Upload
christophe-solioz
View
11
Download
0
Embed Size (px)
DESCRIPTION
Wenn der Text ins Tanzen kommtNZZ
Citation preview
49Freitag, 9.Oktober 2015
WOCHENENDE
Neu Zrcr Zitung
DRESS LIKE YOU MEAN IT
Ein Pldoyer fr einen
neuen Blick auf die
Mode. Seite 54
FASTENTHERAPIEN
Ob sie ein lngeres
und gesnderes Leben
befrdern, ist offen. Seite 56
LEISE, SCHNELL UND KOMFORTABEL
Der neue 7er von BMW
ist eine veritable
Staatskarosse. Seite 60
GORAN BASIC / NZZ
Wenn der Text ins Tanzen kommt
Buchgestaltung als erzhlerisches Element
Ein solches Buch hlt man
selten in Hnden: S
ist gespickt mit Postkarten,
Dokumenten und Briefen,
welche die vielschichtige
Erzhlung begleiten.
50 WOCHENENDE Freitag, 9.Oktober 2015
Wie kommt die Serviette
in den Roman?
J. J. Abrams und Doug Dorst warten in S mit allerhand
berraschungen auf. VON ANGELA SCHADER (Text)
UND GORAN BASIC (Bilder)
Ein Roman, der die (nicht nur) kind-
liche Lust aufAbenteuer und kleineGe-
schenke, aber auch die bibliophilen
Instinkte gestandener Leserinnen und
Leser anspricht; ein Buch, das im Zeit-
alter der Digitalisierung stolz die Poten-
ziale bedruckten Papiers ausspielt; eine
Story, dieman nicht beiseitelegt, obwohl
kein illustrer Schriftstellername den
Einband ziert. All das verbirgt sich hin-
ter dem Titel S, dessen Doppelhaken
gleichsam die zwei oder sind es drei,
vier? Geschichten verklammert, die
uns das Autorenteam J. J. Abrams und
Doug Dorst vorlegt.
Aufwendiges Konzept
Abrams ist vor allem als Film- und Fern-
sehproduzent, Regisseur und Dreh-
buchautor bekannt; Kino-Kracher wie
Mission Impossible III, Star Trek
(2009) und derzeit die Regiearbeit beim
siebten Teil der Star Wars-Reihe
gehen auf sein Konto. Doug Dorst war
vor der Mitarbeit an S lediglich mit
demNoir-Thriller Alive in Necropolis
und einer Erzhlsammlung an die
ffentlichkeit getreten. Gewiss, das sind
keine Credentials fr hohe Literatur;
aber auch Innovationsfreude und kon-
zeptuelles Raffinement sind Qualitten,
die auf ein Buch aufmerksam machen.
Und vielleicht bedurfte es eines ans Jon-
glieren mit Millionenbudgets gewohn-
ten Hollywood-Regisseurs, um die Vi-
sion eines gestalterisch und produk-
tionstechnisch derart aufwendigen Ro-
mans berhaupt zu wagen.
Aus dem versiegelten Schuber, auf
dem schwarz in schwarz die Letter S
prangt, zieht man ein ganz anderes
Buch. Leicht vernutzt wirkend,mit einer
Bibliotheksetikette versehen und in
einem Design gehalten, das in die Mitte
des 20. Jahrhunderts zurckweist, trgt
es den Titel Das Schiff des Theseus
und den Autornamen V. M. Straka. Die
Seiten sind vergilbt und stockfleckig; die
aufs Vorsatzblatt gedruckte Werkliste
des Schriftstellers, die zahlreichen Fuss-
noten sowie die ins Buch gestempelten
Ausleihdaten runden die Optik eines
respektablen und lang in Gebrauch be-
findlichen Bandes ab. Einzig der Satz-
spiegel entspricht nicht ganz der Norm:
DieMargen sind ungewhnlich breit ge-
halten, denn sie mssen einer zweiten
Geschichte Raum bieten, die sich rund
um die Handlung von Das Schiff des
Theseus entfaltet. Zwei Studierende
die kurz vor den Abschlussprfungen
stehende Jen und der einige Jahre ltere,
unlngst von der Universitt verwiesene
Eric sind in den Bann von Strakas
uvre und seiner undurchsichtigenBio-
grafie geraten und tauschen sich in ihren
Randnotizen und anhand von beigeleg-
tenDokumenten ber dieseMaterie wie
auch ber ihre eigenen, aus dem Lot ge-
ratenen Lebensumstnde aus.
Natrlich ist diese Erzhlanordnung
nicht unerprobt: hnliches hat Nabo-
kov in Pale Fire unternommen,
A. S. Byatt in Possession, Mark
Z. Danielewski in House of Leaves
einem Roman, der S auch punkto
visueller Gestaltung Paroli bieten kann.
Aber Abrams und Dorst treiben das
Konzept in wieder andere Dimensionen
vor. Einerseits, indem sich das Buch als
kleines Schatzhaus prsentiert, aus dem
man im Lauf der Lektre die von Jen
und Eric zwischen die Seiten gelegten
Fotokopien und Zeitungsausschnitte,
Postkarten und Briefe, den auf einer
Papierserviette skizzierten Plan desUni-
versittsgelndes und eine Art Wind-
rose mit integriertem Chiffrensystem
pflcken kann; anderseits, indem die
Randnotizen auf mehreren, durch un-
terschiedliche Farben voneinander ab-
gehobenenZeitebenen angesiedelt sind,
wobei sich diese Ebenen berlagern, die
Chronologie gelegentlich einen Rck-
wrtssalto schlgt und auch die vielfach
verschrnkten Intrigen, welche die jun-
gen Forscher aufdecken, fr Verwirrung
sorgen. Wer den Roman in die Hand
nimmt, wird bald einmal entscheiden
mssen, ob er sich lieber in zwei Durch-
gngen erst die Haupterzhlung, dann
die Kommentare oder im permanen-
ten Rsselsprung hindurchbewegt.
Das Schiff des Theseus
Der Titel von Strakas Roman spielt auf
ein philosophisches Paradoxon der An-
tike an. Am Schiff des Theseus sei so
erzhlt Plutarch immer wieder einmal
eine verrottete Planke entfernt und
durch eine andere ersetzt worden, bis
alles ursprngliche Material verschwun-
den war: Ist nun das einstige oder das
neue Schiff das Schiff des Theseus? Sind
die beiden einander wesensgleich, oder
existiert nach der Mutation gar kein
Schiff des Theseus mehr? Das Buch
nimmt dieses Motiv auf mehreren Ebe-
nen auf: einerseits imBild des zusehends
havarierten und immer wieder neu zu-
sammengeflickten Kahns, der den Prot-
agonisten von V. M. Strakas Roman
durch Zeiten und Weltgegenden befr-
dert; anderseits aber auch in den fluk-
tuierenden Thesen, mit denen Jen, Eric
und andere Straka-Verehrer die nie ge-
klrte Identitt des (fiktiven) Schrift-
stellers zu fassen suchen.
Die Kern-Erzhlung also jener
Das Schiff des Theseus betitelte
Roman folgt dem erinnerungslos in
einer heruntergekommenen Hafenstadt
angesplten Helden, der nur mit dem
Buchstaben S benannt wird, durch eine
Existenz, deren Krftespiel er nicht
wirklich durchschaut. Er wird in den
Kampf gegen den so obskuren wie all-
mchtigen Waffenproduzenten Vevoda
verwickelt und dabei selbst zum viel-
fachen Mrder; er jagt auf dieser kreuz
und quer durch die Weltmeere fhren-
den Quest dem Phantom einer schnen
Frau nach, sein wahrer Lebensbegleiter
aber ist der massige, vergammelte See-
mannMaelstrom, auf dessen verrotteter
Schebecke S. diese Reisen absolvieren
muss. Das von den Elementen maltr-
tierte Schiff verkrpert nicht nur den
Romantitel, es artikuliert gleichsam auf
tckische Weise die damit verbundene
Problematik: Wenn S. die Erinnerungs-
fragmente, anhand deren er seine Iden-
titt rekonstruieren mchte, mhsam in
die Schiffsplanken einzuritzen versucht,
wandeln sich die Worte unter seiner
Hand zu unverstndlichen Botschaften.
Die Geschichte ist spannend, bilder-
reich, symbolbefrachtet wenn auch bei
genauerem Hinsehen nicht allenthalben
das, worber sich (wie es die Fiktion
will) eine atemlose und heftig zerstrit-
tene Forschergemeinde beugen wrde.
Da wird einiges an literarischenVersatz-
stcken der universale Bsewicht Ve-
voda, die rtselhafte Angebetete be-
mht, andere Sujets sind vorab dem
Effekt geschuldet: So muss die Schiffs-
besatzung ihre Arbeit mit zugenhten
Lippen verrichten und dafr in den Tie-
fen des Schiffsbauchs stundenlang
Schreibfron leisten, ohne dass sich der
Sinn dieser seltsamen Sprachkonomie
offenbart; auch die Parallelen zwischen
der blauschwarzen Tinte, die auf dem
Schiff literweise zu fliessen scheint, einer
gleichfarbigen, besonders tdlichen
Chemikalie Vevodas und dem schwar-
zen, mit geschichtsschweren Jahrgn-
gen markierten Wein, den der Waffen-
fabrikant seinen Gsten mit Vorliebe
kredenzt, entfalten eher dekorative als
vertieften Sinn stiftende Wirkung.
Als tragender Spannungsbogen und
Vehikel fr die mehrschichtige Rahmen-
erzhlung Erics und Jens langsam kon-
vergierende Lebensgeschichten sowie
diejenige ihrer gemeinsamen Jagd nach
der proteischen Gestalt des Schriftstel-
lers J. M. Straka taugt der abenteuer-
liche Roman jedoch bestens. Bald taucht
Wer den Roman in die
Hand nimmt, wird bald
einmal entscheiden ms-
sen, ob er sich lieber in
zwei Durchgngen oder
im permanenten Rssel-
sprung hindurchbewegt.
50 WOCHENENDE Freitag, 9.Oktober 2015BUCHGESTALTUNG
Arno Schmidts Roman Zettels Traum ein machtvolles Statement gegen literarische Konvention.
Ein Grabmal aus Papier: Nox von Anne Carson.
Laurence Sterne setzte seine krausen Kapitelverlufe ins Bild.
Mark Z. Danielewski schpft in Das Haus die Potenziale elektronischer Textgestaltung aus.
WOCHENENDE 51Freitag, 9.Oktober 2015
das Forscherpaar in die oft kraus wirken-
den Fussnoten des Herausgebers ab, aus
denen die clevere Jen allerhand chif-
frierte Botschaften kitzelt; dann wieder
breitet die junge Frau ihren Liebes-
kummer, der Mann seine Wut ber das
intrigante Hochschulmilieu aus. In um-
stndlichen Exerzitien spren die beiden
den Literaten, Intellektuellen und politi-
schen Aktivisten nach, die man mit dem
Namen Straka in Verbindung brachte,
um dann jh aufzuschrecken, weil die
akademische Konkurrenz sie bedrngt
und einzuschchtern versucht. Oder sind
die Mannsbilder, von denen Jen sich zu-
nehmend beobachtet und verfolgt fhlt,
vielmehr Emissre jener ebenfalls unter
der Chiffre S operierenden Geheim-
organisation, die nicht nur inner-, son-
dern auch ausserhalb von V. M. Strakas
Roman ihr Unwesen zu treiben scheint?
Vom Stockfleck auf neu
Die Tatsache, dass S ein breiteres
Publikum ansprechen kann, deswegen
aber erzhlerisch doch nicht anspruchs-
los ist, mag Kiepenheuer & Witsch er-
mutigt haben, das aufwendige Buch ins
Programm aufzunehmen. Ebenso er-
freulich wie die intelligente und stim-
mige bersetzung von Tobias Schnettler
und Bert Schrder ist die Tatsache, dass
derDruckauftrag nicht wie imFalle der
amerikanischen und der englischen Aus-
gabe nach China ging, sondern in
Europa vergeben wurde. Die Verlags-
grafikerinMinouZaribaf musste dieGe-
staltung des Buches quasi vom Stock-
fleck auf neu besorgen; Olav Korth, der
fr das Aufsetzen der handschriftlichen
Kommentare engagiert wurde, verlieh
Jen und Eric eine eng ans Original ange-
lehnte kalligrafische Identitt. Produ-
ziert hat das Buch der Verlag CPI Mora-
via Books in Pohorelice, untersttzt von
anderen tschechischen Unternehmen,
die etwa den Schuber oder die Papier-
serviette herstellten. Das ist last, but not
least eine charmanteVerneigung vor den
Figuren des Romans denn die Jagd
nach dem rtselhaftenV. M. Straka fhrt
auch Jen und Eric am Ende nach Prag.
J. J. Abrams / Doug Dorst: S. Aus dem ameri-
kanischen Englisch von Tobias Schnettler und
Bert Schrder. Kiepenheuer & Witsch, Kln
2015. 522 S., Fr. 54..
Wort-Ornamente,
marmorierte Seiten und
Operationen am offenen Buch
Gestalterische Elemente knnen mehr sein als schmckendes Beiwerk
zum literarischen Text: eine kleine Parade eigenwilliger Bcher.
VON ANGELA SCHADER
Schn und aufwendig gestaltete Bcher
hat es zur Freude derjenigen, denen
eine gut bestckte Bibliothek die
schnste Zier der eigenen vierWnde ist
immer gegeben. In der Regel be-
schrnken sich die bibliophilen Extras
aber auf die Gestaltung des Umschlags
und die Qualitt der Materialien, auf
Druck und Illustration; dass gestalteri-
sche Elemente, wie es bei S der Fall
ist, eine erzhlerisch oder inhaltlich rele-
vante Rolle spielen, kommt insbeson-
dere in der Prosa eher selten vor.
Die Lyrik dagegen hat vom schon in
der Antike gepflegten und im Barock
zur Hochblte getriebenen Figuren-
gedicht bis hin zur konkreten Poesie
den Spielraum, den die Seite dem ge-
schriebenen oder gedruckten Wort er-
ffnet, wesentlich fleissiger genutzt. Da
kann der Text in die Figur eines abstrak-
ten Ornaments schlpfen, oder er bildet
etwa bei Apollinaires Calligrammes
gleich das ab, wovon er erzhlt. Aber
auchGedichte, die das Spiel mit der us-
seren Form nicht in solche Extreme trei-
ben, knnen ihren Inhalt figurativ be-
schwren: Wenn etwa die kanadische
Lyrikerin Anne Carson Gemlde von
Edward Hopper dichterisch umschreibt,
lehnt sie gelegentlich die Textgestalt an
ein formales Element des betreffenden
Bildes an. Zum eigentlichen Kunstwerk
auch auf gestalterischer Ebene geriet
Nox, Carsons berhrende Reminis-
zenz an ihren verstorbenen Bruder.
In der Romanliteratur hat Laurence
Sterne mit seinem 175967 entstande-
nen, die Schranken erzhlerischer Kon-
vention lustvoll unterlaufenden und
berspringenden Tristram Shandy
auch in gestalterischer Hinsicht zumin-
dest einige Zeichen gesetzt. So ldt er
etwa den Leser ein, sich auf einer unbe-
druckt gelassenen Seite die Reize der
Witwe Wadman gleich selbst auszu-
malen, berrascht ihn mit einer in der
Erstausgabe aufwendig fr jedes Buch
einzeln hergestellten marmorierten
Seite oder zeichnet die erratischen Ver-
lufe der von allerhand Digressionen
durchschossenen Kapitel in khnen
Linien nach.
Im 20. Jahrhundert hat unter anderen
Arno Schmidt, als literarischer Quer-
denker, Tabubrecher und Innovator
noch radikaler als der von ihm hoch-
geschtzte Sterne, die deutsche Ortho-
graphie grndlich umgeknetet und die
Romanform auf auch im Druckbild
sichtbare Weise aufgebrochen. Jenseits
aller Ansprche auf das, was man Les-
barkeit nennt, bewegt sich sein macht-
volles Opus Zettels Traum (1970),
das in der gebundenen Ausgabe gut
neun Kilogramm auf die Waage oder
den Schoss des Lesers bringt und diesen
in einen Irrgarten aus Erzhlung und
Zitaten, literarischer Reflexion und
spontaner Assoziation zieht, der sich
auch in der Gestaltung der Seiten abbil-
det. Einen anderen Weg schlug W. G.
Sebald ein, der in seinen Erzhlungen
und Romanen eine ber das herkmm-
liche Verhltnis von Text und Illustra-
tion hinausgehende Fusion zwischen der
Erzhlung und den direkt in diese inte-
grierten Bildelementen schuf.
Auch das innovative Autorenkollek-
tiv Oulipo hat Mglichkeiten der Text-
Bild-Integration wahrgenommen etwa
in Herve Le Telliers LHerbier des
Villes (2010), das einen Dialog zwi-
schen den Fotos alltglicher objets trouves
und von diesen inspirierten, eigenwillig
gesetzten Haikus inszeniert. Raymond
Queneaus 1961 konzipiertes CentMille
Milliards de Poe`mes wiederum scheint
den ausserhalb der Oulipo-Bewegung
stehenden Amerikaner Jonathan Safran
Foer zu einem noch gewagteren Experi-
ment inspiriert zu haben. Queneau hatte
die Zeilen von zehn nach demselben
Reimschema gebauten Sonetten belie-
big kombinierbar gemacht, indem er die
Buchseiten vertikal solcherart auf-
schneiden liess, dass man jede Zeile ein-
zeln umblttern kann. Foer vollfhrte
2010 in Tree of Codes eine wesentlich
kompliziertere Operation an der eng-
lischsprachigen Ausgabe von Bruno
Schulz Die Zimtlden: Indem er mit
dem Federmesser Worte oder ganze
Stze aus dem Original herausschnitt
und mit den entstehenden Lcken
Durchblicke auf dahinter liegende Sei-
ten schuf, entlockte er Schulz Erzhl-
sammlung einen vllig neuen Text (siehe
auch Beitrag auf Seite 52).
Auch Arno Schmidt hat in einem jun-
gen US-Autor einen ambitisen Nach-
folger gefunden: Mark Z. Danielewski
trieb in House of Leaves (2000, dt.
Das Haus) die Verschachtelung und
Figuration von Textelementen in nie da
gewesene Dimensionen vor. Beschleu-
nigt sich die Handlung, hetzt der Leser
auch einmal hastig bltternd den lose ge-
streuten Wrtern und Satzfragmenten
nach; anderswo ist er auf einen Blick mit
kopfstehenden Marginalien, sich von
Seite zu Seite fortzeugenden Auflistun-
gen und ausschweifenden Fussnoten
konfrontiert. In Only Revolutions
einem Roman, dessen zeitlich gegen-
lufige Geschichten sich durch dauern-
des Drehen des Buches lesen lassen
setzte Danielewski 2006 seine ambitise
Konzeptliteratur fort; und sollte sein
jngstes Romanprojekt, The Familiar,
tatschlich zum geplanten Umfang von
27 Bnden auflaufen dann drften
Liebhaber eigenwillig gestalteter Bcher
bald ein weiteres Regal gefllt haben.
Dass gestalterische Ele-
mente eine erzhlerisch
oder inhaltlich relevante
Rolle spielen, kommt
insbesondere in der
Prosa eher selten vor.
WOCHENENDE 51Freitag, 9.Oktober 2015 BUCHGESTALTUNG
52 WOCHENENDE Freitag, 9.Oktober 2015
Wir wollten Bcher
machen, in denen
das Visuelle Teil
des Schreibens und
des Erzhlens ist.
Der Leser
spielt mit
Der Londoner Verlag Visual Editions
hat die Nase vorn, wenn es um innovative
Formen der Textgestaltung geht.
VON MARION LHNDORF
Der LondonerRegen klatscht gegen rie-
sige Fensterscheiben eines alten Indus-
triegebudes. Die Gnge sind schbig
und leer, die Tren sehen so fest ver-
schlossen aus, als ob die dahinter liegen-
den Rume seit langem nicht mehr ge-
nutzt wrden.Doch imBro desVerlags
Visual Editions im Londoner Stadtteil
Clerkenwell herrscht Leben. Anna Ger-
ber und Britt Iversen sitzen vor Regalen
ihrer aussergewhnlichen Bcher und
freuen sich zum Beispiel ber den Er-
folg ihres Verlags, ber die Projekte, die
sie noch im Sinn haben, und ber die
wundersamen Begegnungen, zu denen
ihre Arbeit sie fhrte.
Liebesbrief an einen Autor
Vor fnf Jahren grndeten sie Visual
Editions: Wir wollten Bcher machen,
in denen das Visuelle Teil des Schrei-
bens und des Erzhlens ist. Anna Ger-
ber hatte zehn Jahre lang ber Grafik-
Design geschrieben und am Royal Col-
lege ofArt, amLondonCollege of Com-
munication und an Central Saint Mar-
tins gelehrt; Britt Iversen hatte fnfzehn
Jahre in der Werbung und Markenkom-
munikation gearbeitet. Beide sind An-
fang vierzig. Schon kurz nachdem sie
sich ber ihre Kinder kennengelernt
hatten, beschlossen sie, gemeinsam
etwas auf die Beine zu stellen, das mit
Bchern zu tun haben sollte.
Die eigentliche Erfolgsgeschichte
von Visual Editions begann mit einem
Liebesbrief, den die Verlegerinnen an
den jungen, aber schon sehr erfolg-
reichen Schriftsteller Jonathan Safran
Foer schrieben. Sie hofften mit gutem
Grund auf sein Interesse, denn Foer
hatte bereits mit visuellen Elementen
gespielt, aber sehr im Rahmen des
Mainstream. Gerber und Iversen
schrieben ihm von ihrem Bcher-Traum
und dass sie zwar kein Geld htten, aber
alles in Bewegung setzen wrden, um
Foers Ideen umzusetzen, wenn er mit-
machenwolle. Damals hatten sie erst ein
Buch herausgebracht. Jonathan Safran
Foer antwortete in Minutenschnelle. Er
sagte zu: Besser kann ein Grndungs-
mythos gar nicht beginnen.
Die Idee zu Tree of Codes ent-
stand: Foer legte dem Projekt Bruno
Schulz labyrinthische Geschichten-
sammlung The Street of Crocodiles
(dt. Die Zimtlden) zugrunde und be-
nutzte den Text als Leinwand. Er
schnitt Wrter und ganze Zeilen aus
Schulz Buch aus und kreierte mit den
Wrtern, die erhalten blieben, einen
neuen Text. In Buchform ist das Ergeb-
nis ein kleines Kunstwerk, mit Seiten,
die mit ihren Leerstellen aussehen wie
aus Spitze gearbeitet. Die Leser haben
das Gefhl, es sei ein Buch voller
Lcher, erzhlen die Verlegerinnen.
Foers Stil sei darin aber immer sprbar.
Es wre leicht gewesen, das Buch in
einer kleinen, limitierten Auflage von
150 Exemplaren herauszubringen, sagt
Britt Iversen. Doch das Werk in einer
hherenAuflage und zu einem fr jeden
erschwinglichen Preis zu publizieren
das war mutig. Obwohl Tree of Codes
aussieht wie ein Kunstbuch, sollten die
Leser damit umgehen knnen, als wre
es ein Paperback, mit demman gern und
vielleicht ein bisschen nachlssig unter-
wegs sein kann, ohne es wie eine Kost-
barkeit zu behandeln. Tatschlich wurde
Tree of Codes inzwischen 35 000 Mal
verkauft, fr nur 25 Pfund pro Exem-
plar. Inzwischen hat das Buch, das nicht
mehr im Handel ist, ein Ballett inspi-
riert, das der Knstler Olafur Eliasson
optisch ausstattete.
Bewegte Lektre
Bedruckte Seiten zwischen zwei Buch-
deckeln, der inhaltlichen Abfolge nach
angeordnet: Genau so sehen die Bcher
von Visual Editions nicht aus. Im
Grunde greifen sie unser erratisches
Lesen im Internet auf. Zum Beispiel bei
AdamThirlwells Roman Kapow!.Wir
knnen fr lngere Strecken der Chro-
nologie des Texts folgen.Oderwir lassen
uns ablenken, folgen diesem oder jenem
in geometrischen Mustern oder Linien
in den Textkrper eingeschobenen Ge-
danken, blttern nach vorn, zurck, dre-
hen das Buch nach unten oder oben
oder falten im Stil eines Leporellos zu-
sammengelegte Seiten auseinander. Ste-
ven Poole, demRezensenten des Guar-
dian, ging das auf die Nerven. Es
mache ihn geradezu schwindelig, wie
er 2012 beimErscheinen des ungewhn-
lichen Buches schrieb. Und berhaupt
htte man die grafisch so ungewhnlich
das Lesefeld durchschneidenden Ge-
danken genauso gut als Parenthesen
oder Fussnoten unterbringen knnen.
Weniger von Hhenangst heim-
gesuchte Leser aber freuen sich ber
den Ansatz, der ein Schlendern, Inne-
halten und Umwege bei der Lektre er-
laubt. Man kann die Einschbe auch
einfach ignorieren undwie gewohnt vor-
wrts lesen wenigstens inhaltlich, denn
optisch fhrt kein Weg an ihnen vorbei.
Doch wre das schade, denn die kreis-
frmigen oder amorphen Textgebilde,
die durch den Roman fluten, wirken
schon auf der ersten Lese-Ebene als
sinnstiftende Elemente. In einem der
quer gesetzten Textblcke erklrt Thirl-
well bereits zuAnfang, dass er in seinem
ersten Roman mit dem Raum gespielt
habe und in seinem zweitenmit der Zeit;
doch nun habe er genug von diesen
Hauptkategorien und hoffe, sich frei be-
wegen zu knnen. Doch im Grunde
gehe es ihm nur um den Leser, sagt der
Autor an einer spteren Stelle, und der
knne erst am Ende des Buches heraus-
finden, wo der Erzhler abgeschweift sei
und wo nicht. Or, to put it in another
way: if you want to know which stories
are within which stories, you have to
wait until the end.
Texte frs digitale Zeitalter
Dass die Lektre der Bcher von Visual
Editions sich denLesegewohnheiten an-
nhert, die sich beim Umgang mit dem
Internet etabliert haben, ist kein Zufall.
Anna Gerber und Britt Iversen interes-
sieren sich brennend fr dieMglichkei-
ten des Internets. Der Kontakt mit
einem Fan an einflussreicher Stelle bei
Google gehrt zu den Bekanntschaften,
die sie im Laufe ihrer noch jungen ver-
legerischen Ttigkeit geschlossen ha-
ben. Aus diesen Zusammentreffen ent-
stand eine Kooperation. Zusammen mit
dem Internetprovider entwickelt Visual
Editions derzeit das Angebot Editions
at Play. Fr dieses Gefss sollen digi-
tale Bcher konzipiert werden, die un-
mglich gedruckt werden knnten und
die, wie Anna Gerber sagt, die ganze
Magie des Internets im Dienste inter-
aktiver Lese-Erlebnisse entfalten sollen.
Auch die Schnittstelle zwischen Lite-
ratur und Magazinen die heute einen
hnlichen Stellenwert haben wie die
Coffee-Table-Bcher in den neunziger
und nuller Jahren interessiert die Ver-
legerinnen. Zeitschriftenwie Kinfolk,
The Gentlewoman oder Fantastic
Man gehren heute zu den innovativs-
ten Print-Bereichen, finden Iversen
und Gerber. So entwickelten sie die in
Zeitschriftenoptik gestaltete Serie Wri-
ters in Residence, die Autoren in the-
matischer Engfhrung Wege zwischen
Reportage und Literatur beschreiten
lsst. So berichtet der kanadische
Romancier Douglas Coupland aus der
Telecom-Firma Alcatel-Lucent, der
Banker und Sachbuchautor Liaquat
Ahamed war On Tour with the IMF.
Gerber und Iversen sehen die Zu-
kunft des Buchs keineswegs nur in digi-
taler Form. Es gibt einen grossen
Reichtum in der Verlagsbranche, von
Apps ber Kindle bis zu gedruckten
Bchern. Das eine schliesst das andere
nicht aus. Aber: Je mehr wir online
sind, desto mehr wchst die Sehnsucht,
schne auch bibliophile Objekte zu
besitzen. Deshalb gilt fr sie bei den
digitalen Projekten letztlich dasselbe
Prinzip wie beim Umgang mit ihren
Printprodukten: Es geht darum, wie
etwas so sehr wie mglich ein physi-
sches Objekt sein kann ob es um eine
digitale Umgebung, die Qualitt des
Papiers oder den Ton geht.
Die Verlegerinnen schauen nach
vorn und sind das, was man im heutigen
Marketing-Jargon innovativ nennt.
Doch beziehen sie sich auch auf Tradi-
tionen und Vorgnger B. S. Johnson
etwa, dessen in den sechziger und siebzi-
ger Jahren entstandene Bcher sowohl
formal als auch inhaltlich Konventionen
umgingen. Sein Roman The Unfor-
tunates (1969) liegt ungebunden in
einer Box und kann in beliebiger, vom
Leser gewhlter Reihenfolge gelesen
werden: ein Beispiel interaktiver Litera-
tur, ebenso wie der von Visual Editions
herausgegebene Roman Composition
No. 1 von Marc Saporta, der ebenfalls
aus den sechziger Jahren stammt. Doch
Visual Editions greift noch weiter in die
Vergangenheit zurck: Man verlegte
Laurence Sternes Tristram Shandy
(175967) und wird demnchst Cervan-
tes Don Quijote (1605) herausbrin-
gen. Die waghalsigen Klassiker von ges-
tern werden von Visual Editions auch
optisch fr die Zukunft gerstet: Sie bin-
den denBetrachter ein, einewesentliche
Voraussetzung, wennman das Publikum
der Internet-ra erreichen will.
Unterwegs auf neuen Pfaden
Das Internet ermglicht berhaupt erst
die Arbeitsweise und vielleicht auch
den Erfolg des Verlegerinnen-Duos:
Es erlaubt ihnen, ihren Lesern nherzu-
kommen. Sie suchen alternative Ver-
triebswege, verlassen das traditionelle
Verlagsmodell und suchen eine Balance
zwischen Grosshndlern und direktem
Handel. Sie nutzen Crowdfunding, das
sie ebenfalls in Kontakt mit Lesern brin-
gen, und Kunstgalerien sind fr sie als
Verkaufsorte ebenso wichtig wie Buch-
handlungen: Ihr Publikum besteht aus
Literatur-Fans, aus Menschen, die in der
Kunst- und Designszene zu Hause sind,
und aus einer Schnittmenge aus beiden.
Sie kooperieren nicht nur mit Google,
sondern auchmit denAce-Hotels in den
USA und England: So liessen die Ver-
legerinnen eine Reihe von Autoren
Bettgeschichten vorlesen; die Aufnah-
men knnen sich Hotelgste nun beim
Einschlafen anhren.
Auch geschftlich erfolgreich zu sein,
steht nicht an letzter Stelle bei den ver-
legerischen Bemhungen. An erster
Stelle aber kommt, wieBritt Iversen und
Anna Gerber gleich eingangs betonen,
ihre Freundschaft. Die hat fnf Jahre
verlegerischer Ttigkeit bisher bestens
berlebt.
Zwei Freundinnen, die auch die Liebe zu schnen Bchern eint: Britt Iversen und
Anna Gerber, die Grnderinnen von Visual Editions. MARIUS W. HANSEN
Jonathan Safran Foers Tree of Codes
ist wohl eines der diffizilsten Bcher, an
die sich je ein Verlag gewagt hat. BILDER PD
52 WOCHENENDE Freitag, 9.Oktober 2015BUCHGESTALTUNG