergibt sich lediglich dann, wenn das Misfit-Modell als einzig denkbares Europäisierungsmodell vor-ausgesetzt wird. Non-lineare Prozesse können mit ihm nicht erfasst werden. Bei der Wir-kungsanalyse von Entscheidungen dagegen, deren gleichermaßen legaler und legitimer Standort die EU-Ebene darstellt, gibt es keinen Grund für prinzipiellen Zweifel am Misfit-Modell. In seinem Erklärungsbereich liegen dann solche Prozesse innerstaatlichen Wan-dels, in denen die hemmenden Faktoren für das Entstehen eines misfit nicht bestehen oder außer Kraft gesetzt sind. Die Entscheidung für das Top-Down-Modell fällt demzufolge in der intergouvernementalistischen Denkschule der Integrationsforschung (z.B. Hoffmann 1966; siehe Bieling/Lerch 2005) leichter als in dem Zweig, der von der Existenz eines ge-meinsamen Verhandlungsraums mit der Tendenz zu problemlösendem Verhalten ausgeht (z.B. Neyer 2004; siehe Nölke 2005). Trotz der Öffnung des Modells für Ideen und Nor-men steht dadurch hinter dem Top-Down-Modell ein dezidiert rationalistisches Grundver-ständnis der Europäischen Integration.

2.3 Transformationsmodell: Europäisierung als Zusatzbedingung des nationalen

politischen Prozesses

Das Top-Down-Modell konzipiert die nationalstaatliche Ebene als abhängige Variable, deren Ausprägung von Prozessen auf der europäischen Ebene abhängt. Der Misfit wird als Auslöser innerstaatlichen Wandels konzipiert; allerdings ist eine systematische Betrachtung der nationalstaatlichen Ebene erst am Ende des Europäisierungsprozesses vorgesehen. Da-durch schenkt das Modell der Frage wenig Aufmerksamkeit, inwiefern sich der spezifische Einfluss der EU-Ebene auf innerstaatlichen Wandel bestimmen lässt. Strukturen und Out-puts in Nationalstaaten gehen schließlich nicht allein auf Europäisierung zurück, sondern

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erfolgen auch aufgrund anderer, z.B. genuin nationalstaatlicher oder globaler, Prozesse. Es gilt mithin, „dem Problem der Multikausalität gerecht zu werden“, um „systematisch kon-kurrierende Erklärungen berücksichtigen“ zu können (Eising 2003: 409). Die überzeugend-ste Sichtweise, welche die unterschiedlichen Dimensionen des Einflusses auf nationalstaat-liche Politik berücksichtigt, ist mit der „Bottom-Up“-Perspektive verbunden (Radaelli 2003: 50-52). In einer späteren Schrift hat erneut Claudio Radaelli das Gegenstück zur Top-Down-Sichtweise als „Ansatz“ charakterisiert:

The bottom-up approach (…) starts and finishes at the level of domestic actors. The idea is to start from actors, problems, resources, policy styles, and discourses at the domestic level (…). A bottom-up-approach checks if, when, and how the EU provides a change in any of the main components of the system of interaction (Radaelli/Pasquier 2006: 41). Damit determiniert zunächst und vielleicht sogar in erster Linie der binnenpolitische

Prozess die Entwicklung des politischen Systems. Auf die verschiedenen Bestandteile des binnenpolitischen Prozesses in den verschiedenen Dimensionen des Systems wirken jedoch externe Einflüsse ein, und zwar unter anderem in Form europäischer Politik.

Weniger überzeugend erscheint allerdings die Charakterisierung des Ansatzes als „Bottom-Up“. Wenn die politischen Prozesse auf der Ebene der binnenstaatlichen Akteure „beginnen und enden“, ist eine Dichotomie zwischen oben und unten wenig überzeugend. Letztlich rückt die Konzeption den nationalstaatlichen Prozess unter besonderer Berück-sichtigung externer europäischer und globaler Einflussfaktoren ins Zentrum. Sie führt in einfacher Form zu einem Modell nicht im Sinne von Bottom-Up, sondern im Sinne einer Transformation zwischen zwei Zeitpunkten t0 und t1 (siehe Abbildung 3). Abbildung 3: Transformationsmodell der Europäisierung (Grundmodell) Zeitpunkt t0: Akteure, Probleme, Ressourcen, Politikstile, Diskurse

Zeitpunkt t1: Akteure, Probleme, Ressourcen, Politikstile, Diskurse

Mit diesem Modell wird Europäisierung als Ursache innerstaatlichen Wandels in den

Status einer Variablen unter mehreren gesetzt. Hinzu kommen zunächst die Akteure, Prob-leme, Ressourcen, Politikstile und Diskurse der nationalen Ebene. Neben der nationalen und der EU-Ebene sind jedoch noch zwei weitere geographische Dimensionen von Bedeu-

Politische Prozesse auf EU-Ebene

Binnenpolitische Prozesse

Iteration/Feedback

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tung. Erstens beschreibt die Integrationswissenschaft die enge Verbindung von Globalisie-rung und Europäisierung (z.B. Rosenau 2000). Häufig werden dabei die Prozesse der Glo-balisierung und Europäisierung nebeneinander gesetzt und in ihrer Wirkung parallel analy-siert (Schmidt 2002). Europäisierung wird dann letztlich als ein Sonderfall der Globalisie-rung gesehen, und zwar sowohl im Hinblick auf deren wirtschaftliche wie auch deren kultu-relle bzw. kommunikative Funktion (Winter 2000; Scholte 2005b). Zweitens wird in der europäischen Politik eine zunehmend relevante regionale Komponente ausgemacht. Nicht mehr nur durch hierarchische Herrschaftsausübung, sondern zunehmend durch Regieren in Netzwerken mit subnationalen Akteuren und Einflussbeziehungen verändern sich nach dieser Lesart die Prozesse und Strukturen im Rahmen der Europäisierung (Conzel-mann/Knodt 2002; Benz 2003). Auf den binnenpolitischen Prozess wirkt daher neben der europäischen und der globalen auch eine regionale Dimension ein.

Alle drei Dimensionen üben einen isolierbaren Einfluss auf nationale Politik aus, kön-nen aber – je nach Politikfeld und Problembereich – auch miteinander verflochten sein. Damit ergibt sich in einem erweiterten Transformationsmodell eine trias räumlicher Kon-texte. Binnenstaatliche Politik wird zunächst in einem traditionalen Sinn durch nationale Akteure im Rahmen von nationalen Institutionen vorangetrieben. Im Europa des beginnen-den 21. Jahrhunderts ist der nationalstaatliche Raum jedoch nicht mehr begrenzt, sondern in eine Vielfalt regionaler und transnationaler Prozesse eingebettet (siehe z.B. Zürn 1998). Europäisierung als einer dieser Einflüsse auf den nationalstaatlichen Prozess lässt sich zwar prinzipiell isolieren, muss jedoch als Bestandteil klein- und großräumiger Entwicklungen gedacht werden. Diese Überlegungen haben auch bei Radaelli und Pasquier im Hintergrund gestanden:

One way to avoid pre-judging the role of Europeanization is to specify alternative hypotheses (such as globalization, or domestic politics) (...) There has been more debate on how to specify mechanisms of Europeanization than on the mechanisms at work in rival alternative hypotheses (Radaelli/Pasquier 2006: 40). In der um räumliche Kontexte erweiterten Grundform ist das Transformationsmodell

damit in der Lage, den spezifischen Einfluss der EU-Ebene gegen alternative Einflussfakto-ren abzugrenzen. Kann es jedoch auch die im Misfit-Modell erarbeiteten Mechanismen der Europäisierung wiedergeben? Auch an dieser Stelle erscheint es notwendig, den Vorschlag von Radaelli und Pasquier zu spezifizieren. Zunächst kann der besseren Systematik wegen an die Stelle der Auflistung von „actors, problems, resources, policy style, discourses at the domestic level“ – so die Definition der Autoren – das politische System treten. Dadurch wird auf Diskurse und überhaupt die ideelle Dimension von Politik ein sicherlich geringerer Wert gelegt als von den Autoren intendiert. Im Gegenzug kann allerdings der politische Prozess im Sinne systemischen Denkens (Easton 1965) an funktionale Notwendigkeiten gebunden werden, und die politischen Outputs werden als Folge von unterschiedlicher In-puts in das binnenpolitische System gesehen. Diese Inputs müssen keineswegs ausschließ-lich materieller Art sein, sodass Ideen und Diskurse als (eine) Grundlage von Entschei-dungsprozessen und Politikinhalten keineswegs ausgeblendet werden.

Der politische Prozess ist damit als komplexe Interaktion von (jeweils mehreren) Ak-teuren und Institutionen mit dem Ziel der Erreichung bestimmter politischer Ergebnisse zu begreifen. Die gleiche Komplexität des Analyserasters ist auch im Hinblick auf den Prozess der Europäisierung anzustreben. Diese kann mit geringer Eingriffstiefe dadurch erreicht

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werden, dass die verschiedenen Mechanismen der Europäisierung des Modells von Bör-zel/Risse auch in das Transformationsmodell eingefügt werden – damit werden im Prozess der Europäisierung a) Normen und Ideen, b) Institutionen und c) Akteure als systematische Kontextfaktoren begriffen (siehe Abbildung 4). Abbildung 4: Erweitertes Transformationsmodell

Interdependenz

Politischer Prozess

Europäisierung

Akteure

Institutionen

Normen und Ideen

Räumliche Kontexte Systemische Kontexte

Nationales politisches System zum Zeitpunkt t1

Nationales politisches System zum Zeitpunkt t0

Globale D

imension

EU-D

imension

Regionale D

imension

Iteration/Feedback

Das erweiterte Transformationsmodell sieht Europäisierung damit als Phänomen, wel-

ches über zwei Hauptebenen – Nationalstaat und EU – zu erfassen ist. Die politischen Pro-zesse gehen vom Nationalstaat aus, und der europäische politische Prozess stellt eine Kon-textbedingung dar, was in zweierlei Hinsicht zu spezifizieren ist:

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Erstens bildet die EU-Dimension nicht den einzigen räumlichen Kontext zur nationa-len Politik, sondern sie wird durch regionale und globale Politik komplementiert. In-wiefern die EU zu einer eigenständigen Variable zur Beeinflussung des binnenpoliti-schen Prozesses wird, ist somit eine empirische Frage. Bei primär binneneuropäischem Problemdruck und bei mehr oder weniger vorhandenen Kapazitäten zu autonomer Problemlösung – z.B. in der Telekommunikations- oder Verkehrspolitik – kann der eu-ropäische politische Prozess als eigenständige unabhängige Variable in Abgrenzung zum nationalstaatlichen Prozess untersucht werden. Sind dagegen globale Problemho-rizonte zu beachten und existieren relevante Institutionen jenseits der EU – z.B. in der EU-Handelspolitik – kommt der EU eher der Status einer intervenierenden Variable zu; als eigentliche Triebkraft der binnenpolitischen Veränderung sind dann globale po-litische Prozesse zu sehen.

Stellt Europäisierung nach Abschluss einer solchen Überprüfung einen relevanten (und isolierbaren) Einflussfaktor dar, stellt sich zweitens die Frage nach deren Charakter. Die oben skizzierten Elemente zur Konditionierung des EU-politischen Prozesses – Akteure, Institutionen, Ideen und Normen – stellen aus Sicht der nationalen Akteure eher Kontexte denn als Bestandteile des politischen Prozesses dar, weil ihr Einfluss sowohl auf Kommission und EP wie auf die Regierungen im Rat legal und faktisch begrenzt ist.

Gegenüber dem Misfit-Modell stellt das Transformationsmodell vor allem deshalb einen erweiterten Ansatz dar, weil es sich zur Analyse einer erweiterten Anzahl von Europäisie-rungseffekten auf binnenstaatliche Politik eignet. Bei den allermeisten gesetzesähnlichen Vorhaben der EU ist die nationale Ebene insofern formal beteiligt, als nationale Regierun-gen als Verantwortliche gegenüber ihren Parlamenten und Öffentlichkeiten gelten. Insofern ist das Transformationsmodell als einschlägig zu sehen, sobald eine Entscheidung wenigs-tens formal den gesamten binnenstaatlichen Policy-Zyklus durchläuft. Das gilt nicht bei Verordnungen und Entscheidungen, die die Kommission formal selbständig erlässt, aber generell bei Richtlinien und den vielen Entscheidungsarten der zweiten und dritten Säule, bei denen die Gemeinschaftsinstitutionen nur schwach beteiligt werden und den Regierun-gen daher eine starke Rolle zukommt.

Ähnlich wie beim Misfit-Modell müssen jedoch auch hier Einschränkungen mit Blick auf die Empirie der europäischen Entscheidungsfindung gemacht werden. Erstens ist eine hohe Modellkomplexität zu konstatieren, was die Anwendbarkeit für konkrete empirische Situationen erschwert – ein klarer Nachteil gegenüber dem Misfit-Modell. Zweitens sind die Möglichkeiten nationaler Gesetzgeber auf die konkrete Erarbeitung eines Beschlusstex-tes in Brüssel im Modell eng begrenzt. Dadurch schwingt das Theorem der Unbeeinfluss-barkeit europäischer politischer Prozesse mit: Zum Beginn des binnenstaatlichen politi-schen Prozesses und während seiner Durchführung stehen die Institutionen, Akteure und Ideen der EU-Ebene in gewisser Weise außerhalb des nationalen Einflussbereiches. Dies ist – in Analogie zum Misfit-Modell – letztlich darauf zurückzuführen, dass auch im Trans-formationsmodell eine lineare Wirkungsrichtung europäischer Impulse unterstellt wird. Es existiert kein Pfeil vom nationalen politischen System in Richtung des geographischen Kontextfeldes „EU“. Finden entsprechende Einflüsse statt, handelt es sich aus der Sicht beider Modelle um europäische Integration, nicht um Europäisierung.

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2.4 Europäisierung als Makroprozess

Damit schließen die zwei bisher vorgestellten Modelle die Möglichkeit aus, Europäisierung im Sinne der Europa-Werdung als Herausbildung eines gemeinsamen institutionellen oder ideellen Raums zu konzipieren. In Kap. 2.1 wurde dieses Problem unter dem Etikett der monovektoralen Sichtweise diskutiert, die zugunsten einer vielfältigen Perspektive auf Prozesse der Europäisierung aufzugeben sei. Argumente hierfür finden sich jedoch nur auf der konzeptionellen, sondern auch auf der inhaltlichen Ebene. Eine der gängisten Definitio-nen der europäischen Integration zielt auf die Ausrichtung von „Loyalitäten, Erwartungen und politischen Aktivitäten auf ein neues Zentrum“ (Haas 1968: 16). Das Konzept der In-tegration ist demnach für einen dynamischen Prozess reserviert. Es stellt sich allerdings die Frage, inwiefern nicht viele Elemente der EU-Polity als geronnene – d.h. vergangene – Integration begriffen werden müssen. Mit der Ausformung des „Mehrebenensystems“ hat der Begriff der Integration zunehmend eine historische Dimension erhalten. Entsprechend wurden und werden etwa seit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 Verschiebun-gen von der nationalen zur EU-Ebene weniger als „Integration“ denn als „Vertiefung“ titu-liert.

Was findet also statt, wenn heute auf EU-Ebene Politik betrieben wird? Europäische Integration als Vertiefung findet sicherlich noch statt, etwa wenn der Verfassungsprozess betrachtet wird. Der Verfassungskonvent hat eine ganze Reihe institutioneller und prozedu-raler Mechanismen erarbeitet, die die EU-Ebene gegenüber der Nationalstaaten stärken (vgl. Kleger 2004; Jopp/Matl 2005). Handelt es sich jedoch auch um Integration bzw. Ver-tiefung, wenn auf EU-Ebene eine umfangreiche Richtlinie verhandelt und beschlossen wird? Die Intuition gebietet eher, in diesen und ähnlichen Fällen von einer gewöhnlichen politischen Entwicklung oder einem politischen Prozess zu sprechen. Ein Teil der Europäi-sierungsliteratur bezeichnet nun solche politischen Entwicklungen im Zwischenraum zwi-schen nationaler und EU-Ebene ebenfalls mit Terminus der Europäisierung. Als zunehmen-de Orientierung politischer Prozesse an gemeineuropäischen Determinanten wird damit eine weitere „Dimension“ der Europäisierung angesprochen:

Europeanization is a process of institutionalization in which new rules and new ways of thinking evolve (…) Europeanization can thus be studied as the emergence of new rules of the game that will structure the policy processes at the European level and the domestic level (Mörth 2003: 159). Wenn politische Akteure auf EU-Ebene sich an europäischen Meinungsumfragen

orientieren, wenn in der Außen- und Sicherheitspolitik zunehmend eine gemeinsame Pers-pektive den Horizont bestimmt, wenn in der Regional- und Agrarpolitik die Verteilungsas-pekte von EU-Politik erörtert werden – in all diesen Fällen können wir eine Europa-Werdung beobachten, die weder mit dem Terminus der (historisch belegten) Integration noch mit demjenigen der (institutionell orientierten) Vertiefung adäquat abgedeckt ist. Der Europäisierungsbegriff bezieht sich demgegenüber (auch) auf politische Prozesse, bei de-nen über eine gewisse Zeit hinweg eine nicht-institutionelle Verschiebung von der nationa-len (oder regionalen) Ebene hin zur EU ergeben hat. Politische Prozesse „europäisieren“ sich in dieser Bedeutungsdimension mit anderen Worten dann, wenn sich die Kontexte oder Frames politischen Handelns in Richtung der EU-Ebene verschieben, ohne dass die institu-tionelle Basisstruktur sich ändert.

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Wird allerdings diese Europäisierungsdimension akzeptiert, dürfen Rückwirkungen von der nationalstaatlichen auf die EU-Ebene nicht mehr ausgeblendet werden. Vielmehr liegt der Akzent gerade darauf, dass sich vorher getrennte Ideen-, Wert- und Sprachräume, aber auch Institutionen- und Handlungsräume zunehmend aneinander orientieren. Einige Autoren haben diesen Prozess als Zweibahnstraße bezeichnet ("two-way-street", Bom-berg/Peterson 2000). Auch diese Metapher trifft den Gedanken jedoch nur teilsweise. Euro-päisierung als Europa-Werdung findet nicht als Summe linearer Adaptionsprozesse statt, sondern durch die Verwebung europäischer politischer Prozesse, die wechselseitig aufei-nander einwirken (können). Durch die Vielzahl beteiligter Systemebenen handelt es sich um einen Makroprozess, der auf die verschiedenen Instanzen des politischen Systems un-mittelbar ausstrahlt. Abbildung 5: Europäisierung als Makroprozess

Europäisierung des binnenpolitiscProzesses: EU-Dimension als domi-nante Einflussvariable

hen

Globalisierung des binnenpolitischen Prozesses: globale Dimension als domi-nante Einflussvariable

Europäisierung des binnepolitischen Prozesses: EU-Dimension stark durch glo-

n-

bale Dimension beeinflusst nationalstaatlicher politischer Prozess

europäischer politischer

Prozess

globaler politischer

Prozess

Durchdringung von globaler und europä-ischer Dimension ohne Auswirkung auf dnationalstaatliche Ebene

ie

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Den zentralen theoretischen Baustein für einen solchen Modellaufbau liefert der So-zialkonstruktivismus, nach dem die wechselseitige Aufeinanderbeziehung von Wert- und Normhorizonten zu einer Rekonstruktion der sozialen Realität führt (grundlegend Searle 1997). Eine Definition der Europäisierung unter sozialkonstruktivistischen Prämissen enthält deswegen Elemente der a) Konstruktion, b) Diffusion und c) Institutionalisierung von (formalen und informalen) Institutionen, Stilen und Normen (Radaelli 2003: 30). Die Definition zielt auf die kognitive Komponente von Politikentstehung ab. Nicht mehr ledig-lich die organisationelle Logik wie bei Ladrech, sondern auch deren diskursive und soziale Grundlagen sind betroffen, wenn formelle und informelle Prozeduren sowie geteilte Glau-bensnormen das Phänomen der Europäisierung ausmachen. Wenngleich der Anstoß für Europäisierung formal nach wie vor von der EU ausgeht, besteht keine Hierarchie mehr zwischen den beiden Ebenen. Graphisch lässt sich dieser Zusammenhang mit drei Kreisen abbilden, die jeweils nationalstaatliche, europäische und globale politische Prozesse darstel-len (siehe Abbildung 5).3

Wo sich die drei Kreise überschneiden, wirken die Prozesse aufeinander ein und kön-nen dabei eine große Anzahl dynamischer Entwicklungen auf der Meso- und Mikroebene in Gang setzen. Im Feld der Überschneidung von binnenpolitischen und europäischen politi-schen Prozessen ergibt sich das Phänomen der Europäisierung. Dabei wird nach wie vor die Existenz einer Wirkungsrichtung von der nationalen auf die EU-Ebene unterstellt.4 Eine in den bisherigen Modellen nicht enthaltene Implikation lautet jedoch, dass die umgekehrte Wirkungsrichtung mitgedacht werden muss und konstitutiv für das Modell ist.

Die Repräsentation des Modells lautet somit, dass durch vorgeschaltete Prozesse auf der EU-Ebene in den Mitgliedstaaten der EU eine neue Basis für innerstaatliche Politik entsteht. Im Sinne des soziologischen Konstruktivismus (Katzenstein 1996; Checkel 2001b) führen so dauerhafte externe Einflüsse auf (nationalstaatliche) politische Prozesse nicht zu bloßen Reaktion im Sinne von stimulus and response. Sie bewirken vielmehr eine mindes-tens teilweise Internalisierung der normativen Grundlagen für Politik. Politische Akteure und die sie legitimierenden Gesellschaften befinden sich in diesem Denkmodell durch die europäische Integration in einer Phase sozialen Lernens, während derer sich im Grunde die Gesamtheit des politischen Prozesses an die EU-Ebene anpasst (ohne jedoch mit ihr zu verschmelzen).

Werden diese Implikationen ernst genommen, kommen selbstredend weitere Theore-me konstruktivistischen Denkens ins Spiel. Normen und Werte werden in dieser Denkschu-le nicht als abhängige Variablen verstanden, deren Ausprägungen sich allein aufgrund einer externen Dynamik adaptiv anpassen. Als intersubjektive Phänomene sind Wissens- und Wertediffusion als Prozesse der Wechselwirkung zwischen den Ebenen zu begreifen. Auf der einen Seite bedeutet dies, dass sich mit dem Feld der Europäisierung für den soziologi-schen Sozialkonstruktivismus ein besonders geeignetes Forschungsfeld eröffnet hat (Chris-tiansen/Jorgensen/Wiener 2001a: 7). Auf der anderen Seite impliziert die Öffnung des Konzepts für intersubjektive und interdependente Elemente auch eine non-lineare Kons-truktion des Europäischen selbst. Sie betrifft die EU-Bürger verschiedener Nationalitäten,

3 Die Grundidee zur graphischen Abbildung des Modells stammt von Nadège Ragaru. Für eine Anwendung siehe Ragaru in Bafoil/Beichelt (2007). 4 Umgekehrt wäre es allerdings möglich, bei der Beschriftung die umgedrehte Perspektive der Nationalisierung der EU-Dimension anzugeben.

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ihre jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Eliten sowie die EU-Eliten in den Ge-meinschaftsinstitutionen. Was in den Fokus rückt, sind „Rekontextualisierungen“, mit de-nen „'Policy-Inputs' der EU (...) mit Hilfe bestehender Rechtsnormen, Policy-Muster, Dis-kurse und Handlungsroutinen einer nationalen politischen Kommunkationsgemeinschaft adaptiert und reformuliert“ werden (Kutter/Trappmann 2006: 16).

Als Makroprozess bewirkt Europäisierung also in vielen unterschiedlichen Dimensio-nen Änderungen nationalstaatlicher Politik. Wie diese Änderungen ausfallen, wird von Akteuren erlebt und entschieden, die einerseits nicht mehr nur Teil des nationalen, sondern eben auch eines transnationalen (EU-)Rahmens sind. Andererseits werden weniger die Um-stände der Entstehung von EU-Politik, sondern die Orientierung der Akteure an (nationalen und europäischen) Präferenzordnungen und Rahmenbedingungen untersucht, um die letz-tlich entstehenden Outputs und Outcomes in den Nationalstaaten zu erklären.

2.5 Die Gegenvektoren: Europa- und EU-Strategie

Gehen im europäischen politischen System Impulse von der EU-Ebene in Richtung der Mitgliedstaaten aus, sprechen wir von Europäisierung. Die umgekehrte Wirkungsrich-tung, d.h. von den Nationalstaaten an die EU-Ebene ausgehende Impulse, wurde im bishe-rigen Verlauf des Textes mit den Begriffen „Integration“ und „Vertiefung“ markiert. Für die Analyse der Prozesse im Regierungssystem erweisen sich diese allerdings nur insofern geeignet, als sie einen allgemeinen historischen Prozess anzeigen. Um auch die Motive, Präferenzen oder Interessen der mit Integration befassten Akteure erfassen zu können, wer-den im Verlauf der Studie fortan die Begriffe der Europa- sowie der EU-Strategie verwen-det. Europa-Strategien sind diejenigen langfristigen politischen Strategien, die von kollek-tiven Akteuren auf den europäischen Kontinent und insbesondere die europäische Integrati-on gerichtet waren und sind.

Europa-Strategien beinhalten dabei übergeordnete Komplexe; z.B. kann eine Regie-rung mit ihr (unter Rückbindung an eigene Interessen) das Ziel der Vertiefung oder der Erweiterung der EU verfolgen. Demgegenüber sind EU-Strategien eher am Tagesgeschäft der EU orientiert, etwa wenn es um die Positionierung eines Mitgliedstaats im Hinblick auf eine Richtlinie, ein Rahmengesetz oder andere Beschlüsse mittlerer Reichweite geht. In der Zusammenschau spielt sich damit nicht nur die Europäisierung, sondern auch die Europa-politik eines Mitgliedstaats in einem multivektoralen Raum ab. Die nationalen Akteure verfolgen Europa- und EU-Strategien, mit denen sie mittel- und langfristig den Charakter der europäischen Integration prägen. Von der EU-Ebene – die durch eben jene Akteure erst geschaffen wurde – gehen dagegen Impulse an die nationale Ebene zurück, die auf ver-schiedenen Ebenen des Regierungssystems verarbeitet werden müssen.

Im Einzelnen beruhten die Europa-Strategien der europäischen Staaten zu Zeiten des Kalten Krieges auf zwei Grundentscheidungen, der Zuordnung zu einem der beiden Blöcke auf der einen und der politischen wie wirtschaftlichen Einpassung in die entstandenen westeuropäischen Strukturen. Auch Staaten wie Jugoslawien, Norwegen oder die Schweiz verfügten (und verfügen) also über eine Europa-Strategie, die sich allerdings nicht auf die Institutionen der europäischen Integration im engeren Sinne richtete. Länder, die indes der EGKS (EG-6: 1951) bzw. den Europäischen Gemeinschaften (EG-9 bis EG-12: 1973-1986) bzw. der EU (EU-15 bis EU-27: 1995-2007) beigetreten sind, mussten und müssen im

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Rahmen einer stets existieren Europa-Strategie zusätzlich eine EU-Strategie entwickeln, die sich auf die Entwicklung der politischen Inhalte richtet.

Europa- und EU-Strategien beruhen dabei auf Interessen und Präferenzen, die die Bundesregierung aus der Bevölkerung und ihren organisierten Gruppen aufnimmt und auf der europäischen Bühne durchzusetzen versucht. Zwischen Europa- und EU-Strategien auf der einen Seite und Interessen und Präferenzen auf der anderen Seite besteht eine Analogie, was die Wandelbarkeit und Grundsätzlichkeit angeht. Der Begriff der EU-Strategie wird ähnlich wie derjenige der Präferenz dort verwendet, wo einzelne Sachbereiche betroffen sind oder wo die Einstellungen von Bevölkerung und/oder Eliten kurz- oder mittelfristig wandelbar erscheinen. Das (nationale) Interesse ist demgegenüber an die Europa-Strategie gekoppelt. Es langfristig angelegt und wird verstanden als Gesamtheit der allgemeinen und beständigen Ziele, die ein Staat verfolgt (Frankel 1970: 18). Präferenzen entfalten sich auf der Basis der langfristigen Ziele, können sich aber auch auf einzelne Gruppen oder Seg-mente der Gesellschaft beziehen.

Jegliche Bundesregierung hat mit dem Blick auf die weit verzweigte deutsche Indust-rie ein „Interesse“ am ordnungspolitischen Funktionieren des Binnenmarktes und verfolgt demzufolge eine entsprechende Europa-Strategie. Hinsichtlich einer Teilentscheidung wie z.B. der Altautorichtlinie bestehen dagegen lediglich „Präferenzen“, die die Bundesregie-rung – z.B. als Folge von Lobbying der Automobilindustrie – in einer EU-Strategie vertritt. Entsprechend werden die beiden Begriffe im Folgenden entlang eines Kontinuums verwen-det: Je langfristiger und wichtiger für die Gesamtgesellschaft eine Präferenz, desto eher sollte der Begriff durch den des Interesses ersetzt werden. Oder, anders herum: Wenn sich Interessen ganz überweigend auf Partikularinteressen stützen, die durch die politischen Entscheidungsträger als Allgemeininteresse definiert und durchgesetzt werden, sollte von Präferenzen – und nicht mehr von Interessen wie bei Moravcsik (1991; 1993) – gesprochen werden.

Jenseits dieser Begriffsbestimmungen bleiben sowohl der Interessen- wie auch der Präferenzbegriff zunächst inhaltsleer. Doch verweisen Eastons „operative Werte von Poli-tik“ auf drei grundlegende Ausformungen von universellen Zielen, die Interessen und Prä-ferenzen zugrunde liegen (Pradetto 2001: 34): die Wahrung oder Stärkung von Sicherheit (Schutz vor äußerer Dominierung), Herrschaft (Beständigkeit der politischen, gesellschaft-lichen und ökonomischen Institutionen) und Wohlfahrt. In den verschiedenen Theorieschu-len der Internationalen Beziehungen werden die Ziele und ihre Übersetzung in politische Antriebsmotive dabei in unterschiedlicher Weise gehandhabt. Im klassisch-realistischen Verständnis ist nationales Interesse eine objektive Kategorie aus formalen Vorgaben und Gesetzen, die Zeit und Akteure überspannt. Der Neorealismus wandelt sie zu einer subjek-tiven Größe, indem ein nationales Interesse hier das ist, was die Regierung „als solches definiert und zur Grundlage ihres außenpolitischen Handelns macht“ (Siedschlag 2001: 18). Aus liberaler Sicht hingegen kann im Zuge von zunehmender internationaler Interdepen-denz von sich angleichenden Interessen der verschiedenen Staaten ausgegangen werden, da aus wachsender Verflechtung gemeinsame Nutzenerwartungen und daraus wiederum ge-meinsame kooperationsorientierte Normen entstehen. Ein nationales Interesse steht hier nicht mehr im Vordergrund der Betrachtung, was auch für reflexive und Identitätsansätze gilt, die auf Konstruktionsprozesse und Problemrepräsentation von Außenpolitik abstellen (Chafetz/Spirtas/Frankel 1999). Bei einer inhaltlich bestimmten Betrachtungsweise sind also Interessen und Präferenzen gewissermaßen dialektisch aneinander gebunden. Sie kön-

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nen aus universellen Zielen abgeleitet werden, womit die Sinnhorizonte politischer Akteure rekonstruiert werden können. Die gesellschaftliche Sinngebung generiert jedoch stetig neue partikulare Präferenzen, die sich zu gruppenübergreifenden Interessen verfestigen können bzw. von staatlichen Akteuren zu nationalen Interessen erklärt werden können. Die genann-ten Grundziele um Sicherheit, Herrschaft und Wohlfahrt werden dadurch wenigstens inso-weit kontingent, als ihre konkrete Ausformung der Sinngebung durch unterschiedlich mächtige Akteure befördert oder behindert werden kann.5

Eine Ausgangsbeobachtung meiner gesamten Analyse lautet nun, dass in der Brüsseler Verhandlungsarena immer mehr Präferenzen und immer weniger Interessen zur Disposition stehen. Europapolitik verschiebt sich damit von einem Übergewicht Europa-Strategie zu einem Übergewicht der EU-Strategie. Nicht mehr die großen Richtungsentscheidungen zwischen Westorientierung oder Souveränitätsorientierung, zwischen Erweiterung oder Vertiefung, oder zwischen Währungs- oder politischer Union stehen im Zentrum der Euro-papolitik. Vielmehr sind es kleinteiligere Entscheidungen im Rahmen von Richtlinien, Rahmengesetzen oder anderen Normgebungsakten, die den größten Teil der „EU-Dimension“ deutscher Politik ausmachen. Europapolitik unterliegt damit immer weniger den klassischen Paradigmen der Internationalen Politik. Vielmehr verschiebt sich der Ak-zent zur „demokratisierten Gesellschaftswelt“ (Czempiel 1999: 35), in der sich innenpoliti-sche Gesetzmäßigkeiten zunehmend über das klassische außenpolitische Denken legen. Ein wichtiger Bestandteil dieser Überlegung lautet, dass Präferenzen nicht länger überwiegend von außen- und sicherheitspolitischen Eliten formuliert werden, sondern zunehmend Aus-druck eines internen Wettstreits von Präferenzen sind.

Abbildung 6: Überblick über wichtige begriffliche Festlegungen

5 Daher wird die Ausformung der auf Europa gerichteten politischen Kultur der Bundesrepublik in Kap. 5 nicht allein mit dem klassischen Ansatz von Almond/Verba (1963) untersucht, sondern durch Karl Rohes Konzept der Deutungskultur ergänzt (Rohe 1994b; Rohe 1994a).

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EU-Ebene (europäische Ebene des Mehrebenensystems;

Im Verbund mit den Dimensionen der Europäisierung ergeben sich mithin die Abbil-

dung 6 zu verfolgenden Vektoren in der europäischen Politik. Von der nationalen Ebene geht die Europapolitik aus, die sich in europa- und EU-strategische Komponenten untertei-len lässt. Die eher langfristige und grundsätzliche Europa-Strategie deckt mithin tendenziell die Polity-Ebene ab, die die Prozesse auf der Politics-Ebene nicht im Einzelnen determi-niert, aber doch strukturell prägt.6 Die EU-Strategie bezieht sich dagegen zugleich auf die Politics- und Policy-Ebene; der Begriff ist eng an die gewissermaßen alltäglichen Akteure, Prozesse und Institutionen der Europapolitik gebunden. In der Gegenrichtung handelt es sich bei der Makroprozess-Europäisierung um einen langfristigen Trend, mit dem die Grundlinien der Politik in Europa geprägt werden. Bei Europäisierung als „Transformati-ons-“ oder „Bottom-Up“-Prozessen sowie bei den EU-Strategien geht es dagegen ebenfalls um kleinteiligere und weniger langfristig wirksame Prozesse der täglichen Politik in Euro-pa.

„Brüssel“ + „Straßburg“ + „Luxemburg“)

Polity Politics Policies

Nationale Ebene (Politik in 27 Hauptstädten sowie den dazu gehörigen

nationalen Systemen)

Europa-Strategie

(auf EU gerich-tete Vertretung nationaler Interessen)

Europäi-sierung (Misfit-Modell)

Europäisierung (Makroprozess-

modell)

Europäisierung (Transformations-

modell)

EU-Strategie (auf EU gerichtete Vertretung natio-naler Präferenzen)

2.6 Analysemodelle und Systemebenen; Aufbau der Studie

Aus alledem lässt sich nun ein differenziertes Analyseschema ableiten. Die Anwendung der Europäisierungsmodelle sowie die Referenzen zu europa- oder EU-strategischen Überle-

6 Polity bezeichnet die Grundstruktur eines politischen Gemeinwesens, mit Politics werden die Entscheidungspro-zesse abgedeckt, Policies stellen die Politikfelder bzw. die inhaltliche Ebene von Politik dar (siehe Schmidt 2004a).

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gungen hängen in erster Linie von Kontextbedingungen ab, deren Vorhandensein empirisch geprüft werden muss. Je stärker sich ein Europäisierungsvorgang am „herkömmlichen“ gemeinschaftlichen Prozess orientiert, desto klarer identifizierbar sind die zu berücksichti-genden Determinanten. Wenn eine klare Zuständigkeit der transnationalen Ebene gegeben ist, gehen von dort auch die ideellen Impulse aus, an denen sich die Akteure der nationalen Ebene freiwillig oder zwangsläufig zu orientieren haben. Verteilen sich die Zuständigkeiten stärker zwischen der nationalen und der europäischen Arena, wird die Herkunft der norma-tiven Grundlagen dagegen multidimensional. Der ideelle Kontext verschwimmt; Europäi-sierung findet vielleicht gerade durch die Angleichung von Ideen, Normen und Werten statt. Im ersten Fall wäre das Misfit-Modell einschlägig, im letzten Fall das Makroprozess-modell.

Die Modelle sind jedoch nicht nur über den Kontext, sondern auch über inhärente Mo-dellelemente miteinander verbunden. Im Misfit-Modell werden zwei stark vereinfachende Annahmen getroffen: a) die eindeutige Verortbarkeit der Quelle binnenstaatlichen Wandels sowie b) der von „oben“ nach „unten“ laufende Einflussvektor. Das Transformationsmodell behält Element b) bei, systematisiert allerdings Element a) hinsichtlich verschiedener räum-licher Einflussdimensionen auf politischen Wandel in EU-Staaten. Wird Europäisierung als Makroprozess modelliert – und nicht als Adaptionsprozess der einen Ebene an die andere –, wird auch Element a) in Frage gestellt und im Gegenteil die Multilinearität von politischen Prozessen ins Zentrum gerückt. Entsprechend Abbildung 6 findet Europäisierung in allen 27 EU-Mitgliedstaaten statt, und zwar jeweils im Hinblick auf die Dimensionen Polity, Politics und Policies.

2.6.1 Polity-Ebene

Europäisierung als Prozess auf der Polity-Ebene impliziert eine grundlegende Veränderung des politischen Gemeinwesens durch territoriale Entgrenzung. Der Begriff der Entgrenzung impliziert, dass dem Nationalstaat im Prozess der Europäisierung Subjektcharakter zu-kommt. Die Aufgabe von Souveränität im Prozess der europäischen Integration mag nicht immer zu hundert Prozent freiwillig erfolgt sein; sie war aber wenigstens in einigen Berei-chen funktional notwendig und wurde bei jeder Änderung der Verträge auch mit politischen Mehrheiten versehen. Im Zuge der Souveränitätsaufgabe waren es mithin auch stets Regie-rungen, die die maßgeblichen Integrationsschritte vorbereitet und legitimiert haben (Mo-ravcsik 1991; 1998).

Auch jenseits der Regierungskonferenzen bleibt jedoch beim Blick auf die Polity-Ebene fraglich, inwiefern Europäisierungsprozesse von einer dem Nationalstaatlichen ex-ternen Instanzen vorangetrieben werden können. Gesellschaften als Grundlage eines politischen Systems sind in Europa im Wesentli-

chen national verfasst. Auf der subnationalen Ebene mögen Verwerfungen existieren (z.B. Baskenland vs. Spanien, Nordirland vs. Großbritannien). Oberhalb der nationalen Ebene existiert dagegen keine erkennbare gesellschaftliche Integrationsgemeinschaft, in die hinein sich national verfasste Gesellschaften auflösen könnten. Mögliche Ansät-ze dazu bestehen im Sinne limitierter Diskurs- oder Erinnerungsgemeinschaften (Eder/Kantner 2000; Schwelling 2006). Ihr Integrationspotenzial bleibt indes punktuell oder auf wenige Personengruppen beschränkt.

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Die institutionellen Grundstrukturen als Ausdruck des politischen Willens zur Selbst-organisation sind ebenfalls fest nationalstaatlich verankert, wie die hindernisreiche Ra-tifikation der EU-Verfassung klar demonstriert. Selbst der Errichtung der Europä-ischen Zentralbank – dem wichtigsten Beispiel eines EU-induzierten Polity-Wandels – lagen Freiwilligkeit und die Autonomie nationaler Willensbildung zugrunde, wie der Verzicht auf den Euro durch Dänemark, Großbritannien und Schweden zeigt. Die Än-derung der Polity selbst ging indes von den Nationalstaaten aus, konkret von einer Verhandlungsrunde der Regierungen im Vorfeld des Maastrichter Vertrags. Beide Dimensionen der Polity-Europäisierung haben also wenig gemein mit dem Aus-

gangspunkt des Misfit-Modells, der einen determinierenden Impuls auf der EU-Ebene sieht, an den sich nationale politische Prozesse höchstens noch anpassen können, ohne jedoch noch über eine eigene substanzielle Definitionsmacht zu verfügen. Ebenso ist die Repräsen-tationskraft des Transformationsmodells eingeschränkt, denn mit dem binnenstaatlichen politischen Prozess als Basiselement zielt es nur am Rande auf die institutionellen Grund-strukturen ab. Angesichts der sowieso vorhandenen Modellkomplexität erscheint es eher nützlich, die institutionelle Verfasstheit des politischen Prozesses konstant zu setzen, um nicht über die Rahmenbedingungen zusätzliche Komplikationen für die Analyse heraufzu-beschwören.

Die Konstruktion des Makroprozessmodells entspricht dagegen den Implikationen der Europäisierung auf Polity-Ebene: Die Gesamtheit der politischen Prozesse a) auf nationaler und b) auf europäischer Ebene wirkt aufeinander ein, womit auch deren gesellschaftliche Grundlagen und institutionelle Grundstrukturen prinzipiell zur Disposition stehen. Deshalb besteht zwischen der Europäisierung der deutschen Polity und dem Makroprozessmodell eine Affinität. Sie erstreckt sich nicht nur auf die Grundstruktur der Institutionen, sondern in einem weiteren Sinne auf die Herrschaftsgrundlagen des politischen Systems. Mithin wird im Anschluss an dieses Kapitel nicht nur in den europäischen Policy-Zyklus als struk-turierendes Element der EU-Polity eingeführt (Kap. 3). Weiterhin muss auch auf die politi-sche Kultur (Kap. 4) sowie die Elitenorientierung (Kap. 5) eingegangen werden, um die Europäisierung – hier im Sinne einer Europa-Werdung – des deutschen Herrschaftsregimes skizzieren zu können.

2.6.2 Politics-Ebene

Auf der Politics-Ebene sind in erster Linie die Entscheidungsprozesse im Rahmen der Insti-tutionen des Mehrebenensystems relevant. Für den nationalstaatlichen Bereich und zuneh-mend für die EU-Ebene wird für deren Gesamtheit das Konzept des politischen Systems angewendet (Beyme 2002; Hartmann 2002; Hartmann 2004; Hix 2005). Wenn sich der Untertitel des vorliegenden Buches indes auf das Regierungssystem bezieht, sind damit im Bereich der Politics vor allem die Kernaspekte des bundespolitischen Policy-Making an-gesprochen. Zu dessen Kerninstitutionen gehören im Bereich der Interessenaggregation die Interessengruppen, im Bereich der Entscheidungsformulierung die Bundesregierung und im Bereich der nachwirkenden Kontrolle der Bundestag, die föderale Ebene sowie die politi-schen Parteien.

Nach dem ersten Augenschein bietet sich für die Analyse von Europäisierungsprozes-sen auf der Politics-Ebene das Transformationsmodell an. In iterativen Abläufen von aufei-

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nander folgenden Zeiträumen (t0 bis tn) können die auf Europäisierung zurückgehenden Änderungen unterhalb der Makro-Ebene untersucht werden. Die zunehmende Ausrichtung auf den europäischen Policy-Zyklus – und die Einbettung des nationalen Zyklus in densel-ben – ändert die Handlungslogiken der Akteure, wenn für eine zunehmende Zahl von Poli-tikbereichen die Phase des Agenda-Setting weit nach vorne verschoben wird und die Ent-scheidungsfindung (laut Vertragslage) ebenfalls in einem dem Parlamentarischen vorgela-gerten Raum stattfindet. Die Akteure, Institutionen und Ideen der EU-Ebene sind dabei einerseits jenseits des nationalen Einflussbereiches angesiedelt. Andererseits erlaubt die Ausdifferenzierung der Kontexte eine Betrachtung der konkreten Austauschbeziehungen auf der Meso-Ebene, die der Politics-Dimension angemessen erscheint. Zudem signalisiert das Basiselement des binnenpolitischen Prozesses den potenziell großen Spielraum zur Reaktion auf Europäisierungsimpulse.

Die Kapitel zu den Interessengruppen und Parteien (Kap. 5), Bundesregierung (Kap. 6) sowie den nachgelagerten Instanzen Bundestag und Bundesrat (Kap. 7) orientieren sich daher in ihrer Denkweise zunächst am Transformationsmodell. Allerdings bedeutet dies nicht, dass sich in der empirischen Analyse die Ausgangsthese des Modells bestätigen muss. Sie besteht im größeren Gewicht der nationalen Dynamik im Vergleich zum Gewicht der von der EU-Ebene aufgenommenen Impulse. Die These trifft zu, wenn das System der Interessenvermitllung in den Blick genommen wird (Kap. 5.3). Sie lässt sich aber bei-spielsweise nicht bestätigen, wenn die mit der EU-Ebene zusammenhängende institutionel-le Dynamik des Bundestages betrachtet wird. Vielmehr lässt sich beobachten, dass wesent-liche parlamentarische Akteure so lange kein Interesse an der EU entwickelt haben, dass schlussendlich rein adaptive Reaktionen auf die Herausforderungen der europäischen Poli-tik vorgenommen wurden (Kap. 7.1). Letztlich ist dann das Denkmodell der Europäisierung als Adaptionsprozess geeigneter: die EU hat die deutschen parlamentarischen Akteure maßgeblich angetrieben; nicht umgekehrt.

2.6.3 Policy-Ebene Auf der Policy-Ebene lässt sich auf verschiedenen Ebenen prüfen, welches Europäisie-rungsmodell in welchem Kontext am besten geeignet ist. Im Vordergrund steht die Zustän-digkeit für politische Vorhaben, die in unterschiedlichen Nuancen an die EU-Ebene oder die nationale Arena gebunden sein kann. Eine konzeptionelle Vorlage wurde von Helen und William Wallace entwickelt (Wallace/Wallace 1999); sie verorten einzelne Politikfelder zwischen den Extrempolen eines national determinierten und eines „fusionierten“ europä-ischen Policy-Stils. Bei Helen Wallace wie auch in anderen Schulen und Forschungsver-bünden der EU-Policy-Forschung wurden jedoch eindimensionale Kategorisierungen von Politikfeldern zugunsten mehrdimensionaler Konzepte aufgegeben (Peterson/Bomberg 1999; Kohler-Koch 2003; Pollack 2005; Wallace 2005).

Gespiegelt wird dies durch die Multi-Variabilität politischer Prozesse im europäischen Mehrebenensystem. Auf der Ebene der gesellschaftlichen Rückbindung (politische Kultur) ist zwischen

verschiedenen kognitiven, affektiven und evaluativen Niveaus zu unterscheiden. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik liegt beispielsweise stärker im Blickfeld

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der – wie auch immer gearteten – europäischen Öffentlichkeit, während die Akteure in vielen anderen Politikfeldern hinter dem Schleier der Indifferenz operieren können.

Dort – auf der intermediären Ebene – sind dann dagegen die Einflussmöglichkeiten organisierter Interessen größer, wobei allerdings unterschiedlich geartete Eingriffe durch staatliche und para-staatliche Akteure denkbar sind; die Policy-Forschung unter-scheidet üblicherweise zwischen regulativen, distributiven, extrahierenden und symbo-lischen politischen Akten (Anderson 2000).

Auf der Ebene der politischen Akteure verteilen die europäischen Verträge und darü-ber hinaus viele weniger formelle Regelwerke die Willensbildungs- und Entschei-dungsmacht zwischen der EU-Ebene und der nationalen Arena. Manche Politikfelder sind fast vollständig auf der EU-Ebene zu lokalisieren, andere wenigstens in formeller Hinsicht fast vollständig im Nationalstaat. Hinzu kommen unterschiedliche Entschei-dungsregeln, z.B. in der Form institutioneller Beteiligungsrechte und dem Abstim-mungsmodus im Ministerrat. Durch die extreme Kontingenz des Prozesses der europäischen Integration ist es wenig

wahrscheinlich, dass einzelne Politikfelder auf allen dieser Ebenen in gleichförmiger Weise entweder an die nationale oder die EU-Arena gebunden sind. Das macht friktionslose Zu-ordnungen zu den Modellen der Europäisierung, die letztlich mit dem Grad der Machtver-teilung zwischen EU- und nationaler Ebene gekoppelt sind, schwierig.

Das Misfit-Modell wird dann einschlägig, wenn politische Entscheidungen im Prinzip auf europäischer Ebene nicht nur getroffen, sondern auch vorbereitet werden. Erst dann ist die Notwendigkeit eines Anpassungsprozesses an die EU-Ebene plausibel. Allerdings ist ebenso von Bedeutung, auf welcher Ebene eine Problemlage anzusiedeln ist, mit der die Akteure sich auseinanderzusetzen haben. Je transnationaler ein Problemhorizont, desto eher können politische Antworten auf den unterschiedlichen Ebenen auch auseinanderfallen.

In der Umwelt- oder Klimapolitik etwa zeichnete sich ab den 1990er-Jahren eine ver-gleichsweise rasche „Expansion, Vertiefung und Institutionalisierung“ des europäischen Policy-Making ab (Lenschow 2005: 324). Folglich waren Entscheidungsrechte transferiert, bevor die nationalen Systeme und ihre Öffentlichkeiten sich recht darauf einstellen konn-ten. Die Europäisierung der Umweltpolitik fand so gewissermaßen von oben statt, indem die politischen Akteure auf eine transnationale Herausforderung reagieren und erst später in nationale Politik umsetzen mussten. Tatsächlich erfolgten dann umfassende und voneinan-der abweichende Anpassungsprozesse in den Mitgliedstaaten (Börzel 2003). Für die Ver-wendung des Misfit-Modells ist weiterhin von Bedeutung, ob auf der EU-Ebene konsensual entschieden wird. Erst bei einem nicht-konsensualen Entscheidungsmodus können nationa-le Regierungen in eine Situation kommen, in der nachgelagerten Phase der nationalen Wil-lensbildung überproportionale Kosten der Europäisierung tragen zu müssen. Mithin ist das Misfit-Modell besonders dann einschlägig, wenn transnationale Problemhorizonte mit nicht konsensualen Entscheidungsverfahren auf der EU-Ebene einhergehen.

Das Transformationsmodell eignet sich demgegenüber stärker in solchen Kontexten, in denen die politischen Zuständigkeiten zwischen den Ebenen verteilt sind. Die „Bottom-Up“-Perspektive geht gerade von der Ausgangsvermutung aus, dass nationale Regierungen über Möglichkeiten der Eigensteuerung verfügen. Regionale, europäische und globale Kon-texte werden von den Akteuren als zunächst gleichgewichtige externe Einflusssphären an-gesehen, auf die der eigene Zugriff in unterschiedlichem Maße besteht. Bezüglich des EU-Kontextes kommen ähnliche Determinanten ins Spiel wie hinsichtlich der Eignung des

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Misfit-Ansatzes. Herausforderungen für die nationalen Akteure sind dann zu erwarten, wenn transnationale Problemhorizonte bestehen, über deren Substanz auf der institutionel-len Ebene auch mit nicht-konsensualen Mitteln – also mit Qualifiziertem Mehrheitsent-scheid und ggfs. Mitentscheidungsverfahren (Art. 251 EGV) – entschieden werden kann. Allerdings sind diese Bedingungen für Politikbereiche zwischen den Ebenen mit weitaus geringerer Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Aus jeweils zu benennenden Gründen haben bestimmte Politikfelder dem Drang von EU-Eliten nach einer institutionellen „Fusion“ (Wessels/Rometsch 1996; Wallace/Wallace 1999) widerstanden. Deshalb erscheint zu-nächst plausibel, in diesen Bereichen von intergouvernementalen und daher konsensualen Entscheidungsmustern auszugehen.

Trotz ihres Bezugs zu mehreren Systemebenen und unterschiedlichen Zeitpunkten so-wie Phasen des politischen Prozesses handelt es sich sowohl beim Misfit- wie auch beim Transformationsmodell um letztlich statische Konzeptionen. Beide erfassen zwar dynami-sche Prozesse, fangen diese jedoch in einem statischen Kontext ein, der sich zwischen den Zeitpunkten t0 und t1 nicht ändert. (Die Iteration mehrerer Zyklen mit unterschiedlichen Kontexten ist im Transformationsmodell möglich. Dann müssen allerdings für jeden Durchgang erneut die institutionellen Gegebenheiten der Machtverteilung zwischen den Ebenen separat berücksichtigt werden.) Müssen aus der Sicht des Misfit- oder Transforma-tionsmodells Prozesse der zunehmenden Machtverschiebung auf die EU-Ebene analysiert werden, fällt dies außerhalb der Begrifflichkeit von Europäisierung in das Feld der euroä-ischen Integration.

Die Betrachtung dynamischer Prozesse ist allerdings die Stärke des Makroprozessmo-dells. Wie oben diskutiert, bestehen mit dem Modell Überschneidungen, aber keine Identi-tät zu den Konzepten der Integration oder Vertiefung. Erstere ist für einen historischen Prozess reserviert, zweitere stets mit überwiegend institutionellen Fragen verknüpft. Das Makroprozessmodell bezieht sich auch auf institutionelle Dynamiken von der nationalen zur EU-Ebene, beinhaltet jedoch darüber hinaus mentale Prozesse auf den Ebenen der Be-völkerung(en) und der Eliten. Europäisierung als Makroprozess ist daher im Hinblick auf solche Policies zu unterstellen, die sich in einer umfassenden Phase der EU-isierung befin-den. Dafür müssen sie in der politischen Öffentlichkeit wichtig genug sein, um auch jen-seits involvierter Fachöffentlichkeiten wahrgenommen zu werden. Erst dadurch entsteht jenes Wechselverhältnis, bei dem sich weitere Wahrnehmungs- und Handlungsräume zu-nehmend aufeinander beziehen. Ein weiterer Unterschied zum Konzept der Integration lautet dabei, dass die Etablierung von EU-Horizonten durchaus nicht immer zu Annäherun-gen führen muss. Das Aufkommen euroskeptischer Parteien in West- und Mitteleuropa (Taggart 1998; Taggart/Szczerbiak 2002) kann durchaus als Begleiterscheinung von Euro-päisierung gewertet werden, denn erst die zunehmende Relevanz der EU-Ebene für nationa-le Politik hat diesen Parteien die nötige Argumentationskraft geliefert. Es handelt sich je-doch schwerlich um ein Phänomen der Integration, wenn durchaus relevante politische Kräfte gerade für die Desintegration des europäischen Raums eintreten.

Über die Verwendung der Modelle auf der Policy-Ebene entscheidet damit nicht zu-letzt die Integrationsphase des einzelnen Politikfelds. Während eines Prozesses institutio-neller Verschiebungen wird das Makroprozessmodell einschlägig, wenn gleichzeitig die politische Öffentlichkeit sich entgrenzt und politische Akteure sich auf die neuen Bedin-gungen einstellen. Ist die entsprechende Entgrenzung abgeschlossen, oder rangiert ein Poli-tikfeld im öffentlichen Bewusstsein jenseits der Wahrnehmungsschwelle, werden die bei-

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den übrigen Modelle zunehmend relevant. Hier entscheidet dann die institutionelle Kompe-tenzverteilung, ob die nationalen Akteure auf die gesamteuropäische Politikentwicklung nur begrenzt einwirken können (=Misfit-Modell), oder ob maßgebliche primäre Gestal-tungsspielräume auf der nationalen Ebene bestehen (=Transformationsmodell).

Zusammengefasst versucht sich die vorliegende Studie also an einem Überblick ver-schiedener Dimensionen von Europäisierung über die verschiedenen Ebenen des deutschen Regierungssystems. Primäre Europa- bzw. EU-Strategien waren und sind die Basis für die Integrationspolitik der Bundesrepublik bzw. ihrer Regierungen. Europäisierung stellt die Summe der Herausforderungen dar, auf die die politischen Akteure sekundär reagieren müssen. Werden diese Herausforderungen desaggregiert, ergeben sich verschiedene Di-mensionen der Europäisierung, die nun sukzessive mit Referenzen zum Makroprozessmo-dell (Kap. 4), zum Transformationsmodell (Kap. 5) und zum Misfit-Modell (Kap. 6 und 7) erarbeitet werden. Eine Zusammenfassung unter besonderer Berücksichtigung der Kompa-tiblität von Europäisierung mit der bundesrepublikanischen Demokratie schließt die Studie ab (Kap. 8).