2014 Text-Auswahl zu Russlands nicht erklaertem Krieg I

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    Krim Krise?

    Ukrane Krise?

    Text Auswahlzum nichterklrten Krieg

    der RegierungRusslands

    1. Teilbis Mrz 2014

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    Zankapfel Ukraine: Europische versus Eurasische Union

    Foto: snamess (CC BY 2.0)

    von Kai Ehlers

    Die Proteste gegen die ukrainische Regierung spitzen sich zu: Am 19. Januar versammelten sicherneut mehr als 100 000 Demonstranten auf dem Kiewer Unabhngigkeitsplatz, um gegen WiktorJanukowitsch zu protestieren und gegen dessen Abkehr von einer engeren Zusammenarbeit mit

    der Europischen Union. Dabei kam es erstmals im Laufe der seit Monaten anhaltenden Protestezu greren gewaltsamen Zusammensten zwischen militanten Demonstranten und denSicherheitskrften.

    Hier zeigte sich: Obwohl die Demonstrierenden darin einig sind, gegen wen sie protestieren, kannvon einer gemeinsame Idee fr die Zukunft der Ukraine keine Rede sein. Denn neben den beidenliberalen Parteien, der Ukrainischen Demokratischen Allianz fr Reformen unter Vitali Klitschkound der Vaterlandspartei der ehemaligen Regierungschefin Julia Timoschenko, beteiligt sich auchdie rechtsradikale Swoboda an den Protesten. Deren Anhnger vor allem sind fr die jngstengewaltsamen Ausschreitungen verantwortlich. Ob diese drei Parteien bis zu den nchsten Wahlen,die voraussichtlich im Jahr 2015 stattfinden werden, tatschlich eine gemeinsame Strategie fr dieUkraine entwickeln knnen, ist daher mehr als fraglich. Ganz zu schweigen davon, was das fr dasLand bedeuten wrde.

    Vllige Einigkeit schien dagegen am Jahresende 2013 in Moskau zu herrschen beim Treffenzwischen Janukowitsch und dem russischen Prsidenten Wladimir Putin, die sich gegenseitig in bester Laune zuzwinkerten. Offenbar haben die beiden etwas vereinbart, was auerhalb derblichen Spielregeln heutiger Politik liegt jedenfalls auerhalb dessen, was von den Vertreternund Vertreterinnen der westlichen Wertegemeinschaft fr mglich gehalten wurde: Mit einemHandschlag wurde die Ukraine aus der Schuldenfalle befreit, in die sie nach der Eigenstndigkeit1991 geraten war. Russland bot 15 Mrd. US-Dollar, angeblich ohne Bedingung, eine Reduzierungder Gaspreise um ein Drittel, Glttung der ins Stocken geratenen Handelsbeziehungen zwischenRussland und der Ukraine, Errterungen von besseren Eingliederungsbedingungen fr in Russlandlebende Gastarbeiter und noch ein paar Zugaben am Rande. Kurzum: Russland bot ein Hilfspaket,das die gegenwrtig wichtigsten ukrainischen Probleme zu lsen imstande ist.

    Dagegen waren die Modernisierungsperspektiven, welche die Europische Union der Ukraine inAussicht stellte, wenn diese die Reformbedingungen des Assoziierungsabkommens erfllte, ehereine Belastung als eine Sttze trotz der 650 Mio. Euro Soforthilfe. Denn hinzu kmen dieabsehbaren Folgen einer EU-Assoziierung, in deren Zuge der Ukraine, wie zuvor anderenRandzonen der EU, die Reduzierung auf einen offenen Absatzmarkt fr EU-Gter und dieVerwandlung in ein Billiglohnland der EU droht.

    Das ukrainische Dilemma

    Natrlich kann auch die russische Hilfsaktion die Probleme des Landes auf Dauer nicht lsen. Undselbstverstndlich erfolgte auch sie nicht ohne Gegenleistung, im Gegenteil: Es existieren klare

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    Zankapfel Ukraine: Europische versus Eurasische Union | Bltter fr deutsche und internationale Politik

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    Bedingungen zwischen Russland und der Ukraine, ob sie denn explizit benannt werden oder nicht.So lie Putin keinen Zweifel daran, dass die Vergabe des Kredites den Kriterien der internationalenFinanzgepflogenheiten entspricht: Die Zahlungen mssten mit Zinsen bedient und dahergegebenenfalls wieder mit neuen Krediten finanziert werden.

    Und auch wenn Prsident Putin versichert, von einem Beitritt der Ukraine zur Eurasischen

    Zollunion sei in Moskau nicht die Rede gewesen, so ist doch klar, dass mit dem aktuellenHilfspaket das eigentliche Dilemma des Landes nicht gelst ist: Die Ukraine bleibt zwischenEuropischer und Eurasischer Union gefangen. Darber hinaus, und das berschattet alles andere,sind Europische und Eurasische Union inzwischen in ein Stadium ihrer Entwicklung geraten, dasdie Frage nach einem prinzipiellen Wechsel des Politikstils zwingend auf die Tagesordnung setzt wenn denn die Geschichte sich nicht wiederholen soll, sprich: die Ukraine nicht erneut zur Kolonieoder zum Aufmarschgebiet konkurrierender imperialer Mchte werden soll.

    Schauen wir nur zurck auf das Jahr 2008: Bis dahin war die Auflsung der Systemkonkurrenznach 1989/90 ber mehrere Stufen scheinbar unaufhaltsam in die Nato- und EU-Ost-Erweiterungbergegangen, begleitet von der Entwicklung der sogenannten Europischen Nachbarschaftspolitik

    (ENP). Deren Nachbarschaftsverstndnis erstreckte sich ber smtliche Nachfolgestaaten derSowjetunion, ausgehend von Weirussland ber die Ukraine, den Kaukasus bis nach Kasachstan.Proteste Russlands dagegen blieben erfolglos, unter anderem der denkwrdige Auftritt WladimirPutins auf der Mnchner Sicherheitskonferenz 2007, bei dem er den Hegemonialanspruch der USAals einziger Weltmacht in Frage stellte und fr eine multipolare Weltordnung eintrat. Derrussische Prsident fand jedoch keine Zustimmung, sondern wurde vielmehr als Strenfriedstigmatisiert.

    Katerstimmung in der EU

    Erst der Einmarsch Russlands in Georgien 2008 setzte der weiteren Einkreisung des Landes ein

    unmissverstndliches Njet entgegen. Daraus folgte eine Wende in den Beziehungen zwischenRussland und den atlantischen Verbndeten: EU und Nato stoppten die offene Erweiterungspolitik,die ENP wurde in eine Neue Ostpolitik berfhrt und die USA zogen sich aus ihremeuropischen Engagement zurck, um sich strker auf Asien zu konzentrieren. Als stlichePartnerschaft verfolgt die Neue Ostpolitik seitdem nicht mehr den Beitritt, sondern dieAnbindung der unmittelbaren Nachbarn durch langfristige Einbeziehung in eine von der EUausgehende Freihandelszone, um die politische Assoziierung und die wirtschaftliche Integrationmit diesen Staaten voranzubringen.

    Als unmittelbare Nachbarn werden dabei aber nach wie vor nicht nur Weirussland, Moldau unddie Ukraine, sondern auch Georgien, Aserbaidschan und Armenien verstanden. Nach dem Beitritt

    Rumniens und Bulgariens zur EU, hie es zu Begrndung, seien auch diese Lnder ber dasSchwarze Meer als engere Nachbarn anzusehen.

    Seit dem EU-Gipfel im Mai 2009 laufen die sogenannten Assoziierungsverhandlungen mit dengenannten Staaten. Der Abschluss eines Vertrages mit der Ukraine auf dem 3. Gipfel derstlichen Partnerschaft in Vilnius Ende 2013 war als Krnung dieser Politik gedacht, nachdemmit Georgien bereits zuvor eine Einigung erzielt worden war. Mit dem Vertrag sollte dieweichenstellende Entscheidung der Ukraine in Richtung Westen besiegelt und damit auch diezgernden Regierungen von Armenien, Aserbaidschan, Moldawien und Weirussland mitgezogenwerden. Mit dem Rckzug der Ukraine aus der geplanten Unterzeichnung des Vertrages sind diesePlne erst einmal gebremst. In der EU herrscht Verwirrung und Katerstimmung; ihre Ostpolitikmuss nun neu ausgerichtet werden.

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    Hier zeigt sich, dass Putins Geschenk an die Ukraine zwar kurzfristig deren finanzielles Problem beseitigt; grundstzlich und langfristig knnen finanzielle Transaktionen die Lage der Ukraine alsgeschichtlich stets umstrittenes Grenzland jedoch nicht lsen. Ukraine der Name ist beredt: Er bedeutet wrtlich an der Grenze. Tatschlich ist die Ukraine nach wie vor ein Puffer, ein Raum,der von beiden Seiten als potentielles Einflussgebiet verstanden wird. Und solange sich diewestliche und die stliche Freihandelszone weiterhin als Konkurrenten begegnen, die sichgegenseitig mit den besseren Kapitalisierungsstrategien ausstechen wollen, wird es auch dabei bleiben. Letztlich sind die aktuellen Vorgnge in der Ukraine somit nur der schrfste Ausdruck derProbleme im umstrittenen Integrationsraum zwischen Europischer und Eurasischer Union. Einefortgesetzte Lagerbildung kann diese Schwierigkeiten nur verschrfen. Aus diesem Grund mussdie Ukraine selbst ber ihre Zukunft entscheiden knnen.

    Mit der Forderung nach einer selbstbestimmten Politik, so viel ist klar, betreten wir den Raumeiner anderen als einer blo taktischen oder nur verbalen Wende. Es ist der Raum, in demkooperative Solidaritt statt imperiale Blockbildung als Grundkonsens persnlichen undgesellschaftlichen Zusammenlebens gilt. Doch von einer solchen Perspektive ist die heutige EU-Politik ebenso weit entfernt wie die Moskauer Vertragspartner Putin und Janukowitsch.

    [1] ber die Folgen der nachsowjetischen Wandlungen vgl. auchwww.kai-ehlers.de.

    (aus: Bltter2/2014, Seite 25-28)

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    Die wirtschaftliche Lage in der UkraineHeiner Flassbeck 26.02.2014

    Wird die Ukraine zum nchsten Kandidaten fr eine gescheiterteRevolution?

    Was man jetzt schon klar sehen kann: Die Ukraine wird zum nchsten Kandidaten freine gescheiterte Revolution, weil der Westen jeder neuen Regierung als Gegenleistungfr Kredite Bedingungen auferlegt, die den Sinn der Revolution sofort zunichtemachen. Tunesien und gypten lassen gren.

    Wie die Nachdenkseiten es gestern ausgedrckt[1] haben: Die Hilfsangebote desWestens mssen als echte Bedrohung fr die Ziele der Menschen angesehen werden,die fr eine bessere und freiere Gesellschaft auf die Strae gegangen sind.

    Die Ukraine ist in einer vergleichbaren Lage wie die osteuropischen Lnder Bulgarienund Rumnien, die wir hier [2] (der gesamte Artikel nur im Abonnement) vor Kurzemanalysiert haben. Wachstum gibt es nach einer kurzen Erholung unmittelbar nach derFinanzkrise nicht mehr, weil der Konsum, auf den sich das Wachstum bis dahingesttzt hat, nicht mehr expandieren kann. Man versucht nmlich, Lohnsteigerungen zuverhindern, weil die internationale Wettbewerbsfhigkeit akut gefhrdet ist.

    Allerdings ist die Situation in der Ukraine noch dramatischer als in Bulgarien und

    Rumnien, denn das Land weist auch aktuell noch ein riesiges Leistungsbilanzdefizitauf (ber sieben Prozent vom BIP, vgl. Abbildung 1). Das bedeutet, dass die Ukraineeinen hohen Bedarf an Finanzierung ber die Kapitalmrkte hat.

    Abbildung 1

    http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/41/41102/1.html

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    Einen Vorgeschmack dazu liefert der jngste Bericht des IWF zur Lage in denosteuropischen Lndern. Da "findet der IWF heraus", dass zum starken Anstieg derArbeitslosigkeit in den meisten Lndern im Zuge der Finanzkrise "schwachesWachstum" besonders stark beigetragen habe. Aber wie fast immer in solchen Fllenkommt der IWF zu dem Ergebnis: "Labor market rigidities may also have played arole. In cutting the wage bill, there is a trade-off between a reduction in wages and inemployment - the more wages adjust, the less employment has to. It is likely that poorly functioning labor markets will see relatively large adjustments of employmentrather than wages" (Seite 19). Das ist falsch und wieder die alte neoklassischeSichtweise, nach der flexible Lhne jeden Einbruch der Beschftigung abfedernknnen. Diese Sichtweise hat der IWF, wie wir in einem anderen Fall gezeigt haben(vollstndig nur im Abonnement), zwar schon selbst infrage gestellt, doch ist das inWashington anscheinend noch nicht angekommen.

    Wrde man stattdessen den Lndern helfen kontrolliert abzuwerten, um ihren Exportzu beleben und (unntige) Importe zurckzudrngen, htte die neue Regierung eineChance, mittelfristig die Wirtschaft zu beleben und das Land zu stabilisieren. Bis die

    Abwertung greift, sollte man dem Land berbrckungskredite geben, die nicht mitneoliberalen Auflagen verbunden sind. Die Whrung muss auf einem niedrigeren Niveau stabilisiert werden, auch hier braucht man Hilfe des Westens (der jederzeitdurch Ankauf der ukrainischen Whrung mit eigener Whrung eine Aufwertung seinerWhrungen gegenber der Hrywnia verhindern kann), damit nicht erneutSpekulationswellen ber das Land hereinbrechen. Darber hinaus muss auch hier eineLohnpolitik installiert werden, die bei der Stabilisierung der Preissteigerungsraten hilftund die den Menschen eine Perspektive zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungengibt.

    Zentralbank in Kiew. Bild [1]: Max/CC-BY-SA-3.0 [2]

    http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/41/41102/1.html

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    Artikel URL: http://www.heise.de/tp/artikel/41/41102/Copyright Telepolis, Heise Zeitschriften Verlag

    Wenn man aber unter Fhrung der westlichen Geldgeber das Land mit neoliberalenReformen berzieht, werden sich auch die Verhltnisse zu Russland sehr schwieriggestalten, da Russland - zu Recht oder zu Unrecht ist eine andere Frage - darauf beharren wird, dass die Ukraine wegen der gemeinsamen Geschichte und der sich(besonders auf der Krim) berschneidenden Bevlkerungsanteile nicht vollkommen

    losgelst von Russland betrachtet werden kann.Aber all das und die Schuld des Westens (der Finanzmrkte) beim Entstehen derunhaltbaren Situation werden wieder praktisch nirgends diskutiert. Jeder westlichePolitiker kommt sich jetzt wichtig vor und wedelt mit Milliardensummen, ohne zusagen, dass er bereit wre, fr die systemischen Reformen der Weltwirtschaft (eineglobale Whrungsordnung) in die Bresche zu springen, die fr die Ukraine noch mehrals fr die anderen osteuropischen Lnder lebensnotwendig ist.

    Der Text von Heiner Flassbeck wurde mit freundlicher Genehmigung der Websiteflassbeck-economics[4] entnommen, auf der kritische Analysen und Kommentare zuWirtschaft und Politik zu finden sind.

    Anhang

    Links

    http://www.nachdenkseiten.de/?p=20862

    http://commons.wikimedia.org/wiki/File:National_Bank_of_Ukraine_at_night.JPG?uselang=de

    http://www.flassbeck-economics.de/abo-previewbulgarien-und-rumaenien-zwei-weitere-laender-auf-der-verliererstrasse-und-die-folgen/

    http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de

    http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/ukraine-in-der-wirtschaftskrise-schulden-und-korruption-a-955263.html

    http://www.flassbeck-economics.de/sigmar-gabriel-und-die-abenomics/

    http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/41/41102/1.html

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    Putins Gewaltpolitik und die deutsche Abwendung vom Westen

    7. April 2014

    Der zweite Akt der Invasion der Ukraine hat begonnen. Von Moskau und von Drahtzieherndes ehemaligen Janukowitsch-Regimes eingeschleuste und bezahlte (und demnchst wohl bewaffnete) Sturmtruppen und Schlgerbanden, die Stalin und Putin hochleben lassen,zetteln in der Ost-Ukraine systematisch Unruhen an, um dem Kreml den Vorwand zuliefern, weitere Teile des Landes zu erobern und zu annektieren.

    Die deutsche Auenpolitik, die alles daran gesetzt hat, den Westen von entschiedenenGegenmanahmen gegen die russische Aggression abzubringen, um den Gewaltherrscherim Kreml gndig zu stimmen, steht jetzt vor den Scherben ihrer so gro angepriesenenVermittlungsbemhungen. Auch diese weitere Zuspitzung der Entwicklung wird sie abervermutlich kaum davon abbringen, an ihrer leisetreterischen Politik gegenber demrussischen Autokraten festzuhalten.

    Eher sieht es danach aus, dass Deutschland vom westlichen Bndnis abrcken wird, alssich der im Zeichen einer vlkischen Ideologie vom Grorussentums vorangetriebenen Aggression endlich wirksam entgegenzustellen. Eine Mehrheit der Deutschen befrwortetdiese Abkehr von einer festen Verankerung im Westen laut einer jngsten Umfrage desDeutschlandtrends jedenfalls bereits. Lavierende Zurckhaltung angesichts einesmassiven Angriffs auf die europische Friedensordnung durch eine autoritre, expansiveMacht und Abwendung von der Westintegration, der Nachkriegs-Deutschland Freiheit undWohlstand zu verdanken hat das ist wahrlich ein stolzes Resultat von 60 Jahrenvermeintlicher deutscher Anstrengungen, Lehren aus der Geschichte zu ziehen!

    Auf die offene Gewaltanwendung folgte die Erpressung, und nun wieder die Gewalt.Wladimir Putin und sein Auenminister Lawrow erklrten noch vergangene Woche, sie planten keine weiteren militrischen Aktionen gegen die Ukraine. Dafr forderten sie imTon eines Ultimatums, die Ukraine msse zu einer lockeren Fderation umgebautwerden, in der die Interessen jener Teile der ukrainischen Bevlkerung geschtzt seien,die von Moskau als Russen definiert und als der Protektion durch den Kreml bedrftig beansprucht werden. Zudem msse sich die Ukraine verpflichten, nicht der Nato beizutreten.

    Moskaus will die Zerstckelung der Ukraine erpressen

    Mit anderen Worten: Russland verzichtet auf weitergehende militrische Aggression nur,wenn der Westen ihm freiwillig zugesteht, was es sich sonst gewaltsam holen wrde. DerWesten soll zustimmen, dass die Ukraine zergliedert und groe Teile des Landes unter dieKontrolle Moskaus gestellt werden. Die verbliebene Restukraine aber soll auf ihreSouvernittsrechte zu denen auch die Freiheit gehrt, seine Bndniszugehrigkeitenselbst zu whlen -, verzichten, so weit sie dem Kreml nicht in den Kram passen.

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    Nachdem Russland zudem angeblich einen Teilabzug der an der ukrainischen Grenzemassierten russischen Truppen angekndigt hatte, reagierten die westlichen Staatenlenkererst einmal erleichtert. Denn man hat die Gewaltlogik bis zu einem gewissen Grad bereitsakzeptiert: Wenn der Aggressor seine Beute behlt, weitere Raubzge jedoch frs ersteunterlsst, wertet man das als Entspannungssignal (so Deutschlands Auenminister Frank

    -Walter Steinmeier). Man gibt damit zu erkennen, dass man sich mit der Annexion derKrim abgefunden hat, und, da man sich davor frchtet, weiteren ExpansionsfeldzgenMoskaus wirksam entgegenzutreten, hnderingend darauf hoffen muss, Putin werde vonsich aus davon absehen.

    Die Absicht der USA und Grobritanniens, Nato-Truppen in die stlichen Mitgliedsstaatendes Bndnisses zu verlegen, um ein Zeichen zu setzen, dass die westliche Allianzzumindest diese im Ernstfall zu verteidigen bereit wre, sind von Deutschland erfolgreichhintertrieben worden. Unverdrossen folgt Berlin der Logik, der Aggressor drfe unterkeinen Umstnden provoziert und die Situation nicht weiter eskaliert werden. Deshalbstellt es sich auch westlichen Absichten entgegen, der Ukraine (wie auch Georgien) die Nato-Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen.

    Dumm nur, dass von einem russischen Truppenrckzug in Wirklichkeit berhaupt keineRede sein kann. Offensichtlich handelte es sich bei dessen Ankndigung um eine Finte, diePutin der deutschen Bundeskanzlerin in einem ihrer hufigen Telefonate aufgetischt hat,mit denen Angela Merkel den Gesprchsfaden nicht abreien lassen will. Die scheinbareGeste des Einlenkens war wohl als eine Art Zuckerl gedacht, um das von Wunschdenken inPutins guten Willen erfllte Deutschland darin zu bestrken, entschiedene Schritte der Natozu torpedieren.

    Steinmeier steuert die deutsche Politik auf quidistanz

    Dass die Nato brigens berhaupt ber eine Entsendung von Truppen ins Baltikum undnach Polen diskutieren muss, liegt daran, dass sie bei der Aufnahme der osteuropischenStaaten ins Bndnis darauf verzichtet hatte, dort Streitkrfte zu stationieren um Moskaudeutlich zu machen, dass sich die Nato-Osterweiterung keinesfalls gegen Russland richtete.So viel zu der hierzulande von allen Seiten verbreiteten Legende, Russland sei vomwestlichen Verteidigungsbndnis eingekreist und bedroht worden (vgl.hier ).

    Da er bei der Einverleibung der Krim auf keinen ernst zu nehmenden westlichenWiderstand gestoen ist, behlt sich Putin vor, zu jedem ihm genehmen Zeitpunkt auch indie Ost-Ukraine einzufallen. In dieser Position kann er getrost darauf warten, dass unterdem Dauerdruck der Gewaltandrohung bzw. anwendung der ohnehin halbherzigewestliche Widerstandswille gegen die russischen Ansprche ganz erschlaffen und derWesten die ukrainische Regierung dazu drngen wird, diesen um des lieben FriedensWillen nachzugeben.

    Die Chancen dafr stehen fr Putin nicht schlecht. Schon spricht Steinmeier davon, dassman bei der Aushandlung des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine womglich zueinseitig gehandelt und zu wenig Rcksicht auf russische Interessen genommen habe.Man drfe die Ukraine und andere nach Westen strebende Staaten in der russischenEinflusszone nicht vor eine Entweder-Oder-Entscheidung fr die EU oder die vonRussland geplante Eurasische Union stellen. Als habe die EU dies in Wirklichkeit jemals

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    getan, und als ob es nicht im Gegenteil Moskau wre, das mit Drohungen, Erpressungenund Subversion seine Nachbarstaaten daran zu hindern versucht, sich der EU anzunhern,weil es sie statt dessen in das Zwangskorsett russischer Vorherrschaft zwingen will.

    Nach und nach steuert Steinmeier die Bundesregierung so in eine Politik der quidistanz,

    die der vlkischen Ideologie, die hinter Putins Ankndigung steckt, die russische Weltwiedervereinigen zu wollen, eine mit dem Streben einer unabhngigen Nation wie derUkraine nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gleichwertige Legitimitt zugestehenwill.

    Der selektive deutsche Antifaschismus

    Rumt man Putin aber erst einmal das Recht ein, unabhngigen Nationen wie der Ukraineunter der Vorgabe, zur Schutzmacht fr alle Russen auerhalb der russischen Grenzen berufen zu sein, ihre Staatsform vorzuschreiben, gibt man ihm einen Blankoscheck, dieseMethode der Expansion auch in anderen Nachbarlndern anzuwenden. Dies scheint jedochden vielstimmigen, lagerbergreifenden Chor der angeblichen Russlandverstehern nicht zu bekmmern, die mit ignoranten historischen Scheinargumenten anzuzweifeln versuchen,dass die Ukraine berhaupt ein Recht auf staatliche Unabhngigkeit besitze.

    Das sei doch gar keine richtige Nation, urteilt Oberweltstratege Helmut Schmidt ber dieUkraine, und von deutschen Riesen-Weltstaatsmnnern auer Dienst wie Klaus vonDohnanyi mssen sich Ukrainer in Talkshows darber belehren lassen, sie knnten sichnicht einfach aus einer Einflusszone herauslsen. Was man im Falle Ostdeutschland und

    Osteuropas 1989/90 noch als Sieg des Freiheitswillens freier Vlker feierte, soll denUkrainern also untersagt sein. Der direkteste Weg, den Imperialismus Putins schnzuredenund zu rechtfertigen, scheint es fr seine Apologeten zu sein, das Opfer seiner Aggressioneinfach aus der Weltgeschichte verschwinden zu lassen. Wo gar keine Nation existiert,kann es ja auch kein Bruch des Vlkerrechts sein, ihr Teile ihres Staatsgebiets zu rauben.

    Ganz in diesem Sinne wirbt Alice Schwarzer um Verstndnis fr Putins wehrhafteStrategie der eisernen Faust man staunt, wie viel Bewunderung die Chef-Feministin pltzlich fr die Mnnlichkeitsideale gewaltttiger Machos aufbringt mit dem ach sovorbildlich antifaschistisch klingenden Argument, so lange sei es schlielich noch nichther, dass Nazi-Deutschland Russland berfallen hat. (Infam brigens, wie Schwarzerdamit insinuiert, die westlichen Demokratien knnten heute eine hnliche Bedrohung frRussland darstellen wie einst Hitlerdeutschland.)

    Russland berfallen? In Wahrheit hat Nazi-Deutschland damals die Sowjetunionberfallen, und das heit: nicht nur Russland, sondern eben auch die Ukraine undWeirussland, deren Territorium, im Gegensatz zu dem Russlands, sogar zu hundertProzent von Wehrmacht und SS besetzt war Deren Bevlkerung war damit in vollemUmfang der rassistischen Versklavungspolitik ausgesetzt, die der Nationalsozialismus ihrgegenber ebenso betrieb wie gegenber der russischen.

    Daraus scheint sich fr den gewhnlichen deutschen Antifaschismus diesen Vlkerngegenber jedoch keine besondere deutsche Verpflichtung zum Verstndnis ihrer Nteabzuleiten. Eher schon ist man hierzulande geneigt, der Putin-Propaganda zu glauben, nachder die ukrainische Demokratiebewegung von Faschisten und Antisemiten gesteuert

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    werde. Daran scheint auch die Tatsache nichts ndern zu knnen, dass die fhrendenVertreter der jdischen Organisationen der Ukraine etwas vllig anderes sagen und sichvollstndig mit dem ukrainischen Kampf fr Demokratie, Unabhngigkeit und gegen dierussische Aggression identifizieren. (siehehier , hier , hier und hier ). Und sich im brigenvehement verbitten, dass sich ausgerechnet Putin und seine ultranationalistischen

    Gefolgsleute in der Ukraine als Beschtzer der ukrainischen Juden aufspielen.

    Eroberung im Namen einer aggressiven Volkstums-Ideologie

    Dabei gibt es in der Tat eine finstere Geschichte von mrderischem Antisemitismus imukrainischen Nationalismus sowie von ukrainischer Kollaboration mit den Nazis, im Krieggegen die Rote Armee wie beim Holocaust. Allerdings hat es auch russische Kollaborateuregegeben, die sich in den Dienste der NS-Invasoren stellten, sei es in der Wlassow-Armeeoder in Einheiten der Waffen-SS. Generell hat der grorussische Nationalismus (wie auchseine sowjetische Mutation) in Sachen Judenhass- und verfolgung wohl kaum eine bessereReputation vorzuweisen als sein ukrainischer Gegenpart. Wie auch Rechtsextremismus undAntisemitismus im heutigen Russland mitnichten weniger verbreitet sind als in der Ukraine vielmehr trifft eher das Gegenteil zu (auch wenn Putin selbst durchaus kein Antisemit istund antisemitische Umtriebe unter dem Deckel zu halten versucht.).

    Schon gar nicht kommt in der deutschen antifaschistischen Meisterezhlung der Hitler-Stalin-Pakt vor, mit dem die Sowjetunion Hitler freie Bahn fr seinen berfall auf Polengab, und in dessen Folge Stalin die deutsche Kriegsfhrung im Westen durch massiveRohstoffliegerumgen entscheidend untersttzte abgesehen davon, dass sich die Sowjets

    bei dieser Gelegenheit ihrerseits Ostpolen einverleibten. Die ngste der Osteuroper aber,Deutschland und Russland knnten sich unter anderen Vorzeichen erneut ber ihre Kpfehinweg einigen, finden aber bei den selbstgerechten deutschen Vergangenheitsbewltigernkein verstndiges Ohr.

    Gro war bei diesen dagegen die Emprung, als Wolfgang Schuble krzlich eine Analogiezwischen Putins Annexion der Krim und Hitlers Annexion des Sudetenlandes 1938 zog.Dabei lag er damit vllig richtig. Nicht im Entferntesten hatte er damit ja gemeint, dassPutin wie der NS-Diktator die ganze Welt mit Angriffskriegen berziehen wolle oder gareinen Holocaust plane. Worum es geht, ist der Hinweis auf die bereinstimmung derMethode, die gewaltsame Vernderung von Grenzen mit der Heimholung eines in der

    Fremde vermeintlich unterdrckten Volkstums zu begrnden. Dass sich der Westen1938 dieser Logik beugte und einen demokratischen Staat einer nur dem Gesetz der Gewaltfolgenden Willkrherrschaft preisgab, ist sein Sndenfall, den er heute unter keinenUmstnden wiederholen darf.

    Dabei es ist fraglich, ob Moskau einen offenen Einmarsch in die Ostukraine berhauptntig hat. Seine Strategie zielt eher auf eine verdeckte Operation wie auf der Krim: Diebergangsregierung in Kiew geht davon aus, dass in acht der 25 Verwaltungsgebiete derUkraine prorussische Unruhen inszeniert und die Gebiete dann mit Hilfe von als`Selbstschutzmilizen getarnten russischen Spezialeinheiten und unter dem indirektenSchutz russischer Truppenmassierungen in eine Sezession von Kiew hineingefhrt werdensollten. (FAZ vom 1.4.2014).

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    Zuletzt, so heit es dort weiter, fing der ukrainische Grenzschutz bis zu 500 getarnteDiversanten tglich ab, die aus Russland eingeschleust werden sollten. Doch selbst, wennes (noch) nicht zu einer offenen Invasion kommen sollte, wird Moskau weiter alle Hebel inBewegung setzen, die Stabilitt der Ukraine zu untergraben und den Aufbau einerfunktionierenden, proeuropischen Demokratie zu verhindern. Dazu gehren neben der

    fortgesetzten militrischen Drohung und der Infiltration des Landes durch Provokateureauch Mittel wie die jngst bekanntgegebene, einer wirtschaftlichen Kriegshandlunggleichkommenden, Preiserhhung fr russische Gaslieferungen um bis zu 80 Prozent.

    Putins neue Weltordnung im Bndnis mit Europas extremer Rechten

    Es wird hchste Zeit, dass in Deutschland die Dimension der Herausforderung begriffenwird, die der Putinismus nicht nur fr die internationale Rechtsordnung und die Prinzipiendes friedlichen Zusammenlebens der Staaten und Nationen in Europa, sondern fr dieliberale demokratische Zivilisation des Westens insgesamt darstellt. Massiv treibt Putinderzeit die Gleichschaltung der russischen Gesellschaft voran gem einer Ideologie, dieeinen mystischen grorussischen Nationalismus mit der Restauration sowjetischerHerrschaftspraktiken kombiniert. Kritiker werden als Vaterlandsverrter denunziert undmundtot gemacht, verbliebene Menschenrechtsgruppen und regierungskritische Senderausgehoben, und nationale Mobilisierungsituale aus der Stalin-rawiederbelebt.

    Nichts weniger will Putin damit erschaffen als ein autoritres Gegenmodell zu den von ihmals schwchlich und verkommen verachteten westlichen Demokratien mit ihremPluralismus der politischen Strmungen und Lebensweisen sowie ihrem hedonistischen

    Egalitarismus, der sogar Schwulen erlaubt, so zu leben, wie sie es wollen. Dafr genietPutin auch im Westen wachsende Sympathie und Untersttzung, von ganz links bis ganzRechts. Keinen der sozialdemokratischen, liberalen und linken antifaschistischenBeschwichtiger und Putin-Versteher scheint es aber zu beunruhigen, dass sich extremeRechte und Rechtspopulisten in Europa, vorneweg die franzsische Front National, auf dieSeite des Putin-Regimes geschlagen haben, weil sie dessen Projekt einer neuenantiliberalen Weltordnung teilen. Lieber warnt man rituell vor dem Einfluss der rechtenSwoboda-Partei im ukrainischen bergangskabinett, die in aktuellen Umfragen bei etwafnf Prozent liegt (ihr Prsidentschaftskandidat bei unter zwei Prozent) und die krzlichmit dem Bndnis rechter Parteien in Europa wegen dessen Parteinahme fr Putingebrochen hat.

    http://freie.welt.de/2014/04/07/putins-neue-weltordnung-und-die-deutsche-abwendung-vom-westen/

    Putins Gewaltpolitik und die deutsche Abwendung vom Westen - Freie Welt

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    URL:http://www.tt.com/home/8413279-91/nina-chruschtschowa-putin-will-es-den-amerikanern-zeigen.csp

    Tiroler Tageszeitung online 20. Mai 2014

    Nina Chruschtschowa:Putin will es den Amerikanern zeigenWien/Kiew (APA) - In den Augen von Nina L. Chruschtschowa, Urenkelindes einstigen Sowjet-Partei- und Regierungschefs Nikita Chruschtschow,

    resultiert das Handeln des Kreml-Chefs Wladimir Putin aus dessen KGB-Erziehung. Stalin ist sein Held, sagte die in den USA lehrendeHistorikerin bei der Prsentation ihres Buchs ber Grovater Leonid inWien.

    Der russische Staatschef hat mehrfach kritisiert, dass ihr Grovater NikitaChruschtschow die Krim 1954 der Ukraine berlie, die Halbinselsozusagen verschenkte, rief die Chruschtschow-Enkelin in Erinnerung.Mit der Annexion der Krim vermeinte Putin den Russen ihren Stolzzurckgegeben zu haben. Jetzt befinde sich der Kreml-Chef fast an denToren Europas, wie Chruschtschowa es ausdrckte.

    Europa sei gefordert, Fhrungsstrke zu zeigen. Es gelte, einen Dialog,Verhandlungen ohne Waffen zu fhren, sagte Chruschtschowa. Die NATO stelle keine Bedrohung dar. Die Autorin, die an der New SchoolUniversity in New York das Fach Internationale Beziehungen unterrichtet,erinnerte daran, dass Putin, als er an die Macht kam, selbst erklrt hatte, die

    NATO bedeute keine Gefahr, denn Russland sei ein europisches Land.Die amerikanisch-russische Politikanalystin hat den Eindruck, dass dieChemie zwischen den beiden Gromachtfhrern Wladimir Putin undBarack Obama nicht wirklich stimmt. Putin und Obama knnen nichtmiteinander. Putin habe mit Minderheiten keine Freude, das habe sichauch im Tschetschenien-Konflikt gezeigt. Obama wiederum wolle vonallen geliebt werden und sei beunruhigt, weil Putin ihn nicht mag. DenHang, alles kontrollieren zu wollen, htten beide gemeinsam.

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    Putin will es den Amerikanern zeigen, analysiert Chruschtschowa die politische Befindlichkeit. Dahinter stehe der Gedankengang: Wenn dieAmerikaner sogar ihre Freunde ausspionieren, wenn sie im Irak Kriegfhren, warum sollten die Russen dann nicht auch auf der Krim und in derUkraine ttig werden. Putin praktiziere ein Top down system (von obennach unten). Am Schluss des Buches stelle sie selbst die Frage, obRussland jemals eine Demokratie werden knne, so die Autorin.

    Chruschtschowa betitelt ihr Buch The lost Khrushchev A journey intothe Gulag of the Russian Mind. Der verlorene Chruschtschow damitmeint sie ihren Grovater Leonid, der 1943 als Kampfpilot abstrzte. DieSowjets schufen die Legende, dass er berlebt, desertiert und mit den Nazis kollaboriert habe, schlielich gefasst und als Verrter unter Stalinhingerichtet wurde. Wie Stalins mchtiger Auenminister WjatscheslawM. Molotow ihr als Kind ins Gesicht sagte, dass diese Verrter-VersionQuatsch sei das stellt die Autorin an den Beginn ihres Werks. Siekommt zu dem Schluss: Wenn man etwas ber den Kreml schreibt, lgt jeder.

    Jetzt hat Chruschtschowa diesen bisher ungeklrten Teil ihrerFamiliengeschichte aufgearbeitet. Das Buch enthlt auch zahlreiche Fotos

    des Chruschtschow-Clans. Eingehend analysiert die Autorin den russischenCharakter und den geistigen Gulag, wie der zweite Teil des Buchtitels besagt, und den ein Kritiker als Neigung zu Despotismus und Paranoia bezeichnet. Sie widmet das Buch ihrer Mutter Julia, ber die sie schreibt:Auch meine Mutter war ein Produkt des Gulag, nicht seiner physischenBrutalitt, aber seiner Geisteshaltung.

    Chruschtschowas Recherchen an Originalschaupltzen und ihre Gesprchemit Zeitzeugen fhren herauf bis in die Putin-ra. Als modernen Zar, derim Namen traditioneller Werte regiert, westliche Dekadenz ablehnt(Stichwort feministische Band Pussy Riot) und der ein neo-sowjetischesLand vor Augen habe, beschreibt sie den russischen Prsidenten im Buch.Auch die Olympischen Spielen in Sotschi trifft Kritik: BeimMedaillenregen fr die Russen sei viel manipuliert worden und diekologischen Schden seien noch nicht abzuschtzen, betonte sie bei ihremWien-Auftritt.

    (Nina L. Khrushcheva, The Lost Khrushchev: A Journey into the Gulagof the Russian Mind; in englischer Sprache; Tate Publishing, New York,USA; 320 Seiten, 15 Euro; 2014; ISBN 948-1-62994-544-6)

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    Russische Soldaten bei einem

    Manver mit Panzer.

    Deutschlandfunk InterviewBeitrag vom 21.06.2014 06:50 Uhr

    URL dieser Seite: http://www.deutschlandfunk.de/ukraine-konflikt-man-erkennt-die-expansionslust-des.694.de.html?dram:article_id=289737

    UKRAINE-KONFLIKT

    "Man erkennt die Expansionslust desrussischen Systems"

    Wolfgang Templin im Gesprch mit Jrgen Liminski

    Anders als die Deutschen seien die Menschen in Polen nicht blind gegenber den russischen Intentionen,sagte Wolfgang Templin, bis vor einem halben Jahr Vertreter der Heinrich-Bll-Stiftung in Warschau, imDLF. Russland wolle seine alten Einflusszonen wieder dominieren.

    Templin sagte weiter: "Mich verstrt das Ma an egoistischem Wegducken, an Blindheit, was wir hier inDeutschland haben, wenn es darum geht, was diese neue Situation fr uns alle bedeutet." In Polen sei dieBereitschaft viel grer, die Ukraine aktiv zu untersttzen. "Wir brauchen eine ganz enge Partnerschaft mit Polen",forderte er.

    Zur aktuellen Regierungskrise in Warschau sagte er, Neuwahlen wrden Polen entscheidend lhmen. "Das wrdeeine ernsthafte - und ich wrde sogar sagen bedrohliche - Zuspitzung der Situation bedeuten."

    Das Interview in voller Lnge:

    Jrgen Liminski: Amerika und Europa erhhen in der Ukraine-Krise den Druck auf Russland. Zunchst nurverbal, man droht mit weiteren Sanktionen, sollte Moskau seine Truppen nicht von der ukrainischen Grenzeabziehen.

    Der ukrainische Prsident Poroschenko hat eine Waffenruhe in der Ostukraine angeordnet, gleichzeitig mehr Autonomie und Wahlen fr die Bevlkerung in dieser Region angeboten. Die prorussischen Separatisten lehnendieses Angebot allerdings ab und gleichzeitig konzentriert Russland, wie eben gehrt, wieder Truppen an der

    Grenze. Kampfpause oder Waffenstillstand?

    Ausgerechnet in dieser Situation schliddert der ukrainische Nachbar Polen in eine politische Krise, diemglicherweise Auswirkungen auf das Geschehen der Region haben kann. Und darber will ich jetzt sprechen mitWolfgang Templin, er war bis vor einem halben Jahr vier Jahre Leiter der Heinrich-Bll-Stiftung in Warschau.Guten Morgen, Herr Templin!

    Wolfgang Templin: Guten Morgen!

    Liminski: Herr Templin, in Polen kann es zu Neuwahlen kommen. Lhmt das das Land in einer Situation, in deres wegen der Krise in der Region Fhrung braucht?

    Templin: Wenn es zu Neuwahlen kme, wrde das eine ernsthafte und, ich wrde sagen, sogar bedrohlicheZuspitzung der Situation in Polen bedeuten. Es wrde Polen in einem Moment entscheidend lhmen undschwchen, in dem die Rolle unseres stlichen Nachbarn von entscheidender Bedeutung ist.

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    1Ukraine-Konflikt - "Man erkennt die Expansionslust des russischen Systems"

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    "Tdlicher Grad an Gegnerschaft"

    Liminski: Nun bleiben Regierungen bis zur Wahl ja immer im Amt. Funktionierende oder amtierende Regierungensind das eine, eine glaubwrdige und mitreiende Regierung das andere. Wre da in dieser Situation eine

    Allparteienregierung zeitweise denkbar in Polen?

    Templin: Beim Zustand der politischen Situation in Polen, beim verbissenen, nahezu tdlichen Grad anGegnerschaft, den die Parteien dort gegeneinander entwickelt haben, schliee ich eine solche Mglichkeit aus,die in anderen Lndern vielleicht mglich wre.

    Liminski: Wird es denn wegen der Ukraine-Krise zu erhhten Verteidigungsausgaben kommen, egal, werdemnchst in Warschau regiert?

    Templin: In Polen sind sich alle politischen Krfte, ungeachtet ihrer wirklich heftigen Gegnerschaft, derHerausforderung, die durch die Situation in der Ukraine entstanden ist, bewusst. Ich gehe davon aus, es wrdeunter jeder mglichen neuen Regierung zu einer solchen Erhhung der Verteidigungsausgaben kommen.

    Liminski: In der Ukraine-Frage ist, wenn ich das richtig hre, Polen also relativ geschlossen. Liegt das nun amRussland-Bild der Polen oder an der Kenntnis des Nachbarn?

    Templin: Das liegt an der langen Vertrautheit Polens mit der Entwicklung, mit der Situation in Russland. BeimNachbarn muss man unterscheiden Russland als Gesellschaft beziehungsweise das russische System. Und esgeht um die Vertrautheit der Polen mit dem russischen System. Und da ist man frei von allen Illusionen. Was die

    jetzige Entwicklung betrifft, mgliche kommende Herausforderungen und Gefahren, ich gehe von einer ganzgroen Ernchterung in Polen aus und von einer Bereitschaft, von einer Entschlossenheit, dieVerteidigungsausgaben zu erhhen.

    "Russland will seine alten Einflusszonen wieder erobern"

    Liminski: Die Kenntnis des Nachbarn, also Ukraine und natrlich auch Russlands, fhrt das zu einem anderenBild in Polen zu der Gefahrenlage?

    Templin: Ja, vor allem deswegen, weil man die Expansionslust des gegenwrtigen russischen Systems erkennt,weil man in Polen aufgrund der historischen und aktuellen Erfahrung ganz genau wei: Es ist damit zu rechnen,dass Russland, das russische System nicht bei der gegenwrtigen Situation stehen bleiben will, nur die Ukraine zudestabilisieren, sondern seine alten Einflusszonen wieder zu erobern. Das heit nicht, in Polen einzumarschieren,sondern einen Grad von Dominanz herzustellen, wie er frher existierte. Und dem will man sich auf keinen Fallunterordnen oder stellen.

    Liminski: Was wrde denn Ihrer Meinung nach passieren, wenn Russland zum Beispiel in der Ostukraineeinmarschieren wrde?

    Templin: Das wrde eine Situation hervorrufen, die ganz Europa, also auch die EU zu Konsequenzen zwnge,die man sich momentan berhaupt nicht vorstellen will. Aber eine solche Situation wrde dann eintreffen.

    Liminski: Sie sind, Herr Templin, seit einem halben Jahr wieder in Deutschland, haben sozusagen die Ukraine-Krise in Polen und in Deutschland im Bild, auf dem Schirm. Was sind denn sozusagen die markantestenUnterschiede im ffentlichen Meinungsbild?

    Templin: Mich frappiert, mich verstrt das Ma an egoistischem Wegducken, an Blindheit, was wir hier inDeutschland haben, wenn es darum geht, was diese neue Situation fr uns alle bedeutet. In Polen ist derRealismus viel grer, ist die Bereitschaft, aktiv ttig zu werden, die Ukraine zu untersttzen, dieser EntwicklungEinhalt zu gebieten, viel strker. Ich wrde mir wnschen, dass das Bewusstsein dafr, wir alle sind hier gefordert,

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    wir brauchen eine ganz enge Partnerschaft mit Polen, Deutschland hat eine entscheidende Verantwortung dafr,dass dieses Bewusstsein viel strker wre und die Bereitschaft, dementsprechend zu handeln!

    "Neue Bedrohungs- und Instabilittssituation"

    Liminski: Bei dem Stichwort Blindheit will ich noch mal nachhaken: Meinen Sie damit Blindheit gegenber denrussischen Intentionen?

    Templin: Ich meine Blindheit gegenber den russischen Intentionen und vor allem Blindheit gegenber einerneuen Situation, vllig unvergleichbar mit dem Ma an Stabilitt und Akzeptanz der friedlichen Realitt, die wir inden vergangenen Jahrzehnten hatten. Russland, das heit, das russische System unter Putin stellt mit seinerPolitik in den vergangenen Monaten eine so neue Bedrohungs- und Instabilittssituation her, wie wir sie nach demZweiten Weltkrieg vergleichbar nicht hatten.

    Liminski: Ist das auch Common Sense in Polen, sieht man das in Polen auch so mit Blick auf Deutschland? Dassdie Deutschen hier blind sind gegenber diesen Gefahren?

    Templin: In Polen ist das Bewusstsein und das Bedauern darber prsent. Man hofft darauf, dass in Deutschlanddas Bewusstsein fr die gemeinsame Verantwortung wchst. Das Bemhen darum ist vorhanden, es gibtGesprche, es gibt Kontakte. Und ich kann mir nur vorstellen, dass es bei uns auf der deutschen Seite ankommt,dass es so wirkt, dass die bisher vorhandenen, aber unzureichenden, ich wrde fast sagen: halbherzigenBemhungen um wechselseitige Kooperation, um ein positives Wahrnehmen des polnischen Partners ungeachtet

    jeder erneuten politischen Krise dort vorhanden ist, dass man das aufgreift und dass Deutschland und Polengemeinsam hier nicht nur als wie vorher Partner und Reformmotor, sondern Partner in der Krise reagieren knnen.

    Liminski: Krise in Polen und Krise in der Ukraine, Auswirkungen, unterschiedliche Einschtzungen. Das warWolfgang Templin, bis vor einem halben Jahr Leiter der Heinrich-Bll-Stiftung in Warschau. Besten Dank fr dasGesprch, Herr Templin!

    Templin: Ich bedanke mich auch, danke!

    uerungen unserer Gesprchspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk machtsich uerungen seiner Gesprchspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Weiterfhrende Information

    Poroschenko verkndet Waffenruhe [http://www.deutschlandfunk.de/ukraine-konflikt-poroschenko-verkuendet-waffenruhe.1818.de.html?dram:article_id=289734] (Deutschlandfunk, Aktuell, 20.06.2014)

    Grenze zu Russland unter Kontrolle [http://www.deutschlandfunk.de/ostukraine-grenze-zu-russland-unter-kontrolle.1766.de.html?dram:article_id=289664] (Deutschlandfunk, Informationen am Mittag, 20.06.2014)

    Mehr als 200 Tote bei Kmpfen im Osten [http://www.deutschlandfunk.de/ukraine-schwerste-kaempfe-im-osten.1773.de.html?dram:article_id=289630] (Deutschlandfunk, Informationen am Morgen, 20.06.2014)

    Deutschlandradio 2009-2014

    http://www.deutschlandfunk.de/ukraine-konflikt-man-erkennt-die-expansionslust-des.694.de.print?dram:article_id=289737

    3Ukraine-Konflikt - "Man erkennt die Expansionslust des russischen Systems"

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    Russland Tod in Moskau

    http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/schmerzmittel-unter-verschluss-tod-in-moskau-13090600-p3.html?printPagedArticle=true#pageIndex_3

    In Russland versterben todkranke Patienten unter unvorstellbaren Qualen. LinderndeSchmerzmittel werden als Drogen kriminalisiert. Eine Erfahrungsgeschichte.

    12.08.2014, von Boris Schumatsky Anfang dieses Jahres, zwei Monate nach dem Tod meines Vaters, schoss sich in Moskau einpensionierter Admiral in den Kopf. Wie mein Vater war er krebskrank. Niemand ist schuld anmeinem Tod auer dem Gesundheitsministerium und der Regierung, stand auf dem Zettelden er hinterlie. Am Tag vor dem Selbstmord hatte die Gattin des Admirals vergeblichversucht, Morphin-Ampullen fr ihn zu bekommen. Morphin ist das wirksamste Schmerzmittel,das verabreicht wird, wenn nichts anderes mehr hilft.

    Als ich von der Krebsdiagnose meines Vaters erfuhr, erfasste mich noch vor der Trauer Panik.

    Davor, dass er wrde leiden mssen. Der russische Staat behandelt Schmerzmedikamente alsverbotene Drogen. Wer das Verbot ignoriert, ob Arzt, Patient oder Angehriger, bekommt alsDrogendealer acht Jahre Lagerhaft. Nur einer von zehn Krebstoten in Russland darfschmerzfrei sterben.

    Das Gesicht eines menschenfeindlichen Staates

    Als unlngst einer ehemaligen KZ-Insassin Schmerzmittel verweigert wurden, sagte der Arztzu ihren Verwandten: Wenn sie Auschwitz berlebt hat, wird sie auch die kommende Nachtberstehen. Dabei sind Schmerzmittel vorhanden und preiswert. Doch die rzte haben Angstvor der Drogenpolizei. Einige machen sich auch die althergebrachte Einstellung desrussischen Staates zu eigen, wonach der Untertan leiden muss. In der Sowjetunion waren

    Abtreibungen oder Zahnbehandlungen ohne Betubung die Norm. Um der staatlichverordneten Tortur zu entgehen, besorgen sich einige heute Heroin bei echten Drogendealern,oder sie fliehen in den Freitod.

    Der krebskranke Admiral hatte die Produktion von Interkontinentalraketen beaufsichtigt undsa nach seiner Pensionierung im Vorstand einer Bank. Er war Angehriger der Staatselite,gewissermaen die Personifikation dieses Staates. Zugleich war er ihm hilflos ausgeliefert.ber Schmerzpatienten, die sich umbringen, bemerkte ein zustndiger Beamter: Das ist ihrepersnliche Art von Euthanasie. Als mein Vater nur noch Wochen zu leben hatte, flog ichnach Moskau. Er brauchte Morphin. Der behandelnde Arzt verstand das, er durfte aber keinesolchen Rauschmittel verschreiben.

    Ich bekam einen Zettel mit Stempel und zwei Unterschriften, der mir, wie der Arzt meinte, inder nchsten Instanz helfen wrde. Fr meinen Vater stand auer Zweifel, warum der Staatihn und andere Mitbrger leiden lsst. Dieser menschenfeindliche Staat hatte fr ihn einGesicht. Kleine Augen, zerfurchte Haut, einen Schnauzer, den der Dichter Ossip MandelstamKakerlakenbart nannte, und eine Pfeife im Mundwinkel: Josef Stalin. Als mein Vater nochnicht ein Jahr alt war, hatte Stalin seinen Grovater erschieen lassen. Mein Vater wuchs aufmit dem Stempel FMVF - Familienmitglied eines Volksfeindes. Sein Leben lang musste er mitdem Staat ringen, zuerst um ein wrdiges Leben, dann um ein wrdiges Sterben.

    Die Rache des Staates

    Ich fuhr zur nchsten Instanz, die starke Schmerzmittel verschreiben konnte, dem Bezirks-Onkologen. Der Medizinbeamte, kahlkpfig und mit einer Goldkette um den Hals, weigertesich, etwas zu verschreiben, ohne sich selbst davon berzeugt zu haben, dass der Patient

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    Dazu wrde man aus der Rinde unseres Planeten alle Atome und Molekle bergen, aus denendie Krper unserer Ahnen einst bestanden. Auch ihr Geist solle durch historische Forschungenwiederbelebt werden. Die Millionen und Abermillionen von Ahnen und Nachkommen, die sichdann endlich umschlingen wrden, wren aber zu viele fr unsere Erde. Daher stellt Fjodorowder verbrderten Menschheit als dritte Aufgabe, den Kosmos zu erschlieen.

    Viele Zeitgenossen hielten den Begrnder der Philosophie des russischen Kosmismus freinen heiligen Narren. Fjodorow gab sein Geld fr Bcher aus, er besa nie einenWintermantel und starb an der Folgen einer Erkltung. Er wre bestrzt gewesen ber dieKondolenz-SMS, die mir ein deutscher Schriftsteller schickte: Es sei schon verrckt, dass dasNatrlichste im Leben so traurig ist! Fjodorow weigerte sich, das Natrliche zu akzeptieren.Der westliche Pragmatismus war ihm zu feige. Er sah auch wenig Sinn darin, die despotischeRegierungsform zu demokratisieren. Der Zar war fr Fjodorow als Gegner zu klein, seinGegner war der Tod.

    Zwischen Kosmos und Krebs

    Heute will dieser Staat sich jedes Toten sogleich bemchtigen. Nur Stunden nach Vaters Todkam ein Arzthelfer, ein junger Mann in blauer Uniform mit langen Haaren und Hornbrille. Ichsolle die Pflaster abnehmen und zur Medizinbehrde zurckbringen, mahnte er. Sonst wrdeich im Knast landen. Dann klingelte die Polizei an der Tr. Ein verschlafener Beamter hob dieDecke ber dem kalt werdenden Krper meines Vaters an und betrachtete die bis zur Deckereichenden Bcherregale. Dann setzte er sich an den Kchentisch und fllte eine halbe Stundelang einen Stapel Formulare aus.

    Wie kann einer weiterleben, dessen Vater gestorben ist? fragte Fjodorow. Mein Vater starbvier Monate vor Beginn des Kriegs gegen die Ukraine. Der htte ihn nicht berrascht. Als ichdreizehn war, erzhlte mir Vater zum ersten Mal, in was fr einem Staat wir leben. bertreibe

    bitte nicht, erwiderte ich wie ein Erwachsener, und als ich erwachsen wurde, sagte ich ihmdas immer. Mein Vater nahm nie an der Protestbewegung sowjetischer Dissidenten teil,obwohl er viele von ihnen kannte. Ich fhre keinen Krieg mit einem Atomstaat, sagte er.

    Auswandern wollte mein Vater dennoch nicht. Er lebte ja nicht im Russland Stalins,Breschnews, Putins. Seine Heimat war das Russland von Nikolaj Fjodorow.

    Dieses Russland kann genauso radikal sein, wie sein Regime absolutistisch ist. FjodorowsNachfolger setzten seine Visionen nach und nach in die Praxis um, bis die erstenWeltraumraketen Sputniks und Kosmonauten ins All brachten. Fjodorows Russland ist gelebteUtopie. Wenn Stalin oder Putin von Raketen trumten, dann von Langstreckenwaffen mit

    Atomsprengkpfen. Die Kremlherrscher waren fr meinen Vater immer nur Ganoven. Er

    nannte sie nie bei ihren Namen, so wie man das Wort Krebs nicht ausspricht.Es kamen zwei Sanitter, um die Leiche meines Vaters abzuholen. Das fr ihn vorgeseheneLeichenhaus lag in einer entfernten Vorstadt, es war nicht mglich, ihn in ein nheres zubringen oder ihn auch nur einen Tag zu Hause zu behalten. Haben Sie die Pflasterabgenommen?, fragte mich der ltere der beiden Sanitter, der nett sein wollte. Dann packtensie Vater in einen schwarzen Sack wie ein Verkehrsunfallopfer und schafften ihn fort. Als siesich drauen vor dem Haus unbeobachtet glaubten, schleiften sie den Krper wie einenKartoffelsack ber den Asphalt. Der Staat holte den Staatsfeind am Ende ein. Und sein Landlebt weiter zwischen Kosmos und Krebs.

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    13.12.13 Verhandlungen mit Opposition

    Eine erste Gesprchsrunde zwischen Regierung und Opposition hatkeine Fortschritte gebracht. Janukowitsch schlug zwar vershnliche Tnean auf die Forderungen seiner Gegner ging er aber nicht ein. Von GerhardGnauck, Warschau

    Foto: dpa

    Gegner am runden Tisch: Vitali Klitschko (l.) und Prsident Janukowitsch

    Sie haben miteinander gesprochen in Kiew. Aber eine wirkliche Annherung gab es nicht beidem Dialog zwischen Opposition und Regierung in der Ukraine. Oppositionsfhrer VitaliKlitschko sagte nach dem Treffen des sogenannten Runden Tisches am Freitag, dieRegierung sei keinen Schritt auf die Opposition zugegangen. Ein Durchbruch war bei demTreffen allerdings auch nicht erwartet worden. Und so wird es bei der fr Sonntag geplantenGrodemonstration auf dem Kiewer Unabhngigkeitsplatz bleiben.

    Regierung in Kiew macht keine Zugestndnisse

    ://www.welt.de/politik/ausland/article122896283/Regierung-in-Kiew-macht-keine-Zugestaendnisse.html?config=print

    1handlungen mit Opposition : Regierung in Kiew macht keine Zugestndnisse - Nachrichten Politik - Ausland - DIE WELT

  • 8/12/2019 2014 Text-Auswahl zu Russlands nicht erklaertem Krieg I

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    In seinen Erffnungsworten hatte Janukowitsch zwar vershnlichen Ton angeschlagen undeine Amnestie fr alle festgenommenen Demonstranten in Aussicht gestellt. Auerdemrumte er ein, dass sich die Sicherheitskrfte nicht korrekt verhalten htten bei denPolizeieinstzen gegen die Demonstranten. Wirkliche Zugestndnisse machte Janukowitschallerdings nicht.

    Oppositionsfhrer Arseni Jatsenjuk forderte deshalb erneut den Rcktritt vonMinisterprsident Mikola Asarow und jenen des Innenministers, die er fr die Gewalt gegenDemonstranten verantwortlich machte. Das ganze Volk msse sehen, dass niemand dieHand gegen friedliche Demonstranten erheben drfe.

    Delegation aus Kiew in Brssel

    Die Opposition organisiert seit drei Wochen Massenproteste gegen Janukowitsch. Anlasswar dessen Abkehr von einer Bindung des Landes an die Europische Union. Inzwischen

    sagt die Regierung, die Ukraine werde das Assoziierungsabkommen doch nochunterzeichnen.

    Zugleich sprach erstmals seit dem gescheiterten EU-Gipfel (Link: http://www.welt.de/122396231) inVilnius eine hochrangige Delegation aus Kiew in Brssel vor. EU-Kommissar Stefan Fle(Link: http://www.welt.de/122876762) sagte nach den Gesprchen, man werde auf dieser Basis "einenFahrplan fr die Implementierung des Abkommens erarbeiten". Brssel werde auch dieUkraine bei einer Einigung mit dem Internationalen Whrungsfonds (IWF) untersttzen undschnell alle Aspekte der Implementierung untersuchen, gerade mit Blick auf die schwierige

    wirtschaftliche Lage des Landes.

    Die von Fle angekndigte Hilfe meint offenbar einen ohnehin geplanten zweiten Schub dersogenannten makrokonomischen Hilfen. Die erste Tranche umfasst 650 Millionen Euro, diezweite Tranche drfte ungefhr genauso hoch sein. Die Auszahlung der Gelder hngt abervon Reformzusagen der Ukrainer ab. Der IWF hatte zuletzt Kredite von rund 15 MilliardenDollar ausgesetzt, weil die Ukraine ihre Auflagen nicht erfllte. Erst wenn der IWF grnesLicht gibt, werden auch die Europer auszahlen.

    Kein Alibi fr Janukowitsch

    Der Chef des Auswrtigen Ausschusses im EU-Parlament, Elmar Brok (CDU), sagte der"Welt": "Es darf jetzt nicht an der Schwerflligkeit der Entscheidungen im IWF liegen, dassJanukowitsch ein Alibi erhlt, sich zur berbrckung kurzfristiger Notwendigkeiten anRussland zu halten."

    In der Ukraine gingen die Demonstrationen weiter. Die Menge auf dem Majdan-Platzbefrwortete die Teilnahme der wichtigsten Oppositionsfhrer an einem "runden Tisch" mit

    dem Prsidenten. Inzwischen haben die Behrden offenbar fast alle festgenommenenDemonstranten freigelassen, was die Opposition gefordert hatte. Prsident ViktorJanukowitsch schlug fr sie Straffreiheit vor. "Leute, die festgenommen wurden, solltenfreigelassen werden", sagte Janukowitsch laut seinem Bro.

    Axel Springer

    ://www.welt.de/politik/ausland/article122896283/Regierung-in-Kiew-macht-keine-Zugestaendnisse.html?config=print

    2handlungen mit Opposition : Regierung in Kiew macht keine Zugestndnisse - Nachrichten Politik - Ausland - DIE WELT

  • 8/12/2019 2014 Text-Auswahl zu Russlands nicht erklaertem Krieg I

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    Die Demonstranten erweiterten ihr Protestlager um weitere Zelte. Auch habenHochschullehrer begonnen, im Rahmen einer "offenen Universitt" neben dem CampVorlesungen und Diskussionen abzuhalten. Der reichste Mann des Landes, der bisherregierungsnahe Oligarch Rinat Achmetow, hat sich am Freitag erstmals in einer persnlichenErklrung mit den Demonstranten solidarisiert. Dies berichtete das neue Portal Espreso.tv(Link: http://espreso.tv/) .

    Ermutigender Kontakt zu Merkel

    Am Abend zuvor hatte der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko(Link: http://www.welt.de/122681740) ineiner ARD-Liveschaltung seine Absicht bekrftigt, fr das Amt des Staatsprsidenten zukandidieren. "Ich bin glcklich darber, wie viel Untersttzung wir in diesen Tagen aus dem

    Ausland bekommen, besonders aus Deutschland", schrieb Klitschko in der "Bild"-Zeitung.Der Kontakt zu Kanzlerin Angela Merkel und weiteren Politikern sei "sehr ermutigend und hilftuns weiter".

    Klitschko hlt das neue Entgegenkommen der ukrainischen Regierung bei dem EU- Assoziierungsabkommen fr vorgetuscht. Das sei Propaganda, um die Massen zuberuhigen. Russland treibe Staatsprsident Janukowitsch inzwischen vor sich her. "Ich binfr eine enge Freundschaft zu Russland, aber gegen die Zollunion", so Klitschko. Die Ukrainegehre zu Europa. Russland versucht mit erheblichem Druck, seine Nachbarn in einepostsowjetische Zollunion zu drngen, aus der 2015 die "Eurasische Union" werden soll.

    Untersttzung aus Deutschland

    Der Kampf um die Zukunft der Ukraine (Link: http://www.welt.de/themen/ukraine/) zieht auchDeutschland immer mehr in seinen Bann: Am Freitag meldete sich der Vorsitzende derDeutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch (Link: http://www.welt.de/themen/robert-zollitsch/) , zuWort. "Deutschland hat eine Funktion des Vermittelns und muss diese wahrnehmen", sagteder katholische Geistliche am Freitag. "Der deutschen Regierung kommt die Aufgabe zu, (inKiew) einen friedensstiftenden Ausgleich zu suchen und diesen stellvertretend fr Europa inGang zu bringen."

    Mit einem Appell solidarisieren sich 72 Brgerrechtler aus der ehemaligen DDR mit der Pro-Europa-Bewegung in Kiew. "Mit Respekt sehen wir Ihren Kampf fr eine freie unddemokratische Ukraine. Wir schtzen Ihren Mut und die Entschlossenheit, mit der Sie mitFen und Fahnen auf den Straen der Ukraine fr die Grundwerte Europas stimmen", heites in dem am Freitag verbreiteten Schreiben.

    Die Brgerrechtler, darunter der frhere Leipziger Nikolaikirchen-Pfarrer Christian Fhrer,bieten den Ukrainern ihre Untersttzung an, damit "Menschen- und Brgerrechte zumFundament Ihrer Heimat werden." Sie hoffen auerdem, "dass auch Russland im Herzen

    Europas ankommen mge", und verurteilen die Gewalt gegen friedliche Demonstranten.

    Mitarbeit: Christoph B. Schiltz

    ://www.welt.de/politik/ausland/article122896283/Regierung-in-Kiew-macht-keine-Zugestaendnisse.html?config=print

    3handlungen mit Opposition : Regierung in Kiew macht keine Zugestndnisse - Nachrichten Politik - Ausland - DIE WELT

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    vom 10.1.2014

    Eine Chance fr die Ukraine

    von Jakob Mischke und Andreas Umland

    Um den Vertrag mit der Ukraine noch zu ermglichen, msste die EU aufRussland Druck ausben. Andererseits kann Brssel den Wunsch Moskaus, anden Assoziationsverhandlungen beteiligt zu werden, durchaus als Chancebetrachten.

    Am 21. November 2013 berraschte der ukrainische Ministerprsident Mykola Asarow die EuropischeUnion mit der Erklrung, dass Kiew die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit Brsselaussetze. Beobachter postsowjetischer Politik hatten zwar nie Zweifel daran, dass der Europakurs desukrainischen Prsidenten Wiktor Janukowitsch und seiner Regierung bestenfalls halbherzig war.

    Doch schien der Assoziierungsvertrag sowohl fr den Staats- als auch den Regierungschef der Ukraine einegute Mglichkeit zu sein, ihre stetig an Popularitt verlierende dreieinhalbjhrige Regentschaft doch nochin einen Erfolg zu verwandeln. Die Unterzeichnung des geschichtstrchtigen Abkommens htteinsbesondere Janukowitsch zu einer historischen Figur gemacht, seine eventuelle Wiederwahl als Prsident2015 befrdert sowie ihm und seiner Familie darber hinaus informellen Schutz vor Verfolgung in derZukunft verschafft.

    Auf dem Ostpartnerschaftsgipfel in Vilnius Ende November 2013, auf dem auch Angela Merkel anwesendwar und das EU-Ukraine-Abkommen unterzeichnet werden sollte, blieb Janukowitsch jedoch khl. Zurgroen Enttuschung insbesondere der ukrainischen Intellektuellen und Jugend, die bis zuletzt auf eine positive Wendung gehofft hatten, kehrte der ukrainische Prsident mit leeren Hnden von diesem Treffender EU mit den sechs postsowjetischen Staaten ihres Nachbarschaftsprogramms in die Hauptstadt Kiewzurck. Die darauffolgenden Proteste in vielen Stdten der Ukraine erschttern nun das Regime vonJanukowitsch und Asarow in seinen Grundfesten. Die Proteste zeigen, welche Risiken, die wankelmtigenLenker der Ukraine mit ihrem abrupten Schwenk eingegangen sind.

    Janukowitschs und Asarows Weigerung, den von ihrer eigenen Regierung im Sommer 2012 paraphiertenund einem offiziellen EU-Integrationsgesetz der Ukraine folgenden Vertrag nun auch zu unterzeichnen,war offenbar keine autonome Entscheidung. Alles deutet darauf hin, dass der whrend der letzten Monatemassiv erhhte russische Druck auf Kiew eine Rolle spielte, womglich den Ausschlag gab. Putin mchteganz offensichtlich, dass die Ukraine, anstatt sich mit der EU zu assoziieren, der Zollunion beziehungsweise der knftigen Eurasischen Union mit Russland, Weirussland und Kasachstan anschliet.

    Offene Warnungen, versteckte Drohungen

    Im August 2013 demonstrierte Russland der Ukraine kurz, mit welchen Folgen sie im Falle einerVertragsunterzeichnung mit der EU rechnen msste. Durch eine unangekndigte Verschrfung derZollregeln an der russisch-ukrainischen Grenze wurde nahezu der gesamte ukrainische Export nachRussland fr fnf Tage gestoppt. Die Verluste der ukrainischen Exporteure wie auch russischer Importeuregingen in die Millionen. Seither hat es von russischen offiziellen Reprsentanten eine Vielzahl weiterer

    offener Warnungen und versteckter Drohungen fr den Fall gegeben, dass die Ukraine den EU-Assoziierungsvertrag unterzeichnet.

    Das russische Druckpotenzial ergibt sich aus der Asymmetrie der Handelsbeziehungen Russlands und derUkraine. Der Anteil der Ukraine an den russischen Importen betrgt nach Zahlen der WTO 5,5 Prozent. Er

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    knnte leicht durch Importe aus anderen Lndern oder auch Eigenproduktion ersetzt werden. Dahingegengeht etwa ein Viertel der ukrainischen Exporte nach Russland (ungefhr so viel wie in die EU), ein Drittelin die gesamte von Moskau dominierte Zollunion.

    Ein groer Teil der von der Ukraine nach Russland exportierten Waren, etwa diverse Maschinen undAnlagen, kann nicht ohne kostspielige Qualittsanpassungen auf anderen Mrkten abgesetzt werden. GanzeIndustriezweige sind daher vom russischen Markt mehr oder minder abhngig. Hinzu kommt, dass dieUkraine auf Rohstoff-, insbesondere Gaslieferungen aus Russland angewiesen ist. Und Putin hat mehrfach,so 2004 bei der Yukos-Affre(1) oder 2008 beim Georgienkrieg, deutlich gemacht, dass fr ihn imZweifelsfall konomische Kalkulationen zweitrangig sind.

    Was immer man ber Janukowitsch denken mag: Er und seine Regierung, wie die Ukraine insgesamt,stehen vor einem Dilemma. Mittel- bis langfristig mag das Assoziierungsabkommen mit der EU fr dieUkraine viele Chancen bieten und den einzigen Weg fr eine nachhaltige Modernisierung der marodenWirtschaft und ineffektiven Verwaltung darstellen. Kurzfristig jedoch haben sich die Kosten fr eineAnpassung der ukrainischen Wirtschaft an den EU-Markt durch die angekndigten "Schutzmanahmen"Russlands drastisch erhht.

    Im Falle russischer Sanktionen nach Art des Importstopps vom August msste die Ukraine fr ihre EU-

    Assoziierung mit einem Einbruch ihrer Industrieproduktion, wachsender Arbeitslosigkeit, mit sozialenUnruhen und Whrungsverfall bezahlen. Die Wirtschaftslage der Ukraine ist ohnehin prekr - nicht zuletztweil Russland bereits erste Handelsbeschrnkungen, quasi als Vorwarnung, verhngt hat. Weitere russischeImportbeschrnkungen wrden die Ukraine in die Rezession strzen, die zur Destabilisierung des fragilenStaates fhren knnte.

    Trotz dieser ernsten geopolitischen Konfrontation in ihrer unmittelbaren Nachbarschaf hat die EU bisherlediglich mit pathetischen Verlautbarungen an die Adresse Russlands und wagen Hilfsversprechen an Kiewreagiert. Vor allem haben die Mitgliedstaaten der EU bisher keinen Zusammenhang zwischen ihren eigenenHandelsbeziehungen mit Russland und dem russisch-ukrainischen Konflikt geschaffen. Die EU erklrtzwar, eine Partnerschaft mit der Ukraine eingehen und sich durch den grten Auenvertrag ihrerGeschichte mit der Ukraine assoziieren zu wollen. Aber tatschlich als Partner der Ukraine zu agieren unddie daraus resultierende Verantwortung zu bernehmen - dazu ist die Union offenbar nicht bereit. Dieeigenen lukrativen Russlandgeschfte und die von der EU mitverursachten Spannungen in den russisch-ukrainischen Beziehungen werden als getrennte Angelegenheiten behandelt.

    Mit der geplanten Assoziierung wrde die Verantwortung der EU nicht mehr an der ukrainischen Grenzeenden, und das Land knnte mit seinen Problemen nicht mehr alleingelassen werden. Das kann zwar nicht bedeuten, dass die EU die zu erwartenden Verluste einfach durch Geldtransfers oder Kredite ausgleicht,wie die ukrainische Regierung es wnscht: Bei der gegenwrtig herrschenden Korruption im ukrainischenStaatsapparat wre das ohnehin ein Fass ohne Boden. Doch die EU knnte der Ukraine offiziell anbietenund gleichzeitig dem Kreml klar signalisieren, dass die Gleichbehandlung auslndischer Exporteure aufdem russischen Markt von den assoziierten Partnern knftig gemeinsam eingefordert werden wird.

    Die EU kann hier zu ihrem eigenen Nutzen sowohl ihre Kompetenz in Schlichtungsverfahren als auch ihrweltwirtschaftliches Gewicht zur Geltung bringen. Sollte die russische Regierung sich auf keineSchlichtung etwa durch die WTO einlassen und Strafmanahmen gegen eine mit der EU assoziierteUkraine rcksichtslos durchsetzen, msste auch laut ber direkte Gegenmanahmen gegenber Moskaunachgedacht werden. Die Union wre dazu in der Lage: Sie ist der mit Abstand grte Handels- undInnovationspartner Russlands.(2)

    Dies knnte die EU in zweifacher Hinsicht ausnutzen: Russland hat viel Erdgas und Dutzende potenzielleKunden rund um die Welt. Doch die meisten der russischen Pipelines fhren gen Westen und knnen nichtohne Weiteres ersetzt werden. Zudem braucht Russland die berweisungen aus Europa dringend. Sollte estatschlich zu einem Handelskrieg mit der Ukraine kommen, knnte die EU durch beschleunigteSubstitution die Gasimporte aus Russland schneller herunterfahren als bislang geplant - und so auch ihreAbhngigkeit von der russischen Auenpolitik verringern. Ein eindeutiges Signal in diese Richtung kannder stlichen Partnerschaft wieder Bedeutung verleihen.

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    Zum anderen knnte die EU Putins Wunsch, in den ukrainischen Assoziierungsprozess einbezogen zuwerden, als Chance begreifen. Brssel knnte Moskau eine Beteiligung an knftigen Absprachen sowie eindreiseitiges Zusatzmemorandum anbieten und Russland damit an der Schaffung des neuenFreihandelsraums beteiligen. Dies wre freilich nur dann sinnvoll, wenn dadurch die Unterzeichnung des bereits paraphierten Textes nicht verzgert wrde oder das ukrainische Assoziierungsabkommen nicht neuverhandelt werden msste.

    Putin mchte mit der EU zusammenarbeiten, um Russlands Wirtschaft technologisch zu erneuern. Er willdies vor allem, um sein Staatsmodell, in dem er und seine Vertrauten Milliarden zur Seite schaffen knnen,auch in Zukunft zu sichern. Der Verkauf von Rohstoffen schafft dabei nur kurzfristig Stabilitt. Er erlaubtkeine nachhaltige Modernisierung der russischen Wirtschaft, was mittelfristig deren Konkurrenzfhigkeitwie auch die Legitimitt des Putin-Regimes gefhrdet. Ein tatschlich effektiver Umbau desWirtschaftssystems kann aber nicht nur durch den Import neuer Technologien erfolgen - die staatlicheVerwaltung msste verbessert werden, was wiederum Risiken fr das heutige russische Modell birgt.

    Szenarien fr die nchsten Wahlen

    In einem hnlichen Zwiespalt, ob sie sich auf regelbasiertes Wirtschaften einlassen sollen oder nicht, befinden sich die ukrainische Fhrung und die sogenannten Oligarchen. Diese Ambivalenz war ein zweiterwichtiger Grund fr der Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommens im November. AnfangDezember sah es zwar kurzzeitig so aus, als ob sich einige Oligarchen sowie von ihnen abhngigeParlamentsabgeordnete gegen den Kurs des Prsidenten wenden und auf die Seite der Demonstrantenschlagen wrden. Doch konnte Janukowitsch nach der raschen Moskauer Milliardenspritze undGaspreissenkung die Reihen wieder schlieen. Damit scheint ein baldiger Rcktritt der Regierung oder gardes Prsidenten, wie es die Demonstranten auf dem Euromaidan fordern, wieder in die Ferne gerckt zusein.

    Die drei Oppositionsparteien Ukrainische demokratische Allianz fr Reformen (UDAR), "Vaterland" und"Freiheit" sind auf dem Euromaidan vor allem durch ihre Vorsitzenden und potenziellenPrsidentschaftskandidaten prsent: den ehemaligen Boxer Vitali Klitschko, den Vorsitzenden derTymoschenko-Partei, Arsenij Jazenjuk, und den Nationalisten Oleh Tjahnybok. Das Interesse der

    parlamentarischen wie auerparlamentarischen Opposition an der europischen Integration besteht vorallem darin, die Ukraine vom russischen Einfluss zu befreien, konomisch zu modernisieren und zu einemRechtsstaat zu machen. Dass durch die Assoziierung die ukrainische Wirtschaft kurzfristig Schadennehmen kann, halten die Oppositionellen fr das geringere bel.

    Im Prinzip befrworten alle wesentlichen politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen, mit Ausnahmeder Kommunisten, einen proeuropischen Kurs. Die Parteien haben lediglich unterschiedliche Ansichtendarber, wie mit den Kosten der EU-Integration umgegangen und inwieweit russischem Drucknachgegeben werden soll. Zwar ist die Untersttzung bei der Bevlkerung der Ost- und Sdukraine fr eineEuropisierung geringer als im Zentrum und Westen; insofern bildet der Euromaidan die Ukraine nichtreprsentativ ab. Doch der Groteil der Elite - Politiker, Professoren, Unternehmer, Knstler wie Beamte -steht hinter der Assoziierung und einer mglichen EU-Mitgliedschaft.

    In den anstehenden Prsidentschaftswahlen im Frhjahr 2015 ist Klitschko der mit Abstandaussichtsreichste Kandidat unter den drei Oppositionsfhrern. Zwar hat er wenig politische Erfahrung undist ein bislang ungelenker ffentlicher Redner, doch nach Umfragen verfgt der Boxweltmeister bereits jetzt ber genug Rckhalt in der Bevlkerung, um im zweiten Wahlgang die Stichwahl gegen Janukowitschklar zu gewinnen. Bemerkenswert an Klitschkos Popularitt ist, dass sie, strker als bei den anderenKandidaten, in allen Landesteilen mehr oder minder gro ist.

    Die drei Oppositionsparteien sind ideologisch unterschiedlich ausgerichtet und werden von ambitioniertenPolitikern gefhrt, die sich in der Vergangenheit hufig gestritten haben. In den letzten Wochen haben dieParteifhrer Klitschko, Jazenjuk und Tjahnybok allerdings stets Einigkeit demonstriert. Das gibt Hoffnung,dass die drei Parteien auch in einem knftigen Vorwahlkampf zusammenarbeiten werden. Zwar bestehtinsbesondere zwischen Klitschkos eher liberaler UDAR-Partei und Tjahnyboks nationalistischer "Freiheit"ein erheblicher programmatischer Bruch. Angesichts ihres skrupellosen Gegners und aufgrund gemeinsamberstandener Konfrontationen mit der Regierung scheint sich jedoch ein nachhaltiger Modus Vivendizwischen den wichtigsten Oppositionsgruppen herausgebildet zu haben. Auch werden Beobachter und

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    Aktivisten der Protestbewegung darauf achten, dass die Chance zum Machtwechsel nicht durch Rangeleienin der Opposition vertan wird.

    Voraussetzung ist allerdings, dass, zum einen, die Ukraine weiterhin eine Prsidialrepublik bleibt und es,zum anderen, bei den Wahlen mit rechten Dingen zugeht. So knnte Klitschko auch noch kurz vor denWahlen trotz (oder gerade wegen) seiner groen Popularitt von einer Kandidatur ausgeschlossen werden,da nur Personen antreten drfen, die in den vorhergehenden zehn Jahre dauerhaft in der Ukraine gelebthaben. Der diesbezgliche Gesetzestext ist nicht eindeutig, doch er knnte gegen Klitschko, der eine Villain Hamburg besitzt und in Deutschland Steuern zahlte, eingesetzt werden. Darber hinaus muss man damitrechnen, dass das Wahlergebnis, wie schon frher geschehen, durch Stimmenkauf oder Druck aufffentliche Angestellte manipuliert wird.

    In einem zweiten Szenario kann es passieren, dass man sich auf eine Verfassungsnderung einigt und dieUkraine in eine parlamentarische Republik verwandelt. In diesem Fall lge das Zentrum der Macht in derWerchowna Rada (Oberster Rat). Falls es bei einer solchen Machtverschiebung nicht zu Neuwahlen kme,entsprche die Sitzverteilung dem vielfach kritisierten Ergebnis der Parlamentswahlen vom Oktober 2012.Damals konnte die jetzige Mehrheit fr die Regierungspartei und die Kommunisten nur mit diversen Tricksund Manipulationen gesichert werden. Auch bei diesem Szenario bleibt jedoch unbestimmt, wie dieknftige Fhrung aussehen wrde: Da Janukowitsch' Partei der Regionen ein Konglomerat verschiedener

    Interessenvertretungen ist, knnte sie bei einer Fortsetzung der politischen Krise 2014 oder 2015 eine neueRegierung bilden, in eine proeuropisch und eine prorussische Fraktion auseinanderbrechen oder dieKoalition mit einer der Oppositionsparteien suchen.

    Die innen- wie auenpolitische Zukunftsperspektive bleibt unklar - wie auch immer die gegenwrtige Kriseausgeht, ob die Prsidentschaftswahlen tatschlich 2015 stattfinden und wer sich am Ende durchsetzt.Selbst bei einer stabilen Fortfhrung der jetzigen Regierung kann das Kalkl der ukrainischen Oligarchen,die weiterhin eine entscheidende Rolle spielen, eine andere Richtung opportun erscheinen lassen.Womglich wre dann auch Janukowitsch, entweder in seiner jetzigen oder einer nchsten Amtszeit,wieder daran interessiert, das Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen.

    Unabhngig von der Position der knftigen ukrainischen Regierung sollte der Wunsch des Kreml, in die

    Verhandlungen zum Abschluss der EU-Assoziierungsabkommen mit den Lndern der stlichenPartnerschaft eingebunden zu werden, nicht von vornherein als Strfaktor betrachtet werden. Einetrilaterale Gesprchsrunde Brssels, Moskaus und Kiews ber den Abbau von Handelshindernissen kannals Instrument zum schrittweisen Export europischer Werte und Normen ber die Ostpartnerschaftslnderhinaus begriffen werden. Die EU muss dabei die Moskauer Bedenken ernst nehmen und deutlich machen,dass es nicht darum geht, die Ukraine aus dem russischen Machtbereich herauszulsen und in ihren eigenenzu integrieren. Selbst wenn ein solcher Kompromiss nicht zustande kme oder erfolglos wre: Allein derVorschlag wrde die Position Moskaus schwchen. Brssel htte guten Willen gezeigt, und Moskau knntenicht mehr die Rolle des als Schmuddelkind von Europa ausgeschlossenen Opfers einnehmen.

    Es liegt lngerfristig ohnehin im Interesse der EU, dass international vereinbarte Rechtsprinzipien undKonfliktregelungsmechanismen fr den Austausch von Waren und Dienstleistungen auch ber die Grenzender Freihandelszonen mit den Lndern der Ostpartnerschaft hinaus funktionieren.Funoten:(1) Im Zusammenhang mit den Anklagen gegen Michail Chodorkowski wurde der grte russischeKonzern Yukos 2004 in den Ruin getrieben.(2) 45 Prozent der russischen Exporte gehen in die EU; drei Viertel der Direktinvestitionen in Russlandkommen aus EU-Unternehmen. Russland ist Abnehmer fr 7,3 Prozent der EU-Exporte.

    Jakob Mischke betreibt das ForumNET.Ukraine (www.forumnetukraine.org ). Andreas Umland istDAAD-Lektor fr Politikwissenschaft an der Kiewer Mohyla-Akademie." Le Monde diplomatique, Berlin

    Le Monde diplomatique Nr. 10306 vom 10.1.2014, 502 Zeilen, Jakob Mischke / Andreas Umland

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    Bitte beenden Sie Ihr Schweigen !Offener Brief zur aktuellen Situation in der Ukraine

    Grohennersdor f , den 27 . Januar 2014

    Sehr geehr te Frau Bundeskanz le r in Merke l ,sehr geehr te r Her r Auenminis te r S te inmeier,

    d ieses Jahr j hr t s ich zum 25 . Mal d ie Fr ied l iche Revolu t ion und der Mauer fa l l .Nach fas t 60 Jahren ununterbrochener Dik ta tur im Osten Deutsch lands ha t unserVolk das Tor aufges toen zu Fre ihe i t und Demokra t ie in e inem vere in tenDeutsch land . Wir tun in d iesem Land a l les , um d ie Bedeutung und d ie Wrde d ieserEre ign isse im Bewuss t se in der Menschen wachzuha l ten . Es he i t zu rech t , dass wi raus d iesem Geis t heraus Gegenwar t und Zukunf t unsers Landes und Europasmi tges ta l t en .

    Wir Deutschen waren auf d iesem Weg se i t 1989 n ie a l l e in und haben nachanfngl icher I r r i t a t ion , auch e in iger g roer Mchte , e in e inhe l l iges Votum fr

    unsere e rkmpf te Chance bekommen. Nun dr fen wi r aber ber d ieseErfo lgsgesch ich te um Himmelswi l len n ich t vergessen , dass s ich daraus f r uns d iesehr g roe Verpf l i ch tung e rg ib t , mi t a l l en uns zur Ver fgung s tehenden Mi t te lnauch denen be izus tehen , d ie unseren Wer ten verpf l i ch te t um ihre Fre ihe i t in Europakmpfen .

    An dieser S te l le mssen wi r unbeding t ber die Ukraine reden. Mi t Bestrzungmssen wi r fes t s te l l en , dass S ie , d ie derze i t igen po l i t i schen Reprsen tan tenunseres Landes , d iese r Veran twor tung in ke iner Weise gerech t werden . Dermi l l ionenfach a r t iku l ie r te Ruf nach Fre ihe i t vom Majdan in Kiew und inzwischen ausfas t a l l en anderen Landes te i len der Ukra ine ha t e inen k la ren undunmissvers tnd l ichen Beis tand im Namen unseres Volkes und des f re ien Europasverd ien t . Und das besonders in e iner S i tua t ion , in der nun auch d ie uers teGewal tanwendung des Regimes Janukowi t sch zu befrch ten i s t und Russ landsRegie rung offen neo imper ia l ag ie r t . S ie dr fen uns n ich t missvers tehen , wenn wi rk la re und deu t l i che Assoz ia t ionen zum Volksaufs tand am 17 . Jun i 1953 haben ,besonders zum Versagen von damals .

    Wir wissen , dass den aufs tnd igen Ukra inern sehr bewuss t i s t , dass s ie s ich vonDeutsch land und der EU n ich t zuv ie l versprechen knnen . Aber s ie mssenerwar ten dr fen , dass insbesondere S ie ganz k la r d ie g runds tz l iche Legi t imi t tih res Pro tes tes herauss te l l en , dass S ie d ie po l i t i schen Zie le un te rs t tzen und dassSie k la r benennen , welche Bedeutung e ine f re ie Ukra ine fr Deutsch land ha t . Wire rwar ten , dass S ie s ich in der EU dafr e inse tzen , dass der Ukra ine im Rahmendes ausgearbe i te ten Assoz i ie rungsabkommens e ine e ine indeut ige europ ischePerspek t ive aufgeze ig t wi rd . Wir e rwar ten wei te rh in dr ing l ich , dass Deutsch landund d ie EU mi t a l l en zur Ver fgung s tehenden Mi t te ln dem russ i schen Prs iden ten

    deut l i ch machen , dass das Se lbs tbes t immungsrech t des ukra in i schen Volkes a l sa l le rhchs tes Gut be t rach te t wi rd . Se tzen S ie s ich ohne Wenn und Aber ffen t l i chdafr e in , dass d ie Regie rung Janukowi t sch sofor t zurck t r i t t , um den Weg frNeuwahlen f re izumachen und machen S ie ebenso deu t l i ch , dass S ie d ie Ukra inen ich t mehr a l s Janukowi t schs innere Angelegenhe i t be t rach ten .

    Die Ze i t d rngt !

    Wir fh len uns ausdrck l ich dem Inha l t und Geis t des Appel l s von Tomasz R ! ycki andie po ln i sche Regie rung verbunden ( s iehe Anhang) .

    In respek tvo l le r Hochachtung ,

    Andreas Schnfe lder , Thomas P i lzUmwel tb ib l io thek Grohennersdor f

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    Anden Sejm, den Premierminister, den Auenminister derRepublik Polen, an alle, die handeln knnen undsollten:

    Hiermit appelliere ich an die

    Regierenden der Republilk Polen, mit sofortigerWirkung Sanktionen gegen die aktuellen Machthaber in

    der Ukraine - mit Wiktor Janukowytsch an der Spitze -zu verhngen, da ihnen die Eskalation des Widerstands,das Blutvergieen, die Vernichtung der Demokratie inder Ukraine und der Kampf gegen das eigene Volkanzulasten sind. Das schiere Ausma der Gewalt, derMissachtung der Menschenwrde und der brgerlichenFreiheiten, fr die das heutige politische Regime dieVerantwortung trgt, ist ein unvorstellbarer Skandal,der die europischen Werte herabwrdigt, auf die wir

    doch so stolz sind. Dort sterben Menschen. Ich vermagmir nicht vorzustellen, dass Polen gelassen einweiteres Blutvergieen abwartet, Gewalt und Diktaturtoleriert und zulsst. Ich rufe hiermit zumdiplomatischen Handeln auf, wenn es tatschlich Wertegibt, die uns einen und nach denen wir leben wollen.Die Ukrainer, die in unser Europa wollen, wollen inein Europa, das seine Freiheiten verteidigt, nicht inein Europa, dass die Missachtung menschlichen Lebensund der Menschenwrde kalt lsst. Worauf warten wirnoch? Jede Stunde des Zauderns kann das Leben weitererOpfer kosten.

    Tomasz R ! ycki

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    Donnerstag, 23.01.2014 | 2399 Aufrufe

    Offener Brief von Jurij AndruchowytschLiebe Freunde und vor allem internationale Journalisten und Redakteure,

    an diesen Tagen bekomme ich von Ihnen sehr viele Briefe mit Bitten, die aktuelle Situation in Kiewund in der Ukraine generell zu beschreiben, das, was gerade passiert, zu bewerten und meine Visionwenigstens der nchsten Zukunft zu formulieren. Da ich einfach rein physisch nicht imstande bin, fr

    jede Ihrer Zeitschriften einen ausfhrlichen analytischen Aufsatz zu verfassen, habe ich mich fr diesekurze Ansprache entschieden, die jeder von Ihnen je nach Bedarf verwenden kann.

    Die wichtigsten Dinge, die ich Ihnen sagen muss, sind folgende:

    Whrend der knapp vier Jahren seiner Herrschaft brachte das Regime des Herrn Janukowytsch dasLand und die Gesellschaft bis zu einem Zustand uerster Spannung. Noch schlimmer es trieb sichselbst in eine Sackgasse, wodurch er sich auf Dauer und mit allen Mitteln an der Macht halten muss,um nicht strafrechtlich hart zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Dimensionen des gestohlenenund rechtswidrig angeeigneten bersteigen jegliche Vorstellungen von menschlicher Habsucht.

    Die einzige Antwort, die dieses Regime schon seit ber zwei Monaten gegenber den friedlichenProtesten verwendet, ist die Gewalt, und zwar eine eskalierende, eine kombinierte Gewalt: Angriffeder Polizeisondertruppen auf den Maidan werden ergnzt durch individuelle Verfolgung oppositioneller

    Aktivisten und einfacher Teilnehmer der Protestaktionen (Beobachtung, Prgel, Verbrennung von Autos und Wohnungen, Einbrche, Verhaftungen, Gerichtsprozesse wie vom Flieband). DasSchlsselwort ist dabei die Einschchterung. Da es nicht funktioniert und die Menschen um somassenhafter protestieren, greift das Regime zu immer hrteren Repressalien.

    Eine entsprechende Rechtsgrundlage schuf es am 16. Januar, als die vom Prsidenten vlligabhngigen Abgeordneten mit allen mglichen Prozedur-, Tagesordnungs- und sogarVerfassungsverletzungen durch Handheben (!) innerhalb von wenigen Minuten (!) ber eine Reihe vonGesetzesnderungen abstimmten, die tatschlich im Land eine Diktatur und einen Ausnahmezustandeinfhrten, ohne den explizit ausrufen zu mssen. Indem ich zum Beispiel diesen Text schreibe undverbreite, falle ich unter einige strafrechtliche Paragraphen daraus, etwa fr Dinge wie wieVerleumdung, Aufhetzung etc.

    Nun ja, wenn man diese Gesetze akzeptiert, muss man davon ausgehen, dass in der Ukraine allesverboten ist, was von den Machthabern nicht erlaubt wird. Und erlaubt ist nur eines zu gehorchen.

    Die ukrainische Gesellschaft akzeptierte diese Gesetze nicht, und am 19. Januar trat sie wiederzahlreich auf um ihre Zukunft zu verteidigen.

    In den Fernsehnachrichten aus Kiew knnen Sie heute Protestierende in aller Art Helmen und Maskensehen, manche haben Holzstcke in der Hand. Glauben Sie nicht, dass das irgendwelcheExtremisten Provokateure oder Rechtsradikale sind. Auch meine Freunde und ich gehen zuunseren Kundgebungen jetzt in solcher oder hnlicher Ausstattung. In diesem Sinne wren heute

    auch ich, meine Frau, meine Tochter und unsere Freunde Extremisten. Es bleibt uns nichts brig: wirschtzen das Leben und die Gesundheit von uns und von unseren Angehrigen. Auf uns schieenSoldaten der Sicherungsstreitkrfte, unsere Freunde werden von ihren Scharfschtzen umgebracht.Die Zahl der getteten Aktivisten betrug nur im Regierungsviertel und nur an den zwei letzten Tagennach verschiedenen Angaben 5 oder 7 Personen. Dutzende Menschen in Kiew sind verschollen.

    Wir knnen die Proteste nicht stoppen, denn das wrde bedeuten, dass wir mit einem Land in derForm eines lebenslangen Gefngnisses einverstanden sind. Die junge Generation der Ukrainer, die inder postsowjetischen Zeit aufgewachsen sind, akzeptiert grundstzlich