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2 Theoretische Grundlagen der Kognitiven Umstrukturierung: Die »Kognitiven Therapien« nach Ellis, Beck und Meichenbaum Im Folgenden sollen die drei Hauptströmungen der Kognitiven Therapie vorgestellt werden: die Rational-Emotive Therapie nach Ellis, die Kognitive Therapie nach Beck und das Stress- impfungstraining nach Meichenbaum. Den Abschluss des Ka- pitels bildet eine Zusammenschau der drei Ansätze. Da es sich bei dem vorliegenden Buch nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung zum Vergleich der drei Ansätze handelt, sondern um den Versuch, aus den drei Ansätzen Hilfen für die psychotherapeutische Praxis abzuleiten, werden wissenschaftlich interessante Themen wie z. B. die verschiedenen Hypothesen zu den Beziehungen zwischen Kognitionen und Emotionen oder auch die bisher ungeklärte Frage der eigentlichen Wirkmechanismen bei der Kognitiven Umstrukturie- rung im Rahmen dieses Buches nicht diskutiert. Die Ansätze werden jeweils in ihren Grundzügen kurz umris- sen; einführende, praxisorientierte Literatur ist im Folgenden zusammengestellt. Praxisorientierte Leseempfehlungen zur Rational-Emotiven Therapie: Ellis & Grieger (1995, 1. Aufl. 1979), Walen, DiGiuseppe & Wessler (2005, 1. Aufl. 1982), Schelp, Gra- vemeier & Maluck (1997, 1. Aufl. 1990), Ellis 1997 – Praxisorientierte Leseempfehlungen zur Kognitiven Thera- pie nach Beck: Beck, Rush, Shaw & Emery (2001, 1. Aufl. 1981), Hautzinger (2003, 1. Aufl. 1989), Beck & Freeman (1999, 1. Aufl. 1993), Beck, J. (1999) – Praxisorientierte Leseempfehlungen zum Meichenbaum- schen Stressimpfungstraining: Meichenbaum (1995a, 1. Aufl. 1979), Meichenbaum (2002 ) Zu betonen ist schon hier, dass alle drei Ansätze sich in ihrem praktisch-therapeutischen Vorgehen sehr ähneln. Die konzep- tuellen Unterschiede zwischen den Ansätzen dürften innerhalb der klinischen Praxis teilweise kaum identifizierbar sein. Neuere theoretische Entwicklungen innerhalb der drei Ansätze werden in Kap. 7 kurz diskutiert, haben aber für das hier dar- 13 © 2012 W. Kohlhammer, Stuttgart

2 Theoretische Grundlagen der Kognitiven Umstrukturierung ... · wicklung der RET die Auseinandersetzung mit der klassischen Psychoanalyse ein wichtiger Ausgangspunkt. Albert Ellis

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2 Theoretische Grundlagen der Kognitiven Umstrukturierung: Die »Kognitiven Therapien« nach Ellis, Beck und Meichenbaum

Im Folgenden sollen die drei Hauptströmungen der KognitivenTherapie vorgestellt werden: die Rational-Emotive Therapienach Ellis, die Kognitive Therapie nach Beck und das Stress-impfungstraining nach Meichenbaum. Den Abschluss des Ka-pitels bildet eine Zusammenschau der drei Ansätze.

Da es sich bei dem vorliegenden Buch nicht um eine wissenschaftlicheAbhandlung zum Vergleich der drei Ansätze handelt, sondern um denVersuch, aus den drei Ansätzen Hilfen für die psychotherapeutischePraxis abzuleiten, werden wissenschaftlich interessante Themen wiez.B. die verschiedenen Hypothesen zu den Beziehungen zwischenKognitionen und Emotionen oder auch die bisher ungeklärte Frageder eigentlichen Wirkmechanismen bei der Kognitiven Umstrukturie-rung im Rahmen dieses Buches nicht diskutiert.

Die Ansätze werden jeweils in ihren Grundzügen kurz umris-sen; einführende, praxisorientierte Literatur ist im Folgendenzusammengestellt.

– Praxisorientierte Leseempfehlungen zur Rational-EmotivenTherapie: Ellis & Grieger (1995, 1. Aufl. 1979), Walen,DiGiuseppe & Wessler (2005, 1. Aufl. 1982), Schelp, Gra-vemeier & Maluck (1997, 1. Aufl. 1990), Ellis 1997

– Praxisorientierte Leseempfehlungen zur Kognitiven Thera-pie nach Beck: Beck, Rush, Shaw & Emery (2001, 1. Aufl.1981), Hautzinger (2003, 1. Aufl. 1989), Beck & Freeman(1999, 1. Aufl. 1993), Beck, J. (1999)

– Praxisorientierte Leseempfehlungen zum Meichenbaum-schen Stressimpfungstraining: Meichenbaum (1995a,1. Aufl. 1979), Meichenbaum (2002 )

Zu betonen ist schon hier, dass alle drei Ansätze sich in ihrempraktisch-therapeutischen Vorgehen sehr ähneln. Die konzep-tuellen Unterschiede zwischen den Ansätzen dürften innerhalbder klinischen Praxis teilweise kaum identifizierbar sein.Neuere theoretische Entwicklungen innerhalb der drei Ansätzewerden in Kap. 7 kurz diskutiert, haben aber für das hier dar-

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gestellte Standardvorgehen, das die Grundlage kognitiv-ver-haltenstherapeutischen Handelns darstellt, zunächst keine Be-deutung. Aus diesen neueren theoretischen Überlegungen ab-geleitete praktische Empfehlungen werden erst auf der Basisdieses Vorgehens verständlich und anwendbar.

Das grundlegende theoretische Modell menschlichen Erle-bens und Verhaltens und das damit verbundene Menschenbildist für Vertreter aller drei Ansätze gleich verbindlich. Es besagtim Wesentlichen das, was bereits der römische Stoiker Epiktet(50–138 n.Chr.) formulierte: »Nicht die Dinge selbst beunru-higen die Menschen, sondern ihre Vorstellungen von denDingen« (Epiktet 1984, S. 24), ein Satz, der in fast allen ein-führenden Lehrbüchern zur Kognitiven Therapie zitiert wird.Demnach kann der Mensch über seine »Vorstellungen« (Kog-nitionen) sein Erleben und Verhalten in entscheidendem Maßeselbst bestimmen. Er ist also – im Gegensatz zu klassisch-beha-vioristischen Auffassungen – Umwelteinflüssen (bestimmtenStimuli, Verstärkern) nicht hilflos ausgeliefert und – im Gegen-satz zu klassisch-psychoanalytischen Auffassungen – nichtpassives Opfer seiner vergangenen Erfahrungen, sondern erkann, durch die Art und Weise, wie er die Ereignisse und Situ-ationen in seinem Leben »kognitiv verarbeitet«, wie er sieinterpretiert und bewertet, sein aktuelles Erleben und Verhal-ten selbst steuern bzw. zumindest beeinflussen – eine Auffas-sung, der sowohl die moderne Verhaltenstherapie wie auch diemoderne Psychoanalyse weitgehend zustimmen dürften, dieaber so explizit zuerst von Vertretern Kognitiver Therapiever-fahren formuliert wurde.

Sogenannte »dysfunktionale« Kognitionen tragen dabei ausSicht der Kognitiven Therapien zu psychischen Störungen (emo-tionalen und Verhaltensstörungen) bei; in der Therapie geht esentsprechend darum, diese dysfunktionalen Kognitionen inRichtung »funktionaler« Kognitionen zu beeinflussen, um da-durch das damit verbundene psychische Leid zu verringern.

Kasten 1: Grundannahme Kognitiver Therapien

Situation > Kognitionen« > Emotionen/Verhalten

Situation > »dysfunktionale > psychische StörungenKognitionen« (emotionale und

Verhaltensstörungen)

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Der Begriff der »Kognitionen« (bzw. dysfunktionalen Kogni-tionen) umfasst dabei so unterschiedliche Dinge wie Wahrneh-mungen, Interpretationen und Bewertungen von Ereignissen,Annahmen und Hypothesen, Antizipationen und Erwartun-gen, Lebensregeln und Lebensphilosophien, Einstellungen,Überzeugungen, Grundhaltungen, inneres Sprechen, Selbstver-balisationen, Bewältigungssätze, Denkfehler u.ä. Er wird inden verschiedenen Ansätzen Kognitiver Therapien unter-schiedlich spezifiziert (vgl. die Darstellung der Ansätze in denfolgenden Abschnitten). Folgt man der in der modernen Emo-tionstheorie geläufigen Unterscheidung zwischen »kognitivenInhalten«, »kognitiven Strukturen« und »kognitiven Prozes-sen«, so handelt es sich in allen drei Ansätzen um die Spezifi-zierung bestimmter kognitiver Inhalte (vgl. Schelp & Kemmler1988, 1991). Im Folgenden wird jedoch – der Einfachheit hal-ber – weiter von dem Oberbegriff der »Kognitionen« gespro-chen (mit der Unterscheidung in funktionale und dysfunktio-nale Kognitionen).

Mit ihren Auffassungen bzw. Menschenbildannahmen wa-ren bzw. sind Ellis, Beck und Meichenbaum Vorreiter undVertreter der sog. »Kognitiven Wende«, die in den 1960er/1970er-Jahren die gesamte Psychologie erfasste: Das bis dahinvorherrschende »Behavioristische Forschungsparadigma«, ge-prägt durch Namen wie Pavlow und Skinner und durch dieBegriffe des klassischen und operanten Konditionierens, wur-de abgelöst durch das sog. »Kognitive Forschungsparadigma«,geprägt durch Namen wie Heider, Kelly, Bandura und – in derKlinischen Psychologie – neben Ellis, Beck und Meichenbaumvor allem auch Mahoney, Maultsby und A. Lazarus. Die For-schung wandte sich internen Prozessen wie Ursachenzuschrei-bungen, Erwartungen, Kontrollüberzeugungen u.ä. zu. DasKognitive Forschungsparadigma sieht den Menschen als refle-xives, ständig Hypothesen (über sich und seine Umwelt) gene-rierendes und prüfendes Subjekt (»man as scientist«-Modell,vgl. Groeben & Scheele 1977). Die Verhaltenstherapie rezi-pierte Anfang der 80er Jahre dies neue Modell weitgehend underkannte zunehmend die Bedeutung von Kognitionen für dieEntstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung von psychi-schen Störungen (sog. »Kognitive Wende der Verhaltensthera-pie«).

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Die Rational-Emotive Therapie nach Ellis

Die Rational-Emotive Therapie (»RET«, seit 1993 auch alsRational-Emotive Verhaltenstherapie »REVT« bezeichnet) istder älteste der drei kognitiv-psychologischen Behandlungsan-sätze und wurde in den 1950er-Jahren von dem amerikani-schen Psychologen A. Ellis entwickelt. Wie bei vielen anderenneueren Richtungen der Psychotherapie war auch für die Ent-wicklung der RET die Auseinandersetzung mit der klassischenPsychoanalyse ein wichtiger Ausgangspunkt.

Albert Ellis (geb. am 27.9.1913) war erst mit 29 Jahren zum Psycho-logiestudium gekommen, nachdem er zunächst eine kaufmännischeAusbildung absolviert und mehrere Jahre als Kaufmann gearbeitet hat-te. Nach seiner Promotion 1947 an der Columbia Universität in NewYork arbeitete er als leitender Psychologe mit abgeschlossener psycho-analytischer Ausbildung an verschiedenen klinischen und diagnosti-schen Institutionen in New Jersey. 1952 eröffnete er in New York alsPsychoanalytiker seine eigene Praxis, setzte sich aber in verschiedenenStudien intensiv mit den Positionen der Psychoanalyse auseinander, dieer zunehmend in Frage stellte. Bereits ab 1954 verstand er sich nichtmehr als Psychoanalytiker und begründete seinen eigenen psychothera-peutischen Ansatz, die Rational-Emotive Therapie, die er 1955 erst-mals vorstellte und seitdem kontinuierlich weltweit propagiert, aberauch beständig weiterentwickelt (vgl. zu diesen Ausführungen zur Per-son von A. Ellis Hoellen 1993). 1961 gründete er das Institut für Ra-tional-Emotive Therapie in New York, dessen (aktiver) Präsident erauch heute noch ist. Obwohl er seinen Ansatz außerhalb der akademi-schen Psychologie (eher aus seiner praktischen psychotherapeutischenTätigkeit heraus) entwickelte und Ellis für die wissenschaftliche Klini-sche Psychologie lange Zeit als nicht ernst zu nehmender und häufigauch provozierender Außenseiter galt, hielt er seinen Ansatz doch stetsfür eine wissenschaftlich-empirische Überprüfung offen. Inzwischenzählen die kognitiv-behavioralen, stark von Ellis beeinflussten Thera-piemethoden zu den wissenschaftlich in ihrer Wirksamkeit am bestenabgesicherten Therapieverfahren unserer Zeit (vgl. Meyer et al. 1991;Grawe et al. 1994). Ellis wird mittlerweile als »Grandfather« der Kog-nitiven Therapien gesehen; alle Autoren, die Arbeiten zur KognitivenUmstrukturierung vorgelegt haben, nehmen zumindest unter anderemBezug auf die RET von Ellis (vgl. Fliegel et al. 1998, S. 192).

Zentrale Annahmen und Begriffe

Wie bereits erwähnt, unterscheiden sich die verschiedenen Ver-treter Kognitiver Therapieverfahren in ihrer Spezifizierung der

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sog. »dysfunktionalen« (unangemessenen, störungsgenerieren-den) Kognitionen. Ellis beschäftigt sich in seinem Ansatz pri-mär mit dem Einfluss, den Bewertungen bzw. Bewertungsmus-ter (»beliefs«, »belief systems«) für die Entstehung undAufrechterhaltung von Emotionen und Verhaltensweisen ha-ben; sog. »irrationale Bewertungen« werden als zentral für dieEntstehung und Aufrechterhaltung psychischer (emotionalerund Verhaltens-) Störungen angesehen.

Die Begriffe »irrational« und »rational« werden in ihrer deutschenÜbersetzung häufig missverstanden und führen daher nicht selten zuFehleinschätzungen der RET (vgl. Schelp & Kemmler 1988, Wilken1994). »Irrational« wird von Ellis – abweichend vom deutschenSprachgebrauch – synonym mit »inappropriate« (unangemessen,nicht hilfreich, nicht zielführend, selbstschädigend) gebraucht. »Ra-tional« hingegen hat nichts mit »gefühllos« oder »verkopft« zu tun,sondern wird synonym mit »appropriate« (angemessen, hilfreich, ziel-führend) verwandt.

Grundlegend für die RET ist die sog. »ABC-Theorie« (vgl. El-lis 1977, 1979a). Sie wurde inzwischen mehrfach modifiziertund erweitert (vgl. z.B. Wessler & Wessler 1980; Ellis 1994,1996, 1997); die Grundbegriffe und Grundannahmen lassensich in vereinfachter (und auch für Klienten leicht verständli-cher) Form jedoch folgendermaßen beschreiben: Unter »A«(activating event) wird ein auslösendes Ereignis verstanden. Eskann sich dabei um ein äußeres oder innerpsychisches Ereignishandeln (z.B. Tod eines Familienangehörigen; Vorstellung desScheiterns bei einer bevorstehenden Prüfung). Der Punkt »B«(beliefs, belief systems) bezeichnet die Bewertung des Ereignis-ses A. Sie erfolgt aufgrund bestimmter bewusster oder unbe-wusster Überzeugungen (Bewertungsmuster, Einstellungenoder Lebensregeln), die in der auslösenden Situation durch dasIndividuum aktiviert werden. »C« (consequence) kennzeichnetschließlich die emotionalen Reaktionen und Verhaltensweisen,die auf A folgen (z.B. Trauer oder Depression; Sorge oderAngst). Die zentrale Annahme lautet: Emotionale und Verhal-tenskonsequenzen des Individuums (C) werden nicht direktdurch auslösende Ereignisse (A) verursacht; sie werden viel-mehr in erster Linie durch die Art der Bewertung dieser Ereig-nisse (B) hervorgerufen. Dabei hebt Ellis hervor, dass A, B undC einander stets wechselseitig stark beeinflussen und insofernkeine einfachen linearen Zusammenhänge postulierbar sind;als besonders bedeutsam für die Ausformung bestimmter

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Emotionen und Verhaltensweisen werden jedoch die Bewer-tungen unter Punkt B angesehen. (Die Bewertung eines Ereig-nisses als »irrelevant« führt zu keinen emotionalen Reaktio-nen, während die Bewertung als »günstig« zu positiven bzw.die Bewertung als »ungünstig« zu negativen Emotionen führt.)

Emotionale Störungen (damit sind in der RET sehr inten-sive und/oder langanhaltende negative Gefühle gemeint) unddamit einhergehende unangepasste Verhaltensweisen sindnach Ellis in erster Linie durch in der Situation A aktiviertesog. »irrationale« Überzeugungen bzw. Bewertungsmuster (ir-rational beliefs) bedingt. »Irrationale Überzeugungen« sindoperational dadurch definiert, dass sie zu »unangemessenen«Emotionen und Verhaltensweisen führen (wie z.B. starkerAngst, Depression, massivem, quälenden Ärger, Vermeidungs-verhalten, Abhängigkeiten), die das Individuum subjektiv be-lasten und die es an der Verwirklichung seiner persönlichenLebensziele hindern (sind also »irrational« im Sinne von»selbstschädigend«,»nicht zielführend«). Meist widersprechensolche »irrationalen« Überzeugungen einer »wissenschaftli-chen« Herangehensweise an die Realität, da sie z.B. in sich un-logisch sind (z.B. »Weil X mich nicht liebt, bin ich als Menschwertlos.«) oder weil sich für sie in der Realität keine hinrei-chenden Belege finden lassen (z.B. »Ich bin in jeder Hinsichtein Versager«); letztlich entscheidend für die Bestimmung desBegriffes »irrational« ist jedoch nicht die mangelnde Logikoder Realitätsnähe der Überzeugungen, sondern die Tatsache,dass das Individuum sie als belastend und hinderlich im Hin-blick auf die Erreichung seiner eigenen Lebensziele erlebt (vgl.Ellis 1991, S. 203). »Rationale Überzeugungen« dagegen füh-ren zu »angemessenen« (positiven oder negativen) Emotionenund Verhaltensweisen und helfen dem Menschen, seine selbst-gewählten Ziele zu erreichen, sind also »rational« im Sinnevon »hilfreich«, »zielführend«.

Nach Ellis werden Menschen bereits mit einer starken Dis-position zu irrationalem (im Sinne von selbstschädigendem,nicht zielführendem) Denken geboren. Eine Indoktrination mitirrationalen Bewertungsmustern erfolgt zunächst in der Kind-heit, z.B. durch Familie, Schule, Kirche, Freundeskreis, wirdjedoch auch während des gesamten weiteren Lebens, z.B.durch gesellschaftliche Institutionen und vor allem durch dieMassenmedien*, fortgesetzt. In aktuell belastenden Lebenssi-tuationen (z.B. Erfahrung von Zurückweisung, Misserfolg)

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werden solche irrationalen Bewertungsmuster aktiviert. Alsletztlich verantwortlich für die Entstehung und Aufrechterhal-tung psychischer Störungen wird die fortgesetzte »Selbstin-doktrination« des Individuums mit diesen irrationalen Über-zeugungen in Form innerer Selbstgespräche angesehen.

In verschiedenen Veröffentlichungen hat Ellis diejenigenirrationalen Überzeugungen, die seiner Meinung nach in derwestlichen Welt gegenwärtig bei psychisch gestörten Men-schem am häufigsten anzutreffen sind (vgl. z.B. Ellis 1997), in-haltlich beschrieben. Bei Walen, DiGiuseppe & Wessler (2005)werden diese auf folgende vier Grundkategorien zurückge-führt:

Kasten 2: Vier Grundkategorien irrationaler Überzeugungen

1. Absolute Forderungen (Muss-Gedanken oder »Mussturbatio-nen«): Diese bilden die erste und übergeordnete Kategorie irra-tionaler Überzeugungen. Eigene Wünsche und Vorlieben wer-den hier zu absoluten Bedürfnissen und Notwendigkeiteneskaliert (»ich muss …«, »die anderen müssen …«, »meine Le-bensbedingungen müssen …«).

2. Globale negative Selbst- und Fremdbewertungen: Statt einzelneVerhaltensweisen, Leistungen und Eigenschaften einzuschät-zen, wird die ganze Person als unzulänglich und minderwertigbewertet (»ich tauge nichts/bin wertlos/ein Versager …«; »derandere taugt nichts/ist ein verdammenswertes Subjekt …«).

3. Katastrophendenken: Katastrophengedanken verzerren die Be-deutsamkeit eines negativen (externen oder innerpsychischen)Ereignisses; negative Ereignisse werden in der subjektiven Be-wertung einer Katastrophe gleichgesetzt (»es ist/wäre absolutschrecklich/fürchterlich, wenn …«).

4. Niedrige Frustrationstoleranz: Negative Ereignisse werden als»nicht aushaltbar«/»unerträglich« bewertet; die Person siehtsich als unfähig an, den befürchteten oder bereits eingetretenenZustand zu ertragen (»ich kann/könnte es nicht aushalten/er-tragen, wenn …«).

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* vgl. z.B. populäre Schlagertexte wie »Ohne Dich bin ich ein Nichts,kann ich nie wieder glücklich sein!« oder »Ich will alles, und zwarsofort!« ©

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Viele irrationale Überzeugungen lassen sich nach Ellis als Ver-knüpfung von absoluten Forderungen (Kategorie 1) einerseitsmit Bewertungen der Kategorien 2 bis 4 andererseits auffas-sen. Dabei stellen im Sinne eines Syllogismus die absolutenForderungen (»ich/die anderen/meine Lebensbedingungenmüssen …«) die Prämissen und die Bewertungen (als »wert-los«, »schrecklich« und »nicht auszuhalten«) die Konklusio-nen/Schlussfolgerungen bei Nichterfüllung dieser Forderungendar. Ein Beispiel für eine solche irrationale Überzeugung wäre:»Ich muss stets von allen mir wichtigen Menschen aner-kannt/gemocht werden. Andernfalls bin ich ein Nichts.«

Insbesondere die Selbstindoktrinationen des Individuumsmit solchen, auf absoluten Forderungen an sich selbst, andereund die Welt (= »Prämissen«, Kategorie 1) beruhenden Bewer-tungsmustern bilden nach Ellis den Kern der meisten neuroti-schen und Persönlichkeitsstörungen (vgl. dazu im Übrigenauch K. Horney, 1945, auf die sich Ellis ausdrücklich bezieht).Verzerrte bzw. fehlerhafte Interpretationsprozesse, wie sie vonBeck in seinem Ansatz betont werden (z.B. willkürlicheSchlussfolgerungen, Übergeneralisierungen, dichotomes Den-ken etc.) sind nach Ellis Ableitungen und Folge derarti-ger grundlegender irrationaler (auf absolutistischen Forderun-gen beruhender) Bewertungsmuster. Wenn z.B. der Klient aneinem Punkt A wahrnimmt: »Person X mag mich nicht« unddaraus übergeneralisierend schlussfolgert »Keiner mag mich«,so liegt dem nach Ellis mit hoher Wahrscheinlichkeit eine ab-solutistische Forderung als zentrale Lebensphilosophie (»de-mandingness«) zugrunde, die lauten könnte: »Ich muss von al-len mir wichtigen Menschen gemocht werden. Andernfalls istdas schrecklich und beweist meine Wertlosigkeit.« Diese zen-trale Lebensphilosophie steuert die Wahrnehmung, Interpreta-tion und Bewertung künftiger auslösender Situationen A (vgl.Ellis 1996, S. 19, 25).

Irrationale Überzeugungen der oben beschriebenen Artbzw. Varianten und Kombinationen dieser Überzeugungenführen nach Ellis jeweils zu unterschiedlichen emotionalenund Verhaltensproblemen (vgl. dazu einführend: Wessler &Wessler 1980; Ellis & Bernard 1984, 2006; Crawford & Ellis1989). Im Bereich der Emotionen differenzierte Ellis nach Artder beteiligten irrationalen Überzeugungen zwei grundlegende»Angstformen«, für die er neue Konzepte prägte (Ellis 1979b,1980a): Unter »Ego anxiety« (Ich-Angst) versteht er eine

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Emotion, die entsteht, wenn eine Person ihr Selbst bzw. ihrenWert als Person bedroht sieht. Sie geht vor allem mit absolutenForderungen an die eigene Person (»Ich muss mich immerzuals kompetent erweisen/von anderen anerkannt werden.«) undglobalen negativen Selbstbewertungen einher (»Ich wäre einVersager/wertloser Mensch, wenn mir das nicht gelänge.«).Mit »Discomfort anxiety« (Angst vor Unbehagen/Unangeneh-men) hingegen bezeichnet er eine Emotion, die dann auftritt,wenn die eigene Bequemlichkeit bzw. das eigene Wohlergehenals gefährdet angesehen wird. Sie beruht im Wesentlichen aufabsoluten Forderungen an andere bzw. die eigenen Lebensbe-dingungen (»Die anderen müssen sich so verhalten/die Weltmuss so sein, wie ich es will.«) und Kognitionen der geringenFrustrationstoleranz (»Ich könnte es nicht ertragen/aushalten,wenn es nicht so wäre.«). Beide »Angstformen« treten nachEllis bei vielen psychischen Störungen gemeinsam auf, fordernaber eine getrennte therapeutische Bearbeitung.

Ein weiteres, von Ellis neu geprägtes und für die RET we-sentliches Konzept ist das des sog. »Symptomstresses«: Der»Symptomstress« bezeichnet die Fähigkeit von Klienten, sichdarüber zu beunruhigen, dass sie bestimmte Symptome (selbst-schädigende Emotionen und Verhaltensweisen) bei sich wahr-nehmen. Er lässt sich in Form eines sog. »sekundären ABCs«darstellen, in dem eine bestimmte belastende Emotion oderVerhaltensweise (das C des sog. »primären ABCs«, z.B. Angstvor öffentlichem Reden) zum A einer neuen Kette wird, in derdann eine weitere irrationale Bewertung (z.B. »Es ist schreck-lich, dass ich diese Angst habe. Ich müsste mich besser im Griffhaben.«) zu einer weiteren belastenden Emotion oder Verhal-tensweise (z.B. Ärger über die Angst) führt. Mit Hilfe diesersekundären ABCs lässt sich nach Ellis erklären, wieso Klientenz.B. Ärger über ihre Angstsymptome, Angst vor ihrer Angst,Depressionen wegen ihrer Ängste, Depressionen über ihre De-pressionen entwickeln und dadurch ihre primären Symptomenoch verstärken bzw. neue hinzufügen. Da der Symptomstressdie Auseinandersetzung mit dem Ausgangsproblem behindert,indem er den Klienten hindert, die primären Emotionen alsTeil seines Erlebens anzuerkennen und zuzulassen, ist seine Be-arbeitung in der Therapie der Bearbeitung des primären Pro-blems vorgeschaltet (vgl. z.B. Ellis 1979b).

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2 Theoretische Grundlagen der Kognitiven Umstrukturierung: Die »Kognitiven Therapien« nach Ellis, Beck und Meichenbaum

Im Folgenden sollen die drei Hauptströmungen der KognitivenTherapie vorgestellt werden: die Rational-Emotive Therapienach Ellis, die Kognitive Therapie nach Beck und das Stress-impfungstraining nach Meichenbaum. Den Abschluss des Ka-pitels bildet eine Zusammenschau der drei Ansätze.

Da es sich bei dem vorliegenden Buch nicht um eine wissenschaftlicheAbhandlung zum Vergleich der drei Ansätze handelt, sondern um denVersuch, aus den drei Ansätzen Hilfen für die psychotherapeutischePraxis abzuleiten, werden wissenschaftlich interessante Themen wiez.B. die verschiedenen Hypothesen zu den Beziehungen zwischenKognitionen und Emotionen oder auch die bisher ungeklärte Frageder eigentlichen Wirkmechanismen bei der Kognitiven Umstrukturie-rung im Rahmen dieses Buches nicht diskutiert.

Die Ansätze werden jeweils in ihren Grundzügen kurz umris-sen; einführende, praxisorientierte Literatur ist im Folgendenzusammengestellt.

– Praxisorientierte Leseempfehlungen zur Rational-EmotivenTherapie: Ellis & Grieger (1995, 1. Aufl. 1979), Walen,DiGiuseppe & Wessler (2005, 1. Aufl. 1982), Schelp, Gra-vemeier & Maluck (1997, 1. Aufl. 1990), Ellis 1997

– Praxisorientierte Leseempfehlungen zur Kognitiven Thera-pie nach Beck: Beck, Rush, Shaw & Emery (2001, 1. Aufl.1981), Hautzinger (2003, 1. Aufl. 1989), Beck & Freeman(1999, 1. Aufl. 1993), Beck, J. (1999)

– Praxisorientierte Leseempfehlungen zum Meichenbaum-schen Stressimpfungstraining: Meichenbaum (1995a,1. Aufl. 1979), Meichenbaum (2002 )

Zu betonen ist schon hier, dass alle drei Ansätze sich in ihrempraktisch-therapeutischen Vorgehen sehr ähneln. Die konzep-tuellen Unterschiede zwischen den Ansätzen dürften innerhalbder klinischen Praxis teilweise kaum identifizierbar sein.Neuere theoretische Entwicklungen innerhalb der drei Ansätzewerden in Kap. 7 kurz diskutiert, haben aber für das hier dar-

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gestellte Standardvorgehen, das die Grundlage kognitiv-ver-haltenstherapeutischen Handelns darstellt, zunächst keine Be-deutung. Aus diesen neueren theoretischen Überlegungen ab-geleitete praktische Empfehlungen werden erst auf der Basisdieses Vorgehens verständlich und anwendbar.

Das grundlegende theoretische Modell menschlichen Erle-bens und Verhaltens und das damit verbundene Menschenbildist für Vertreter aller drei Ansätze gleich verbindlich. Es besagtim Wesentlichen das, was bereits der römische Stoiker Epiktet(50–138 n.Chr.) formulierte: »Nicht die Dinge selbst beunru-higen die Menschen, sondern ihre Vorstellungen von denDingen« (Epiktet 1984, S. 24), ein Satz, der in fast allen ein-führenden Lehrbüchern zur Kognitiven Therapie zitiert wird.Demnach kann der Mensch über seine »Vorstellungen« (Kog-nitionen) sein Erleben und Verhalten in entscheidendem Maßeselbst bestimmen. Er ist also – im Gegensatz zu klassisch-beha-vioristischen Auffassungen – Umwelteinflüssen (bestimmtenStimuli, Verstärkern) nicht hilflos ausgeliefert und – im Gegen-satz zu klassisch-psychoanalytischen Auffassungen – nichtpassives Opfer seiner vergangenen Erfahrungen, sondern erkann, durch die Art und Weise, wie er die Ereignisse und Situ-ationen in seinem Leben »kognitiv verarbeitet«, wie er sieinterpretiert und bewertet, sein aktuelles Erleben und Verhal-ten selbst steuern bzw. zumindest beeinflussen – eine Auffas-sung, der sowohl die moderne Verhaltenstherapie wie auch diemoderne Psychoanalyse weitgehend zustimmen dürften, dieaber so explizit zuerst von Vertretern Kognitiver Therapiever-fahren formuliert wurde.

Sogenannte »dysfunktionale« Kognitionen tragen dabei ausSicht der Kognitiven Therapien zu psychischen Störungen (emo-tionalen und Verhaltensstörungen) bei; in der Therapie geht esentsprechend darum, diese dysfunktionalen Kognitionen inRichtung »funktionaler« Kognitionen zu beeinflussen, um da-durch das damit verbundene psychische Leid zu verringern.

Kasten 1: Grundannahme Kognitiver Therapien

Situation > Kognitionen« > Emotionen/Verhalten

Situation > »dysfunktionale > psychische StörungenKognitionen« (emotionale und

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Der Begriff der »Kognitionen« (bzw. dysfunktionalen Kogni-tionen) umfasst dabei so unterschiedliche Dinge wie Wahrneh-mungen, Interpretationen und Bewertungen von Ereignissen,Annahmen und Hypothesen, Antizipationen und Erwartun-gen, Lebensregeln und Lebensphilosophien, Einstellungen,Überzeugungen, Grundhaltungen, inneres Sprechen, Selbstver-balisationen, Bewältigungssätze, Denkfehler u.ä. Er wird inden verschiedenen Ansätzen Kognitiver Therapien unter-schiedlich spezifiziert (vgl. die Darstellung der Ansätze in denfolgenden Abschnitten). Folgt man der in der modernen Emo-tionstheorie geläufigen Unterscheidung zwischen »kognitivenInhalten«, »kognitiven Strukturen« und »kognitiven Prozes-sen«, so handelt es sich in allen drei Ansätzen um die Spezifi-zierung bestimmter kognitiver Inhalte (vgl. Schelp & Kemmler1988, 1991). Im Folgenden wird jedoch – der Einfachheit hal-ber – weiter von dem Oberbegriff der »Kognitionen« gespro-chen (mit der Unterscheidung in funktionale und dysfunktio-nale Kognitionen).

Mit ihren Auffassungen bzw. Menschenbildannahmen wa-ren bzw. sind Ellis, Beck und Meichenbaum Vorreiter undVertreter der sog. »Kognitiven Wende«, die in den 1960er/1970er-Jahren die gesamte Psychologie erfasste: Das bis dahinvorherrschende »Behavioristische Forschungsparadigma«, ge-prägt durch Namen wie Pavlow und Skinner und durch dieBegriffe des klassischen und operanten Konditionierens, wur-de abgelöst durch das sog. »Kognitive Forschungsparadigma«,geprägt durch Namen wie Heider, Kelly, Bandura und – in derKlinischen Psychologie – neben Ellis, Beck und Meichenbaumvor allem auch Mahoney, Maultsby und A. Lazarus. Die For-schung wandte sich internen Prozessen wie Ursachenzuschrei-bungen, Erwartungen, Kontrollüberzeugungen u.ä. zu. DasKognitive Forschungsparadigma sieht den Menschen als refle-xives, ständig Hypothesen (über sich und seine Umwelt) gene-rierendes und prüfendes Subjekt (»man as scientist«-Modell,vgl. Groeben & Scheele 1977). Die Verhaltenstherapie rezi-pierte Anfang der 80er Jahre dies neue Modell weitgehend underkannte zunehmend die Bedeutung von Kognitionen für dieEntstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung von psychi-schen Störungen (sog. »Kognitive Wende der Verhaltensthera-pie«).

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Die Rational-Emotive Therapie nach Ellis

Die Rational-Emotive Therapie (»RET«, seit 1993 auch alsRational-Emotive Verhaltenstherapie »REVT« bezeichnet) istder älteste der drei kognitiv-psychologischen Behandlungsan-sätze und wurde in den 1950er-Jahren von dem amerikani-schen Psychologen A. Ellis entwickelt. Wie bei vielen anderenneueren Richtungen der Psychotherapie war auch für die Ent-wicklung der RET die Auseinandersetzung mit der klassischenPsychoanalyse ein wichtiger Ausgangspunkt.

Albert Ellis (geb. am 27.9.1913) war erst mit 29 Jahren zum Psycho-logiestudium gekommen, nachdem er zunächst eine kaufmännischeAusbildung absolviert und mehrere Jahre als Kaufmann gearbeitet hat-te. Nach seiner Promotion 1947 an der Columbia Universität in NewYork arbeitete er als leitender Psychologe mit abgeschlossener psycho-analytischer Ausbildung an verschiedenen klinischen und diagnosti-schen Institutionen in New Jersey. 1952 eröffnete er in New York alsPsychoanalytiker seine eigene Praxis, setzte sich aber in verschiedenenStudien intensiv mit den Positionen der Psychoanalyse auseinander, dieer zunehmend in Frage stellte. Bereits ab 1954 verstand er sich nichtmehr als Psychoanalytiker und begründete seinen eigenen psychothera-peutischen Ansatz, die Rational-Emotive Therapie, die er 1955 erst-mals vorstellte und seitdem kontinuierlich weltweit propagiert, aberauch beständig weiterentwickelt (vgl. zu diesen Ausführungen zur Per-son von A. Ellis Hoellen 1993). 1961 gründete er das Institut für Ra-tional-Emotive Therapie in New York, dessen (aktiver) Präsident erauch heute noch ist. Obwohl er seinen Ansatz außerhalb der akademi-schen Psychologie (eher aus seiner praktischen psychotherapeutischenTätigkeit heraus) entwickelte und Ellis für die wissenschaftliche Klini-sche Psychologie lange Zeit als nicht ernst zu nehmender und häufigauch provozierender Außenseiter galt, hielt er seinen Ansatz doch stetsfür eine wissenschaftlich-empirische Überprüfung offen. Inzwischenzählen die kognitiv-behavioralen, stark von Ellis beeinflussten Thera-piemethoden zu den wissenschaftlich in ihrer Wirksamkeit am bestenabgesicherten Therapieverfahren unserer Zeit (vgl. Meyer et al. 1991;Grawe et al. 1994). Ellis wird mittlerweile als »Grandfather« der Kog-nitiven Therapien gesehen; alle Autoren, die Arbeiten zur KognitivenUmstrukturierung vorgelegt haben, nehmen zumindest unter anderemBezug auf die RET von Ellis (vgl. Fliegel et al. 1998, S. 192).

Zentrale Annahmen und Begriffe

Wie bereits erwähnt, unterscheiden sich die verschiedenen Ver-treter Kognitiver Therapieverfahren in ihrer Spezifizierung der

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sog. »dysfunktionalen« (unangemessenen, störungsgenerieren-den) Kognitionen. Ellis beschäftigt sich in seinem Ansatz pri-mär mit dem Einfluss, den Bewertungen bzw. Bewertungsmus-ter (»beliefs«, »belief systems«) für die Entstehung undAufrechterhaltung von Emotionen und Verhaltensweisen ha-ben; sog. »irrationale Bewertungen« werden als zentral für dieEntstehung und Aufrechterhaltung psychischer (emotionalerund Verhaltens-) Störungen angesehen.

Die Begriffe »irrational« und »rational« werden in ihrer deutschenÜbersetzung häufig missverstanden und führen daher nicht selten zuFehleinschätzungen der RET (vgl. Schelp & Kemmler 1988, Wilken1994). »Irrational« wird von Ellis – abweichend vom deutschenSprachgebrauch – synonym mit »inappropriate« (unangemessen,nicht hilfreich, nicht zielführend, selbstschädigend) gebraucht. »Ra-tional« hingegen hat nichts mit »gefühllos« oder »verkopft« zu tun,sondern wird synonym mit »appropriate« (angemessen, hilfreich, ziel-führend) verwandt.

Grundlegend für die RET ist die sog. »ABC-Theorie« (vgl. El-lis 1977, 1979a). Sie wurde inzwischen mehrfach modifiziertund erweitert (vgl. z.B. Wessler & Wessler 1980; Ellis 1994,1996, 1997); die Grundbegriffe und Grundannahmen lassensich in vereinfachter (und auch für Klienten leicht verständli-cher) Form jedoch folgendermaßen beschreiben: Unter »A«(activating event) wird ein auslösendes Ereignis verstanden. Eskann sich dabei um ein äußeres oder innerpsychisches Ereignishandeln (z.B. Tod eines Familienangehörigen; Vorstellung desScheiterns bei einer bevorstehenden Prüfung). Der Punkt »B«(beliefs, belief systems) bezeichnet die Bewertung des Ereignis-ses A. Sie erfolgt aufgrund bestimmter bewusster oder unbe-wusster Überzeugungen (Bewertungsmuster, Einstellungenoder Lebensregeln), die in der auslösenden Situation durch dasIndividuum aktiviert werden. »C« (consequence) kennzeichnetschließlich die emotionalen Reaktionen und Verhaltensweisen,die auf A folgen (z.B. Trauer oder Depression; Sorge oderAngst). Die zentrale Annahme lautet: Emotionale und Verhal-tenskonsequenzen des Individuums (C) werden nicht direktdurch auslösende Ereignisse (A) verursacht; sie werden viel-mehr in erster Linie durch die Art der Bewertung dieser Ereig-nisse (B) hervorgerufen. Dabei hebt Ellis hervor, dass A, B undC einander stets wechselseitig stark beeinflussen und insofernkeine einfachen linearen Zusammenhänge postulierbar sind;als besonders bedeutsam für die Ausformung bestimmter

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Emotionen und Verhaltensweisen werden jedoch die Bewer-tungen unter Punkt B angesehen. (Die Bewertung eines Ereig-nisses als »irrelevant« führt zu keinen emotionalen Reaktio-nen, während die Bewertung als »günstig« zu positiven bzw.die Bewertung als »ungünstig« zu negativen Emotionen führt.)

Emotionale Störungen (damit sind in der RET sehr inten-sive und/oder langanhaltende negative Gefühle gemeint) unddamit einhergehende unangepasste Verhaltensweisen sindnach Ellis in erster Linie durch in der Situation A aktiviertesog. »irrationale« Überzeugungen bzw. Bewertungsmuster (ir-rational beliefs) bedingt. »Irrationale Überzeugungen« sindoperational dadurch definiert, dass sie zu »unangemessenen«Emotionen und Verhaltensweisen führen (wie z.B. starkerAngst, Depression, massivem, quälenden Ärger, Vermeidungs-verhalten, Abhängigkeiten), die das Individuum subjektiv be-lasten und die es an der Verwirklichung seiner persönlichenLebensziele hindern (sind also »irrational« im Sinne von»selbstschädigend«,»nicht zielführend«). Meist widersprechensolche »irrationalen« Überzeugungen einer »wissenschaftli-chen« Herangehensweise an die Realität, da sie z.B. in sich un-logisch sind (z.B. »Weil X mich nicht liebt, bin ich als Menschwertlos.«) oder weil sich für sie in der Realität keine hinrei-chenden Belege finden lassen (z.B. »Ich bin in jeder Hinsichtein Versager«); letztlich entscheidend für die Bestimmung desBegriffes »irrational« ist jedoch nicht die mangelnde Logikoder Realitätsnähe der Überzeugungen, sondern die Tatsache,dass das Individuum sie als belastend und hinderlich im Hin-blick auf die Erreichung seiner eigenen Lebensziele erlebt (vgl.Ellis 1991, S. 203). »Rationale Überzeugungen« dagegen füh-ren zu »angemessenen« (positiven oder negativen) Emotionenund Verhaltensweisen und helfen dem Menschen, seine selbst-gewählten Ziele zu erreichen, sind also »rational« im Sinnevon »hilfreich«, »zielführend«.

Nach Ellis werden Menschen bereits mit einer starken Dis-position zu irrationalem (im Sinne von selbstschädigendem,nicht zielführendem) Denken geboren. Eine Indoktrination mitirrationalen Bewertungsmustern erfolgt zunächst in der Kind-heit, z.B. durch Familie, Schule, Kirche, Freundeskreis, wirdjedoch auch während des gesamten weiteren Lebens, z.B.durch gesellschaftliche Institutionen und vor allem durch dieMassenmedien*, fortgesetzt. In aktuell belastenden Lebenssi-tuationen (z.B. Erfahrung von Zurückweisung, Misserfolg)

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werden solche irrationalen Bewertungsmuster aktiviert. Alsletztlich verantwortlich für die Entstehung und Aufrechterhal-tung psychischer Störungen wird die fortgesetzte »Selbstin-doktrination« des Individuums mit diesen irrationalen Über-zeugungen in Form innerer Selbstgespräche angesehen.

In verschiedenen Veröffentlichungen hat Ellis diejenigenirrationalen Überzeugungen, die seiner Meinung nach in derwestlichen Welt gegenwärtig bei psychisch gestörten Men-schem am häufigsten anzutreffen sind (vgl. z.B. Ellis 1997), in-haltlich beschrieben. Bei Walen, DiGiuseppe & Wessler (2005)werden diese auf folgende vier Grundkategorien zurückge-führt:

Kasten 2: Vier Grundkategorien irrationaler Überzeugungen

1. Absolute Forderungen (Muss-Gedanken oder »Mussturbatio-nen«): Diese bilden die erste und übergeordnete Kategorie irra-tionaler Überzeugungen. Eigene Wünsche und Vorlieben wer-den hier zu absoluten Bedürfnissen und Notwendigkeiteneskaliert (»ich muss …«, »die anderen müssen …«, »meine Le-bensbedingungen müssen …«).

2. Globale negative Selbst- und Fremdbewertungen: Statt einzelneVerhaltensweisen, Leistungen und Eigenschaften einzuschät-zen, wird die ganze Person als unzulänglich und minderwertigbewertet (»ich tauge nichts/bin wertlos/ein Versager …«; »derandere taugt nichts/ist ein verdammenswertes Subjekt …«).

3. Katastrophendenken: Katastrophengedanken verzerren die Be-deutsamkeit eines negativen (externen oder innerpsychischen)Ereignisses; negative Ereignisse werden in der subjektiven Be-wertung einer Katastrophe gleichgesetzt (»es ist/wäre absolutschrecklich/fürchterlich, wenn …«).

4. Niedrige Frustrationstoleranz: Negative Ereignisse werden als»nicht aushaltbar«/»unerträglich« bewertet; die Person siehtsich als unfähig an, den befürchteten oder bereits eingetretenenZustand zu ertragen (»ich kann/könnte es nicht aushalten/er-tragen, wenn …«).

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* vgl. z.B. populäre Schlagertexte wie »Ohne Dich bin ich ein Nichts,kann ich nie wieder glücklich sein!« oder »Ich will alles, und zwarsofort!« ©

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Viele irrationale Überzeugungen lassen sich nach Ellis als Ver-knüpfung von absoluten Forderungen (Kategorie 1) einerseitsmit Bewertungen der Kategorien 2 bis 4 andererseits auffas-sen. Dabei stellen im Sinne eines Syllogismus die absolutenForderungen (»ich/die anderen/meine Lebensbedingungenmüssen …«) die Prämissen und die Bewertungen (als »wert-los«, »schrecklich« und »nicht auszuhalten«) die Konklusio-nen/Schlussfolgerungen bei Nichterfüllung dieser Forderungendar. Ein Beispiel für eine solche irrationale Überzeugung wäre:»Ich muss stets von allen mir wichtigen Menschen aner-kannt/gemocht werden. Andernfalls bin ich ein Nichts.«

Insbesondere die Selbstindoktrinationen des Individuumsmit solchen, auf absoluten Forderungen an sich selbst, andereund die Welt (= »Prämissen«, Kategorie 1) beruhenden Bewer-tungsmustern bilden nach Ellis den Kern der meisten neuroti-schen und Persönlichkeitsstörungen (vgl. dazu im Übrigenauch K. Horney, 1945, auf die sich Ellis ausdrücklich bezieht).Verzerrte bzw. fehlerhafte Interpretationsprozesse, wie sie vonBeck in seinem Ansatz betont werden (z.B. willkürlicheSchlussfolgerungen, Übergeneralisierungen, dichotomes Den-ken etc.) sind nach Ellis Ableitungen und Folge derarti-ger grundlegender irrationaler (auf absolutistischen Forderun-gen beruhender) Bewertungsmuster. Wenn z.B. der Klient aneinem Punkt A wahrnimmt: »Person X mag mich nicht« unddaraus übergeneralisierend schlussfolgert »Keiner mag mich«,so liegt dem nach Ellis mit hoher Wahrscheinlichkeit eine ab-solutistische Forderung als zentrale Lebensphilosophie (»de-mandingness«) zugrunde, die lauten könnte: »Ich muss von al-len mir wichtigen Menschen gemocht werden. Andernfalls istdas schrecklich und beweist meine Wertlosigkeit.« Diese zen-trale Lebensphilosophie steuert die Wahrnehmung, Interpreta-tion und Bewertung künftiger auslösender Situationen A (vgl.Ellis 1996, S. 19, 25).

Irrationale Überzeugungen der oben beschriebenen Artbzw. Varianten und Kombinationen dieser Überzeugungenführen nach Ellis jeweils zu unterschiedlichen emotionalenund Verhaltensproblemen (vgl. dazu einführend: Wessler &Wessler 1980; Ellis & Bernard 1984, 2006; Crawford & Ellis1989). Im Bereich der Emotionen differenzierte Ellis nach Artder beteiligten irrationalen Überzeugungen zwei grundlegende»Angstformen«, für die er neue Konzepte prägte (Ellis 1979b,1980a): Unter »Ego anxiety« (Ich-Angst) versteht er eine

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Emotion, die entsteht, wenn eine Person ihr Selbst bzw. ihrenWert als Person bedroht sieht. Sie geht vor allem mit absolutenForderungen an die eigene Person (»Ich muss mich immerzuals kompetent erweisen/von anderen anerkannt werden.«) undglobalen negativen Selbstbewertungen einher (»Ich wäre einVersager/wertloser Mensch, wenn mir das nicht gelänge.«).Mit »Discomfort anxiety« (Angst vor Unbehagen/Unangeneh-men) hingegen bezeichnet er eine Emotion, die dann auftritt,wenn die eigene Bequemlichkeit bzw. das eigene Wohlergehenals gefährdet angesehen wird. Sie beruht im Wesentlichen aufabsoluten Forderungen an andere bzw. die eigenen Lebensbe-dingungen (»Die anderen müssen sich so verhalten/die Weltmuss so sein, wie ich es will.«) und Kognitionen der geringenFrustrationstoleranz (»Ich könnte es nicht ertragen/aushalten,wenn es nicht so wäre.«). Beide »Angstformen« treten nachEllis bei vielen psychischen Störungen gemeinsam auf, fordernaber eine getrennte therapeutische Bearbeitung.

Ein weiteres, von Ellis neu geprägtes und für die RET we-sentliches Konzept ist das des sog. »Symptomstresses«: Der»Symptomstress« bezeichnet die Fähigkeit von Klienten, sichdarüber zu beunruhigen, dass sie bestimmte Symptome (selbst-schädigende Emotionen und Verhaltensweisen) bei sich wahr-nehmen. Er lässt sich in Form eines sog. »sekundären ABCs«darstellen, in dem eine bestimmte belastende Emotion oderVerhaltensweise (das C des sog. »primären ABCs«, z.B. Angstvor öffentlichem Reden) zum A einer neuen Kette wird, in derdann eine weitere irrationale Bewertung (z.B. »Es ist schreck-lich, dass ich diese Angst habe. Ich müsste mich besser im Griffhaben.«) zu einer weiteren belastenden Emotion oder Verhal-tensweise (z.B. Ärger über die Angst) führt. Mit Hilfe diesersekundären ABCs lässt sich nach Ellis erklären, wieso Klientenz.B. Ärger über ihre Angstsymptome, Angst vor ihrer Angst,Depressionen wegen ihrer Ängste, Depressionen über ihre De-pressionen entwickeln und dadurch ihre primären Symptomenoch verstärken bzw. neue hinzufügen. Da der Symptomstressdie Auseinandersetzung mit dem Ausgangsproblem behindert,indem er den Klienten hindert, die primären Emotionen alsTeil seines Erlebens anzuerkennen und zuzulassen, ist seine Be-arbeitung in der Therapie der Bearbeitung des primären Pro-blems vorgeschaltet (vgl. z.B. Ellis 1979b).

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