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MS-Version von: Kriz, Jürgen (2011): Die Person im Familienunternehmen. In: Schindler, H., Loth, W. & v. Schlippe, J. (Hrsg). Systemische Horizonte. Göttingen: Vandenhoeck, S. 99 -107 Jürgen Kriz Die Person im Familienunternehmen Es ist gewiss kein Zufall, wenn jemand wie Arist von Schlippe, der Jahrzehnte inner- und außer- universitär primär im psychotherapeutischen Bereich gearbeitet und dort eine maßgebliche Rolle eingenommen hat, so schnell und reibungslos den Lehrstuhl „Führung und Dynamik von Familienunternehmen“ übernehmen und ausfüllen konnte. Neben persönlicher Kompetenz, Kreativität und weiteren Persönlichkeitseigenschaften ist ein solcher Übergang von dem einen Arbeitsbereich in den anderen eben auch dadurch erleichtert, dass die darin jeweils gestellten Fragen bei aller inhaltlichen Unterschiedlichkeit strukturell nicht so weit auseinander liegen, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint, wenn man nur auf die einbettenden (scientific) „communities“ schaut: Psychologie und Psychotherapie auf der einen, Wirtschaftswissenschaften auf der anderen Seite. Die Diskurse innerhalb dieser „communities“ sind zwar recht unterschiedlich. Aber die Kernfrage ist für zentrale Aspekte der Familientherapie und der Familienunternehmen die gleiche – nämlich, wie Transformationsprozesse in einer Familie angesichts von sich verändernden Bedingungen gelingen bzw. misslingen. Ebenso stellt sich in beiden Bereichen in ähnlicher Weise die daraus resultierende, auf Praxis gerichtete, Frage, wie Prozesse gefördert werden können, welche den Menschen ihre Lösungskompetenzen für die anstehenden und wahrgenommenen Probleme besser verfügbar machen. Es gibt daher viele gemeinsame Anliegen, auch wenn die Fachgebiete, die sich damit befassen, durch unterschiedliche Namensgebung jeweils größere Unähnlichkeit profilierend reklamieren – „Psychotherapie“ und „Beratung“ auf der einen, „Coaching“ auf der anderen Seite. Zu Recht wählen v. Schlippe et al. (2007) daher die Metapher von zwei Schwestern: „Sie konkurrieren, sind jeweils ‚einzigartig’ und doch einander ähnlich. Und wie Schwestern so sind, sind sie darauf bedacht, die Unterschiedlichkeit zu betonen, auch wenn, oder gerade weil die Umwelt die Ähnlichkeit hervorhebt. Manchmal werden sie verwechselt und je nach Umfeld, kommen sie auch unterschiedlich gut an.“ (v. Schlippe, Zwack & Schweitzer 2007: 205). Dennoch wirken sich die beiden Disziplinen, in die einerseits Psychotherapie mit Familien und andererseits Coaching in Familienunternehmen als Kontexte eingebettet sind, wesentlich auf die Diskurse aus, welche die stattfindenden Prozesse erklärend rekonstruieren: So hat die systemische Familientherapie in den letzten drei Jahrzehnten eine Entwicklung vollzogen, bei der von einer Fixierung allein auf kommunikative oder gar nur interaktive Muster zunehmend auch die persönlichen Sinndeutungen der einzelnen Familienmitglieder in Betracht gezogen wurden. Noch in den 80er Jahren wurde nämlich einseitig und überschwänglich oftmals propagiert, die systemische Perspektive auf die Interaktionsmuster sei eine Überwindung "veralteter" oder gar "falscher" Konzepte (z.B. Guntern 1980, Dell 1986) und man könne angesichts dieser "völlig neuen Erkenntnisse" auf alles

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MS-Version von:Kriz, Jürgen (2011): Die Person im Familienunternehmen. In: Schindler, H., Loth, W. & v. Schlippe, J. (Hrsg). Systemische Horizonte. Göttingen: Vandenhoeck, S. 99 -107

Jürgen Kriz

Die Person im Familienunternehmen

Es ist gewiss kein Zufall, wenn jemand wie Arist von Schlippe, der Jahrzehnte inner- und außer-universitär primär im psychotherapeutischen Bereich gearbeitet und dort eine maßgebliche Rolle eingenommen hat, so schnell und reibungslos den Lehrstuhl „Führung und Dynamik von Familienunternehmen“ übernehmen und ausfüllen konnte. Neben persönlicher Kompetenz, Kreativität und weiteren Persönlichkeitseigenschaften ist ein solcher Übergang von dem einen Arbeitsbereich in den anderen eben auch dadurch erleichtert, dass die darin jeweils gestellten Fragen bei aller inhaltlichen Unterschiedlichkeit strukturell nicht so weit auseinander liegen, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint, wenn man nur auf die einbettenden (scientific) „communities“ schaut: Psychologie und Psychotherapie auf der einen, Wirtschaftswissenschaften auf der anderen Seite. Die Diskurse innerhalb dieser „communities“ sind zwar recht unterschiedlich. Aber die Kernfrage ist für zentrale Aspekte der Familientherapie und der Familienunternehmen die gleiche – nämlich, wie Transformationsprozesse in einer Familie angesichts von sich verändernden Bedingungen gelingen bzw. misslingen. Ebenso stellt sich in beiden Bereichen in ähnlicher Weise die daraus resultierende, auf Praxis gerichtete, Frage, wie Prozesse gefördert werden können, welche den Menschen ihre Lösungskompetenzen für die anstehenden und wahrgenommenen Probleme besser verfügbar machen. Es gibt daher viele gemeinsame Anliegen, auch wenn die Fachgebiete, die sich damit befassen, durch unterschiedliche Namensgebung jeweils größere Unähnlichkeit profilierend reklamieren –„Psychotherapie“ und „Beratung“ auf der einen, „Coaching“ auf der anderen Seite. Zu Recht wählen v. Schlippe et al. (2007) daher die Metapher von zwei Schwestern: „Sie konkurrieren, sind jeweils ‚einzigartig’ und doch einander ähnlich. Und wie Schwestern so sind, sind sie darauf bedacht, die Unterschiedlichkeit zu betonen, auch wenn, oder gerade weil die Umwelt die Ähnlichkeit hervorhebt. Manchmal werden sie verwechselt und je nach Umfeld, kommen sie auch unterschiedlich gut an.“ (v. Schlippe, Zwack & Schweitzer 2007: 205).

Dennoch wirken sich die beiden Disziplinen, in die einerseits Psychotherapie mit Familien und andererseits Coaching in Familienunternehmen als Kontexte eingebettet sind, wesentlich auf die Diskurse aus, welche die stattfindenden Prozesse erklärend rekonstruieren:

So hat die systemische Familientherapie in den letzten drei Jahrzehnten eine Entwicklung vollzogen, bei der von einer Fixierung allein auf kommunikative oder gar nur interaktive Muster zunehmend auch die persönlichen Sinndeutungen der einzelnen Familienmitglieder in Betracht gezogen wurden. Noch in den 80er Jahren wurde nämlich einseitig und überschwänglich oftmals propagiert, die systemische Perspektive auf die Interaktionsmuster sei eine Überwindung "veralteter" oder gar "falscher" Konzepte (z.B. Guntern 1980, Dell 1986) und man könne angesichts dieser "völlig neuen Erkenntnisse" auf alles

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bisherige verzichten.1 Die Sicht einer „Personzentrierten Systemtheorie“, dass „Kommunikationen“ nicht einfach nur „aneinander anschließen" (Luhmann 1988), sondern vor allem stets „durch das „Nadelöhr“ persönlicher Wahrnehmungen, Sinndeutungen - kurz: Narrationen“ gehen müssen (Kriz 1987, 1990, 1999), wurde da zunächst sehr skeptisch aufgenommen: So betonte beispielsweise Schiepek, seine Theoriekonzeption beruhe „auf der konsequenten Beibehaltung des Prinzips operatio-naler Schließung, das bei Kriz aufgebrochen wird“ (Schiepek 1991: 153). Inzwischen finden man nun eine zunehmende Rückbesinnung auf Aspekte wie „Begegnung” „Bedeutung”, „Sinn”, die durchaus auch personal verstanden werden. In Konzepten wie „Systemische Therapie als Begegnung” (Hildenbrand und Welter-Enderlin 1996), „Metaphernanalyse” (Buchholz 1993, Lakoff und Turner 1989, Lakoff 1994), oder „Personzentrierter Systemtheorie” (Kriz 1997a,b) - um wenige exemplarische Beispiele zu nennen - werden auch von „Systemikern” neben den reinen Strukturen der Kommunikation wieder die auch biographisch verankerten Bedeutungen, Hintergründe und Inhalte sprachlicher Prozesse im Miteinander von Menschen entdeckt. Neben der Einsicht in die blühende Vielfalt der Praktiker und eine gewisse Müdigkeit gegenüber extremen Positionen hat die Verfechter des systemischen Ansatzes wohl auch der allgemeine Trend konstruktivistischer und postmoderner Ideen (Gergen 1985, 1991, Anderson und Goolishian 1988) und die damit verbundene „narrative Wende” (Epstein 1995) zu diesen Einsichten geführt.Wohl wegen ihres Umfeldes von wirtschaftlich-makrosozialen Diskursen hat sich freilich die Analyse von Prozessen in Familienunternehmen einem solchen Mehrebenenansatz bisher eher versagt. So findet sich beispielsweise in einem jüngeren Werk „Familienunternehmen verstehen“ (V. Schlippe, Nischak & El Hachimi 2008) im Register weder das Stichwort „Sinn“ noch „Narration“. Auch „Individuum“ fehlt - und „Person“ tauch nur ein einziges Mal auf, im Plural („Personen“), und mit Referenz an Luhmann, wo eben die Trennung zwischen psychischen und interaktionellen Prozessen durch die operationale Geschlossenheit der Theoriekonzeption im Zentrum steht. In der Fülle von über zwanzig Beiträgen widmet sich nur ein einziger intensiver dem psychischen Geschehen (Borst 2008) –allerdings mit dem stark praxisbezogenen Fokus von psychischen Störungen, die sich individuell durch die Belastungen von Familiendynamik und Unternehmensproblemen ergeben. Ansonsten knüpfen viele Beiträge an einem eher klassischen „Drei-Kreise-Modell“ an (Gersick et al. 1997), demzufolge „ein Familienunternehmen ein soziales Gebilde darstellt, das eine Familie, die Eigentümer, und ein Unternehmen mit ihren je spezifisch-charakteristischen Eigendynamiken vereint. Die bekannten drei überlappenden Kreise, die in keinem Werk über Familienunternehmen fehlen dürfen, stehen für diese Erkenntnis“ (Groth 2008: 31).Nun ist allerdings ein System – bei aller Heterogentät der üblichen Definitionen im Detail – vor allem durch eine spezifische Dynamik gekennzeichnet: Die betrachteten Elementar-Phänomene sind nämlich in dynamischer Weise so aufeinander bezogen, dass sie – oft emergent - eine Struktur oder Ordnung darstellen, die eben wegen dieser Dynamik das System als solches gegenüber (nicht zu extreme) Störungen von außen erhält und sich immer wieder neu adaptieren kann. Im Gegensatz dazu kennt man die „bekannten drei überlappenden Kreise“ eher aus der Mengenlehre, wo es um Zugehörigkeit und Abgrenzung geht, und wo die Element-Konfigurationen daher eher statisch betrachtet werden. Die Assoziation zur Frage der „Abgeschlossenheit“ und zur klaren Trennung dreier Systeme –Bewusstsein, Kommunikation, Körper – in der Theorie von Luhmann ist vielleicht nicht ganz zufällig (auch wenn Luhmann selbst zumindest „Abgeschlossenheit“ deutlich anders meint). Doch auch wenn Groth selbst kritisch anmerkt: „Unklar bleibt oftmals ob, Individuen, Rollen oder Sozialsysteme mit den drei Kreisen gemeint sind, oder auch, wie die drei Kreise miteinander gekoppelt sind“ (a.a.O.), distanziert er sich mit Formulierungen wie beispielsweise: „…ist jedoch entscheidend, wie Familie, Gesellschafter und Unternehmen miteinander vereint …gedacht werden“ (a.a.O), oder: „Die

1 Eine bedeutsame Ausnahme ist Virginia Satir, die besonders mit ihrem Konzept des „Selbstwertes“ stets auch die personale Perspektive in der systemische Therapie mit berücksichtigt hat (Satir xxxx).

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Eigentümer bilden das Gesellschaftersystem“ (a.a.O. S. 32) nicht hinreichend von solcher Mengenlehre-Metaphorik – wo ja „Vereinigungsmengen“ oder Fragen, welche Elemente zur Menge gehören, geradezu typisch sind.

Auch wenn man, systemtheoretisch etwas abstrakter und präziser, von „drei ‚Spielfeldern’“ spricht, „auf denen sich die Akteure bewegen“ (Plate 2008: 65), so steht immer noch ein ähnliches mengentheoretisches Bild im Hintergrund. Denn wenn es wirklich sinngemäß drei „Spielfelder“ wären, gäbe es keine besonderen Probleme, die sich nicht auch für fast alle anderen Menschen in anderen Kontexten stellen. Jeder Mensch befindet sich in zahlreichen Kontexten: Ein Lehrer ist beispielsweise morgens in der Schule, nachmittags mit seiner Frau zusammen, Abends spielt er in einer Band, oder mit seinen Freunden Skat. Dies sind unterschiedliche „Spielfelder“ mit unterschiedlichen Regeln bzw. „spezifische Kommunikations-, Beobachtungs- und Bewertungslogiken, die teilweise kontradiktorisch sind“ (Plate a.a.O). So kann sich dieser Mensch morgens als Lehrer darüber aufregen, wenn ein Schüler den „Playboy“ unter der Bank liest, und abends im Kreise seiner Skatbrüder eben jene Ausgabe mit positivem Interesse in Augenschein nehmen, ohne unredlich zu sein: es sind unterschiedliche Kontexte, in denen auch eine solche Zeitschrift unterschiedliches bedeutet. Problematischer wäre es, wenn er abends mit demselben Schüler Skat spielt. Entsprechend wären die Probleme in Familienunternehmen sicherlich deutlich geringer, wenn es sich um „Spielfelder“ handelt, die man – klar abgegrenzt – nacheinander betreten könnte (oder es eben, wie bei den „drei Kreisen“, klare Schnittmengen gäbe). Die besondere Herausforderung liegt aber gerade darin, dass unterschiedliche Anforderungs- und „Bedeutungsfelder“ (Kriz 2006) gleichzeitig wirken. Obwohl „Spielfelder“ und „Bedeutungsfelder“ beide das Nomen „Feld“ enthalten, handelt es sich doch um sehr unterschiedliche Komposita: „Spielfelder“, als nomina loci, sind eher konkret(istisch), statisch, abgegrenzt und selbst bei Überschneidung in den Eigenschaften klar definiert. „Bedeutungsfelder“ , als nomina modalia, verweist auf abstrakte, dynamische sich überdeckende und daher stets in unterschiedlichem Ausmaß gleichzeitig wirkende Einflüsse – so wie sich z.B. elektromagnetische Felder (z.B. Rundfunkwellen) komplex überlagern und an jeder Stelle ihre unterschiedlichen Einflüsse gleichzeitig ausüben können. Somit ist die Metapher fraglich und inadäquat, dass jemand gleichzeitig auf mehren „Spielfeldern“ spielt – was ja schon der Alltagsspruch betont: „Man kann nicht gleichzeitig auf zwei Hochzeiten tanzen“ – und ebenso die Vorstellung, dass ein Element dynamisch gleichzeitig mehren Mengen, mal mehr mal weniger, angehört (es sei denn, es ginge um klar definierte Schnittmengen - aber das ist dann eben eine neue Menge, mit genau so unproblematischen Zuordnungen). Hingegen ist die Vorstellung passend, dass unterschiedliche Anforderungserwartungen als sich überlagernde Bedeutungsfelder stets gleichzeitig vorhanden sind und als Sinnattraktoren (Kriz 1997b) in Form von kognitiven Kräften wirken. Diese Kräfte werden zwar innerhalb der und durch die drei genannten, für Familienunternehmen zentralen, Systeme (und weiteren) erzeugt und aufrecht erhalten, aber sie setzen in ihrer konkreten Wirkung nicht auf der Systemebene selbst an, sondern bei der Dynamik der einzelnen Komponenten. Und damit kommt nun notwendig die „Person“ ins Spiel.

Es sei darauf hingewiesen, dass diese theoretische Notwendigkeit (die gleich noch weiter ausgeführt werden soll) auch von sehr praktischer Bedeutsamkeit für das Coaching ist. Denn Coaching setzt ebenfalls wohl selten bei einem Gebilde an, welches adäquat durch die drei sich überlappendem Kreise repräsentiert würde. Sondern meist bei einzelnen Personen oder bei kleinen Personen-(Sub)-Systemen aus dem Unternehmen. Dies geht auch konform mit der von v. Schlippe et al. betonten Aufgabe von Coaching im Auftragskontext von Familienunternehmen, „im Sinne einer ‚Prozessberatung’ (Königswieser, Sonuc, Gebhardt u. Hillebrandt, 2006) eine Einzelperson oder ein

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soziales System anzuregen, auf die Spur der eigenen Selbstbeobachtung zu gelangen. (v. Schlippe, Nischak & El Hachimi 2008: 21). Denn „sich auf neue Weise beobachten“ heißt „sich damit verstehen“ lernen (a.a.O). Ähnlich, wie aber Kommunikationsdynamiken stets durch das „Nadelöhr“ persönlicher Sinndeutungen gehen müssen, müssen „Beobachtung“ und „Verstehen“ beim Individuum ansetzen - und das Ergebnis kann erst dann ggf. für das Familiensystem bereitgestellt werden. Man könnte diesen Beitrag – insbesondere die nun folgenden Ausführungen – auch als eine Entfaltung und Präzisierung des von v. Schlippe et al. thematisierten zentralen Aspekts der Förderung von Selbst-beobachtungs- und Selbstverstehenskompetenz in Familienunternehmen als Kern von Coaching verstehen. Dabei muss aber, nochmals betont, statt überlappender Kreise die Person ins Spiel gebracht werden.

Ein wesentliches und zentrales Anliegen der „Personzentrierten Systemtheorie“ ist es (konform mit z.B. interdisziplinärer Systemtheorie bzw. Synergetik), Phänomene, Einflüsse und Dynamiken auf unterschiedlichen Systemebenen gerade nicht gegeneinander abzuschotten, sondern ihrer komplexe intersystemische Beziehung in Form von bottom-up und top-down Dynamiken zu thematisieren. Diese wichtige Betrachtungsweise wurde schon vor knapp hundert Jahren im Rahmen der Gestaltpsychologie (Berliner Schule) entwickelt (vgl. Kriz 2008) am Beispiel der Beziehung zwischen „Tönen“ und „Melodie“ erläutert: Eine Melodie ergibt sich (bottom-up) aus den Tönen – ist dann aber „etwas anderes“, was schon dadurch deutlich wird, dass man sie transponieren kann (z.B. eine kurze Melodie einen halben Ton höher spielt), ohne dass ggf. ein einziger Ton derselbe bleibt. Bedeutsamsind also nun nicht mehr die einzelnen Töne, sondern deren strukturelle Relationen, die „Gestalt“. Ebenso wesentlich ist allerdings, dass nun (top-down) die Melodie auf die Wahrnehmung der Töne wirkt. Bilden die Töne eine Melodie, die z.B. in A-Dur steht, so hat ein einzelner Ton a (440 Hertz) einen völlig anderen Charakter, als wenn derselbe physikalische Ton a (440 Hertz) in einer Melodie in D-Dur vorkommt. Im ersteren Fall erlebt man das a als „ruhenden Grundton“ (bzw. „Tonika“) im zweiten als „erregenden, auf das d hindrängenden Leitton“ (bzw. „Dominante“).

Ein zweites Beispiel, experimentell ebenfalls im Rahmen der Gestalttheorie erforscht (Asch 1946) zeigt die Wirkung von selbstorganisierten kognitiven Feldern in der bottom-up- und top-down-Dynamik: Einer Gruppe von Versuchspersonen wurde „als Beschreibung einer Person“ langsam nacheinander 6 typische Eigenschaften vorgelesen: „intelligent - eifrig - impulsiv - kritisch -eigensinnig – neidisch“. Eine andere Gruppe erhielt dieselbe Liste, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, also: „neidisch - eigensinnig - kritisch - impulsiv - eifrig – intelligent“. Es zeigte sich, dass die erste Gruppe von der beschriebenen Person anschließend einen deutlich positiven Eindruck hatte, während die andere Gruppe die Person deutlich negativ beurteilte. Dieser in der Literatur als „Primacy-Effekt“ oft zitierte Befund lässt sich im Lichte der zirkulären Kausalität von bottom-up und top-down auch wie in Abb. 1 verstehen (wobei die Pfeilrichtungen natürlich nur mögliche Hauptrichtungen der Wirkungen darstellen): Die ersten Eigenschaften generieren ein Feld als eine Art Gesamteindruck, der die Interpretation der weiteren Eigenschaften entsprechend beeinflusst (z.B. ob „kritisch“ eher positiv oder negativ verstanden wird) was wiederum die Bedeutung der Information und damit das Bild von der Person entsprechend komplettiert.

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Abb. 1: Aschs Experiment als zirkuläre Dynamik in einem kognitiven Feld (nach Kriz 2008)

Die Beispiele sollten deutlich machen, dass jeder Ton, jedes Wort, jede Situation, etc. „poly-semantisch“ ist, also eine große Fülle an Bedeutungen enthält. Theoretisch wären es sogar unendlich viele, aber durch unsere Evolution, durch Kultur, Sozialisation etc. ist der Raum an Möglichkeiten bereits eingeschränkt – aber eben immer noch sehr groß. Welche Bedeutung z.B. ein Wort dann konkret hat, hängt, so sagt man, vom „Kontext“ ab. Kontexte aber sind nicht einfach vorhanden. Und es sind meist mehrere gleichzeitig vorhanden – auch hier ist es somit vorteilhaft, besser von „Bedeutungsfeldern“ zu sprechen. Denn was macht die Bedeutung des Wortes „kritisch“ im zweiten Beispiel (Abb. 1) eigentlich aus? Zunächst einmal, im engen Interpretationsrahmen des Experiments, je nach vorhergehenden (und weiteren) Wörtern etwas eher positives (z.B. im Sinne: konstruktive überlegte Kritikfähigkeit) oder etwas negatives (z.B. im Sinne: nörgelde, krittelnde, sich nicht einlassende Haltung). Aber das Experiment findet ja auch nicht im semantisch, historisch oder kulturell leeren Raum statt. Vielmehr in einem Raum, der durch zahlreiche weitere semantische Kräfte – eben: Bedeutungsfelder – strukturiert wird. „Kritisch“ ist ein Wort der deutschen Sprache, wo es auf so etwas wie „nicht gedankenlose Zustimmung“ verweist. Aber in der Schule, gar im Rhetorik-Unterricht sind weitere und Bedeutungskräfte am Werk – und wieder andere in der Kirche oder beim Militär. Weitere Einflüsse kommen aus der Biographie des Hörers, aus seiner aktuellen Familie etc.

Mit dem Verweis auf „Familie, Unternehmen, Eigentümer“ sind drei fraglos relevante Bedeutungsfelder für Personen in Familienunternehmen grob benannt – wobei allerdings jedes der benannten Felder aus komplexen Unterfeldern, die sich ebenfalls überlagern, zusammengesetzt ist. Nimmt man nur eines der typischen Beispiele aus von Schlippe und Groth (2006)2: Dort lag ein Konflikt darin, dass Unternehmereltern ihrem Sohn u. Schwiegertochter vorgeschlagen hatten, in das Unternehmen einzusteigen, sich aber dann durch den von diesen entwickelten weitreichenden Businessplänen aus dem Unternehmen gedrängt fühlten. Die Analyse von v.Schlippe macht deutlich, dass sich der Sohn als Unternehmer angesprochen fühlte – und daher primär unternehmerische Initiative und Planungsfähigkeit angefragt sah. Während das Angebot vom Vater primär an den Sohngerichtet war – und daher primär Dankbarkeit und Loyalität erwartet wurden. Doch ist es wirklich nur eine Inkompatibilität der beiden Systeme „Familie“ und „Unternehmen“? Was machte es, familiär, dem Sohn so schwer, sich auch als Sohn angesprochen zu fühlen? Will oder muss er sich seiner Frau gegenüber beweisen? Ist auch sonst die familiäre Interaktion zwischen Vater und Sohn unproblematisch? Wäre es frei von Konflikten und Missverständnissen, wenn der Vater

2 wobei in v.Schlippe et al. (2008) sowie in Groth (2008) von Paradoxien gesprochen wird, obwohl es eigentlich weder um logische noch pragmatische Paradoxien handelt, sondern schlicht um Zielkonflikte und daraus resultierenden unterschiedlichen PRioriätten und Interpretationen.

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beispielsweise dem Enkelkind familiäre Ereignisse erzählen würde, von denen dessen Eltern meinen, das Enkel sollte dies (noch) nicht wissen?Und, innerhalb des anderen Systems, dürfen wir davon ausgehen, dass eine reine unternehmerische Kooperation zwischen einem eher konservativen und einem innovativen Partner ohne Konflikte und Missverständnisse anläuft?Letztlich, um ein ganz anderes „System“ exemplarisch ins Spiel zu bringen: wäre es nicht für die Beziehung Vater-Sohn, wie auch für die von Partner zu Partner in einem Unternehmen eine konfliktträchtige Belastung, wenn z.B. der eine sich einer religiösen Sekte anschlösse oder zu einer lebensgefährlichen Expedition aufbräche? Die Nachfolge in einem Unternehmen stellt daher nicht nur für die Familie, das Unternehmen und die Eigentümer eine Herausforderung dar, sondern auch – wenn nicht vor allem – für die Personen: Aus systemtheoretischer Sicht handelt es sich um „Entwicklungsaufgaben“ (Kriz 2007), die jedes System durchlaufen muss, weil sich die Umgebungsbedingungen ändern und das System sich neu adaptieren muss. Der Verweise auf die drei typischerweise thematisierten Systeme ist sicherlich ein hilfreicher Hinweis auf nicht zu übersehende Bedeutungsfelder, welche top-down wirken und von den Personen unterschiedliche Adaptationsleistungen in ihren Sinnkonstruktionen, Erwartungen und Handlungen erfordern. Gerade dort, wie dies aber nicht zufriedenstellend gelingt, und ein Coachen der Prozesse ganz besonders wichtig wird, bleibt zu fragen, an welche anderen Umgebungsbedingungen bzw. Bedeutungsfelder sich Personen adaptiert haben. Diese können für die Personen weit wichtiger und die Realität bestimmender sein, als die von rationalen externen Beobachtern beschriebenen Bedingungen. Personen adaptieren sich nämlich nicht an Bedingungen, wie sie von externen Beobachtern beschrieben werden, sondern an jene Bedingungen, wie sie von ihnen selbst wahrgenommen, verstanden und mit Bedeutung belegt werden. Und mit diesen personalen Strukturierungsprozessen bringen sie sich in die Dynamik der drei thematisierten Systeme ein und beeinflussen dies bottom-up zu jenen Systemstrukturen, die dann top-down (auch) bedeutungsgebend sind. Es ist daher ratsam, beispielsweise im Einzelcoaching Methoden einzusetzen, welche die personalen Bedeutungsfelder besonders berücksichtigen. Das „Auftragskarussell“ (v.Schlippe & Kriz 1996) wärehierfür ein gutes Beispiel. Gerade von Arist v. Schlippe ist aufgrund seiner anfangs skizzierte Biographie durch seine Kompetenz sowohl im therapeutischen Mikro- als auch im wirtschaftswissenschaftlichen Makro-Bereich prädestiniert, die beiden Ebenen weiter fruchtbar zusammen zu bringen. Wenn die in der Makroperspektive oft vernachlässigte Person gerade in der Betrachtung von Familienunternehmen ihren theoretisch wie praktisch gebührenden Platz erhält, wird dies sicher die Diskurse befruchten.

Literaturnachweise

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