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Vietnam: Wer zahlt für Was und Wen? Herausforderung soziale Sicherung Indonesien: Und was, wenn ich nicht kann? Kinder mit Behinderung Philippinen: Wenn Krüppel tanzen und Stumme singen südostasien 4 / 2011 Ich bleibe Ich Mitten im Leben, trotz Krankheit, Behinderung oder Einschränkungen des Alters Jg. 27, Nr. 4 8,- K 10791 F

Philippinen: Wenn Krüppel tanzen und Stumme singen südostasien · 2011. 12. 12. · Indonesien: Und was, wenn ich nicht kann? Kinder mit Behinderung Philippinen: Wenn Krüppel tanzen

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Page 1: Philippinen: Wenn Krüppel tanzen und Stumme singen südostasien · 2011. 12. 12. · Indonesien: Und was, wenn ich nicht kann? Kinder mit Behinderung Philippinen: Wenn Krüppel tanzen

Vietnam: Wer zahlt für Was und Wen? Herausforderung soziale Sicherung Indonesien: Und was, wenn ich nicht kann? Kinder mit Behinderung

Philippinen: Wenn Krüppel tanzen und Stumme singen

südostasien4 / 2011

Ich bleibe IchMitten im Leben, trotz Krankheit, Behinderungoder Einschränkungen des Alters

Jg. 27, Nr. 4 • 8,- € • K 10791 F

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Südostasien

4 Ich bleibe Ich –Mitten im Leben, trotz körperlicherEinschränkungenSaskia Busch

5 Die Fortschritte im Überblick –Zu behinderten Menschen in derAsien-Pazifik-RegionSaowalak Thongkuay

8 Der lange Weg vom Tabu zu einemselbstbestimmten Leben –Menschen mit Behinderung und Ältere inder karonesischen GesellschaftChristian Hohmann

10 Migration und dieglobale Gesundheitsindustrie –Gesundheitstourismus und Abwanderungvon qualifiziertem GesundheitspersonalDaniel Peters

Vietnam

13 Wer zahlt für Was und Wen? –Soziale Sicherung: Vietnam vor neuenHerausforderungenSandra Kurfürst, Michael Waibel, BrigitteHamm, Jonathan Menge

17 Die Alterung Vietnams –In rasantem Tempo und mit allen ProblemenSaskia Dworschak

19 50 Jahre Agent Orange –Seit der Katastrophe ist Behinderung inVietnam kein EinzelfallStefan Kühner

22 BuchbesprechungImmer noch träume ich von Deutschland(Bruni Prasske)Stefan Kühner

23 NachrichtenEberhard Knappe, Susanne Wünsch

Laos

25 NachrichtenAnke Timmann

Kambodscha

27 Älter werden mit Erblasten –Eine Stadt, eine Geschichte nach den RotenKhmerNorbert Klein

28 NachrichtenStephan Schepers

Burma

30 BuchbesprechungBildung und Entwicklung in einemmultiethnischen Staat (H. Geiger, Hrsg.)Annika Giese

31 NachrichtenAndre Salai

Thailand

33 Kinder mit Behinderungen in Bangkok –Barrieren und Förderfaktoren imBildungswesenMichelle Proyer

36 Hilfe, wir werden alt! –Die Sorge um die alternde Gesellschaft undden sozialen Wandel in ThailandJohn Walsh

38 Kurz nachgefragt –Ist Thailand auf dem Weg,behindertenfreundlich zu werden?Daniel Krauße

40 NachrichtenLisa Hesse

Impressumsüdostasien

Zeitschrift für Politik • Kultur • DialogDiese Zeitschrift ist hervorgegangen aus dem phil-ippinenforum, 10. Jg., und den südostasien infor-mationen, 13. Jg. Die Jahrgangszählung der südost-asien informationen wird fortgesetzt.Unsere Arbeit wird durch den Evangelischen Ent-wicklungsdienst (EED) gefördert.Herausgeber: philippinenbüro e.V. und Verein fürentwicklungsbezogene Bildung zu Südostasien e.V.Anschrift: philippinenbüro, Südostasien Infor-mationsstelle im Asienhaus, Bullmannaue 11,45327 Essen, Tel.: 0201 – 83038-18/-28,Fax: 0201 – 83038-30E-Mail: [email protected]

[email protected]: www.asienhaus.de/suedostasien/Redaktion dieser Ausgabe:

Saskia Busch (v.i.S.d.P.), Lilli Breiningermitgearbeitet haben: Saskia Dworschak, ShaneFischer, Anne Fritsche, Brigitte Geske-Scholz, AnnikaGiese, Maike Grabowski, Ariane Grubauer, BrigitteHamm, Mary Lou U. Hardillo, Lisa Hesse, MarenHeuvels, Esther Hoffmann, Christian Hohmann,Karol Anne M. Ilagan, Ramina Jimenez-David, RolfJordan, Norbert Klein, Eberhard Knappe, DanielKrauße, Stefan Kühner, Sandra Kurfürst, JonathanMenge, Benedikt Nerger, Thi Thuy-An Hguyen,Cornelia Müller, Daniel Peters, Kai Pohlmann, Mi-chelle Proyer, Michael Reckordt, Niklas Reese, And-re Salai, Stephan Schepers, Andreas Schmitz, Chris-tina Schott, Silke Schwarz, Fritz Seeberger, SydneySnoeck, Sara Solive de Guzman, Ruth Streicher,Michael L. Tan, Anke Timmann, Anja Turner,Mechthild von Vacano, Ricarda Wagner, MichaelWaibel, John Walsh, Gabriele Weigt, Rainer Wer-ning, Nina Wieczorek, Katharina Wilkin, NadineWillner, Susanne Wünsch.Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nichtunbedingt die Meinung der Redaktion wieder.Gestaltung der Titelseite: IsmayaSatz: K. Marquardt, HerneDruck: Druckwerk, DortmundAuflage dieser Ausgabe: 1200Berichtszeitraum bis zum 20.11.2011ISSN: 1434-7067Preis: Einzelausgabe 8 € (zzgl. Porto)

Abonnement (4 Ausg./Jahr inkl. Porto)BRD: Einzelpersonen 30 €

Institutions-/Förderabo 50 €Ausland: Einzelpersonen 38 €

Institutions-/Förderabo 60 €Luftpostzuschlag 13 €

Die Abonnementgebühren sind im Voraus fällig.Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, wennes nicht spätestens einen Monat nach Zusendungdes letzten Heftes schriftlich gekündigt wird. FürVereinsmitglieder ist der Bezugspreis im Mitglieds-beitrag enthalten.Konto:Spk. Bochum (BLZ 43050001), Nr. 30302491Copyright: Redaktion und Autor(inn)en; Nach-druck nur nach Absprache mit der Redaktion, Ver-vielfältigung für Unterrichtszwecke erlaubt und er-wünscht.Eigentumsvorbehalt:Nach diesem Eigentumsvorbehalt ist die Zeitschriftso lange Eigentum des Absenders, bis sie den Ge-fangenen persönlich ausgehändigt worden ist. Zur-Habe-Nahme ist keine persönliche Aushändigungim Sinne des Vorbehalts. Wird die Zeitschrift denGefangenen nicht persönlich ausgehändigt, ist siedem Absender mit dem Grund der Nichtaushändi-gung zurückzusenden.Nächster Redaktionsschluss: 30.01.2012

HinweisDie Ausgaben 4/2000, 3/2003, 2/2006 und 3/2007 dersüdostasien hatten die Themen »SozialeSicherungssysteme«, »Gesundheit undBevölkerung«, »Alte Menschen« und »HIV/AIDS«als Schwerpunkt bzw. behandelten sie umfassend.Bestellung unter [email protected] möglich.

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Malaysia

42 NachrichtenNina Wieczorek

Singapur

44 Mehr Demokratie wagen? –Anmerkungen zu den Parlaments- undPräsidentschaftswahlen 2011Rolf Jordan

48 Dokumentation100 Jahre Gefängnis ohne Prozess –Frühere Inhaftierte fordern ISA-Abschaffung

50 NachrichtenNadine Willner

Indonesien

51 Verbesserung der Rechte von Menschenmit Behinderung –Indonesien ratifiziert UN-KonventionTifa Asrianti

52 Strafe Gottes –Das Leben von Behinderten in IndonesienChristina Schott

53 Rette sich wer kann –Kinder mit Behinderung in IndonesienMaren Heuvels

55 Von der Last, zur Last zu fallen –Alltagsleben mit Behinderung in einemjavanischen DorfMechthild von Vacano

57 Im schlimmsten Fall –Behinderung als Folge einer KatatstropheSilke Schwarz

59 NachrichtenAriane Grubauer

Osttimor

61 Die große Chance? –Osttimor und sein Umgang mit körperlichund geistig benachteiligten MenschenAndre Salai

63 Buchbesprechung»Die Freiheit, für die wir kämpfen …«(Myrttinen, Schlicher, Tschanz, Hrsg.)Ruth Streicher

… in Europa

88 Was geht mich das an? –Erstes barrierefreiesentwicklungspolitisches ProgrammBenedikt Nerger

89 Postkartenaktion –Aufklärung des Mordes an Munir SaidThalibEsther Hoffmann

90 Neues aus dem Asienhaus

91 Literaturhinweise

Philippinen

64 Das Dilemma des »Anderssein« –Was ist normal?Michael L. Tan

67 Wenn Krüppel tanzen und Stumme singen –Integration mit KosenamenMary Lou U. Hardillo

69 Die Tortur einer behinderten Athletin –Nicht körperliche, sondern soziale Barrierengilt es zu überwindenRina Jimenez-David

71 Zollt den Alten mehr Respekt –Vom Älterwerden in den PhilippinenSara Soliven de Guzman

73 Ist man immer noch »besonders«,wenn man arm ist? –Zusammenhalt trotz Armut in Familie DivinaKarol Anne M. Ilagan

77 Guerillero der ersten Stunde:Zum Tode von Gregorio Rosal (1947-2011)Rainer Werning

79 DossierDie Mörder von Maguindanao –Der größte Mordprozess der PhilippinenMaike Grabowski

81 Mord im Morgengrauen –Die außergerichtliche Hinrichtung desitalienischen Priesters Fausto TentorioRainer Werning

83 Austausch statt Ausrede –Rundreise zu Menschenrechtsverletzungendurch internationalen BergbauMichael Reckordt

84 NachrufPater Adonis Marcelles von der philippinisch-katholischen Kirchengemeinde in BerlinAndreas Schmitz

85 BuchbesprechungKrone, Kreuz und Krieger (Rainer Werning)Michael Reckordt

86 NachrichtenKatharina Wilkin

Inhaltsverzeichnis

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Sandra Kurfürst, Michael Waibel,Brigitte Hamm & Jonathan Menge

Internationale Geber heben Vietnams Entwicklungs-pfad immer wieder als beispielhaft hervor und sieverweisen dabei besonders auf die vorzeitige Errei-chung einzelner Millennium Development Goals(MDGs). Laut Angaben der UN, die offiziell mit derDokumentation der MDGs betraut sind, wurdeMDG 1, die Halbierung des Anteils der Bevölke-rung, der unter extremer Armut und Hunger leidet,sehr früh erreicht. So konnte die Armut im Landvon 58,1 Prozent im Jahr 1990 auf 14,5 Prozent imJahr 2008 reduziert werden. Auch im Bereich derGesundheitsförderung kann Vietnam eine positiveBilanz verzeichnen. Bereits 2006 hatte VietnamMDG 4, die Verringerung der Kindersterblichkeit,erfüllt. Die Kindersterblichkeitsrate konnte von 44,4pro 1.000 Lebendgeburten im Jahr 1990 auf 16,0im Jahr 2009 gesenkt werden. Ähnliches gilt für dieSterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren.Diese Rate sank von 58,0 pro 1.000 Lebendgebur-ten im Jahr 1990 auf 24,4 im Jahr 2009. In denletzten beiden Dekaden wurde ebenfalls die Ge-sundheit von Müttern verbessert (MDG 5). Die Rateder Müttersterblichkeit nahm von 233 pro 100.000Lebendgeburten (1990) auf 69 im Jahr 2009 ab.Auch für die Bekämpfung von HIV/AIDS, Malariaund der Kontrolle von Epidemien wie SARS, H5N1und H1N1 erhält Vietnam ein gutes Zeugnis.5 Insge-samt ist die Lebenserwartung in Vietnam nach An-gaben der UN – mit 77 Jahren für Frauen und 73Jahren für Männer – vergleichsweise hoch, dies giltinsbesondere für ein Land, welches noch vor weni-gen Jahrzehnten zu den Ärmsten der Welt zählte.Trotz dieser positiven Bilanz mit Hinblick auf dieMDGs steht Vietnam nun als »middle incomecountry« vor neuen Herausforderungen. Dazu zähltvor allem der Aufbau eines sozialen Sicherungssys-tems, um eine nachhaltige sozioökonomische Ent-wicklung zu gewährleisten.

Wer zahlt für Was und Wen?Soziale Sicherung: Vietnam vor neuen Herausforderungen

Im Jahr 2010 hat die Weltbank Vietnam erstmals als »middle incomecountry« klassifiziert. Für internationale Geberorganisationen bedeutetdies einen allmählichen Rückzug von Armutsbekämpfungsprogrammenund eine Umstrukturierung ihrer Projektportfolios. Als ein neuerSchwerpunkt steht nun der Auf- und Ausbau von sozialen Sicherungssys-temen ganz oben auf der Agenda.

Die Autorinnen und Autoren beschäftigen sich mit dersozialen Verantwortung von Unternehmen (CorporateSocial Responsibility) in der vietnamesischen Beklei-dungsindustrie im Rahmen eines geplanten Kooperati-onsprojektes zwischen dem Institut für Entwicklung undFrieden der Universität Duisburg-Essen, dem Institut fürGeographie der Universität Hamburg und der Vietname-sischen Akademie für Sozialwissenschaften (VASS).

Alte Menschen erhalten vom Staat oft nur geringe Transferzahlungen.Foto: M. Waibel

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Die kippende Alterspyramide – eine Herausforderung

Bei der Einführung eines solchen Systems stellen sichdiverse Herausforderungen für Vietnam. Hier ist zumeinen die kippende Alterspyramide zu nennen. Husaund Wohlschlägl2 weisen darauf hin, dass die Alters-gruppe der 60-Jährigen bald die der unter 15-Jährigenleicht überwiegen wird. Ein Grund für diese »kopflasti-ge« Tendenz ist auch die abnehmende Geburtenrate.Als Folge der dynamischen Wirtschaftsentwicklungund veränderter Lebensstilpräferenzen ist die Gebur-tenrate in Vietnam in der letzten Dekade von 2,3 auf2,0 Kinder pro Frau gesunken. In den Städten be-kommen Frauen mittlerweile durchschnittlich sogarnur noch 1,8 Kinder1,ein Wert unter demReproduktionsniveau.Diese Entwicklung wirdzudem begleitet vomWegfall herkömmlicherSicherungssysteme.Traditionell bildet dieFamilie das Netz dersozialen Sicherung, dasalte und kranke Men-schen auffängt. So le-ben ältere Menschen inVietnam meistens imHaushalt des Sohnes.Ihre Pflege und Versor-gung wird dann in derRegel von der Schwie-gertochter übernom-men.2 Diese Form desZusammenlebens meh-rerer Generationenunter einem Dach un-terliegt jedoch einemWandel. Insbesonderein den MetropolenVietnams zeigt sich diePluralisierung von Le-bensstilen am deut-lichsten. Hier findensich immer mehr Haushalte, in denen nur noch dieKernfamilie zusammen wohnt. Auch im ländlichenRaum bricht das familiäre Sicherungsnetz immer wei-ter auf, da viele in die Städte abwandern, wo höhereEinkommen locken.

Vor diesem Hintergrund wird eine individuelleAlters- und Gesundheitsfürsorge auch in Vietnamimmer wichtiger.

Gesundheitsversorgung in Vietnam

Die staatliche Gesundheitsversorgung in Vietnambegann mit einer gebührenfreien Bereitstellung von

Basisgesundheitsdiensten in der Zeit von 1954-1975. Im Kontext der sozialistischen Bruderhilfewurden auch das Kubanisch-Vietnamesische unddas Deutsch-Vietnamesische Krankenhaus in Hanoierrichtet. Nach der Wiedervereinigung im Jahr1975 stand Vietnam vor der Aufgabe, im Süden einVersorgungsnetz auf lokaler Ebene aufzubauen.Dieses Vorhaben wurde jedoch durch die Emigrati-on von Fachärzten und die Einstellung der Ent-wicklungshilfe aus dem Ostblock erschwert. Die1980er Jahre sahen einen drastischen Rückgang derstaatlichen Ausgaben für Gesundheit. Die Verab-schiedung umfassender ökonomischer Reformen imRahmen von Doi Moi brachte eine Liberalisierung

des Gesundheitssek-tors mit sich. WichtigeReformen in diesemBereich waren dieEinführung von Nut-zungsgebühren, derVerkauf von Medika-menten in öffentli-chen Einrichtungensowie die Legalisie-rung privater ärztli-cher Betreuung.4

1992 führte die viet-namesische Regierungdas erste Gesund-heitsversiche-rungsprogramm ein.Das Programm setztsich aus einer Pflicht-versicherung und ei-ner Freiwilligenversi-cherung zusammen.Anbieter der beidenVersicherungssystemeist das Staatsunter-nehmen Vietnam So-cial Security (VSS).

Die Pflichtversiche-rung besteht aus zweiSubsystemen. Beim

ersten Subsystem werden an die Einkommenshöhegekoppelte Abgaben abgeführt. Dieses System um-fasst Staatsbedienstete und Angestellte des formel-len Sektors. Zu letzteren zählten zu Beginn vor al-lem Arbeitnehmer aus staatlichen Betrieben. 1997waren allerdings lediglich zwölf Prozent der Bevöl-kerung in diesem Programm versichert. Seit neues-tem sind auch private Unternehmen verpflichtet,ihre Arbeitnehmer anzumelden. Familienmitgliedersind jedoch von der Versicherung ausgeschlossen.Die Mitglieder dieser Versicherung müssen drei Pro-zent ihres Bruttoeinkommens einbezahlen, wobeider Arbeitnehmer ein Prozent und der Arbeitgeberzwei Prozent trägt.

Hauptsache, nicht allein –Gemeinsamer Zeitvertreib ist beliebt, bei Frauen … Foto: M. Waibel

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Das zweite Subsystem bildet eine Versicherungohne Beitragspflicht ursprünglich für Kriegsvetera-nen, pensionierte Mitglieder der Regierung, Mitglie-der des Parlaments, Kriegshelden und deren Müttersowie Offizielle der Kommunistischen Partei, welchedann auf Kinder unter sechs Jahren ausgeweitet wur-de. Seit dem Inkrafttreten der Decision No. 139 imJahr 2003 werden auch besonders arme Bevölke-rungsgruppen in diesem System gesetzlich versichert.Decision No. 139 zielt auf Bürger ab, die in extraklassifizierten Kommunen leben sowie auf Angehöri-ge ethnischer Minoritäten. Für diese beiden Gruppenmuss die Provinzregierung aufkommen. Die Provin-zen erhalten allerdings 100 Prozent Subventionen zurZahlung der Versicherungsbeiträge von der Zentral-regierung. Von den insgesamt 20 Millionen Men-schen, die im Rahmen der Decision No. 139 berech-tigt sind, haben bisher jedoch fünf Millionen nochkeinen Zu-gang zurKrankenversi-cherung.4

Die Frei-willigenversi-cherungrichtet sichan Studie-rende undFamilienmit-glieder vonPflichtversi-cherten. Sieverfügt überzwei einheit-liche Bei-tragssätze,einen fürländliche Re-gionen undeinen etwashöheren für die Städte. Eine Gruppenregistrierungsoll Risiken bündeln und zwischen gesunden Mitglie-dern und solchen differenzieren, bei denen ein höhe-rer Pflegeaufwand wahrscheinlich ist. So konntenBildungseinrichtungen Schüler und Studierende nurregistrieren, wenn 30 Prozent von ihnen der Versi-cherung beitraten. 2007 verlagerte sich der Fokusvon der Gruppen- auf die Haushaltsversicherung, diealle Mitglieder eines Haushalts einschließt.6,4

Das Leistungspaket ist für fast alle Versichertengleich. Es beinhaltet nahezu alle ambulanten undstationären Pflegeleistungen, die von staatlichen Ein-richtungen bereitgestellt werden. Mittlerweile erfasstdas Pflicht- und Freiwilligenversicherungssystem derKrankenversicherung zusammengenommen etwa 60Prozent der vietnamesischen Bevölkerung (Interviewmit M. Meissner). Jedoch ist Krankengeld nicht Be-standteil dieses System. Dieses ist Teil einer Sozial-

versicherung, welche auch Entgeltersatzleistungenwie Arbeitslosengeld und Rente erbringt. In diesemSystem sind jedoch derzeit nur ca. neun MillionenErwerbstätige erfasst, das sind weniger als 20 Prozentaller Beschäftigen.7

Der Versicherer VSS kommt jedoch nur für ca. 13Prozent der Gesamtausgaben für Gesundheit auf.4

Somit wird ein großer Teil der anfallenden Kosten fürmedizinische Behandlungen immer noch aus eigenerTasche bezahlt.6 Daraus resultiert sicher auch diegroße Unzufriedenheit und Skepsis, mit der weiteTeile der Bevölkerung der staatlichen Gesundheits-versorgung begegnen. Die mangelnde Akzeptanz derstaatlichen Sozialversicherungssysteme zeigt sich auchdaran, dass offenbar viele Arbeitgeber ihre Arbeit-nehmer offiziell nur mit dem Mindestlohn registrie-ren, um Sozialabgaben einzusparen. Dabei kommt esvermehrt zu informellen Absprachen zwischen Ar-

beitgebernund Arbeit-nehmern. Aufdem Papierwird derstaatlich ge-regelte Min-destlohn an-gegeben, defacto erhaltendie Arbeiteraber höhereLohnzahlun-gen. Arbeit-nehmer las-sen sich dar-auf ein, dasie für medi-zinische Be-handlungenohnehin eine»inoffizielle«

Gebühr entrichten müssen.

Die fatalen Auswirkungen für das Gesundheitssystem

Diese Praxis hat fatale Auswirkungen für die staatli-chen Steuereinnahmen sowie die Einzahlungen indas Gesundheitssystem. Bürger argumentieren, dassdie Gesundheitsversorgung keine Fortschritte zeigenwürde. Da sie ohnehin für jede erbrachte ärztlicheLeistung selber zahlen müssen, sehen sie die Not-wendigkeit der Beitragszahlung nicht ein. Sobald siees sich leisten können, bevorzugen sie eine Behand-lung in einer privaten Klinik. Die dortige Behandlungist zwar deutlich teurer als in staatlichen Einrichtun-gen, dafür sind aber auch die Standards höher unddie Betreuungsleistungen besser. Die boomartigeEntwicklung privater Krankenhäuser in Vietnams

… so wie bei Männern. Foto: M. Waibel

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Metropolen kann somit einerseits als ein positivesZeichen der Entwicklung einer zunehmend kaufkräf-tigen Mittelschicht gesehen werden, steht aber ande-rerseits auch für strukturelle Defizite der staatlichenGesundheitsinfrastruktur. Es droht eine Zweiklassen-gesellschaft im Gesundheitsbereich, in der die Armenauf die unzureichende staatliche Versorgung zurück-greifen müssen, während die Wohlhabenden Zah-lungen in das öffentliche System zu vermeiden (undes dadurch schwächen), weil sie ohnehin höherwer-tige Gesundheitsdienstleistungen im privaten Sektoreinkaufen.

Das Spannungsfeld zwischen Staat und Marktstellt das Dilemma dar, in dem sich derzeit das viet-namesische Gesundheitssystem befindet. Für denAufbau eines öffentlichen Systems der sozialen Siche-rung bedarf es eines entsprechenden Haushalts. InDeutschland finanziert sich dieser aus den Beiträgender Arbeitnehmer und Arbeitgeber und funktioniertweitgehend nach dem Solidaritätsprinzip. So langejedoch bei Arbeitnehmern und Unternehmen inVietnam keine Akzeptanz für die Beitragszahlungherrscht, ist es schwierig, ein Netz der sozialen Siche-rung zu etablieren und damit die Qualität der staatli-chen Gesundheitsversorgung zu verbessern. Um die-sem Dilemma zu entkommen, erscheint ein neuesZusammenspiel zwischen den relevanten Akteurennotwendig. Neben dem Staat müssen auch Unter-nehmen Verantwortung für die soziale Sicherung ü-

bernehmen, zum Beispiel indem sie die real anfal-lenden Lohnnebenkosten zahlen und damit den rea-len Arbeitgeberanteil in die Sozialversicherung ein-zahlen. Die Verantwortung der Arbeitnehmer hinge-gen ist es, selbst dafür Sorge zu tragen, dass die Sozi-albeiträge adäquat entrichtet werden, um ein besse-res Gesundheitssystem aufzubauen. Aber auch demPersonal in staatlichen Gesundheitseinrichtungenkommt eine Verantwortung zu. Sie sind zurecht un-zufrieden mit den vergleichsweise niedrigen Löhnen,

die sie erhalten, aber sollten es auf Dauer nicht alsselbstverständlich erachten, dass sie nur Leistungenerbringen, wenn die Patienten über den staatlichfestgelegten Rahmen hinaus Extrazahlungen leisten.

Insgesamt zeigt sich die Dringlichkeit, das Anlie-gen der sozialen Sicherung in Vietnam verstärkt aufdie politische Agenda zu setzen. Dies hat auch dievietnamesische Regierung erkannt. So untersucht bei-spielsweise ein beim Arbeits- und Sozialministerium(MOLISA) angesiedeltes Projekt, wie Systeme der so-zialen Sicherung in der informellen Wirtschaft veran-kert werden könnten. Auch die regierungsnahe Viet-namesische Akademie für Sozialwissenschaften(VASS) erforscht die Übertragbarkeit unterschiedli-cher Modelle der sozialen Sicherung auf die vietna-mesische Situation. Dazu fand im Sommer 2011 eineInformationsreise von Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftlern der VASS nach Deutschland statt. Dar-über hinaus messen internationale Geber dem Prob-lem der sozialen Sicherung in Vietnam eine zuneh-mende Bedeutung bei. Immer mehr Geber habenetwa bereits erkannt, dass es notwendig ist, Sozial-politiken nicht nur konzeptionell, sondern auch imRahmen der Implementierung zu begleiten.7 Es hatallerdings den Anschein, dass hier die so genanntedonor harmonization auf der Strecke bleibt undstattdessen unterschiedliche Geber eher konkurrie-rende Modelle vorschlagen. Unklar sind bisher dieEinflussmöglichkeiten ausländischer Unternehmen,die in Vietnam investieren oder auch einkaufen. Siesollten dieses Thema als Bestandteil ihrer Nachhal-tigkeitspolitik und als Aufgabe ihrer sozialen Verant-wortung verstehen.

Literatur

1) GSO, General Statistics Office, 2010, Vietnam StatisticalYearbook 2010.

2) Husa, Karl und Helmut Wohlschlägl, 2008, »Demographi-scher Wandel, Dynamik des Alterungsprozesses und Lebens-situationen älterer Menschen in Südostasien«, in: Husa, Karl;Jordan, Rolf , Helmut Wohlschlägl, Hrsg., Ost- und Südost-asien zwischen Wohlfahrtsstaat und Eigeninitiative. Wien: In-stitut für Geographie und Regionalforschung, 139-164.

3) Kurfürst, Sandra, 2010, »Die Krise des kleinen Drachens –Vietnams Arbeiter gehen auf die Straße«, Südostasien, 2,.

4) Lieberman, Samuel and Adam Wagstaff, 2009, Health Fi-nancing and Delivery in Vietnam. Looking Forward. TheWorld Bank.

5) UN Vietnam, 2010, Vietnam and the MDGs.6) World Bank, 2007, Vietnam Development Report 2008: So-

cial Protection. Hanoi.7) Interview mit M. Meissner, CIM-Experte am ILLSA, MoLISA,

Hanoi, 13.09.2011

Glück hat, wer im Alter für sich selbst sorgen kann.Foto: M. Waibel