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Nach Ihnen, mein Herr!“ Ein „Nach-Ruf“ zum 10. Todestag von Emmanuel Levinas Von Andreas-Pazifikus Alkofer, Chur Salomon Malka, französischer Journalist und Essayist, seit seinem 17. Lebensjahr als Schüler der École Normale Israélite Orientale in Paris mit deren langjährigen Direktor Emmanuel Levi- nas vertraut, erzählt in einem der sehr persönlichen Texte, die er in seine bemerkens- und lesens- werte Biographie des Philosophen und „Fundamentalethikers“ Levinas einflicht, von einer cha- rakteristische Spur seines Protagonisten: Levinas wäre es unmöglich gewesen, seine Vorlesungen und Vorträge zu beginnen, wenn er sich nicht zuvor der Anwesenheit seiner Frau Raissa verge- wissert hätte. „Wo ist sie? Ah, da ist sie!“ – Dann erst konnte er seine Gedankenfäden und - spuren auslegen. Die Rückversicherung der Nähe als Balancierung der „Andersheit“ (so Ludger Lütkehaus)? Dem Anderen auf der Spur, aber nie indiskret … Der markante Begriff ist gefallen: Andersheit (manche ziehen den Begriff „Anderheit“ vor), „alterité“. Emmanuel Levinas darf als der „Nachspürer“ der Implikationen dieser Andersheit gel- ten und dies phänomenologisch, philosophisch und ethisch. Und dabei kann schon hier verraten werden, dass für Levinas eine ganz spezifische Form der Ethik die erste Philosophie ist: nämliche jene, die sich in der „Intrige der Verantwortung“, der Unmöglichkeit, auf den anderen nicht zu reagieren, entspinnt. Vom anderen her wird das ethische Subjekt, das „Ich“, der „Spätankömmling in der Schöpfung“ (wie Levinas einmal sagt). Es geht ihm also nicht zuerst um das sich selbst frei und bewusst setzende Subjekt. Es geht ihm auch nicht zuerst darum, dass er exakte und präzise Regel-, Norm- oder Tugendsets entwickelt, begründet und zu implementieren sucht. Weit davon entfernt und viel grundlegender geht es ihm um die Frage, dass der/die Andere dem Ich äusser- lich, exterior, letztlich unbegreiflich bleibt, ein Geheimnis. Was möglich ist, sind Spuren, Grund- risse, Annäherungen – und die haben möglichst schonend und gewaltfrei zu sein. Der Schleier dieses bleibenden Geheimnisses ist allenfalls zu „lüpfen“, jedoch nicht gewalttätig oder neugierig zu zerreissen. Hier steckt der materiale Kern der ethischen Tiefenphänomenologie Levinasscher Prägung. Der Andere ist es, der das „Ich“ überhaupt erst in die Lage versetzt zu denken, Begriffe, On- tologien etc. zu entwickeln. Aber schon bevor das „Ich“ reden lernt, denkt, Begriffe formuliert, 1

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  • Nach Ihnen, mein Herr!

    Ein Nach-Ruf zum 10. Todestag von Emmanuel Levinas

    Von Andreas-Pazifikus Alkofer, Chur

    Salomon Malka, franzsischer Journalist und Essayist, seit seinem 17. Lebensjahr als Schler

    der cole Normale Isralite Orientale in Paris mit deren langjhrigen Direktor Emmanuel Levi-

    nas vertraut, erzhlt in einem der sehr persnlichen Texte, die er in seine bemerkens- und lesens-

    werte Biographie des Philosophen und Fundamentalethikers Levinas einflicht, von einer cha-

    rakteristische Spur seines Protagonisten: Levinas wre es unmglich gewesen, seine Vorlesungen

    und Vortrge zu beginnen, wenn er sich nicht zuvor der Anwesenheit seiner Frau Raissa verge-

    wissert htte. Wo ist sie? Ah, da ist sie! Dann erst konnte er seine Gedankenfden und -

    spuren auslegen.

    Die Rckversicherung der Nhe als Balancierung der Andersheit (so Ludger Ltkehaus)?

    Dem Anderen auf der Spur, aber nie indiskret

    Der markante Begriff ist gefallen: Andersheit (manche ziehen den Begriff Anderheit vor),

    alterit. Emmanuel Levinas darf als der Nachsprer der Implikationen dieser Andersheit gel-

    ten und dies phnomenologisch, philosophisch und ethisch. Und dabei kann schon hier verraten

    werden, dass fr Levinas eine ganz spezifische Form der Ethik die erste Philosophie ist: nmliche

    jene, die sich in der Intrige der Verantwortung, der Unmglichkeit, auf den anderen nicht zu

    reagieren, entspinnt. Vom anderen her wird das ethische Subjekt, das Ich, der Sptankmmling

    in der Schpfung (wie Levinas einmal sagt). Es geht ihm also nicht zuerst um das sich selbst frei

    und bewusst setzende Subjekt. Es geht ihm auch nicht zuerst darum, dass er exakte und przise

    Regel-, Norm- oder Tugendsets entwickelt, begrndet und zu implementieren sucht. Weit davon

    entfernt und viel grundlegender geht es ihm um die Frage, dass der/die Andere dem Ich usser-

    lich, exterior, letztlich unbegreiflich bleibt, ein Geheimnis. Was mglich ist, sind Spuren, Grund-

    risse, Annherungen und die haben mglichst schonend und gewaltfrei zu sein. Der Schleier

    dieses bleibenden Geheimnisses ist allenfalls zu lpfen, jedoch nicht gewaltttig oder neugierig

    zu zerreissen. Hier steckt der materiale Kern der ethischen Tiefenphnomenologie Levinasscher

    Prgung.

    Der Andere ist es, der das Ich berhaupt erst in die Lage versetzt zu denken, Begriffe, On-

    tologien etc. zu entwickeln. Aber schon bevor das Ich reden lernt, denkt, Begriffe formuliert,

    1

  • ist es eingeflochten in eine Beziehung zum Anderen. Levinas nennt das die unausweichliche In-

    trige des Ethischen. Das Ich kann zwar einer bestimmten Moral, einem bestimmten Ethos,

    einem speziellen Ethiksystem entkommen, nicht entkommen jedoch kann es der Beziehung zum

    Anderen. Das ist die Grundform des Ethischen. Wie ich diese dann bewusst gestalte, ihr auswei-

    che (auch das ist und bleibt eine Reaktion!) oder antworte und reagiere all das bleibt dann

    Thema der blichen philosophischen wie auch theologischen Ethiken. Levinas versucht, noch

    unterhalb dazu oder im Vorher zu allen Systemen anzufangen. Riskant und sperrig bleibt dieses

    lebenslange Unterfangen und kennzeichnet Levinas Versuche am Rande des Schweigens, kurz

    vor dem letzten sinnvoll sagbaren Wort: Unvertrautes Gelnde, kein vertrauter Anderer, nir-

    gends, kein einfaches, gar begriffenes Du. Gerade daz, zum scheinbar vertrauten Du, gibt es

    nota bene einen kleinen, aber respektvollen Disput zwischen Levinas und Martin Buber.

    Vorrang hat der nackte und hilfsbedrftige Mensch

    Levinas Leistung und Spezifikum ist, also msste es formuliert werden, die nicht anders als

    revolutionr zu nennende Umorientierung der Ethik von symmetrischen Wechselseitigkeitsver-

    hltnissen zu asymmetrischen Verantwortungsbeziehungen. Schon wieder nebenbei bemerkt:

    dass Hans Jonas und Levinas lebenslang aneinander vorbeigegangen sind, bleibt mehr als miraku-

    ls.

    Was Levinas auch theologisch interessant, aber gleicherweise provizierend macht, ist die Tat-

    sache, dass sein ethisch gefllter Primat des Anderen zweifellos immer auch und je spter desto

    mehr jenen Anderen in den Blick bekommt und hat (und das ist alles andere als beruhigend), der

    bei ihm ins Denken einfllt den ganz Anderen: Gott (und vielleicht ist das genau der an-

    gemessene Weg, in diesem Wort einen andere Attraktion zu finden, als die der abgegriffenen

    Mnze).

    Doch die vorherrschende religionsphilosophische Lesart verkennt nach wie vor weitgehend,

    wie sehr Levinas dem nchsten Menschen in seiner Nacktheit und Hilfsbedrftigkeit Prioritt

    gegeben hat, ebenso wie die theologische Rezeption zu hufig bersieht, dass der Weg zu Levinas

    eben nicht ber eine genuine Theologie fhrt, sondern ber eine ethisch grundierte radikale

    Anthropologie.

    Der Vorrang des Anderen ist zuerst der Vorrang des anderen Menschen. Dies bedeutet nicht

    Selbstaufgabe des Ich, sondern berhaupt erst die Bedingungsmglichkeit der Ich- und Selbst-

    werdung, die nolens volens immer wieder in die Antwort, die Ver-Ant-wortung vor den An-

    deren gestellt bleibt.

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  • Will man diese Ethik, diese Spurensuche, auf eine Formel stimmen, so kann man sich am be-

    sten an Levinas (fr ihn ungewohnt entspannten und witzigen) Satz halten: Nach Ihnen, mein

    Herr!. Das sollte die Summe einer Ethik sein? Oh!

    Man knnte aber auch an jenen Satz von E. Levinas denken, der als profilierter Nachsprer

    der Implikationen der Begegnung mit dem Anderen zu einer einfachen Geste verblffenderweise

    notiert:

    Der einzige absolute Wert, den es gibt, ist die Fhigkeit des Menschen, dem Anderen den Vortritt zu las-

    sen. Ich glaube nicht, da es eine Menschheit geben knnte, die dieses Ideal ablegen knnte. (...) Das ist der Beginn

    der Philosophie, das ist das Vernnftige, das ist das Verstehen. (E. Levinas, Philosophie, Gerechtigkeit

    und Liebe, in: ders., Zwischen uns. Versuch ber das Denken an den Anderen, Mnchen 1995,

    132-153, 139.)

    Der Tod des Anderen ist der erste Tod.

    Vor nunmehr 10 Jahren, am 25. Dezember 1995, ist Emmanuel Levinas 89-jhrig in Paris

    verstorben. Es hat im Nachhinein fast dem Charakter des Zwangslufigen, dass Emmanuel Levi-

    nas den Tod der nchsten Anderen seines Lebens seiner Frau Raissa, die nur wenige Monate

    vorher starb nicht lange wrde berleben knnen.

    Salomon Malka streift in seiner Biographie dieses Thema in einer dezenten, freilich bewegen-

    den Miniatur und Notiz ber Levinas erschtternde Reaktion auf den Tod seiner Frau, an deren

    Beerdigung er, angeblich auf rztliches Anraten, nicht teilnehmen konnte. So krank und hinfllig

    Levinas bereits war die balancierende Nhe seiner Frau wrde ihm definitiv fehlen, ihm, dem

    nach und (ausdrcklich) gegen Heidegger bedeutendsten Todes-Vor-Denker des vergangenen

    Jahrhunderts.

    In seinen beiden letzten Vorlesungen an der Sorbonne hat Levinas die Ethik wie auch die

    Todesphilosophie im Zeichen des Anderen nochmals ausdrcklich revidiert: Hat sich das abend-

    lndische Todesdenken in einem nach Levinas nur noch schwer vorstellbaren Mass auf den Ei-

    gentod und seine Heideggersche Jemeinigkeit kapriziert, so erinnert er daran: Der Tod des

    Anderen ist der erste Tod. Levinas stirbt seiner Frau nach

    Wer ist da gestorben?

    Todeserfahrungen, Todesnhen. Nicht ausgespart, verschwiegen bleiben drfen die Vernich-

    tungslager, vor denen verschont zu bleiben Levinas ausgerechnet seiner Kriegsgefangenschaft zu

    danken war (er, Litauer von Geburt, wurde franzsischer Staatsbrger und hatte zu Beginn des 2.

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  • Weltkrieges einzurcken). Als kriegsgefangener Soldat ging er in ein POW-Loger, nicht in ein

    Vernichtungslager.

    Und doch schneitet Vernichtung ein: Nach seiner Heimkehr musste Levinas erfahren, dass

    seine ganze Familie Eltern, Brder in Kaunas von einem deutschen Sonderkommando

    ermordet worden war. Einzig Raissa, mit der er seit 1932 verheiratet ist, berlebt den Krieg (ver-

    steckt von Franziskanern) vorsterben, nachsterben, noch nicht sterben. Was bleibt, wenn

    niemand bleibt? Oder fast ?

    Levinas schwrt: Sein Gelbnis, Deutschland, das Land der Mrder wie der fr ihn mageb-

    lichen Denker, nicht wiederzubetreten, hat Levinas wahr gemacht. Die Kommunikation hat er

    nie abgebrochen. Welche Leistung!

    Die Wunden der Shoah, die Traumata der Massenvernichtung werden je lnger je mehr zur

    Antriebsfeder einer phnomenologischen Tiefenethik, die sich der einfachen Frage stellt, was

    der eine dem anderen antun kann und angetan hat in Gedanken, Worten und Werken, in Taten,

    Handlungen und Haltungen.

    Die Grundrisse des vergangenen Jahrhunderts zerreissen fr Levinas philosophische und e-

    thische Gewissheiten und Selbstverstndlichkeiten. Es ist nichts selbstverstndlich: der Glaube

    nicht (Levinas ringt nach dem Krieg lange und intensiv mit seinem jdischen Glauben), philoso-

    phische oder ethische Prinzipien nicht angesichts des zerbrechlichen und qulbaren Anderen in

    seiner Bedrftigkeit, seiner Fragilitt und seinem unausweichlichen Ruf nach Antwort auf ihn, auf

    Schutz. In diesen Rissen ist nicht das abstrakte Gute das eigentliche Wunder, sondern die konkrete

    Gte, die sich dem Blick des Anderen nicht entzieht und an den seltsamsten Stellen, noch mit-

    ten im Chaos der Vernichtung aufleuchten kann. Kann, wohlgemerkt.

    Der Zusammenhang von Leben und Werk, von Erfahrungen und Hinterherdenken scheint

    bei Levinas immer auf, verortet sich hier als Grundriss und Grund-Riss zwischen dem Ande-

    ren und dem Ich. Levinas grosse Bcher mit ihren suggestiv anziehenden und rtselhaften,

    Alteritt signalisierenden Titeln (Die Zeit und der Andere, 1947; Totalitt und Unendlichkeit. Essay

    ber die Exterioritt, 1961; Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 1974; Wenn Gott ins Denken

    einfllt, 1982) kreisen, um dieses Thema, umrunden es geduldig und demtig. Und auch wenn

    seine Texte dem Leser, der Leserin einiges an Konzentration und Mhe abverlangen seit den

    fnfziger Jahren findet Levinas erst zgerlich, dann immer massiver Gehr, erst im romani-

    schen, dann englischsprachigen Raum. Dass sich Jacques Derrida in Die Schrift und die Diffe-

    renz (1967, dt. 1975) mit Levinas intensiv auseinandersetzt, trgt zu seiner Wirkung bei. Den-

    noch gehrte Levinas nie zu den publicitytrchtigen Ikonen der Postmoderne, allen Inspirationen

    zum Trotz, die er ihr am vermeintlichen? Ende der Eindeutigkeit (Zygmunt Bauman) ge-

    geben haben mag.

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  • Aufschlussreicher und ethisch wie politisch wichtiger aber vielleicht auch schon wieder ver-

    gessener ? ist da schon die Rezeption, die Levinas in der lateinamerikanischen Befreiungstheo-

    logie findet. Enrique Dussel, Juan Carlos Scannone und Pablo Sudar etwa versuchen sich an -

    bersetzungen hinein in Lebens-, Politik- und Kirchenkontexte, in denen der Andere leicht (?) mit

    dem Armen, dem Indigenen identifiziert werden kann. So verstndlich das bleibt und ist, Anfra-

    gen bleiben auch hier.

    Orte und Angesichter

    Die Orte. Da wren das litauische Kaunas, die Stadt der jdischen Herkunft, wo er 1906 ge-

    boren wurde, Straburg, Ort der ersten philosophischen Studien des 17-Jhrigen bis zu der Pro-

    motion ber Die Theorie der Anschauung in der Phnomenologie Husserls und der bersetzung von

    Husserls Cartesianischen Meditationen, 20 Jahre, bevor diese erstmals auf Deutsch erscheinen bei-

    des wird fr die franzsische Rezeption der Phnomenologie zentral; zwischenzeitlich, im Stu-

    dienjahr 1928/9, der Aufenthalt in Freiburg i.Br., die persnliche Begegnung mit Husserl und

    Heidegger dort, dessen Ontologie ohne Ethik Levinas fr Heideggers nationalsozialistischen Sn-

    denfall verantwortlich macht, dann 1929 das Zwischenspiel auf dem Davoser Zauberberg (so

    Ltkehaus in Anspielung auf Thomas Mann) in Graubnden, wo Levinas der grossen Konfronta-

    tion zwischen Cassirer und Heidegger beiwohnt, der Stalag XI B, das Stammlager fr franzsi-

    sche Kriegsgefangene im niederschsischen Fallingbostel, das fr fnf Jahre zum Ort des Schre-

    ckens und, nicht weit von Bergen-Belsen, zum berlebensort wird, schlielich Paris, wo der Exi-

    lant Levinas 1932 eingebrgert wird und wohin er nach der Kriegsgefangenschaft zurckkehrt.

    In einer Flle von Miniatur-Portrts liessen sich (mit Salomo Malka etwa) fr Levinas wichtig

    gewordene Gesichter skizzieren: Maurice Blanchot und Jean Wahl; den geheimnisumwitterten

    genialischen Talmudisten Mordechai Schuschani und Jacques Derrida; Jean-Paul Sartre (den Le-

    vinas auf Heidegger aufmerksam macht!), den jngst verstorbenen Paul Ricur und seine erst

    kardinale, dann papale Heiligkeit Johannes Paul II., der als Schler des polnischen Phnomenolo-

    gen Roman Ingarden schon sehr frh an Levinas interessiert war und ihn dann zu den berhmten

    Gesprchen in Castel Gandolfo eingeladen hat.

    Dass im Denken von Levinas Gott wieder ins Denken einfiel, musste auch seinem katho-

    lischen Stellvertreter gefallen formuliert Ludger Ltkehaus durchaus etwas salopp.

    Fr Levinas wird es paradoxerweise zum Spezifikum des Jdischen, dass alles Dogmatische,

    und sei es das Rechtglubigste, zweiter Ordnung ist, was nicht heisst, dass es irrelavant wre. Wie

    die Ethik statt der Ontologie zur ersten Philosophie wird, so ordnet er das Tun dem Glauben

    vor. Sein Antifundamentalismus beharrt darauf, dass die Verpflichtungen dem anderen Men-

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  • schen gegenber noch vor seinen Verpflichtungen Gott gegenber kommen Die einzige Art,

    Gott zu respektieren, ist, den Nchsten zu achten.

    Was bleibt ?

    In Wahrheit setzt jeder Satz, der mit Die Deutschen, Die Englnder, Die Juden, Die Russen beginnt

    und Aussagen ber die Charaktereigenschaften eines Volkes macht, eine Lge in die Welt; er negiert das Indivi-

    duum. Er schliet alle aus, die nicht unter den Satz fallen. Er liquidiert den Menschen, erst im Denken, dann in

    der Tat. Nimmt man diesen Satz des Essayisten Benjamin Korn Wort fr Wort und Wort fr

    Wort ernst, dann bewegt man sich auf einer Spur des Antifundamentalismus und des Anti-

    Vorurteils, die Levinas auslegt. Ethisches Handeln angesichts des Angesichts des Anderen be-

    ginnt schon im Sprechen, in der Wortwahl, beginnt die Aufmerksamkeit fr die Frage des Ande-

    ren und der Achtung vor ihm in der ganzen Wucht der Brchigkeit der Existenz.

    Am Grab

    Jacques Derrida (sein Todestag jhrte sich jetzt am 8. Oktober 2005) sei am Ende dieses ver-

    hallenden Nachrufs zitiert. Derrida hlt am 27. Dezember 1995 auf dem Friedhof von Pantin

    (Paris) die Grabrede auf Emmanuel Levinas, sucht nach Worten und findet etwa diese:

    Schon seit langer, seit so langer Zeit hatte ich die Befrchtung, Emmanuel Levinas adieu sagen zu mssen.

    Ich wute, da mir dabei die Stimme brechen wrde, vor allem, wenn ich es laut sagen mte, hier, vor ihm,

    so nahe bei ihm, wenn ich dieses Wort aussprechen wrde, das Wort -dieu, das ich gewisser Weise ihm verdan-

    ke, jenes Wort, das zu denken beziehungsweise anders auszusprechen er mich gelehrt hat. ()

    Das Heil des -Dieu bedeutet nicht Ende. Das -Dieu ist keine Finalitt, sagt er unter Zurckweisung je-

    ner Alternative zwischen Sein und Nichts, die nicht das allerletzte ist. Das -Dieu grt den Anderen jenseits des

    Seins in dem, was jenseits des Seins das Wort Ruhm bedeutet.

    Ein Adieu ist auch ein Gruss, ein Abschiedsgruss, endgltig, so scheint es, zudem schwer zu

    entschlsseln ein -Dieu ist aber auch und eigentlich zuerst eine Richtungsangabe. Der Weg

    des -Dieu ist wenigstens mit Levinas die radikale und zugleich dezent-geduldig-demtige

    Suche angesichts des anderen Menschen.

    Der Weg der Kirche ist der Mensch sagt einer, der nicht unwichtig war und ist fr diese

    Kirche in seiner Enzyklika.

    6

  • 7

    Wer sich auf die Schriften von Emmanuel Levinas einlsst, wird Spuren dazu und reichlich

    Verunsicherungen finden und ein Erbe.

    Lesehinweise:

    Emmanuel Levinas, Ethik und Unendliches. Gesprche mit Philippe Nemo, Edition Passagen,

    Wien 31996.

    Jacques Derrida, Adieu. Nachruf auf Emmanuel Levinas, Edition Akzente Hanser, Mnchen

    1999.

    Salomon Malka, Emmanuel Levinas. Eine Biografie, aus dem Franzsischen von Frank

    Miething; Verlag C.H. Beck, Mnchen 2004.