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MUSIK

VON: Wolfram Goertz 22.05.2013 - 17:36 Uhr 

200 JAHRE WAGNER:

Ein genialer Schurke

Richard Wagner schuf Großes und hielt sich für den Größten. Unstet war er, einGetriebener, ein Mann auf der Flucht und auf der Suche. Bis heute lässt er uns keine Ruhe.

© Sean Gallup/Getty Images

Richard-Wagner-Denkmal im Berliner Tiergarten

 Wagner wusste immer genau, was gut für ihn war und was ihn inspirierte, und so war das Hotel Schweizerhof in Luzern ein

idealer Ort. Der Blick aus dem Fenster auf den Vierwaldstätter See beruhigte sein nervöses Gemüt; hier vollendete er am 6.

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 August 1859 seine Oper Tristan und Isolde. Hinter ihm lagen strapaziöse Wochen, Monate, Jahre. Seit 1849, seit den

Dresdner Revolutionstagen, wurde er steckbrieflich gesucht. Er hatte in der Schweiz gelebt, dann in Venedig. Von dort aus

 war er nun abermals unter abenteuerlichen Bedingungen geflohen.

In der Schweiz, seinem alten und neuen Refugium, schwor er aber nicht nur auf den Lux us der Neutralität: Nie konnte es ihm

üppig genug sein. Das Hotel Schweizerhof ist bis heute ein nobles Etablissement. Prunk, aber diskret. I n den breiten Betten

konnte er träumen, ewig träumen. Seine Frau Minna hatte er nach Dresden geschickt, er musste klare Gedanken fassen und vor allem: den Tristan zu Ende komponieren.

Den hatte er zwei Jahre zuvor in der Schweiz begonnen – eine künstlerische Verklärung seiner Liebschaft zu Mathilde

 Wesendonck, mit der Wagner die zaghafte, doch amüsierwillige helvetische Gesellschaft unterhalten hatte. Die Beziehung war

typisch für Wagners frivolen Sachverstand: Die Frau war die Gemahlin seines Gönners Otto Wesendonck, betete ihn aber so

offensichtlich an, dass Wagner in ihr die ideale Muse erblickte – fügsam, hemmungslos parteiisch, gut aussehend, bereit für

Grenzübertritte.

Sündigen war Wagners Spezialität, v on den Zehn Geboten brach er alle bis auf das Verbot zu morden regelmäßig, und je näher

sich der Ehemann der Verehrten aufhielt, desto animierender für Wagner. I n diesem Rausch, den ein Ehebruch als

Nebenenergie erzeugte, kam Wagner auch künstlerisch in Fahrt.

 Als die Causa im April 1858 aufflog und wenig später allseits einvernehmlich zu den Akten gelegt wurde, brauchte es keine

drei Monate, bis Wagner das nächste ahnungslose Pärchen zuflog: Hans und Cosima von Bülow – er aufstrebender Dirigent,

sie die uneheliche Tochter des Komponisten Franz Liszt. Beide schwärmten für Wagner wie glühende Novizen. Für Wagner

 war dies wieder einmal eine ideale Situation: Bülow konnte seine Werke dirigieren, Cosima ihn verwöhnen, vorerst heimlich. Wie Wagner später schrieb, legten die beiden auf einer Kutschfahrt im November 1 863 in Berlin ein Gelübde ab: "Unter

Tränen und Schluchzen besiegelten wir das Bekenntnis, uns einzig gegenseitig anzugehören."

Unverhohlen sprach er von seiner Rolle als Messias

Diese zwei Kurzbesuche in Richard Wagners erotischem Gewächshaus zeigen die ganze Unverfrorenheit und libidinöse

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Schaffensenergie dieses durchgeknallten und einzigartigen Mannes. Wer ihm begegnete, erschrak und wunderte sich – wie

kindisch er sich benahm; wie pompös und monomanisch er Gesellschaften unterhielt; wie unverhohlen er von seiner Rolle als

Messias sprach; wie er im Plüsch schwelgte; wie er mit wenigen Akkorden am Klavier eine unheimliche Eindringlichkeit

erzeugte; wie er auf Kaiser und Könige einredete und sich benahm wie ein unerzogenes Kind; wie er v on jetzt auf gleich in

 Weinkrämpfe fiel und im nächsten Momente vor Freude Luftsprünge vollführte; wie er edelste Gemüter ungeniert um Geld

anpumpte.

Das Genialische zeigte sich seinen Bewunderern auch darin, wie Wagner alles, was ihm widerfuhr, sogleich zur Kunst

überhöhte. So trägt nicht nur der Tristan unverkennbar autobiografische Züge. Durch den Liebestod am Ende heiligt Wagner

in gleich mehreren seiner Musikdramen die irdische Verzückung, das allzu menschliche Leiden. Zurück bleibt – in der Oper –

der gefasste Dritte, dem Isolde als Braut und Tristan als Vertrauter v erloren gehen: König Marke. Den Liebenden wird

 vergeben. Aber auch im wirklichen Leben konnte kein Marke lange böse sein auf Wagner. Sogar Wesendonck begriff mit

einem resignierten Lächeln: Der Mann kann nicht anders; er braucht das.

 Wahrscheinlich hat diese Nachsicht seiner Kreditgeber Wagners Kunst überhaupt ermöglicht. Rastlos suchte Wagner nachGeldtöpfen, immer wieder floh er vor seinen Gläubigern – eine Disziplin, in der er es zur Meisterschaft brachte. Geübt hatte

er dafür schon früh: 1839 musste er als Kapellmeister mit horrenden Schulden aus Riga fliehen. Die Reise ging über die

stürmische Ostsee. Die setzte dem Angsthasen Wagner dermaßen zu, dass er zur Vertiefung gleich die passende Lektüre zur

Hand nahm, Heinrich Heines Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski, eine Salonerzählung über einen

"verwünschten Kapitän", von dessen sagenhafter Erscheinung ihm bereits die Matrosen an Bord gesungen hatten.

Literarisch derart munitioniert, schrieb Wagner zwischen 1840 und 1843 eine (von orchestralen Stürmen umtoste) Oper über

Leben und Sterben an der Küste: den Fliegenden Holländer. Ihr Ende wurde zum Kardinalthema seines Schaffens, dem erimmer neue Variationen abrang: Frau erlöst v erfluchten Mann durch Tod. Bereits im Tannhäuser (1845) deklinierte er das

Thema ein zweites Mal: Auch dieses Musikdrama handelt von einem getriebenen Mann, dem ein liebend Weib Wärme und

Liebe, Nachsicht und am Ende Vergebung spendet. Stark gerät dabei das Sündigen in den Fokus, doch ist der Titelheld

erstens Künstler und zweitens ein Tenor. Seine Spitzentöne sind die Bajonette im Kampf mit den verlockenden und

 widerstreitenden Welten – auf der einen Seite Venus’ Lustgrotte, auf der anderen Elisabeths Madonnenseele.

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Das sind natürlich Themen, zu denen ein junger Komponist nur mit einer gewissen Furchtlosigkeit und einem mehr als

gesunden Selbstwertgefühl v ordringen konnte. Bei Claudio Monteverdi, Georg Friedrich Händel oder Wolfgang Amadeus

Mozart müssen Figuren nur selten v on einer Schuld oder Sünde erlöst werden. Das lag nicht daran, dass diese Komponisten

kein Gespür für die psy chischen Konsequenzen menschlicher Verfehlungen gehabt hätten. Aber im damaligen

Opernregelwerk wurde Absolution einzig von höherer Stelle erteilt (zuweilen kam noch der gute alte Deus ex Machina, und

alles war wieder gut).

 Wagner las wie ein Besessener

 Wagner aber ahnte früh, dass die Revolution der Oper umfassend stattfinden musste: über ihre Inhalte, ihre Form, ihre

Musik und ihre Sprache. Und er ahnte, dass diese Aufgabe ihm übertragen war. Wie solch eine monströse Pflicht zu erfüllen

 war? Dies "konnte nur einem höchst begabten Auserlesenen vorbehalten sein, der, durch und durch vollendeter Musiker,

zugleich durch und durch anschauender Dichter" war. Das schrieb Wagner im Jahr 1857 über Franz Liszt, aber es ist klar, wen

er wirklich meinte: sich selbst.

 Wagner mangelte es nicht an Quellen der Inspiration, er las ja wie ein Besessener. Die erste und entscheidende Anfeuerung

aber erlebte er als biografischen Doppelschlag, als Frontalangriff auf sein weit aufgesperrtes Sensorium, der ihn zuerst in den

 Abgrund schauen und lauschen ließ und dann hinauf zum Sternenzelt. In Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz hatte

1822 die Betrachtung der "Wolfsschlucht" als Ort des Grauens und des Schauderns bei dem zehnjährigen Knaben Richard

 wohligste Emotionen freigesetzt. Diese Oper nahm er sich zum Vorbild, sie wurde zum Inkubator seines Wunsches, Komponist

zu werden. Und nach einer Aufführung der 9. Sinfonie d- moll mit ihrem himmelstürmenden Schlusschor wurde Ludwig van

Beethoven 1828 sein Abgott. Bis zu seinem Lebensende setzte er als Dirigent Beethovens Werke aufs Programm.

Zu Wagners Geburt begann in Leipzig die Völkerschlacht

 Abgründiges Schaudern und himmlisches Entzücken – beides erlebte Wagner auch schon in jungen Jahren in Leipzig: Seine

Kindheit lag buchstäblich in Trümmern, im Jahr seiner Geburt 1813 begann in Leipzig die Völkerschlacht, der Vater starb an

einer Infektion. Doch heiratete die Mutter wenig später den Schauspieler Ludwig Geyer, der sich liebevoll um die Familie

kümmerte. Richard, das jüngste der insgesamt neun Kinder, nannte er seinen "kleinen Kosaken" und machte ihn mit der

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 bunten, beglückenden Welt des Theaters vertraut.

 Als Geyer starb, bekam Wagner, nun in Dresden, in dem gefeierten Hofkapellmeister Carl Maria von Weber (der mit den

Geyers befreundet war) per Zufall den perfekten Lehrherrn und Animateur. Wagner sah, wie ein Komponist seinen Triumph

erlebte und auskostete. Der Wunsch, es Weber nachzumachen, wirkte auf ihn wie eine Droge. Allerdings war bereits der junge

Künstler, der 1 830 fürs Leipziger Gewandhaus eine heftig ausgelachte Politische Ouvertüre komponierte, nicht gewillt, auf 

einer einzigen Hochzeit zu tanzen. Als Jugendlicher entdeckte er, dass es eine Welt jenseits der Notenköpfe und Libretti gab(wobei die Grenzen durchlässig waren): eine Welt, in der Künstler wie er darben und betteln mussten. Dies erschien dem

 jungen Künstler dringend reformbedürftig. So entwickelte sich bei Wagner ein politischer Enthusiasmus, der sich 1830 an der

Pariser Juli-Revolution entzündete und ihn 1849 in Dresden selbst auf die Barrikaden trieb.

In den knapp zwanzig Jahren dazwischen erlebte Europa einen jungen Star, der nirgendwo sesshaft wurde, der stets mehr

ausgab, als er verdiente, und der einen Posten nach dem anderen eroberte und gleich wieder verlor. Würzburg, Böhmen,

Magdeburg – dort Heirat mit der Schauspielerin Minna Planer –, Berlin, Königsberg, Riga, London, Paris: Auf diesen

Stationen lernte Wagner viele Menschen und Mentalitäten kennen. Und je höher sich seine Schulden auftürmten, destoraffinierter, aber auch peinlicher wurden seine Bettelbriefe.

Sein Ziel war es, endlich eine große Oper erfolgreich auf die Bühne zu bringen. Um dieses Ziel zu erreichen, war ihm jede

Niedertracht recht. Und jede Selbstdemütigung: Wagner komponierte ein Werk im Stil der verhassten Grand Opéra, den

 Rienzi . Für dessen Uraufführung in Dresden setzte sich kein Geringerer als der einflussreiche Komponist Giacomo Meyerbeer

ein – den Wagner um Gefälligkeiten bat, wo er nur konnte, dessen Kunst er aber verachtete. Brieflich ließ er ihn das natürlich

nicht spüren: "Nehmen Sie meinen Kopf und mein Herz als Ihr eigen, mein Meister. Ich werde ein treuer, redlicher Sklave

sein, denn ich gestehe es offen, daß ich Sklaven-Natur in mir habe. Mir ist unendlich wohl, wenn ich mich unbedingt hingebenkann, bedingungslos, mit blindem Vertrauen. Kaufen Sie mich darum, mein Herr, Sie machen keinen ganz unwerten Kauf."

 Ausgerechnet Meyerbeer – den Wagner in seinen späteren antisemitischen Ausfällen in jenen Staub zerrte, durch den er

selbst gekrochen war, um an Geld und Protektion zu kommen. Opportunistisch mag man diese Haltung schon nicht mehr

nennen.

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Zwischenzeitlich aber plagten Wagner andere Fragen. In Paris musste er sogar seine Eheringe zum Pfandleiher bringen. Die

Schulden überwucherten auch die schönen Erfolge, die sein Rienzi in Dresden feierte.

Die Sehnsucht, den Musikbetrieb von Grund auf zu erneuern

Da kamen neue Lektürefrüchte gerade recht. Überwältigt war Wagner von Pierre-Joseph Proudhons umstürzlerischer These

 Eigentum ist Diebstahl sowie von den atheistischen Parolen des Philosophen Ludwig Feuerbach. Die Gedanken gärten in ihm.Zunächst hatte er allerdings einen neuerlichen Rückschlag zu verwinden: Der Fliegende Holländer, der 1843 ebenfalls in

Dresden Uraufführung hatte, wurde wegen des Desinteresses des Publikums nach der vierten Vorstellung abgesetzt. Einzig

der König zeigte sich erkenntlich – auf eine Weise, die Wagner frappieren musste: Friedrich August II. ernannte ihn zum

Königlich-Sächsischen Hofkapellmeister. Wagner war damals 29 Jahre alt und hätte sich gemütlich zurücklehnen können.

 Aber seine Mission begann eigentlich erst in diesem Moment, da er zum Establishment zählte.

Schon lange spürte Wagner die Sehnsucht, den Musikbetrieb von Grund auf zu erneuern. Behutsam vorzugehen war

allerdings seine Sache nicht. Ihm gefielen die dröhnende Pauke, die Lärmtrompete und der Feuerzauber besser. Im KurortMarienbad hatte er sich Stoffe für neue Projekte angelesen und sie gleich in Prosa-Entwürfen (für Lohengrin, für Die

 Meistersinger von Nürnberg und für Parsifal ) festgehalten. Seine neueste Oper, der Tannhäuser, versprach 1845 nach

ersten vernichtenden Rezensionen doch noch ein Erfolg zu werden. Aber ihm schwebte etwas radikal Neues vor: das

Kunstwerk der Zukunft. – Wie konnte es aussehen?

Das Publikum sollte sich dem Drama auf der Bühne ausliefern

Oper war bis dahin Nummernoper. Eine Arie reihte sich an die andere, die Leute konnten zwischendurch rein- undrausgehen, konnten jegliche Spannung durch Zwischenapplaus zerklatschen. Zudem waren die Opernhäuser, wie Wagner

glaubte, miserabel geführt, gelähmt von Neid, mittelmäßigen Intendanten und korrupten Sekretären.

 Wagner wollte alles anders machen: Das Publikum sollte nicht kommen, klatschen und gehen, wann es ihm gefiel; es sollte sich

der Musik, dem Drama auf der Bühne ausliefern. Er wollte die Menschen bannen durch ein einzigartiges, ungewöhnliches

Konstrukt aus Text und Musik, einen symbolreichen Mythenzauber. Im Zentrum sollte der Meister selbst walten, als

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Klangschöpfer, Dirigent und Regisseur – der Meister: er selbst. Die traditionelle Aufgabenteilung zwischen dem Komponisten

und dem Librettisten hatte Wagner, der sich auch als Dichter begriff, ohnehin schon überwunden.

Der Anfang für diese neuen Entwicklungen war in Holländer und Tannhäuser gemacht, aber Wagner wollte mehr. Er wollte

nicht nur die Kunst revolutionieren, sondern auch das Leben und die Politik, und so schwang sich der Künstler zum Kämpfer

auf, zum politischen Anarchisten, seine Pflichten als Staatsdiener vollständig ausblendend. Wagner verteilte eigenhändig

 verfasste rev olutionäre Schriften und erkletterte bei der Mai-Rev olution in Dresden 1849 die Barrikaden, Seite an Seite mitzwei Freunden: dem Musiker August Röckel und dem russischen Anarchisten und Profi-Revolutionär Michail Bakunin.

 Als der Aufstand niedergeschlagen wurde, tauchte Wagner unter und hatte einen ganzen Staat auf den Fersen. Der Steckbrief 

notierte: "Der königl. Capellmeister Richard Wagner ist wegen wesentlicher Teilnahme an der in hiesiger Stadt

stattgefundenen aufrührerischen Bewegung zur Untersuchung zu ziehen. Es werden daher alle Polizeibehörden ersucht,

 Wagnern zu verhaften. Wagner ist 37–38 Jahre alt, mittler Statur, hat braunes Haar und trägt eine Brille." Der Gesuchte

 besaß die Dreistigkeit, ausgerechnet bei Franz Liszt in Weimar unterzuschlüpfen und ihn so lange anzuquengeln, bis er ihm

einen falschen Pass besorgte, mit dem Wagner fliehen konnte – in die Schweiz.

Die Konstanten dieses unsteten, verrückten, weltfremden, aber auch immer wieder von unverschämtem Glück beflügelten

Lebens sind damit markiert: Nirgends ankommen. Immer wieder fliehen. Von Großem und Größtem träumen. Zum

Erreichen der Ziele alle zulässigen und unzulässigen Mittel wählen. Sich und seine Helden aus allem Schlamassel erlösen. –

 Was besaß der Mann, dass alle ihm unter zum T eil demütigender Selbstkasteiung zu Diensten waren?

Nun, Wagner hatte etwas Gewinnendes, wenn er wollte. Er bestrickte die Menschen – und er v erstrickte sie. Er drängte ihnen

das Gefühl auf, ohne sie verloren zu sein (so war es übrigens tatsächlich). Rhetorisch war er ein Genie. Thomas Mann fand fürdieses Gesamtkunstwerk, das Wagner auch als Person war, folgende Worte: "Wagner, das Pumpgenie, der luxusbedürftige

Revolutionär, der namenlos unbescheidene, nur von sich erfüllte, ewig monologisierende, die Welt über alles belehrende

Propagandist und Schauspieler seiner selbst".

 Während Wagner also in der Schweiz weilte, dort die Zürcher Kunstschriften verfasste, sich mit der übellaunigen Gattin

Minna plagen musste und das ekelhafte Pamphlet Das Judenthum in der Musik schrieb, nahmen andernorts die Dinge ihren

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schönen Lauf: Stellvertreter Liszt koordinierte im August 1 850 die glänzende Weimarer Uraufführung des Lohengrin – der

Oper eines steckbrieflich Gesuchten! Am Abend der Uraufführung saß Wagner im Luzerner Gasthof "Zum Schwanen" und

 begann, wie Liszt, um 18 Uhr zu dirigieren, Liszt das Weimarer Hoforchester, Wagner ein imaginäres Ensemble. Recherche

des Wagner-Experten Walter Hansen: "Wie sie hinterher feststellten, war Wagner etwas schneller gewesen."

Das Festspielhaus als Pilgerstätte

Der Lohengrin zeigte bereits einen neuen Wagner: komplexer im Umgang mit den musikalischen Motiven, kristalliner in der

Dramaturgie. Zwar gab es noch immer Reste von Arien, etwa die Grals-Erzählung des Titelhelden. Wie ein alpines Massiv 

aber zeichnete sich damals schon Wagners Vision ab: die maximale Personalisierung der Künste durch einen einzigen

Produzenten als steuernden Genius; die Bildung einer Gemeinde als Resonanzraum seiner spirituellen Botschaften; der Bau

eines Tempels als Pilgerstätte, "Festspielhaus" genannt.

Dafür schwebte Wagner ein monumentales Opus v or, das tief in die Literaturgeschichte stieg und doch von der Gegenwart

durchtränkt war: der Nibelungenmythos unter dem Titel Der Ring des Nibelungen. Wie immer war Wagner nicht wählerischin der Verschmelzung unterschiedlicher Quellen, denen er noch Zündsätze einbaute, als gelte es, einen Thriller zu schreiben.

Die Story : Es sollte um die Kapitalisierung der Welt und ihren verdienten Untergang gehen, um Entsagung von Gold und Geld,

um die Rettung der Menschlichkeit, also wieder einmal um Erlösung. Jedenfalls trat der düstere antike Autor Aischylos an die

Seite des entsagungsvollen Pessimisten Arthur Schopenhauer, schwang sich der zündelnde Revolutionär Bakunin neben die

heroische altisländische Edda.

26 Jahre lang arbeitete Wagner an der Tetralogie mit ihren vier Teilen Das Rheingold, Die Walküre, Siegfried und

Götterdämmerung; bereits 1848 hatte er mit ersten Entwürfen begonnen, am 21. November 1874 stellte er die Partiturfertig. Er dichtete die vier Opern dabei von hinten nach vorn, um den Text dann von vorn nach hinten zu vertonen. Das

Gebräu änderte mehrfach seinen Geschmack und war launisch im Abgang: Zunächst ging es um die Befreiung von

Knechtschaft. Erst spät fiel Wagner die Idee des Weltenbrands ein, in dem alles vom Geld Korrumpierte untergeht. Eine

Tetralogie mit vier Tagen Spieldauer war für konventionelle Häuser freilich nicht geeignet, und so nahm Wagners Wunsch

nach einem Festspielhaus immer klarere Gestalt an.

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Die erotischen Zürcher Episoden hatten ihm unterdessen endgültig Cosima von Bülow zugetrieben – was deren Gatten nicht

davon abhielt, 1865 in München die Uraufführung von Tristan und Isolde zu dirigieren. Minna, Wagners erste Frau, starb

1866 (schon Jahre zuvor hatte Wagner sie einmal "eine offenbar sehr gealterte Frau" genannt. Zu ihrer Beerdigung fuhr er

nicht). 1870 schließlich heirateten Richard und Cosima, nach der Scheidung der Eheleute von Bülow; zuvor hatten die beiden

in wilder Ehe gelebt, und Wagner komponierte wieder einmal wie im Rausch.

Erstmals in seinem Leben war er dabei von allen Geldnöten befreit: 1864 hatte sich ihm ein Mann mit dem märchenhaften Vorsatz offenbart, ihn an den Münchner Hof zu berufen und "fürderhin aller Belästigungen des gewöhnlichen Gelderwerbs zu

entheben". Der unfassliche Gönner war, natürlich, ein Schwarmgeist: der Bayern-König Ludwig II. Und Wagner begriff die

fantastische Verheißung automatisch als allzeit gedeckten Überziehungskredit. Schon bald wusste der König nicht mehr, wie

er die abnormen Ausgaben für Wagner noch rechtfert igen sollte. Immerhin rang dieser seinem Ludwig die Finanzierung des

Festspielhauses in Bayreuth ab, und als wieder einmal das Geld ausging, rief Ludwig, Wagners höchste Not wendend: "Nein!

Nein und wieder nein! So soll es nicht enden, es muss da geholfen werden." Er gewährte einen Vorschuss von 100.000 Talern

– und 1876 konnten die ersten Bayreuther Festspiele stattfinden.

 Wagners Opern als süchtig machende Droge

Sie wurden die Erfüllung von Wagners Lebenstraum, und der Ring erwies sich als perfekt strukturierter, allerdings sündig

langer Krimi, mit dem Wagner folgenreiche Innovationen einführte: zum einen die unablässigen Stabreime, zum anderen die

orchestralen Leitmotive, die das Geschehen fortgesetzt kommentierten, und zwar mitunter so blendend, dass Thomas Mann

sie "Monstranzen" nannte.

Zwischenzeitlich hatte Wagner sogar noch ganz unerwartet ins etwas leichtere Fach gegriffen und die humoristisch angelegteOper Die Meistersinger von Nürnberg komponiert. Hier war die Welt holzgetäfelt, überraschend vertraut, doch nicht minder

reich an Botschaften. Das Deutsche, als dessen Prophet sich Wagner schon immer verstanden hatte, war abermals der

Fluchtpunkt, und wie in Tristan und Isolde gab es eine Dreieckssituation, in der Wagner sich in mindestens einen der Helden

hineinträumen konnte. Liebäugelte er im Tristan mit dem Titelhelden, verstand er im Ring den traurig-wütenden Obergott

 Wotan unverblümt als sein Alter Ego, so ist es in den Meistersingern der reife Schuster Hans Sachs.

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Über den Autor

 Wolfram Goertz,

Jahrgang 1961, ist

Musikwissenschaftler,

Musiker, Mediziner und

freier Journalist. Er

schreibt unter anderem

regelmäßig für das

Feuilleton der ZEIT.

 Wagners letzter Wunsch erfüllte sich schließlich am 26. Juli 1882: Da wurde der Parsifal in

Bayreuth uraufgeführt, eine religiös ausgreifende Oper, die jetzt "Bühnenweihfestspiel" hieß. Das

 Werk war auch ein Ausblick in die Zukunft, nicht wegen der berühmten Schlussformel "Erlösung

dem Erlöser", sondern wegen der neuen Farbwerte der Partitur: Impressionistischer hat nie ein

Romantiker komponiert. Einige Passagen hätte auch Claude Debussy geschrieben haben können.

Richard Wagner starb einige Monate später, am 13. Februar 1883, in Venedig an einemHerzanfall. Seine Gemeinde war wie gelähmt. Dann begann ein Kult, der alles übertraf, was sich

schon zu Wagners Lebzeiten abgespielt hatte. Selbst Thomas Mann, der hingebungsvolle

Zweifler, geriet in den Bann, sprach von "Stunden tiefen, einsamen Glückes inmitten der

Theatermenge, Stunden voll von Schauern und Wonnen der Nerven und des Intellektes, von

Einblicken in rührende und große Bedeutsamkeiten, wie eben nur diese Kunst sie gewährt". Wie v iele empfand er Wagners

Opern als süchtig machende Droge: "Ich bin nicht satt geworden, sie zu belauschen, zu bewundern, zu überwachen – nicht

ohne Misstrauen, ich gebe es zu."

So bleibt Wagner unergründet zurück, v erachtet, v erehrt , gehasst und geliebt, ein deutsches Ärgernis, ein deutsches

Faszinosum. Aus dem Revolutionär war ein Villenbesitzer geworden, und der Antisemit Wagner ließ ausgerechnet den ihm

heiligen Parsifal von einem Juden dirigieren, von Hermann Levi – auch darin zeigt er sich als ein Gigant in seinem

unauflösbaren Widerspruch.

QUELLE: ZEIT Gesch ichte

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