2015 Wenn Der Text Ins Tanzen Kommt_NZZ

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Wenn der Text ins Tanzen kommtNZZ

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  • 49Freitag, 9.Oktober 2015

    WOCHENENDE

    Neu Zrcr Zitung

    DRESS LIKE YOU MEAN IT

    Ein Pldoyer fr einen

    neuen Blick auf die

    Mode. Seite 54

    FASTENTHERAPIEN

    Ob sie ein lngeres

    und gesnderes Leben

    befrdern, ist offen. Seite 56

    LEISE, SCHNELL UND KOMFORTABEL

    Der neue 7er von BMW

    ist eine veritable

    Staatskarosse. Seite 60

    GORAN BASIC / NZZ

    Wenn der Text ins Tanzen kommt

    Buchgestaltung als erzhlerisches Element

  • Ein solches Buch hlt man

    selten in Hnden: S

    ist gespickt mit Postkarten,

    Dokumenten und Briefen,

    welche die vielschichtige

    Erzhlung begleiten.

    50 WOCHENENDE Freitag, 9.Oktober 2015

    Wie kommt die Serviette

    in den Roman?

    J. J. Abrams und Doug Dorst warten in S mit allerhand

    berraschungen auf. VON ANGELA SCHADER (Text)

    UND GORAN BASIC (Bilder)

    Ein Roman, der die (nicht nur) kind-

    liche Lust aufAbenteuer und kleineGe-

    schenke, aber auch die bibliophilen

    Instinkte gestandener Leserinnen und

    Leser anspricht; ein Buch, das im Zeit-

    alter der Digitalisierung stolz die Poten-

    ziale bedruckten Papiers ausspielt; eine

    Story, dieman nicht beiseitelegt, obwohl

    kein illustrer Schriftstellername den

    Einband ziert. All das verbirgt sich hin-

    ter dem Titel S, dessen Doppelhaken

    gleichsam die zwei oder sind es drei,

    vier? Geschichten verklammert, die

    uns das Autorenteam J. J. Abrams und

    Doug Dorst vorlegt.

    Aufwendiges Konzept

    Abrams ist vor allem als Film- und Fern-

    sehproduzent, Regisseur und Dreh-

    buchautor bekannt; Kino-Kracher wie

    Mission Impossible III, Star Trek

    (2009) und derzeit die Regiearbeit beim

    siebten Teil der Star Wars-Reihe

    gehen auf sein Konto. Doug Dorst war

    vor der Mitarbeit an S lediglich mit

    demNoir-Thriller Alive in Necropolis

    und einer Erzhlsammlung an die

    ffentlichkeit getreten. Gewiss, das sind

    keine Credentials fr hohe Literatur;

    aber auch Innovationsfreude und kon-

    zeptuelles Raffinement sind Qualitten,

    die auf ein Buch aufmerksam machen.

    Und vielleicht bedurfte es eines ans Jon-

    glieren mit Millionenbudgets gewohn-

    ten Hollywood-Regisseurs, um die Vi-

    sion eines gestalterisch und produk-

    tionstechnisch derart aufwendigen Ro-

    mans berhaupt zu wagen.

    Aus dem versiegelten Schuber, auf

    dem schwarz in schwarz die Letter S

    prangt, zieht man ein ganz anderes

    Buch. Leicht vernutzt wirkend,mit einer

    Bibliotheksetikette versehen und in

    einem Design gehalten, das in die Mitte

    des 20. Jahrhunderts zurckweist, trgt

    es den Titel Das Schiff des Theseus

    und den Autornamen V. M. Straka. Die

    Seiten sind vergilbt und stockfleckig; die

    aufs Vorsatzblatt gedruckte Werkliste

    des Schriftstellers, die zahlreichen Fuss-

    noten sowie die ins Buch gestempelten

    Ausleihdaten runden die Optik eines

    respektablen und lang in Gebrauch be-

    findlichen Bandes ab. Einzig der Satz-

    spiegel entspricht nicht ganz der Norm:

    DieMargen sind ungewhnlich breit ge-

    halten, denn sie mssen einer zweiten

    Geschichte Raum bieten, die sich rund

    um die Handlung von Das Schiff des

    Theseus entfaltet. Zwei Studierende

    die kurz vor den Abschlussprfungen

    stehende Jen und der einige Jahre ltere,

    unlngst von der Universitt verwiesene

    Eric sind in den Bann von Strakas

    uvre und seiner undurchsichtigenBio-

    grafie geraten und tauschen sich in ihren

    Randnotizen und anhand von beigeleg-

    tenDokumenten ber dieseMaterie wie

    auch ber ihre eigenen, aus dem Lot ge-

    ratenen Lebensumstnde aus.

    Natrlich ist diese Erzhlanordnung

    nicht unerprobt: hnliches hat Nabo-

    kov in Pale Fire unternommen,

    A. S. Byatt in Possession, Mark

    Z. Danielewski in House of Leaves

    einem Roman, der S auch punkto

    visueller Gestaltung Paroli bieten kann.

    Aber Abrams und Dorst treiben das

    Konzept in wieder andere Dimensionen

    vor. Einerseits, indem sich das Buch als

    kleines Schatzhaus prsentiert, aus dem

    man im Lauf der Lektre die von Jen

    und Eric zwischen die Seiten gelegten

    Fotokopien und Zeitungsausschnitte,

    Postkarten und Briefe, den auf einer

    Papierserviette skizzierten Plan desUni-

    versittsgelndes und eine Art Wind-

    rose mit integriertem Chiffrensystem

    pflcken kann; anderseits, indem die

    Randnotizen auf mehreren, durch un-

    terschiedliche Farben voneinander ab-

    gehobenenZeitebenen angesiedelt sind,

    wobei sich diese Ebenen berlagern, die

    Chronologie gelegentlich einen Rck-

    wrtssalto schlgt und auch die vielfach

    verschrnkten Intrigen, welche die jun-

    gen Forscher aufdecken, fr Verwirrung

    sorgen. Wer den Roman in die Hand

    nimmt, wird bald einmal entscheiden

    mssen, ob er sich lieber in zwei Durch-

    gngen erst die Haupterzhlung, dann

    die Kommentare oder im permanen-

    ten Rsselsprung hindurchbewegt.

    Das Schiff des Theseus

    Der Titel von Strakas Roman spielt auf

    ein philosophisches Paradoxon der An-

    tike an. Am Schiff des Theseus sei so

    erzhlt Plutarch immer wieder einmal

    eine verrottete Planke entfernt und

    durch eine andere ersetzt worden, bis

    alles ursprngliche Material verschwun-

    den war: Ist nun das einstige oder das

    neue Schiff das Schiff des Theseus? Sind

    die beiden einander wesensgleich, oder

    existiert nach der Mutation gar kein

    Schiff des Theseus mehr? Das Buch

    nimmt dieses Motiv auf mehreren Ebe-

    nen auf: einerseits imBild des zusehends

    havarierten und immer wieder neu zu-

    sammengeflickten Kahns, der den Prot-

    agonisten von V. M. Strakas Roman

    durch Zeiten und Weltgegenden befr-

    dert; anderseits aber auch in den fluk-

    tuierenden Thesen, mit denen Jen, Eric

    und andere Straka-Verehrer die nie ge-

    klrte Identitt des (fiktiven) Schrift-

    stellers zu fassen suchen.

    Die Kern-Erzhlung also jener

    Das Schiff des Theseus betitelte

    Roman folgt dem erinnerungslos in

    einer heruntergekommenen Hafenstadt

    angesplten Helden, der nur mit dem

    Buchstaben S benannt wird, durch eine

    Existenz, deren Krftespiel er nicht

    wirklich durchschaut. Er wird in den

    Kampf gegen den so obskuren wie all-

    mchtigen Waffenproduzenten Vevoda

    verwickelt und dabei selbst zum viel-

    fachen Mrder; er jagt auf dieser kreuz

    und quer durch die Weltmeere fhren-

    den Quest dem Phantom einer schnen

    Frau nach, sein wahrer Lebensbegleiter

    aber ist der massige, vergammelte See-

    mannMaelstrom, auf dessen verrotteter

    Schebecke S. diese Reisen absolvieren

    muss. Das von den Elementen maltr-

    tierte Schiff verkrpert nicht nur den

    Romantitel, es artikuliert gleichsam auf

    tckische Weise die damit verbundene

    Problematik: Wenn S. die Erinnerungs-

    fragmente, anhand deren er seine Iden-

    titt rekonstruieren mchte, mhsam in

    die Schiffsplanken einzuritzen versucht,

    wandeln sich die Worte unter seiner

    Hand zu unverstndlichen Botschaften.

    Die Geschichte ist spannend, bilder-

    reich, symbolbefrachtet wenn auch bei

    genauerem Hinsehen nicht allenthalben

    das, worber sich (wie es die Fiktion

    will) eine atemlose und heftig zerstrit-

    tene Forschergemeinde beugen wrde.

    Da wird einiges an literarischenVersatz-

    stcken der universale Bsewicht Ve-

    voda, die rtselhafte Angebetete be-

    mht, andere Sujets sind vorab dem

    Effekt geschuldet: So muss die Schiffs-

    besatzung ihre Arbeit mit zugenhten

    Lippen verrichten und dafr in den Tie-

    fen des Schiffsbauchs stundenlang

    Schreibfron leisten, ohne dass sich der

    Sinn dieser seltsamen Sprachkonomie

    offenbart; auch die Parallelen zwischen

    der blauschwarzen Tinte, die auf dem

    Schiff literweise zu fliessen scheint, einer

    gleichfarbigen, besonders tdlichen

    Chemikalie Vevodas und dem schwar-

    zen, mit geschichtsschweren Jahrgn-

    gen markierten Wein, den der Waffen-

    fabrikant seinen Gsten mit Vorliebe

    kredenzt, entfalten eher dekorative als

    vertieften Sinn stiftende Wirkung.

    Als tragender Spannungsbogen und

    Vehikel fr die mehrschichtige Rahmen-

    erzhlung Erics und Jens langsam kon-

    vergierende Lebensgeschichten sowie

    diejenige ihrer gemeinsamen Jagd nach

    der proteischen Gestalt des Schriftstel-

    lers J. M. Straka taugt der abenteuer-

    liche Roman jedoch bestens. Bald taucht

    Wer den Roman in die

    Hand nimmt, wird bald

    einmal entscheiden ms-

    sen, ob er sich lieber in

    zwei Durchgngen oder

    im permanenten Rssel-

    sprung hindurchbewegt.

    50 WOCHENENDE Freitag, 9.Oktober 2015BUCHGESTALTUNG

  • Arno Schmidts Roman Zettels Traum ein machtvolles Statement gegen literarische Konvention.

    Ein Grabmal aus Papier: Nox von Anne Carson.

    Laurence Sterne setzte seine krausen Kapitelverlufe ins Bild.

    Mark Z. Danielewski schpft in Das Haus die Potenziale elektronischer Textgestaltung aus.

    WOCHENENDE 51Freitag, 9.Oktober 2015

    das Forscherpaar in die oft kraus wirken-

    den Fussnoten des Herausgebers ab, aus

    denen die clevere Jen allerhand chif-

    frierte Botschaften kitzelt; dann wieder

    breitet die junge Frau ihren Liebes-

    kummer, der Mann seine Wut ber das

    intrigante Hochschulmilieu aus. In um-

    stndlichen Exerzitien spren die beiden

    den Literaten, Intellektuellen und politi-

    schen Aktivisten nach, die man mit dem

    Namen Straka in Verbindung brachte,

    um dann jh aufzuschrecken, weil die

    akademische Konkurrenz sie bedrngt

    und einzuschchtern versucht. Oder sind

    die Mannsbilder, von denen Jen sich zu-

    nehmend beobachtet und verfolgt fhlt,

    vielmehr Emissre jener ebenfalls unter

    der Chiffre S operierenden Geheim-

    organisation, die nicht nur inner-, son-

    dern auch ausserhalb von V. M. Strakas

    Roman ihr Unwesen zu treiben scheint?

    Vom Stockfleck auf neu

    Die Tatsache, dass S ein breiteres

    Publikum ansprechen kann, deswegen

    aber erzhlerisch doch nicht anspruchs-

    los ist, mag Kiepenheuer & Witsch er-

    mutigt haben, das aufwendige Buch ins

    Programm aufzunehmen. Ebenso er-

    freulich wie die intelligente und stim-

    mige bersetzung von Tobias Schnettler

    und Bert Schrder ist die Tatsache, dass

    derDruckauftrag nicht wie imFalle der

    amerikanischen und der englischen Aus-

    gabe nach China ging, sondern in

    Europa vergeben wurde. Die Verlags-

    grafikerinMinouZaribaf musste dieGe-

    staltung des Buches quasi vom Stock-

    fleck auf neu besorgen; Olav Korth, der

    fr das Aufsetzen der handschriftlichen

    Kommentare engagiert wurde, verlieh

    Jen und Eric eine eng ans Original ange-

    lehnte kalligrafische Identitt. Produ-

    ziert hat das Buch der Verlag CPI Mora-

    via Books in Pohorelice, untersttzt von

    anderen tschechischen Unternehmen,

    die etwa den Schuber oder die Papier-

    serviette herstellten. Das ist last, but not

    least eine charmanteVerneigung vor den

    Figuren des Romans denn die Jagd

    nach dem rtselhaftenV. M. Straka fhrt

    auch Jen und Eric am Ende nach Prag.

    J. J. Abrams / Doug Dorst: S. Aus dem ameri-

    kanischen Englisch von Tobias Schnettler und

    Bert Schrder. Kiepenheuer & Witsch, Kln

    2015. 522 S., Fr. 54..

    Wort-Ornamente,

    marmorierte Seiten und

    Operationen am offenen Buch

    Gestalterische Elemente knnen mehr sein als schmckendes Beiwerk

    zum literarischen Text: eine kleine Parade eigenwilliger Bcher.

    VON ANGELA SCHADER

    Schn und aufwendig gestaltete Bcher

    hat es zur Freude derjenigen, denen

    eine gut bestckte Bibliothek die

    schnste Zier der eigenen vierWnde ist

    immer gegeben. In der Regel be-

    schrnken sich die bibliophilen Extras

    aber auf die Gestaltung des Umschlags

    und die Qualitt der Materialien, auf

    Druck und Illustration; dass gestalteri-

    sche Elemente, wie es bei S der Fall

    ist, eine erzhlerisch oder inhaltlich rele-

    vante Rolle spielen, kommt insbeson-

    dere in der Prosa eher selten vor.

    Die Lyrik dagegen hat vom schon in

    der Antike gepflegten und im Barock

    zur Hochblte getriebenen Figuren-

    gedicht bis hin zur konkreten Poesie

    den Spielraum, den die Seite dem ge-

    schriebenen oder gedruckten Wort er-

    ffnet, wesentlich fleissiger genutzt. Da

    kann der Text in die Figur eines abstrak-

    ten Ornaments schlpfen, oder er bildet

    etwa bei Apollinaires Calligrammes

    gleich das ab, wovon er erzhlt. Aber

    auchGedichte, die das Spiel mit der us-

    seren Form nicht in solche Extreme trei-

    ben, knnen ihren Inhalt figurativ be-

    schwren: Wenn etwa die kanadische

    Lyrikerin Anne Carson Gemlde von

    Edward Hopper dichterisch umschreibt,

    lehnt sie gelegentlich die Textgestalt an

    ein formales Element des betreffenden

    Bildes an. Zum eigentlichen Kunstwerk

    auch auf gestalterischer Ebene geriet

    Nox, Carsons berhrende Reminis-

    zenz an ihren verstorbenen Bruder.

    In der Romanliteratur hat Laurence

    Sterne mit seinem 175967 entstande-

    nen, die Schranken erzhlerischer Kon-

    vention lustvoll unterlaufenden und

    berspringenden Tristram Shandy

    auch in gestalterischer Hinsicht zumin-

    dest einige Zeichen gesetzt. So ldt er

    etwa den Leser ein, sich auf einer unbe-

    druckt gelassenen Seite die Reize der

    Witwe Wadman gleich selbst auszu-

    malen, berrascht ihn mit einer in der

    Erstausgabe aufwendig fr jedes Buch

    einzeln hergestellten marmorierten

    Seite oder zeichnet die erratischen Ver-

    lufe der von allerhand Digressionen

    durchschossenen Kapitel in khnen

    Linien nach.

    Im 20. Jahrhundert hat unter anderen

    Arno Schmidt, als literarischer Quer-

    denker, Tabubrecher und Innovator

    noch radikaler als der von ihm hoch-

    geschtzte Sterne, die deutsche Ortho-

    graphie grndlich umgeknetet und die

    Romanform auf auch im Druckbild

    sichtbare Weise aufgebrochen. Jenseits

    aller Ansprche auf das, was man Les-

    barkeit nennt, bewegt sich sein macht-

    volles Opus Zettels Traum (1970),

    das in der gebundenen Ausgabe gut

    neun Kilogramm auf die Waage oder

    den Schoss des Lesers bringt und diesen

    in einen Irrgarten aus Erzhlung und

    Zitaten, literarischer Reflexion und

    spontaner Assoziation zieht, der sich

    auch in der Gestaltung der Seiten abbil-

    det. Einen anderen Weg schlug W. G.

    Sebald ein, der in seinen Erzhlungen

    und Romanen eine ber das herkmm-

    liche Verhltnis von Text und Illustra-

    tion hinausgehende Fusion zwischen der

    Erzhlung und den direkt in diese inte-

    grierten Bildelementen schuf.

    Auch das innovative Autorenkollek-

    tiv Oulipo hat Mglichkeiten der Text-

    Bild-Integration wahrgenommen etwa

    in Herve Le Telliers LHerbier des

    Villes (2010), das einen Dialog zwi-

    schen den Fotos alltglicher objets trouves

    und von diesen inspirierten, eigenwillig

    gesetzten Haikus inszeniert. Raymond

    Queneaus 1961 konzipiertes CentMille

    Milliards de Poe`mes wiederum scheint

    den ausserhalb der Oulipo-Bewegung

    stehenden Amerikaner Jonathan Safran

    Foer zu einem noch gewagteren Experi-

    ment inspiriert zu haben. Queneau hatte

    die Zeilen von zehn nach demselben

    Reimschema gebauten Sonetten belie-

    big kombinierbar gemacht, indem er die

    Buchseiten vertikal solcherart auf-

    schneiden liess, dass man jede Zeile ein-

    zeln umblttern kann. Foer vollfhrte

    2010 in Tree of Codes eine wesentlich

    kompliziertere Operation an der eng-

    lischsprachigen Ausgabe von Bruno

    Schulz Die Zimtlden: Indem er mit

    dem Federmesser Worte oder ganze

    Stze aus dem Original herausschnitt

    und mit den entstehenden Lcken

    Durchblicke auf dahinter liegende Sei-

    ten schuf, entlockte er Schulz Erzhl-

    sammlung einen vllig neuen Text (siehe

    auch Beitrag auf Seite 52).

    Auch Arno Schmidt hat in einem jun-

    gen US-Autor einen ambitisen Nach-

    folger gefunden: Mark Z. Danielewski

    trieb in House of Leaves (2000, dt.

    Das Haus) die Verschachtelung und

    Figuration von Textelementen in nie da

    gewesene Dimensionen vor. Beschleu-

    nigt sich die Handlung, hetzt der Leser

    auch einmal hastig bltternd den lose ge-

    streuten Wrtern und Satzfragmenten

    nach; anderswo ist er auf einen Blick mit

    kopfstehenden Marginalien, sich von

    Seite zu Seite fortzeugenden Auflistun-

    gen und ausschweifenden Fussnoten

    konfrontiert. In Only Revolutions

    einem Roman, dessen zeitlich gegen-

    lufige Geschichten sich durch dauern-

    des Drehen des Buches lesen lassen

    setzte Danielewski 2006 seine ambitise

    Konzeptliteratur fort; und sollte sein

    jngstes Romanprojekt, The Familiar,

    tatschlich zum geplanten Umfang von

    27 Bnden auflaufen dann drften

    Liebhaber eigenwillig gestalteter Bcher

    bald ein weiteres Regal gefllt haben.

    Dass gestalterische Ele-

    mente eine erzhlerisch

    oder inhaltlich relevante

    Rolle spielen, kommt

    insbesondere in der

    Prosa eher selten vor.

    WOCHENENDE 51Freitag, 9.Oktober 2015 BUCHGESTALTUNG

  • 52 WOCHENENDE Freitag, 9.Oktober 2015

    Wir wollten Bcher

    machen, in denen

    das Visuelle Teil

    des Schreibens und

    des Erzhlens ist.

    Der Leser

    spielt mit

    Der Londoner Verlag Visual Editions

    hat die Nase vorn, wenn es um innovative

    Formen der Textgestaltung geht.

    VON MARION LHNDORF

    Der LondonerRegen klatscht gegen rie-

    sige Fensterscheiben eines alten Indus-

    triegebudes. Die Gnge sind schbig

    und leer, die Tren sehen so fest ver-

    schlossen aus, als ob die dahinter liegen-

    den Rume seit langem nicht mehr ge-

    nutzt wrden.Doch imBro desVerlags

    Visual Editions im Londoner Stadtteil

    Clerkenwell herrscht Leben. Anna Ger-

    ber und Britt Iversen sitzen vor Regalen

    ihrer aussergewhnlichen Bcher und

    freuen sich zum Beispiel ber den Er-

    folg ihres Verlags, ber die Projekte, die

    sie noch im Sinn haben, und ber die

    wundersamen Begegnungen, zu denen

    ihre Arbeit sie fhrte.

    Liebesbrief an einen Autor

    Vor fnf Jahren grndeten sie Visual

    Editions: Wir wollten Bcher machen,

    in denen das Visuelle Teil des Schrei-

    bens und des Erzhlens ist. Anna Ger-

    ber hatte zehn Jahre lang ber Grafik-

    Design geschrieben und am Royal Col-

    lege ofArt, amLondonCollege of Com-

    munication und an Central Saint Mar-

    tins gelehrt; Britt Iversen hatte fnfzehn

    Jahre in der Werbung und Markenkom-

    munikation gearbeitet. Beide sind An-

    fang vierzig. Schon kurz nachdem sie

    sich ber ihre Kinder kennengelernt

    hatten, beschlossen sie, gemeinsam

    etwas auf die Beine zu stellen, das mit

    Bchern zu tun haben sollte.

    Die eigentliche Erfolgsgeschichte

    von Visual Editions begann mit einem

    Liebesbrief, den die Verlegerinnen an

    den jungen, aber schon sehr erfolg-

    reichen Schriftsteller Jonathan Safran

    Foer schrieben. Sie hofften mit gutem

    Grund auf sein Interesse, denn Foer

    hatte bereits mit visuellen Elementen

    gespielt, aber sehr im Rahmen des

    Mainstream. Gerber und Iversen

    schrieben ihm von ihrem Bcher-Traum

    und dass sie zwar kein Geld htten, aber

    alles in Bewegung setzen wrden, um

    Foers Ideen umzusetzen, wenn er mit-

    machenwolle. Damals hatten sie erst ein

    Buch herausgebracht. Jonathan Safran

    Foer antwortete in Minutenschnelle. Er

    sagte zu: Besser kann ein Grndungs-

    mythos gar nicht beginnen.

    Die Idee zu Tree of Codes ent-

    stand: Foer legte dem Projekt Bruno

    Schulz labyrinthische Geschichten-

    sammlung The Street of Crocodiles

    (dt. Die Zimtlden) zugrunde und be-

    nutzte den Text als Leinwand. Er

    schnitt Wrter und ganze Zeilen aus

    Schulz Buch aus und kreierte mit den

    Wrtern, die erhalten blieben, einen

    neuen Text. In Buchform ist das Ergeb-

    nis ein kleines Kunstwerk, mit Seiten,

    die mit ihren Leerstellen aussehen wie

    aus Spitze gearbeitet. Die Leser haben

    das Gefhl, es sei ein Buch voller

    Lcher, erzhlen die Verlegerinnen.

    Foers Stil sei darin aber immer sprbar.

    Es wre leicht gewesen, das Buch in

    einer kleinen, limitierten Auflage von

    150 Exemplaren herauszubringen, sagt

    Britt Iversen. Doch das Werk in einer

    hherenAuflage und zu einem fr jeden

    erschwinglichen Preis zu publizieren

    das war mutig. Obwohl Tree of Codes

    aussieht wie ein Kunstbuch, sollten die

    Leser damit umgehen knnen, als wre

    es ein Paperback, mit demman gern und

    vielleicht ein bisschen nachlssig unter-

    wegs sein kann, ohne es wie eine Kost-

    barkeit zu behandeln. Tatschlich wurde

    Tree of Codes inzwischen 35 000 Mal

    verkauft, fr nur 25 Pfund pro Exem-

    plar. Inzwischen hat das Buch, das nicht

    mehr im Handel ist, ein Ballett inspi-

    riert, das der Knstler Olafur Eliasson

    optisch ausstattete.

    Bewegte Lektre

    Bedruckte Seiten zwischen zwei Buch-

    deckeln, der inhaltlichen Abfolge nach

    angeordnet: Genau so sehen die Bcher

    von Visual Editions nicht aus. Im

    Grunde greifen sie unser erratisches

    Lesen im Internet auf. Zum Beispiel bei

    AdamThirlwells Roman Kapow!.Wir

    knnen fr lngere Strecken der Chro-

    nologie des Texts folgen.Oderwir lassen

    uns ablenken, folgen diesem oder jenem

    in geometrischen Mustern oder Linien

    in den Textkrper eingeschobenen Ge-

    danken, blttern nach vorn, zurck, dre-

    hen das Buch nach unten oder oben

    oder falten im Stil eines Leporellos zu-

    sammengelegte Seiten auseinander. Ste-

    ven Poole, demRezensenten des Guar-

    dian, ging das auf die Nerven. Es

    mache ihn geradezu schwindelig, wie

    er 2012 beimErscheinen des ungewhn-

    lichen Buches schrieb. Und berhaupt

    htte man die grafisch so ungewhnlich

    das Lesefeld durchschneidenden Ge-

    danken genauso gut als Parenthesen

    oder Fussnoten unterbringen knnen.

    Weniger von Hhenangst heim-

    gesuchte Leser aber freuen sich ber

    den Ansatz, der ein Schlendern, Inne-

    halten und Umwege bei der Lektre er-

    laubt. Man kann die Einschbe auch

    einfach ignorieren undwie gewohnt vor-

    wrts lesen wenigstens inhaltlich, denn

    optisch fhrt kein Weg an ihnen vorbei.

    Doch wre das schade, denn die kreis-

    frmigen oder amorphen Textgebilde,

    die durch den Roman fluten, wirken

    schon auf der ersten Lese-Ebene als

    sinnstiftende Elemente. In einem der

    quer gesetzten Textblcke erklrt Thirl-

    well bereits zuAnfang, dass er in seinem

    ersten Roman mit dem Raum gespielt

    habe und in seinem zweitenmit der Zeit;

    doch nun habe er genug von diesen

    Hauptkategorien und hoffe, sich frei be-

    wegen zu knnen. Doch im Grunde

    gehe es ihm nur um den Leser, sagt der

    Autor an einer spteren Stelle, und der

    knne erst am Ende des Buches heraus-

    finden, wo der Erzhler abgeschweift sei

    und wo nicht. Or, to put it in another

    way: if you want to know which stories

    are within which stories, you have to

    wait until the end.

    Texte frs digitale Zeitalter

    Dass die Lektre der Bcher von Visual

    Editions sich denLesegewohnheiten an-

    nhert, die sich beim Umgang mit dem

    Internet etabliert haben, ist kein Zufall.

    Anna Gerber und Britt Iversen interes-

    sieren sich brennend fr dieMglichkei-

    ten des Internets. Der Kontakt mit

    einem Fan an einflussreicher Stelle bei

    Google gehrt zu den Bekanntschaften,

    die sie im Laufe ihrer noch jungen ver-

    legerischen Ttigkeit geschlossen ha-

    ben. Aus diesen Zusammentreffen ent-

    stand eine Kooperation. Zusammen mit

    dem Internetprovider entwickelt Visual

    Editions derzeit das Angebot Editions

    at Play. Fr dieses Gefss sollen digi-

    tale Bcher konzipiert werden, die un-

    mglich gedruckt werden knnten und

    die, wie Anna Gerber sagt, die ganze

    Magie des Internets im Dienste inter-

    aktiver Lese-Erlebnisse entfalten sollen.

    Auch die Schnittstelle zwischen Lite-

    ratur und Magazinen die heute einen

    hnlichen Stellenwert haben wie die

    Coffee-Table-Bcher in den neunziger

    und nuller Jahren interessiert die Ver-

    legerinnen. Zeitschriftenwie Kinfolk,

    The Gentlewoman oder Fantastic

    Man gehren heute zu den innovativs-

    ten Print-Bereichen, finden Iversen

    und Gerber. So entwickelten sie die in

    Zeitschriftenoptik gestaltete Serie Wri-

    ters in Residence, die Autoren in the-

    matischer Engfhrung Wege zwischen

    Reportage und Literatur beschreiten

    lsst. So berichtet der kanadische

    Romancier Douglas Coupland aus der

    Telecom-Firma Alcatel-Lucent, der

    Banker und Sachbuchautor Liaquat

    Ahamed war On Tour with the IMF.

    Gerber und Iversen sehen die Zu-

    kunft des Buchs keineswegs nur in digi-

    taler Form. Es gibt einen grossen

    Reichtum in der Verlagsbranche, von

    Apps ber Kindle bis zu gedruckten

    Bchern. Das eine schliesst das andere

    nicht aus. Aber: Je mehr wir online

    sind, desto mehr wchst die Sehnsucht,

    schne auch bibliophile Objekte zu

    besitzen. Deshalb gilt fr sie bei den

    digitalen Projekten letztlich dasselbe

    Prinzip wie beim Umgang mit ihren

    Printprodukten: Es geht darum, wie

    etwas so sehr wie mglich ein physi-

    sches Objekt sein kann ob es um eine

    digitale Umgebung, die Qualitt des

    Papiers oder den Ton geht.

    Die Verlegerinnen schauen nach

    vorn und sind das, was man im heutigen

    Marketing-Jargon innovativ nennt.

    Doch beziehen sie sich auch auf Tradi-

    tionen und Vorgnger B. S. Johnson

    etwa, dessen in den sechziger und siebzi-

    ger Jahren entstandene Bcher sowohl

    formal als auch inhaltlich Konventionen

    umgingen. Sein Roman The Unfor-

    tunates (1969) liegt ungebunden in

    einer Box und kann in beliebiger, vom

    Leser gewhlter Reihenfolge gelesen

    werden: ein Beispiel interaktiver Litera-

    tur, ebenso wie der von Visual Editions

    herausgegebene Roman Composition

    No. 1 von Marc Saporta, der ebenfalls

    aus den sechziger Jahren stammt. Doch

    Visual Editions greift noch weiter in die

    Vergangenheit zurck: Man verlegte

    Laurence Sternes Tristram Shandy

    (175967) und wird demnchst Cervan-

    tes Don Quijote (1605) herausbrin-

    gen. Die waghalsigen Klassiker von ges-

    tern werden von Visual Editions auch

    optisch fr die Zukunft gerstet: Sie bin-

    den denBetrachter ein, einewesentliche

    Voraussetzung, wennman das Publikum

    der Internet-ra erreichen will.

    Unterwegs auf neuen Pfaden

    Das Internet ermglicht berhaupt erst

    die Arbeitsweise und vielleicht auch

    den Erfolg des Verlegerinnen-Duos:

    Es erlaubt ihnen, ihren Lesern nherzu-

    kommen. Sie suchen alternative Ver-

    triebswege, verlassen das traditionelle

    Verlagsmodell und suchen eine Balance

    zwischen Grosshndlern und direktem

    Handel. Sie nutzen Crowdfunding, das

    sie ebenfalls in Kontakt mit Lesern brin-

    gen, und Kunstgalerien sind fr sie als

    Verkaufsorte ebenso wichtig wie Buch-

    handlungen: Ihr Publikum besteht aus

    Literatur-Fans, aus Menschen, die in der

    Kunst- und Designszene zu Hause sind,

    und aus einer Schnittmenge aus beiden.

    Sie kooperieren nicht nur mit Google,

    sondern auchmit denAce-Hotels in den

    USA und England: So liessen die Ver-

    legerinnen eine Reihe von Autoren

    Bettgeschichten vorlesen; die Aufnah-

    men knnen sich Hotelgste nun beim

    Einschlafen anhren.

    Auch geschftlich erfolgreich zu sein,

    steht nicht an letzter Stelle bei den ver-

    legerischen Bemhungen. An erster

    Stelle aber kommt, wieBritt Iversen und

    Anna Gerber gleich eingangs betonen,

    ihre Freundschaft. Die hat fnf Jahre

    verlegerischer Ttigkeit bisher bestens

    berlebt.

    Zwei Freundinnen, die auch die Liebe zu schnen Bchern eint: Britt Iversen und

    Anna Gerber, die Grnderinnen von Visual Editions. MARIUS W. HANSEN

    Jonathan Safran Foers Tree of Codes

    ist wohl eines der diffizilsten Bcher, an

    die sich je ein Verlag gewagt hat. BILDER PD

    52 WOCHENENDE Freitag, 9.Oktober 2015BUCHGESTALTUNG