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Aus:

Hildegard Kernmayer, Simone Jung (Hg.)

FeuilletonSchreiben an der Schnittstellezwischen Journalismus und Literatur

Dezember 2017, 398 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3722-9

Das Feuilleton, entstanden um 1800 in der Pariser Presse, überdauert – als Ressort,als journalistisch-literarische Gattung und als Schreib- und Denkweise – die Medien-brüche des 20. und 21. Jahrhunderts. Seit jeher Ort des Ästhetischen im publizistisch--ökonomischen Pressewesen, entfaltet es seine komplexe Poetik bis heute im Span-nungsfeld von journalistischer Sachgebundenheit und literarischer Verwandlungsfrei-heit, von (kultur-)politischer Debatte und flüchtigem Sprachspiel, von sachlicher Kritikund subjektiver Gestimmtheit.Die literaturwissenschaftlichen, medienhistorischen und mediensoziologischen Bei-träge des Bandes folgen dem feuilletonistischen Schreiben auf seinem Weg von derZeitung zum Blog und fragen nach der medialen und kulturellen Funktion des Feuil-letons als diskursiver Raum und Ort der kulturellen Selbstverständigung.

Hildegard Kernmayer (Assoz. Prof. Dr.) forscht und lehrt an der Universität Graz zuFragen der Ästhetik und Poetik in der Literatur und Publizistik des 18. bis 21. Jahr-hunderts.Simone Jung forscht am Institut für Soziologie an der Universität Hamburg über dasPolitische im Feuilleton der Gegenwart.

Weitere Informationen und Bestellung unter:www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3722-9

© 2017 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Feuilleton. Interdisziplinäre Annäherungen

an ein journalistisch-literarisches Phänomen

Hildegard Kernmayer und Simone Jung I 9

DAS FEUILLETON ALS FORM UND ALS SCHREIBWEISE

Unterm Strich. Über Grenzverläufe des klassischen Feuilletons

Erhard Schütz I 31

Zur Frage: Was ist ein Feuilleton?

Hildegard Kernmayer I 51

»Beim Genick packen und hinauswerfen!« Anton Kuhs Aversion

gegen den ›Feuilletonismus‹ als Weltanschauung

Walter Schübler I 67

»Der neue Feuilletonist in Deutschland marschiert auf der

Straße mit«. Die Konzeption einer ›deutschen‹ Textgattung in

der zeitungswissenschaftlichen Forschung Wilmont Haackes

Bettina Braun I 79 FEUILLETON UND REPORTAGE

An der Schnittstelle von Faktizität und Fiktionalität.

Zum Grenzgängertum der Prager Autoren Jan Neruda und Egon

Erwin Kisch zwischen Journalismus, Feuilleton und Literatur

Irina Wutsdorff I 105 Reportage und Feuilleton. Antipoden im Gleichschritt?

Zur operativen Publizistik Elisabeth Jansteins

und

Klara

Mautners

Martin Erian I 125

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FEUILLETON UND LITERATUR

Lyrische Porträts im Feuilleton der Prager Presse am Beispiel

von Robert Walsers Gedicht An Georg Trakl (1928)

Sabine Eickenrodt I 151

Selbstreflexion und Poetik der Kritik und des Feuilletons am

Beispiel der Kritiken und Essays Max Herrmann-Neißes

Sibylle Schönborn I 181 Ein »leichter und zierlicher Ton«.

Emmy Hennings als Literaturkritikerin

Christa Baumberger I 197 Vom Schreiben, Tanzen und Musizieren.

Vicki Baums feuilletonistische Betrachtungen über

künstlerische Ausdrucksformen

Veronika Hofeneder I 217 Das Interview. Quantitative und qualitative Aspekte

einer feuilletonistischen Form

Marc Reichwein und Michael Pilz I 237

DAS FEUILLETON ALS ORT DER DEBATTENKULTUR

Hochkultur, Populärkultur, Pop. Zur medialen Inszenierung von

Konflikten im Feuilleton am Beispiel der Volksbühnen-Debatte

Simone Jung I 261 Werturteile im heutigen Feuilleton der Süddeutschen Zeitung,

der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Zeit Thomas Hecken I 287 Intellektuelle und das Debattenfeuilleton. Szenen einer Liaison

Andreas Ziemann I 307

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Öffentliche Kommunikation als Befindlichkeitskommunikation.

Zur Debattenkultur auf Facebook

Elke Wagner und Niklas Barth I 325 Facebook-Debatten. Die Anti-Rhetorik der neuen Affektkulturen

Nadja Geer I 341

ZUR ZUKUNFT DES FEUILLETONS

Mechanik und Melancholie oder: Was der Kulturjournalismus

in Zukunft leisten muss

Guido Graf I 357

Denken zwischen Ästhetik und Ökonomie.

Zur Lage des Feuilletons

Podiumsdiskussion mit Doris Akrap, Ekkehard Knörer, Sigrid Löffler und Lothar Müller I 375

Autorinnen und Autoren I 391

Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer I 395

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Feuilleton. Interdisziplinäre Annäherungen an

ein journalistisch-literarisches Phänomen

HILDEGARD KERNMAYER UND SIMONE JUNG

1. KONTINUITÄTEN UND BRÜCHE – ZUR GESCHICHTE DES FEUILLETONS

In den Jahren um 1800 verlängern etliche französische Zeitungen das Seitenfor-mat ihrer Paris-Ausgaben um etwa ein Drittel. Der neu gewonnene Raum am un-teren Seitenende, der durch einen Strich und auch typographisch vom Berichtsteil der Zeitung abgesetzt wird, ist fortan dem ›Feuilleton‹ vorbehalten. Ursprünglich ein Terminus technicus des Buchbinder- und Druckereigewerbes, bedeutet ›Feuil-leton‹ - wie Hans Mattausch bereits 1964 darlegt – im 18. Jahrhundert vorerst nichts anderes als »Faszikel, der ein Drittel eines Druckbogens umfaßt«1. Im Du-odezformat etwa, bei dem aus einem Druckbogen 24 bedruckte Seiten gewonnen wurden, bildeten die Seiten 17 bis 24 den Faszikel, also das Beiheft. Diese formal-technische Unterteilung des Druckbogens ist spätestens seit den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts belegt.2 Mit seiner Popularisierung in den 1790er Jahren avanciert der Begriff ›Feuilleton‹ jedoch zur Bezeichnung für die zahlreichen pub-lizistischen Kleinformate (meist agitatorischen Inhalts), die im Umfeld der fran-zösischen Revolution entstehen und die landläufig »petites feuilles journalis-tiques« oder in Verdoppelung des Diminutivs und etwas abschätzig »feuilletons

1 Mattausch, Hans: »Der vermutlich früheste Beleg für das Wort ›Feuilleton‹«, in: Pub-

lizistik. Zeitschrift für die Wissenschaft von Presse, Rundfunk, Film, Rhetorik, Wer-

bung und Meinungsbildung 9 (1964), Heft 3, S. 273-274, hier S. 273.

2 Oscarsson verweist diesbezüglich auf den Band L’Art du relieur doreur de livres aus

dem Jahr 1772. Vgl. Oscarsson, Ingemar: »De supplément indépendant à un rez-de-

chaussée sous le filet«, in: Annales historiques de la Révolution française (1993),

Heft 292, S. 269-294, hier S. 269.

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10 I HILDEGARD KERNMAYER UND SIMONE JUNG

pygmées« genannt werden.3 Zudem betiteln aber auch die großen postrevolutio-nären Pariser Tageszeitungen ihre Beilagen (›suppléments‹) als ›Feuilletons‹. Die Einrichtung dieser Beilagen – die erste findet sich bereits 1789 im Journal de Pa-

ris – hat raum- und distributionsökonomische Gründe. Mit der ab 1789 immer umfänglicher werdenden innen- und außenpolitischen Berichterstattung stehen die Redaktionen vor einem Raumproblem. Die einzige Möglichkeit, das Raumange-bot der Zeitung zu vergrößern, liegt angesichts der eingeschränkten drucktechni-schen Möglichkeiten in der Einrichtung von Beilagen. Durch diese bleibt das ›ei-gentliche‹ Corpus der Zeitungen in den Jahren nach der Revolution den umfassen-den Berichten von den Sitzungen der Nationalversammlung, den Wirtschaftsnach-richten sowie den politischen Kommentaren vorbehalten. Ins ›Feuilleton‹ hinge-gen wird ausgelagert, was im Hauptteil der Blätter keinen Raum findet und vorerst auch nur für einen Teil der Leserinnen und Leser als relevant erachtet wird, näm-lich das Pariser Theaterprogramm, die Annoncen, die für den wirtschaftlichen Be-stand der Zeitungen vor 1800 offensichtlich noch nicht von Bedeutung sind, oder auch die ersten Leserbriefe – insgesamt das, was in späteren Zeitungen unter ›Ver-mischtes‹ firmieren wird. Separat gedruckt, wird das ›Feuilleton‹ nur den Paris-Ausgaben der Zeitungen beigelegt, wodurch sich die Auslieferung der ›eigentli-chen‹, weil politischen Blätter in die ›Provinz‹ beschleunigt.4

In der Einrichtung der Beilagen, die dem Feuilleton seinen Ort, seine Gegen-stände und Funktionen zuweisen, spiegelt sich aber auch eine Werthaltung, die die weitere Wahrnehmung sowohl der Rubrik wie auch des Genres bestimmen wird. Das Feuilleton, ein Produkt der französischen Revolution,5 repräsentiert und ver-handelt in deren Zeitungen das der Politik Entgegengesetzte, mithin das ›Unwe-sentliche‹. Als dieses figuriert vorerst das Merkantile. Mit dem Ausbau des Feuil-letons und der Auslagerung der Annoncen in eigene Annoncenteile6 wandern in

3 Vgl. ebd., S. 270.

4 Vgl. ebd., S. 274-276.

5 Vgl. ebd., S. 276. – Vgl. auch Fontius, Martin: »Kritisch/Kritik«, in: Karlheinz Barck

et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden,

Band 3: Harmonie – Material, Stuttgart: Metzler 2001, S. 450-489, hier S. 475.

6 Das Journal des Débats etwa lagert die Annoncen erst am 1. Dezember 1827 in einen

eigenen Anzeigenteil aus und erhöht gleichzeitig ihre Zahl. Die Maßnahme ist auch eine

Reaktion auf den Erlass eines Pressegesetzes, in dessen Folge sich die Distributions-

kosten der Zeitung drastisch erhöhen und das Blatt sich gezwungen sieht, verstärkt Wer-

beeinnahmen zu lukrieren. Vgl. Viollat, Georges: »A travers le feuilleton (1800–

1830)«, in: Le Livre du centenaire du Journal des Débats 1789-1889, Paris : Plon 1889,

S. 582-588, hier S. 586. Mit der Gründung von Emile de Girardins Zeitung La Presse

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EINLEITUNG I 11

die Rubrik aber vermehrt literarische Texte ein, handle es sich um Romane, No-vellen, Fabeln, Märchen, Dramen, Epigramme, Aphorismen oder aber um jene nicht-fiktionalen Prosatexte an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Lite-ratur, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zur polyfunktionalen Gattung des Feuilletons verfestigen. Als das ›Andere‹ der Politik firmiert nunmehr das als ›äs-thetisch‹ qualifizierte Feuilleton, eine Zuschreibung, die – je nach Standpunkt – Anlass zu Überhöhung oder zu Abwertung gibt.

Auch das Feuilleton des Journal des Débats – zwar nicht die erste Zeitung der Pressegeschichte mit einem eigenen Feuilleton ›unter dem Strich‹,7 aber dennoch jenes Blatt, dessen Feuilleton im 19. Jahrhundert europaweit richtungsweisend für die Entwicklung sowohl der Rubrik wie auch des Genres sein wird – erscheint ab dem 28. Januar 1800 noch eine Zeitlang in zwei Ausgaben unterschiedlichen For-mats: in einer für Paris bestimmten, die die verlängerten Seiten mit dem Feuilleton aufweist, und einer kleinformatigen für die ›Provinz‹ bestimmten Ausgabe ohne Feuilleton. Das Feuilleton du Journal des Débats, wie der Teil ›unter dem Strich‹ betitelt wird, weist dabei die für die Zeit typische Gestalt auf: Es enthält das Pari-ser Theaterprogramm, Werbeeinschaltungen von Buchhandlungen und Drucke-reien, gereimte Rätsel, kleine Prosaskizzen etwa zu historischen Ereignissen, aber auch offiziöse Kundmachungen und nicht zuletzt Buchbesprechungen und Thea-terkritiken.

Julien-Louis Geoffroy, der ab dem 2. März 1800 und bis zu seinem Tod im Jahr 1814 das Feuilleton-Ressort des Journal des Débats leitet und dem Balzac 1843 den Beinamen »le père du feuilleton«8 verleihen wird, versteht die Rubrik in erster Linie als Ort der Theaterkritik. Er nützt sie vornehmlich als Forum zur Ver-breitung seines ästhetischen Ideals des Klassizismus und sucht in seinen eigenen Artikeln – auch vor dem Bildungsvakuum im nachrevolutionären, von sozialen

im Jahr 1836 entsteht in Paris schließlich die erste Tageszeitung, die nach rein markt-

wirtschaftlichen Gesichtspunkten geführt wird.

7 Ingemar Orscarsson hat nachgewiesen, dass die Pariser Tageszeitung Le Propagateur

als erste Zeitung der Pressegeschichte am 1. Juli 1799 ein Feuilleton ›unter dem Strich‹

einführt. Anders als vielfach behauptet weist das Feuilleton des Journal des Débats vor

1800 auch keine Feuilletonbeilage auf. Vgl. Oscarsson: De supplément indépendant à

un rez-de-chaussée sous le filet, S. 286. – Vgl. dazu auch Kernmayer, Hildegard: »Feuil-

leton. Eine medienhistorische Revision seiner Entstehungsgeschichte«, in: Zeitschrift

für Germanistik, N. F. 28 (2018), Heft 1, S. 131-136.

8 Balzac, Honoré de: »Monographie de la presse parisienne (1843)«, in: H. d. B., Les

Journalistes. Monographie de la presse parisienne. Les Salons littéraires, Paris: Arléa

1998, S. 13-144, hier S. 98.

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12 I HILDEGARD KERNMAYER UND SIMONE JUNG

Umwälzungen geprägten Frankreich – »zur literarischen Erziehung der Nation«9 beizutragen. So betreibt der konservative Kritiker insbesondere die Restauration des klassischen französischen Dramas des 17. Jahrhunderts. Er propagiert die Dra-men Racines und Corneilles gegenüber denen des Aufklärers Voltaire und leitet in Frankreich einen wahren »culte de Molière«10 ein. Die Gesamtheit seiner Feuil-letons möchte Geoffroy als großes systematisches Werk zur Literaturgeschichte verstanden wissen.11 Dass seine Feuilletonartikel ihre bildungspolitischen Ziele nicht verfehlen, erhellt auch aus der Tatsache, dass diese in gesammelter Form im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts unter dem Titel Cours de littérature drama-

tique12 Eingang in den Literaturunterricht der französischen Schulen finden.13 Ungeachtet ihrer Verankerung in der klassizistischen Ästhetik und Rhetorik

des 18. Jahrhunderts und in der Tradition der ›Gelehrten Zeitschriften‹ leiten Ge-offroys Rezensionen jedoch auch den Wandel des Besprechungswesens und damit die Entstehung der modernen Feuilletonistik ein. Besonders Geoffroys Credo, wo-nach eine Kritik mit Esprit, Witz und Eleganz Wesentliches wie Nebensächliches darlege,14 scheinen seine Nachfolger im Journal des Débats, allen voran Jules Ja-nin, aber auch die Promotoren des französischen Feuilletons in der deutschspra-chigen Publizistik zu dem ihren zu machen. Wenn deren Feuilletons vielfach auch nicht mehr vom ästhetischen Furor und dem literarhistorischen Sendungsbewusst-sein getragen werden, die noch die Texte Geoffroys geprägt haben, in ihnen immer häufiger die Form zum Inhalt wird, so lösen sie umgekehrt das Genre endgültig aus der rhetorischen Tradition der Aufklärungspublizistik. Die Exekution des Re-gelwerks der antiken Rhetorik, der Rekurs auf Quintilian, die Nachahmung der Ciceronitas, die die Geoffroy’schen Feuilletons noch über weite Strecken bestim-

9 Jakoby, Das Feuilleton des ›Journal des Débats‹, S. 26.

10 Lemaître, Jules: »La critique dramatique. Geoffroy – Jules Janin«, in: Le Livre du cen-

tenaire du Journal des Débats, S. 416-426, hier S. 418.

11 Vgl. Des Granges, Charles-Marc: Geoffroy et la critique dramatique sous le Consulat

et l’Empire (1800–1814). Thèse présentée à la Faculté des lettres de l’université de Pa-

ris, Paris: Hachette 1897, S. 141.

12 Vgl. Julien-Louis Geoffroy: Cours de littérature dramatique ou receuil par ordre de ma-

tières des feuilletons, précédé d’une notice sur sa vie et ses ouvrages par Etienne Gosse,

6 Bände, 2. Aufl. Paris: Blanchard 1825.

13 Vgl. Lemaître, La critique dramatique, S. 416.

14 Vgl. Geoffroy, Julien-Louis: »[Ohne Titel]«, in: Journal des Débats vom 26.04.1808.

Hier zitiert nach: Des Granges, Charles-Marc: Geoffroy et la critique dramatique sous

le Consulat et l’Empire (1800–1814). Thèse présentée à la Faculté des lettres de l’uni-

versité de Paris, Paris: Hachette 1897, S. 199.

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EINLEITUNG I 13

men, die syntaktisch mitunter behäbigen Gesten der Entgegensetzung, des Abwä-gens, des Vergleichs, der Häufung, die – so die Kritiker Geoffroys – nur von meist misslungenen Kalauern und Wortspielen konterkariert werden15, weichen in der ›modernen‹ Feuilletonistik zunehmend jenem Assoziationsstil, der – so wiederum dessen Kritiker – alles jener »Oberflächenbehandlung«16 zuführe, die der »Kunst des Plauderns über Nichts und Alles, über Null und All«17 gemäß sei.

Schuldet sich die Entstehung des Feuilletons eher ökonomischen Notwendig-keiten denn innerliterarischen Entwicklungen, so sind umgekehrt auch seine for-male Ausdifferenzierung und die Erweiterung seines thematischen Spektrums auf die Einbettung des Genres ins Merkantile zurückzuführen. Denn mit dem Auszug der Annonce aus dem Feuilletonteil und dem um die Jahrhundertmitte europaweit einsetzenden ›Zeitungsgründungsboom‹ erhöht sich der Bedarf an – wie Hermann Hesse sie nennt – »nichtigen Interessantheiten«18. Somit wird die Rubrik vorerst auch weiterhin mit kurzen Notizen meist kurioser Art, Witzen, Rätseln oder Apho-rismen gefüllt. Daneben bringt jedoch der Raum ›unter dem Strich‹ in den folgen-den Jahrzehnten immer neue Varianten der kleinen Prosaform hervor. Parallel zur Theater-, Literatur- und Musikkritik etabliert sich etwa ein kunstkritisches Feuil-leton. Zeitgleich mit den Textsorten des Lokalfeuilletons, des Reisefeuilletons, des Korrespondentenfeuilletons entstehen auch das naturwissenschaftliche und das biographische Feuilleton sowie die Stimmungsskizze oder die politische Wo-chenchronik. Stofflich unbegrenzt, erscheinen Feuilletons in den großen Tages-zeitungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als satirische Kommentare zum tagespolitischen Geschehen, als ästhetisch informierte Kunst-, Literatur- oder Musikkritiken, als impressionistische Prosaskizzen, als philosophische Denkbil-der, als essayistische Abhandlungen über sozioökonomische Phänomene und vie-les mehr. Schließlich lässt der spätestens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzende Prozess der ›Feuilletonisierung‹ des Mediums, also die »völlige

15 Des Granges, Geoffroy et la critique dramatique, S. 194f. – Vgl. auch D[uva]l,

G[eorge]s: Calembourgs de l’abbé Geoffroy, faisant suite à ceux de Jocrisse et de Mme

Angot, ou Les auteurs et les acteurs corrigés avec des pointes. Ouvrage piquant, Paris:

Brasseur an XI [1803].

16 Stoessl, Otto: »Ludwig Speidel«, in: Die Fackel 7 (1906) Heft 197, S. 1-8, hier S. 2. 17 Haacke, Wilmont: »Das Feuilleton in Zeitung und Zeitschrift«, in: Emil Dovifat (Hg.),

Handbuch der Publizistik, Band 3: Praktische Publizistik, 2. Teil, Berlin: de Gruyter

1969, S. 218-236, hier S. 235.

18 Hesse, Hermann: »Das Glasperlenspiel. Versuch einer allgemeinverständlichen Einfüh-

rung in seine Geschichte«, in: H. H., Gesammelte Dichtungen, Band 6, Frankfurt

a.M./Berlin: Suhrkamp 1952, S. 79-116, hier S. 90.

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14 I HILDEGARD KERNMAYER UND SIMONE JUNG

Durchdringung der Zeitung mit feuilletonistischem Stoff, Stil, Geist und feuille-tonistischer Gesinnung«19, die Ressortgrenzen zusehends verschwimmen.

Mit der ›Feuilletonisierung‹, sprich: Literarisierung des Journalismus – Ge-genstand der zahlreichen Feuilletonkritiken von Kraus bis Adorno – geht umge-kehrt die Politisierung des Literarischen einher. Diese äußert sich in der deutsch-sprachigen Feuilletonistik bereits in ihren ›Gründungstexten‹, in Heinrich Heines ab 1824 verfassten Reisebildern sowie in Ludwig Börnes zwischen 1830 und 1833 entstandenen Briefen aus Paris. Die Literarisierung der Publizistik generiert in diesen Texten nicht nur jenen ›modernen‹ Prosastil, den Subjektivität, Beweglich-keit und Leichtigkeit sowie die Nähe zur gesprochenen Sprache charakterisieren, sondern sie ist darüber hinaus ausdrücklich an ein politisches Begehren geknüpft. Anders als die ›gelehrten‹ Abhandlungen in der Publizistik des 18. Jahrhunderts spreche die neue Schreibweise nämlich – so Ludwig Börne bereits 1826 in seinen Bemerkungen über Sprache und Stil – die ›Gefühle‹ der Leserinnen und Leser an und vermöge somit unmittelbar zu wirken.20 Gerade die Eigenschaften der Sub-jektivität, der Leichtigkeit und Wendigkeit qualifizierten die neue Schreibweise auch als ›Waffe‹ im publizistischen Kampf gegen die absolutistischen Regime des Vormärz. Denn letztlich gelte es – so Börne in seinen Briefen aus Paris –, die Tyrannei zu »verfolgen, ihr nicht mit schweren Gründen nach[zu]hinken«21.

Die als typisch feuilletonistisch identifizierte ›Stilgebärde‹22, mittels deren sich eine Erzählinstanz leichtfüßig nicht nur durch beschriebene Landschaften, Kunstausstellungen, Opernpremieren oder das Setting politischer Ereignisse, son-

19 Meunier, Ernst: »›Feuilletonisierung‹ der modernen Presse«, in: Zeitungs-Verlag (Ber-

lin) vom 14.06.1930, S. 1003. – Vgl. auch Todorow, Almut: »Das Feuilleton im medi-

alen Wandel der Tageszeitung im 20. Jahrhundert. Konzeptionelle und methodische

Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Feuilletonforschung«, in: Kauffmann,

Kai/Schütz, Erhard (Hg.), Die lange Geschichte der kleinen Form. Beiträge zur Feuil-

letonforschung, Berlin: Weidler 2000, S. 25-39, hier S. 25f.

20 Börne, Ludwig: »Bemerkungen über Sprache und Stil«, in: L. B., Sämtliche Schriften,

Band 1, neu bearb. und hg. von Inge und Peter Rippmann, Düsseldorf: Joseph Melzer

1964, S. 589-597, hier S. 595.

21 Börne, Ludwig: Sämtliche Schriften, neu bearb. und hg. von Inge und Peter Rippmann,

Band 3: Briefe aus Paris, Düsseldorf: Joseph Melzer 1964, S. 160.

22 Zum Begriff vgl. Oesterle, Günter: »›Unter dem Strich‹. Skizze einer Kulturpoetik des

Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert«, in: Jürgen Barkhoff/Gilbert Carr/Roger Pau-

lin (Hg.), Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Ge-

burtstag von Edda Sagara im August 1998, Tübingen: Niemeyer 2000, S. 229-250, hier

S. 236.

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EINLEITUNG I 15

dern auch durch den Textkörper bewegt, wird zum Vorbild für die feuilletonisti-schen Schreibweisen bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Diese entwi-ckeln sich im Einklang mit Publikumsinteressen und Blattlinien, bedienen Gat-tungserwartungen oder entwerfen sich entlang literarästhetischer Strömungen und Moden immer wieder neu. Unter dem Eindruck der ästhetischen (und politischen) Konzepte der neuen Sachlichkeit beispielsweise, die ihrerseits einer allgemeinen Tendenz moderner Kunst folgt, Subjektzentrierung zugunsten von Objektivierun-gen aufzulösen, wendet sich das ›subjektive‹ Feuilleton in der Zwischenkriegszeit verstärkt der Reportage zu und erklärt die illusionslos-nüchterne Darstellung äu-ßerer Wirklichkeit zu seinem Ziel. Verbunden mit Namen wie Egon Erwin Kisch, Joseph Roth, Annemarie Schwarzenbach, Elisabeth Janstein, Klara Mautner, Georg Simmel oder Siegfried Kracauer, nimmt das Feuilleton nunmehr verstärkt den soziopolitischen Wandel in den Blick, den die Nachkriegsgesellschaften der zwanziger Jahre durchlaufen. Themen wie die Transformation der Geschlechter-verhältnisse, die soziale Verelendung oder die Neuorganisation der Arbeitswelt am Beispiel der Angestelltenfigur finden Eingang in die Feuilletonpublizistik, auch begleiten die Feuilletons der großen europäischen Tageszeitungen die fort-schreitenden Urbanisierungs- und Modernisierungsprozesse Londons, Berlin oder Wiens medial.

Räumlich vergrößert und mit redaktionellen Mitteln ausgestattet, proklamiert insbesondere das liberal-demokratische Feuilleton der Frankfurter Zeitung in den zwanziger und dreißiger Jahren ein neues Rollenverständnis. So bestimmt sein Leiter Benno Reifenberg im Juli 1929 das Feuilleton als »fortlaufende[n] Kom-mentar zur Politik«23. Die Rubrik wird mithin zum Ort, an dem soziale Wirklich-keit reflektiert und zeitdiagnostisch analysiert wird; an die Stelle der Unterhaltung tritt nunmehr die »große Bestandsaufnahme der Zeit«24. Konkret forciert das Feuilleton der Frankfurter Zeitung neben dem Besprechungswesen die Auseinan-dersetzung mit tagesaktuellen Informationen und politischen Nachrichten, die vom Feuilleton aufgegriffen, neu verknüpft und kontextualisiert werden, um sie alternativ perspektiviert in die Öffentlichkeit zu bringen. Das Feuilleton versteht sich mithin als Versammlungsraum, in dem Beiträge etwa aus Kunst, Literatur, Philosophie und Soziologie zusammengeführt werden, um Fragen der ›Kultur‹ in einer sich zunehmend pluralisierenden Gesellschaft auszuhandeln.25 Den Künsten

23 Reifenberg, Benno: »Gewissenhaft«, in: Frankfurter Zeitung vom 01.07.1929.

24 Ebd.

25 Vgl. exemplarisch Schärf, Christian: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis

Adorno, Göttingen: Vandenhoeck und Rupprecht 1999.

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16 I HILDEGARD KERNMAYER UND SIMONE JUNG

kommt dabei die Rolle zu, Rechenschaft über die Gegenwart abzulegen und diese zu verändern.26

Als Reaktion auf deren behauptete »Überfeuilletonisierung« bringt die natio-nalsozialistische Pressepolitik ab 1933 das Feuilleton in den ›deutschen‹ Zeitun-gen sukzessive zum Verschwinden und ersetzt es im Sinne einer »einheitlichen Führungsaufgabe« der Zeitung durch den ›kulturpolitischen‹ Teil,27 den es in den »nationalen Aufbaudienst«28 zu stellen gilt. Die Maßnahme ist nur die logische Konsequenz jenes ›Antifeuilletonismus‹, der das Genre seit der Mitte des 19. Jahr-hunderts begleitet und der sich vor allem an der Literarisierung der Publizistik, an der Verquickung von Ästhetischem und Informatorischem entzündet oder – um mit Karl Kraus zu sprechen – an der »Durchsetzung des Journalismus mit Geist-elementen«29, letztlich an dessen »Verschweinung [...] durch das Ornament«30. Das Feuilleton, die Form, »die nur eine Enveloppe des Inhalts, nicht er selbst«31 sei, bezeichnet Kraus als die »Franzosenkrankheit«32, die Heine eingeschleppt habe. Denn: »Ohne Heine kein Feuilleton.«33

26 Als beispielhaft dafür kann die im November 1930 gestartete Reihe über aktuelle Dich-

tung in der Frankfurter Zeitung: »Wie sieht unsere Zeitliteratur aus?« oder »Über Er-

folgsbücher und ihr Publikum« gelten. Vgl. dazu Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer:

das journalistische Werk in der ›Frankfurter Zeitung‹ 1921-1933, Würzburg: Königs-

hausen und Neumann, S. 99f. – Vgl. auch Levine, Thomas Y.: »Introduction«, in: Sieg-

fried Kracauer: The Mass Ornament. Weimar Essays, hg. und übers. von T. L.,

Cambridge, MA/London: Harvard University Press 1995, S. 1–33, hier S. 5. – Vgl.

Später, Jörg: Siegfried Kracauer. Eine Biographie, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 154-169.

27 Jäger, Georg: »Das Zeitungsfeuilleton als literaturwissenschaftliche Quelle. Probleme

und Perspektiven seiner Erschließung«, in: Wolfgang Martens (Hg.), Bibliographische

Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs. 2. Kolloquium zur bibliogra-

phischen Lage in der germanistischen Literaturwissenschaft, Weinheim: VCH 1988,

S. 53-71, hier S. 56.

28 Kernmayer, Hildegard/Reibnitz, Barbara von/Schütz, Erhard: »Perspektiven der Feuil-

letonforschung. Vorwort«, in: Zeitschrift für Germanistik 22 (2012), Heft 3, S. 494-

508, hier S. 496.

29 Kraus, Karl: »Heine und die Folgen«, in: K. K., Werke, hg. von Heinrich Fischer,

Band 8: Untergang der Welt durch schwarze Magie, München: Kosel 1960, S. 188-213,

hier S. 191f.

30 Ebd., S. 191.

31 Ebd., S. 191.

32 Ebd., S. 189.

33 Ebd.

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EINLEITUNG I 17

Die Mischung aus Heinekritik, Feuilletonkritik und einem expliziten antigal-lischen Affekt, wie sie in Heine und die Folgen lesbar wird, stützt die gängigen kulturkonservativen Polemiken im zeitgenössischen Kampf gegen den ›Nieder-gang der Kultur‹.34 Um das Element des Antisemitismus erweitert, stellt sie das populäre Modell deutschnationaler Kritik an der Moderne dar. So macht beispiels-weise Heinrich von Treitschke, Ahnherr eines rassistischen ›Kulturantisemitis-mus‹, Heinrich Heine nicht nur für die ›Verjudung‹ der deutschen Literatur, son-dern auch für deren Durchsetzung mit ›französischem‹ Gedankengut und ›franzö-sischen‹ Stilformen verantwortlich. Schließlich zeichneten seine Schriften jene Ei-genschaften aus, die Juden und Franzosen gleichermaßen eigneten, nämlich »die Anmut des Lasters, die auch das Niederträchtige und Ekelhafte auf einen Augen-blick verlockend erscheinen [lasse], die geschickte Mache, die aus niedlichen ›Ri-ens‹ noch einen wohlklingenden Satz zu bilden [vermöge], und vor allem jenen […] unfruchtbaren Esprit, der mit den Dingen spiel[e], ohne sie zu beherrschen«35. Zentrales Element antisemitischer Feuilletonkritik bleibt jedoch die Behauptung, feuilletonistischer Stil sei eine spezifisch ›jüdische‹ Diskursform. Als ›jüdisch‹ werden dabei neben dem Primat der Form über den Inhalt vor allem der gehäufte »Wortwitz«36, die »eitle und witzige Geschwätzigkeit«37, schließlich die fehler-hafte Syntax, das sogenannte ›Mauscheln‹, erkannt, in das – so Treitsche – etwa Börne immer dann verfalle, wenn er die Selbstbeherrschung verliere.38 Hand in Hand mit der antisemitischen Stilkritik, die im Grunde auf die Politisierung des Literarischen abhebt, geht die Vorstellung von der ›verdorbenen‹, ›zersetzenden‹ Sprechweise der Juden. So zersetze – Treitschke zufolge – gerade der ›jüdische‹ Wortwitz Liebe und Ehrfurcht vor dem Vaterland, befördere – so der katholische Publizist Joseph Eberle – die Neigung der Juden »zu übermäßiger Kritik, ihre zer-setzende Negation«39, die Auflösung der geordneten Sozialsysteme. 34 Vgl. Payk, Markus M.: Der Geist der Demokratie. Intellektuelle Orientierungsversuche

im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn, Mün-

chen: R. Oldenbourg 2008, S. 28-34.

35 Treitschke, Heinrich von: »Das souveräne Feuilleton«, in: H. v. T., Bilder aus der deut-

schen Geschichte, Band 2: Kulturhistorisch-literarische Bilder, Leipzig: Hirzel 1908,

S. 155.

36 Haacke, Wilmont: »Ein Beispiel: Das Wiener jüdische Feuilleton«, in: Walther Heide

(Hg.), Handbuch der Zeitungswissenschaft, Band 2, Leipzig: Hiersemann 1942,

Sp. 2051-2072, hier Sp. 2069.

37 Ebd., Sp. 2071.

38 Vgl. H. v. Treitschke, Das souveräne Feuilleton, S. 158.

39 Eberle, Joseph: Großmacht Presse. Enthüllungen für Zeitungsgläubige. Forderungen für

Männer, 2. Aufl. Wien: Herold 1920, S. 240.

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18 I HILDEGARD KERNMAYER UND SIMONE JUNG

Nach 1945 und nach der Vertreibung und Ermordung der zentraleuropäischen Jüdinnen und Juden kann das deutschsprachige Feuilleton nicht mehr an die Meis-terschaft des Feuilletonismus vor 1933 bzw. 1938 anschließen. Die ›Kleine Form‹ verschwindet spätestens seit den 1950er Jahren aus den Feuilletonrubriken (in der DDR hält sie sich noch etwas länger), der Feuilletonismus – also die Kunst des Schreibens zwischen Journalismus und Literatur – diffundiert in die feuilletonis-tischen Stillagen, findet heute allenfalls in der Kolumne oder in personalisierten Blogs seinen Ort. Insbesondere das westdeutsche Printfeuilleton der überregiona-len Tages- und Wochenpresse wird in der Spätmoderne wesentlich als Rezensi-ons- und Debattenfeuilleton geführt. Dieses schließt in seinem Selbstverständnis nicht an das ›literarische‹ Feuilleton der Zwischenkriegszeit an, sondern rekurriert – als ›soziologisch-räsonierendes‹ Feuilleton – auf die Sozialfigur des ›(Medien-) Intellektuellen‹, wie sie sich in der französischen Öffentlichkeit Ende des 19. Jahr-hunderts im Zuge der Dreyfus-Affäre ausgebildet hat.40 Als »public intellectu-als«41, also traditionell politisch engagierte und rhetorisch versierte Bürgerinnen und Bürger, die ihre Kritik öffentlich zur Sprache bringen, sind (Medien)intellek-tuelle auf das Medium der Öffentlichkeit und entsprechende Kommunikationsmit-tel und Institutionen angewiesen. Neben der Zeitschrift stellt das ›Feuilleton‹ als populäre Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Politik einen geeigneten weil allgemein zugänglichen Ort für die Interventionen und Kontroversen von Intellek-tuellen bereit. Dabei fällt auf, dass mit der Ablöse des journalistisch-literarischen Feuilletons durch das ›Debattenfeuilleton‹ zunehmend auch genuin politische Themen Eingang ins Feuilleton finden.42 Joachim Fest, von 1973 bis 1993 Feuil-letonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, soll darauf bestanden haben, dass der Begriff des ›politischen Feuilletons‹ in seinem Vertrag explizite Erwähnung finde, um so die ›politische Kultur‹ erneut im Programm der FAZ verorten zu

40 Zur ›Dreyfus-Affäre‹ als historischer Gründungsakt für die Sozialfigur des modernen

(Medien)Intellektuellen vgl. Suntrop, Jan Christoph: Formenwandel der französischen

Intellektuellen. Eine Analyse ihrer gesellschaftlichen Debatten von der Libération bis

zur Gegenwart, Berlin: Lit Verlag 2010, S. 18-40. Zur Wirkmächtigkeit von Literaten

und Publizisten in den Massenmedien vgl. Jäger, Georg: »Der Schriftsteller als Intel-

lektueller. Ein Problemaufriß«, in: Hanuschka, Sven et al. (Hg.), Schriftsteller als Intel-

lektuelle: Politik und Literatur im Kalten Krieg, Tübingen: Niemeyer 2000, S. 1-25.

41 Stefan Collini: Absent Minds. Intellectuals in Britian, Oxford: Oxford University Press

2006, S. 52.

42 Vgl. exemplarisch Reus, Gunter/Harden, Lars: »Politische ›Kultur‹. Eine Längs-

schnittanalyse des Zeitungsfeuilletons von 1983 bis 2003«, in: Publizistik 50 (2005),

Heft 2, S. 153-172.

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EINLEITUNG I 19

können und die Zeitung letztlich mit historischer Deutungsmacht auszustatten.43

Der ›Historikerstreit‹ von 1986/1987, wie er unter Fest in der FAZ inszeniert wurde, gilt gemeinhin als Initialzündung des sogenannten ›Debattenfeuilletons‹. Der Streit um die ›richtige‹ Form der Vergangenheitsbewältigung einer Nation, der wesentlich zwischen dem Historiker Ernst Nolte und dem Philosophen Jürgen Habermas ausgetragen wurde, leitet nicht nur einen Umbruch in der Mentalitäts-geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit ein, er etabliert auch eine neue Form des ›öffentlichen Gespräches‹ im deutschen Feuilleton: die Debatte, die sich im Verlauf der 1990er Jahre professionalisiert und zu einer eigenen Form findet. Der Historikerstreit wurde »zum womöglich entscheidenden Vorbild der von Frank Schirrmacher später forcierten Debattenproduktion«44. In der Bezugnahme der einzelnen Zeitungsfeuilletons aufeinander, wie sie im Historikerstreit zwi-schen Frankfurter Allgemeiner Zeitung und der Zeit praktiziert wird, erkennt Schirrmacher ein neues Diskursmuster, das ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Deutungsmacht generiert.

Handelt es sich beim Feuilleton der Gegenwart »um die relativ geschlossene Welt der aufeinander reagierenden Kulturteile in der überregionalen Tages- und Wochenpresse«45, so kann das ›Debattenfeuilleton‹ als ein agonales Bezugssys-tem aufgefasst werden, das in wechselseitiger Beobachtung der Zeitungsteile öf-fentliche Diskussionen über kulturell relevante Phänomene medial inszeniert. Als wichtiges Forum für eine intellektuelle Öffentlichkeit wandelt sich das Feuilleton in der Bundesrepublik zu einem Ort, an dem sich das künstlerisch-intellektuelle ›Feld‹ nicht nur mit sich selbst verständigt, sondern auch seine Leitbilder und Identitätskonzepte präsentiert, entwirft und fortwährend neu aushandelt. Das Feuilleton erscheint mithin als ein diskursiver Raum, in dem Ereignisse nicht nur medial vermittelt, sondern auch machtvoll produziert werden. Einerseits Informa-tionsträger und vermittelndes Medium, ist es andererseits aber auch diskursive Arena, in der der Kampf um soziale Bedeutung und Position konflikthaft ausge-tragen wird. Eingebunden in Machtverhältnisse, erweist sich das Feuilleton letzt-lich als ein Ort der politischen Auseinandersetzung, an dem es um die Installierung von kultureller Hegemonie in der Formulierung von bestimmten Gesellschafts- und Kulturbildern geht, an dem also Ein- und Ausschlüsse produziert werden und 43 Vgl. Hachmeister, Lutz: »Frank Schirrmacher und das politische Feuilleton«, in: L. H.:

Nervöse Zone. Politik und Journalismus in der Berliner Republik, München: DVA,

S. 181-217, hier S. 191.

44 Demand, Christian/Knörer, Ekkehard: »Debattenkultur«, in: Zeitschrift für Medien-

und Kulturforschung 6 (2015), Heft 2: Sendung, S. 61-65, hier S. 61.

45 Seibt, Gustav: »Die neue Ohnmacht des Feuilletons«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift

für europäisches Denken 52 (1998), Heft 8, S. 731-736, hier S. 731.

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an dem sich entscheidet, welche kulturellen Deutungsmuster ins Zentrum wandern und welche in die Peripherie.

2. PERSPEKTIVEN DER FEUILLETONFORSCHUNG

Trotz der zentralen Bedeutung, die dem ›Feuilleton‹ in der Presse seit dem 19. Jahrhundert zukommt, ist die Feuilletonforschung eine vergleichsweise randstän-dige Disziplin. Dieser Sachverhalt dankt sich wissenschaftsgeschichtlichen Ent-wicklungen ebenso wie fachspezifischen Kanonisierungspraktiken, mittels deren implizit über die Untersuchungswürdigkeit von Gegenständen befunden wird. Als sich gegen Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine literatur-wissenschaftliche Feuilletonforschung zu etablieren beginnt, sieht sich diese mit einer Reihe von Unwägbarkeiten konfrontiert. Zum einen ist mit dem Auslaufen der älteren zeitungswissenschaftlichen Schulen bzw. mit der Integration der his-torischen Zeitungswissenschaft in eine übergeordnete Publizistik-, Kommunikati-ons- und Medienwissenschaft die akademische Beschäftigung mit der Geschichte des Feuilletons in den fünfziger Jahren an ein Ende gelangt. Die großen Handbü-cher der Zeitungswissenschaft oder des Feuilletons aus jener Zeit reproduzieren dabei die vornehmlich kulturkonservativen Wertungen über das Feuilleton, basie-ren sie doch durchwegs auf Arbeiten aus den vierziger Jahren, in denen die ältere Zeitungswissenschaft – auch als Instrument des nationalsozialistischen Propagan-daapparats – Konjunktur hatte. Zum anderen betritt die literaturwissenschaftliche Feuilletonforschung aber auch innerhalb des eigenen Faches Neuland. Als ›Grenz-phänomen des Ästhetischen‹46, das sich weder als literarisch noch als journalis-tisch oder gar als wissenschaftlich definiert, musste das Feuilleton der Aufmerk-samkeit der Literaturwissenschaft, deren Erkenntnisinteresse bis in die siebziger Jahre nahezu ausschließlich der Trias der literarischen Großgattungen gilt, zwangsläufig entgehen. In einschlägigen literaturwissenschaftlichen Lexika oder Arbeiten zu nicht-fiktionalen Prosagattungen werden folglich unter dem Stichwort ›Feuilleton‹ zwar die Ergebnisse der einschlägigen zeitungswissenschaftlichen Arbeiten aus den vierziger und fünfziger Jahren referiert, darüber hinaus findet

46 Zum Begriff vgl. Preisendanz, Wolfgang: »Der Funktionsübergang von Dichtung und

Publizistik«, in: W. P., Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge, München:

Fink 1973, S. 21-68, S. 28f.

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EINLEITUNG I 21

das Feuilleton höchstens als dem Essay verwandtes Genre47 oder als Abart der Glosse48 Erwähnung. Nicht zuletzt steht die Feuilletonforschung Ende der achtzi-ger Jahre vor dem Problem, dass ihr Material bis dahin kaum bibliographisch oder gar editorisch erschlossen ist.49

In den vergangenen dreißig Jahren hat sich die literaturwissenschaftliche Feuilletonforschung als eigener Forschungszweig – freilich am Rande der Diszip-lin(en) – etabliert. Mit einer Reihe editionsphilologischer Projekte – beispielhaft sei hier das editorische Großprojekt der druckortbezogenen Robert-Walser-Aus-gabe genannt – wurde und wird die Basis auch zur literarhistorischen bzw. zei-tungsgeschichtlichen Einordnung oder zur gattungspoetologischen Erschließung des Feuilletons gelegt. Die neuere Feuilletonforschung ist dabei zunehmend kon-textorientiert, sie sucht das Feuilleton – sei es als redaktionelle Sparte, sei es als literarisch-publizistisches Genre oder als spezifische Form der Darstellung50 – im-mer auch im medialen Entstehungskontext zu begreifen und nimmt es grundsätz-lich in seiner mehrfachen Bezogenheit wahr. Entsprechend fassen sowohl der im Jahr 2000 erschienene Band Die lange Geschichte der Kleinen Form (hg. von Kai Kaufmann und Erhard Schütz) wie auch das 2012 von Hildegard Kernmayer, Bar-bara von Reibnitz und Erhard Schütz betreute Themenheft der Zeitschrift für Ger-

manistik (Zur Poetik und Medialität des Feuilletons) das Feuilleton als Ort, »an dem sich Literatur, Publizistik, Gesellschaft und Politik wechselseitig durchdrin-gen«51.

Der hier vorliegende Band stellt dieses wechselseitige Sich-Durchdringen in den Mittelpunkt seines Erkenntnisinteresses, wenn er den hybriden Intertext ›Feuilleton‹ vor allem in seiner multiplen Schnittstellenfunktion in den Blick nimmt. Das Feuilleton interessiert dabei freilich nach wie vor als ästhetisches Phä-nomen: als journalistischer Text, den literarische Schreibweisen durchqueren, als objektivistische Reportage, die selbst in der Abgrenzung vom ›subjektivistischen‹ Feuilletonismus sich dessen Formensprache bedient, als Raum des Ästhetischen 47 Vgl. Weissenberger, Klaus: »Der Essay«, in: K. W. (Hg.), Prosakunst ohne Erzählen.

Die Gattungen der nichtfiktionalen Kunstprosa, Tübingen: Narr 1985, S. 105-124, hier

S. 115.

48 Vgl. Bürgel, Peter: Literarische Kleinprosa. Eine Einführung, Tübingen: Narr 1983,

S. 132-134.

49 Vgl. Jäger, Das Zeitungsfeuilleton als literaturwissenschaftliche Quelle, S. 66f. 50 Zu dieser Dreiteilung des Feuilletonbegriffs vgl. Todorow, Almut: »Feuilleton«, in:

Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 3: Eup–Hör, Tübingen:

Niemeyer 1996, S. 259-266, hier S. 259.

51 Kauffmann, Kai: »Zur derzeitigen Situation der Feuilleton-Forschung«, in: Kauff-

mann/Schütz (Hg.), Die lange Geschichte der kleinen Form, S. 10-24, hier S. 12.

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und Subjektiven innerhalb der sich sachgebunden wollenden Zeitung oder einfach als Zeitungsressort, das auch zu ästhetischen Fragen Stellung bezieht. Es wird aber auch wissenssoziologisch als gesellschaftliche Kommunikationsform begriffen, in der »kulturelle Identität sich artikuliert, kulturelle Diskurse formiert und Spezial-diskurse transformiert werden, Expertenwissen in Alltagswissen überführt und le-bensweltlich konstruierte Wirklichkeiten herausgebildet werden«52. Diskursana-lytisch betrachtet, firmiert das Feuilleton – wie Christian Jäger und Erhard Schütz bereits 1994 ausführen – als das Medium, das die Konstruktion von Wirklichkeit täglich erneuert, die Gegenstände wie die Muster der Wahrnehmung prägt, letzt-lich das facettierte Selbstbild einer Gesellschaft zeichnet.53

Die spezifische Orientierung des Erkenntnisinteresses in diesem Band dankt sich auch einer Ausdehnung des Untersuchungszeitraums, wird doch das ›Feuil-leton‹ nicht nur exemplarisch, sondern systematisch auch in der Spätmoderne auf-gesucht, wird nach den Kontinuitäten oder Diskontinuitäten feuilletonistischen Schreibens gefragt, das seine komplexe ›Poetik‹ generell in Auseinandersetzung mit den vielfachen Medienbrüchen entfaltet, die seine mehr als zweihundertjäh-rige Geschichte begleiten. Vollzieht sich der Aufstieg des Feuilletons parallel zur Entstehung einer Massenpresse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so er-öffnen sich mit den jeweils ›neuen‹ Medien des Radios, des Films, des Fernsehens, aber vor allem mit der seit den 1990er Jahren fortschreitenden Digitalisierung auch neue Möglichkeiten feuilletonistischen Schreibens und Urteilens. Gerade die digitalen Medien bringen dabei eine Vielheit an konkurrierenden Orten und Prak-tiken hervor, an denen bzw. mittels deren alternative Formen kulturjournalisti-schen Schreibens und Räsonierens erprobt werden. Letztere wirken ihrerseits in das klassische Feuilleton der großen Printzeitungen zurück und verändern dieses in seiner Struktur.

Angesichts der radikalen Intermedialität des Feuilletons, aber auch in Anbe-tracht seiner Funktion als Knotenpunkt eines Netzwerks, in dem wirtschaftliche, gesellschaftspolitische, literarisch-künstlerische und mediale Diskurse zusam-menlaufen, nähert sich der Band dem Phänomen interdisziplinär. In der Dialogi-sierung genuin literaturwissenschaftlicher (etwa gattungspoetologischer, editions-

52 Todorow, Almut: »Feuilletondiskurs und seismographische Funktion von Kulturkom-

munikation«, in: Bonfadelli, Heinz et al. (Hg.), Seismographische Funktion von Öffent-

lichkeit im Wandel, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 281-299, hier

S. 281.

53 Vgl. Jäger, Christian/Schütz, Erhard: »Nachwort«, in: C. J./E. S. (Hg.), Glänzender As-

phalt. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik, Berlin: Fannei und Walz 1994,

S. 335-348, hier S. 336.

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EINLEITUNG I 23

philologischer oder literarhistorischer) Feuilletonforschung mit kommunikations-wissenschaftlichen, medienphilosophischen und mediensoziologischen Zugängen zum Thema und nicht zuletzt mit den autoreflexiven Positionen des Journalismus selbst sucht der Band das Feuilleton in seiner komplexen Poetik des ›Dazwischen‹ zu fassen.

3. DIE BEITRÄGE

Im Eingangsbeitrag zeichnet ERHARD SCHÜTZ (Berlin) nicht nur eine Genealogie des Feuilletons von seinen Anfängen in Frankreich um 1800 bis in seine ›Hoch-zeit‹ in den 1920er und 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts. Er beschreibt vor al-lem den vehementen Abgrenzungsdiskurs, der sich im Hinblick auf das kleine, mindere, zweitrangige Genus spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aus-bildete: Das Feuilleton wird darin einem ›Weiblichen‹ zugeschlagen, als ›franzö-sische‹ Textsorte stigmatisiert, die Schreibweise gilt pejorativ als ›jüdische‹. Als das ›Andere‹ des Feuilletons firmiert das als ›männlich‹ imaginierte ›Deutsche‹. In der Konkurrenz der publizistischen Formen wird das ›genre mineur‹ von ihm verwandten, aber als ›bedeutend‹ konstruierten Textsorten unterschieden: dem Es-say, dem Denkbild oder der Reportage.

Jenseits dieser Zuschreibungen sucht HILDEGARD KERNMAYER (Graz) eine gattungspoetologische Bestimmung des Feuilletons. Das Feuilleton, das sich ob seiner stofflichen Unbegrenztheit, seiner formal-stilistischen Verwandlungsfrei-heit und seiner Heterogenität der nivellierenden Beschreibung der Gattungstheorie zu entziehen scheint, definiert Kernmayer als Hybrid, das seine komplexe Poetik

des Dazwischen an der Schnittstelle zwischen Literatur und Journalismus ausbil-det. Poetizität, Subjektivität und Bewegung charakterisieren dabei die Kleine Form des Feuilletons, die sich in der poetischen ›Anverwandlung‹ journalistischer Zweckformen als Genus konstituiert. Sie kennzeichnen aber auch die Literarisie-rung des Journalismus insgesamt, die in der deutschsprachigen Publizistik seit dem 18. Jahrhundert und bis heute unterschiedliche Formen und Schreibweisen hervorbringt.

Die Kritik am Feuilleton, seine Abwertung als ›genre mineur‹, entzündet sich gerade an den feuilletonistischen ›Stilgebärden‹ der Leichtigkeit, der Flüchtigkeit, der subjektiven Gestimmtheit. Einer, der in zwanziger Jahren in den Chor der Feuilletongegner einstimmte, war der Wiener Kritiker, Essayist und ›Sprechstel-ler‹ Anton Kuh. Zuwider war ihm – wie WALTER SCHÜBLER (Wien), Kuh-Bio-graph und Herausgeber der Werkausgabe des Autors ausführt – das heitere Ge-plauder in assoziativem Stil sowie die »ironisierende Feinsäuselei« von Literaten,

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die statt in der Welt im »luftleeren Raum der Intellektualität« lebten. Wenn Kuh dennoch einen »Sinn des Feuilletonteils, sofern er überhaupt Sinn« habe, ausma-chen kann, so liegt dieser allenfalls in dessen subversivem und anarchischem Po-tential, ›unter dem Strich‹ die Ordnung im »Oberm-Strich-Rayon« in Frage zu stellen. Kuh plädiert in der Folge nicht für eine ›Reinigung‹ des sich sachgebunden wollenden Journalismus vom Ästhetischen und Subjektiven, sondern vielmehr für eine Vermischung von Kunst und Politik und somit für die Aufhebung der Grenze, die die Zeitungsteile ›über‹ und ›unter dem Strich‹ trennt.

Mit der Verstrickung der zeitungswissenschaftlichen Feuilletonforschung und speziell ihres wohl bedeutendsten Protagonisten, Wilmont Haacke, in die natio-nalsozialistische Ideologie setzt sich die Literaturwissenschaftlerin BETTINA

BRAUN (Zürich) auseinander. Haackes 1943 erschienene Habilitationsschrift, in der dieser noch die »Ausmerzung des Judentums aus dem deutschen Feuilleton« als die vorrangigen Aufgaben deutscher Feuilletonkunde bezeichnet hatte, avan-cierte in den fünfziger Jahren – freilich in ›bereinigter‹ Form und unter dem Titel Handbuch des Feuilletons zu dem Standardwerk der Feuilletonforschung. Braun zeigt in ihrem Beitrag, dass die von Haacke betriebene ›Klitterung‹ der Geschichte des Feuilletons Auswirkungen auch noch auf die heutige Feuilletonforschung hat.

Der Beitrag der Slawistin IRINA WUTSDORFF (Tübingen) beleuchtet das Wech-selverhältnis von journalistischem und literarischem Schreiben am Beispiel der beiden Prager Autoren Jan Neruda und des ›rasenden Reporters‹ Egon Erwin Kisch. Die beiden Grenzgänger zwischen Journalismus und Literatur suchten so-ziale Wirklichkeiten zu beschreiben und bedienten sich dazu der ästhetischen For-mensprache des Feuilletons, die über das rein Faktische hinauszuweisen vermag. Die Vermischung von Faktualem und Fiktionalem prägt das Schreiben des ›Lite-raten‹ Neruda und des ›Reporters‹ Kisch gleichermaßen. Es stellt sich also die (gattungspoetologische) Frage, ob die Grenze zwischen literarischem und journa-listischem Schreiben tatsächlich entlang der Trennlinie von Fiktionalität und Fak-tualität zu ziehen ist.

Anders als die – ungeachtet des ›neusachlichen‹ Objektivitätspostulats – häu-fig prononciert subjektiv gehaltenen Reportagetexte Egon Erwin Kischs oder Jo-seph Roths entsprechen die Reportagen der zahlreichen Schriftstellerinnen, die in den zwanziger Jahren für das Feuilleton vor allem sozialdemokratischer Zeitungen schreiben, eher dem ›neusachlichen‹ Ideal, findet sich in diesen doch die Autorin-nenposition meist zurückgenommen. Dennoch ist – wie MARTIN ERIAN (Kla-genfurt) in seinem Beitrag zeigt – selbst in deren Texten die Grenze zwischen Feuilleton und Reportage nicht eindeutig zu ziehen. Dass sich die beiden ›Antipo-den im Gleichschritt‹ bewegen, die Übergänge zwischen ihnen fließend sind, zeigt

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EINLEITUNG I 25

er anhand der Analyse der Sozialreportagen bzw. sozialkritischen Feuilletons Eli-sabeth Jansteins und Klara Mautners.

Neben der Zeitung ist die Literatur das hauptsächliche Bezugssystem des Feuilletons. Dieses ist seit seinen Anfängen der Ort, an dem Literatur nicht nur besprochen, sondern auch veröffentlicht wird. Vor allem im 19. Jahrhundert be-streiten nahezu alle Autorinnen und Autoren ihren Lebensunterhalt durch den Ver-kauf ihrer Texte an Zeitungen und Zeitschriften, handle es sich um journalistisch-literarische Prosaformen, deren Poetizität sich unter anderem in ihrem Oszillieren zwischen Sachgebundenheit und formaler Verwandlungsfreiheit entfaltet, oder aber um genuin literarische Texte, wie Gedichte, Dramen, Novellen oder Romane. In ihrem Beitrag über Robert Walsers Porträt-Gedicht An Georg Trakl, das Walser wie 80 andere in der Prager Presse veröffentlichte, bespricht SABINE EICKENRODT (Berlin/Bratislava) nicht die kleine Form, sondern das Porträt-Gedicht als Idealfall der feuilletonistischen Gattung. Einerseits Porträt, also ein referentieller Text, an-dererseits Gedicht, mithin selbstreferentiell, vollziehe es die Gratwanderung zwi-schen Journalismus und Literatur.

Zu den großen Leistungen der editionswissenschaftlichen Feuilletonforschung der letzten Jahrzehnte gehört die Bereitstellung von kritischen, kommentierten Werkausgaben bedeutender Feuilletonistinnen und Feuilletonisten. Erst auf einer gesicherten Textbasis lassen sich Aussagen zur Geschichte oder zur Gattungspo-etik von feuilletonistischen Formen treffen. Drei solcher Werkausgaben bilden die Grundlage für Überlegungen zur Literaturkritik: die Kritische, kommentierte Edi-

tion der Kritiken und Essays Max Herrmann-Neißes, die Edition der Prosawerke Emmy Hennings‘ sowie die Edition von Vicki Baums Beiträgen für Zeitungen und

Zeitschriften. – Dass eine systematische Geschichte der deutschsprachigen Lite-raturkritik bis heute noch aussteht, betont SIBYLLE SCHÖNBORN (Düsseldorf). Die Herausgeberin der Kritischen, kommentierten Edition der Kritiken und Essays

Max Herrmann-Neißes sieht dieses Manko vor allem in der Tatsache begründet, dass die Voraussetzungen für eine solche Gattungsgeschichte mit den aktuellen kritischen Editionen der publizistischen Arbeiten einzelner Autoren aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst geschaffen werden. Schönborn stellt ihrerseits mit Max Herrmann-Neiße einen der wichtigsten Literaturkritiker des beginnenden 20. Jahrhunderts vor. Der Kerr-Schüler, der wie sein Lehrer forderte, das Feuilleton als vierte Hauptgattung zu etablieren, hatte eine eigene Form der ›positiven Kritik‹ entwickelt, die den verstehenden, kundigen und solidarischen Kritiker voraussetzt. Hermann-Neiße selbst verstand seine Kritiken als einen Beitrag zu einer umfas-senden Literatur-, Kultur- und Zeitkritik. Indem er etwa einen Gegenkanon zur Literaturdoktrin des aufkommenden Nationalsozialismus entwarf, wurde er zum

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Chronisten der Literaturgeschichte der deutschsprachigen Moderne. Darüber hin-aus bezog der Moralist Stellung gegen die Kriegsbegeisterung von 1914, gegen die politischen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit sowie gegen Rassismus, Antisemitismus und jegliche Form der Diskriminierung.

Die Literaturwissenschaftlerin CHRISTA BAUMBERGER (Bern), Kuratorin des Nachlasses und Herausgeberin des Prosawerks von Emmy Hennings, verhandelt in ihrem Beitrag über das bedeutende literaturkritische Werk einer Autorin, die in der Literaturgeschichtsschreibung vor allem als einziges weibliches Gründungs-mitglied der Zürcher Dada-Bewegung sowie als Frau und Nachlasswalterin Hugo Balls bzw. als ›Muse‹ der expressionistischen Dichtergeneration firmiert. Emmy Hennings verfasste ab den frühen 1920er Jahren zahlreiche Literaturkritiken, Rei-seschilderungen und Feuilletons zu zeitbezogenen Themen, die sich durch hohe Poetizität – einen »zarten und zierlichen Ton« – sowie einen ganz und gar subjek-tiven Zugang zu ihren Gegenständen auszeichnen. Aus ihren Besprechungen zahl-reicher Neuerscheinungen von Autoren und Autorinnen wie Hans Arp, Johannes R. Becher, Paul Claudel, Knut Hamsun, Hermann Hesse oder Else Lasker-Schü-ler, mit denen Hennings in Kontakt stand, lässt sich ein wichtiges literarisches Netzwerk der Zwischenkriegszeit rekonstruieren, zugleich spiegeln ihre literatur-kritischen Texte die Grundzüge von Hennings’ eigener Poetik.

Dass Vicki Baum, einer breiten Leserschaft vor allem als Autorin von Best-sellerromanen wie Menschen im Hotel oder Liebe und Tod auf Bali bekannt, auch ein umfangreiches feuilletonistisches Oeuvre aufweist, zeigt die mit der Edition des journalistischen Werks der Autorin befasste Literaturwissenschaftlerin VERO-

NIKA HOFENEDER (Wien). In ihrem Beitrag untersucht sie die kunstkritischen Schriften Baums, die diese über 45 Jahre hinweg in deutsch- und englischsprachi-gen Zeitungen und Zeitschriften publiziert. Aus den literatur-, fotografie-, musik- oder auch tanzkritischen Feuilletons leitet Hofeneder die ästhetischen und poeto-logischen Konzepte der Autorin ab und setzt diese zur zeitgenössischen Feuilleto-nistik in Beziehung. Wie Alfred Polgar erkennt auch Vicki Baum in der Kleinen Form eine der Moderne angemessene Form literarischen Ausdrucks.

Der Journalist MARC REICHWEIN (Die Welt, Berlin) und der Literaturwissen-schaftler MICHAEL PILZ (Innsbruck) stellen sich in ihrem Beitrag wiederum dem Versuch einer Ehrenrettung der feuilletonistischen Form des Interviews, dessen angebliche Zunahme im Feuilletonteil als Zeichen für die Krise des Rezensions-journalismus gelesen wird. Die Feststellung Thierry Chervels (Perlentaucher), wonach die Anzahl der Buchbesprechungen im Feuilleton in den letzten 15 Jahren um fast fünfzig Prozent zurückgegangen, gleichzeitig jedoch ein Aufschwung der personenbezogenen Textsorten Interview und Porträt im Kulturjournalismus zu verzeichnen sei, verglichen sie mit Zahlen aus dem Innsbrucker Zeitungsarchiv.

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Reichwein und Pilz konnten weder die starke Abnahme von Besprechungen be-stätigen, noch konnten sie eine Zunahme von Interviews zulasten der Rezensionen feststellen. Das Interview als Spielart der Feuilletonisierung habe die Literaturkri-tik letztlich nicht verdrängt, es stelle lediglich eine andere Form der feuilletonisti-schen Auseinandersetzung mit Literatur.

Stehen bisher die feuilletonistischen Schreibweisen und das Feuilleton als Form im Zentrum des Erkenntnisinteresses, so richtet sich die Aufmerksamkeit in den folgenden Beiträgen auf die Rubrik des aktuellen Feuilletons als diskursiver Ort der Debatte und der Kritik. In ihrem Beitrag über die mediale Inszenierung von Konflikten im Feuilleton der Gegenwart zeigt SIMONE JUNG (Hamburg), wie das traditionell als ›bürgerlich‹ definierte Feuilleton zum Ort der Hybridisierung par excellence und damit zum Ausdrucksmedium einer pluralen Gesellschaft wird. Mit der Auflösung der antagonistischen Differenz von Hochkultur und po-pulärer Kultur vermischen sich unterschiedliche Identitäten, Sinnhorizonte und Lebensräume. Dies zeigt sich nicht nur am Feuilleton selbst, das als hybrides Me-dium historisch betrachtet schon immer ein widersprüchliches Mischverhältnis der hochkulturellen und populären Diskurse aufwies, sondern auch an den hier verhandelten Konflikten. Exemplarisch an der Volksbühnen-Debatte zeigt Jung die Inszenierung des Politischen im Feuilleton auf, die von Rationalität und Affekt gleichermaßen bestimmt ist, um den Konflikt zwischen der Vielzahl an konkur-rierenden Partikularkulturen zu verhandeln, wie sie in der Debatte um das Berliner Theater zum Vorschein kommt.

Nicht so sehr um die nachhaltige Aushandlung von Konflikten als vielmehr um die singuläre Produktion von Werturteilen geht es im Beitrag von THOMAS

HECKEN (Siegen), der die spezifischen Wertungsweisen und -prinzipien des aktu-ellen deutschen überregionalen Feuilletons (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süd-

deutsche Zeitung, Die Zeit) untersucht und diese zu axiologischen Positionen der Analytischen und Pragmatistischen Philosophie (Carnap, Putnam) in Beziehung setzt. Dabei kommt er zum Ergebnis, dass sich im heutigen Feuilleton (aber auch im ›politischen Buch‹ der Zeitung) kaum ein Text finde, der nicht wertend vor-gehe. Auffällig sei jedoch, dass sich ästhetische oder ethische Wertungen jeweils jenseits des dichotomen Beurteilungsschemas von schön/hässlich oder mora-lisch/unmoralisch bewegen, sich das aktuelle Feuilleton zudem in der Regel ab-schließender Wertungen entzieht.

Dass entgegen anderwärtiger Festlegungen der ›(Medien-)Intellektuelle‹ kei-neswegs per se ein Geistesmensch und Akademiker ist, sondern im Kern eine So-zialfigur, die erstens politisch engagiert ist, ohne ein politisches Mandat inne zu haben, zweitens im Namen anderer spricht und drittens seine Legitimation zur In-tervention aus der Anerkennung seiner Leistungen im Feld der Wissenschaft oder

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Kunst bezieht, zeigt der Soziologe ANDREAS ZIEMANN (Weimar) in seinem Bei-trag. Als idealtypischen Intellektuellen nennt er Jean-Paul Sartre, der relativ auto-nom und unabhängig von Feldern der Ökonomie und Politik agiere, und der die Selbstberufung und Gabe zur Schrift sowie das Bewusstsein, dass Sprechen Han-deln und Handeln Enthüllen und Verändern sei, voraussetzte. Ziemann kommt zu dem Schluss, dass das (Debatten-)Feuilleton bis heute eine Plattform für intellek-tuelle Intervention ist.

Der Beitrag von ELKE WAGNER (Würzburg) und NIKLAS BARTH (München)

untersucht Formen der Verständigung zwischen Privatpersonen im 21. Jahrhun-dert am Beispiel des Social-Media-Kanals Facebook. Mit der Digitalisierung und den sozialen Medien entstehen nicht nur neue Möglichkeiten zur Herstellung von Öffentlichkeit, sondern auch neue Formen des Kommunizierens und Kommentie-rens. Die vernetzte Debattenkultur der Gegenwart leiten Wagner und Barth aus der Tradition der Briefkultur des 18. und 19. Jahrhunderts her. Wurde der Aus-tausch von Privatpersonen im Medium des Briefs noch primär unter Ausschluss der Öffentlichkeit und in direktem Bezug aufeinander geführt, so erfolgt die Kom-munikation in den sozialen Netzwerken des 21. Jahrhunderts in hybridisierten ›persönlichen Öffentlichkeiten‹ und als ›Befindlichkeitskommunikation‹.

Daran anschließend zeigt NADJA GEER (Berlin/Athen) in ihrem Beitrag neue Möglichkeiten der kulturellen Selbstverständigung der Feuilletonistinnen und Feuilletonisten im Netz auf. Ausgehend von einem viel beachtenden Artikel über die Abwanderung der Feuilletondebatte in die sozialen Medien von Ijoma Man-gold, Literaturchef der Zeit, und der Auseinandersetzung um das Youtube-Video Wrecking Ball des Popstars Miley Cyrus, fragt sie: Welche Formen der Verstän-digung generieren sich auf den Facebook-Seiten der Feuilletonmacher und -macherinnen, und welche Auswirkungen haben diese auf die Debattenkultur im 21 Jahrhundert? Die sogenannte ›Postkritik‹, ein Begriff, den Geer von Thomas Ed-linger übernimmt, sei dabei maßgeblich von Konzepten wie Algorithmus, Akzele-ration und Agency bestimmt. Mit dem Aufbrechen der herkömmlichen Hierar-chien habe diese einerseits Bewegung in das Debattenfeuilleton gebracht, ande-rerseits gehe mit ihr aber auch eine Verflachung des Denkens einher, infolgedes-sen die Kritik als eigene Kunstform an Bedeutung verliere.

Die Beiträge zum Politischen im Feuilleton eröffnen einen Einblick in die Ent-wicklung der Wahrnehmungs- und Bewertungsstrukturen des Feuilletons vom klassischen Print über die sozialen Netzwerke bis hin zu Facebook im Spezifi-schen. Sie zeigen auf, dass die verschiedenen Kommunikationsmodi des Urteilens und Bewertens in unterschiedlichen Medien zu verschiedenen Zeiten ungleich an Bedeutung gewinnen. Speziell die Debattenkultur im 21. Jahrhundert zeigt sich

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hier als hochgradig transformiert: Reguliert sie sich im Printfeuilleton noch zwi-schen Rationalität und Affekt (Jung), so verlagert sie sich in den digitalen Struk-turen hin zum Affekt, bis Rationalität schließlich selbst zum Affekt wird (Geer) oder gar zur ›Befindlichkeitskommunikation‹ gerinnt (Wagner/Barth). Die Mög-lichkeit der kulturellen Selbstverständigung zur Herstellung einer kritischen Öf-fentlichkeit im Ideal der bürgerlichen Autonomie, die sich im 18. Jahrhundert aus-gebildet und im modernen Feuilleton ihre publizistische Fortführung gefunden hat, wird im digitalen Zeitalter folglich zunehmend an den Rand gedrängt und aufgelöst. Zugleich erschließen sich aber auch neue Möglichkeiten der Kritik und der Herstellung von Öffentlichkeit zwischen den analogen und digitalen Kulturen. Einen abschließenden Blick auf die Zukunft des Kulturjournalismus wirft deshalb GUIDO GRAF (Hildesheim), der entlang der Figuren der Mechanik und der Melan-cholie und im Rückblick auf das Feuilleton des beginnenden 20. Jahrhunderts neue Wege für einen Kulturjournalismus im digitalen Zeitalter zu erschließen versucht. Klassisches Handwerk wie Informationsbeschaffung, Recherche und stilistische Formatierung sind ebenso Voraussetzungen für einen zukünftigen Kulturjourna-lismus wie die Bereitschaft, das Neue auszuspüren. Gerade mit den neuen Tech-nologien – Graf nennt beispielhaft Smartphones, Apps, Boots oder 360-Grad-Ka-meras – erschließen sich auch neue kulturjournalistische Themen und Praktiken, unmittelbare Gegenwart zu reflektieren und zu erzählen.

Die Beiträge des Bandes gehen zu einem Teil auf die Tagung Feuilleton.

Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur zurück, die im November 2015 an der Universität Graz stattfand und (als Kooperationsprojekt zwischen den Universitäten Graz und Hamburg) von den beiden Herausgeberin-nen konzipiert und organisiert wurde. Um ein historisch wie auch medial differen-ziertes Bild des Feuilletons als Rubrik, als Form und als Schreibweise zeichnen zu können, wurde der Band noch um eine Reihe von Aufsätzen erweitert. Beim letzten Beitrag des Bandes mit dem Titel Zwischen Ästhetik und Ökonomie. Zur

Lage des Feuilletons handelt sich indes um keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern vielmehr um die schriftliche Wiedergabe einer Podiumsdiskussion mit identem Titel, die begleitend zur Tagung im Kunsthaus Graz stattfand. Angesichts der vielerorts diagnostizierten Krise des Zeitungsfeuilletons als traditionell ›bür-gerlichem‹ Ort der Selbstverständigung und Kritik diskutierten die Kulturjourna-listinnen und Kulturjournalisten DORIS AKRAP (taz. die tageszeitung), EKKEHARD

KNÖRER (Merkur), SIGRID LÖFFLER (ehem. u.a. profil, Die Zeit, ZDF) und LOTHAR MÜLLER (Süddeutsche Zeitung) zur Situation des gegenwärtigen Feuille-tons. Das letzte Wort gehört somit den Feuilletonistinnen und Feuilletonisten selbst, die Antworten auf die folgenden Fragen geben: Wie definiert sich die Rolle eines zukünftigen Feuilletons angesichts der in der Printkrise zurückgehenden

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Umfänge der großen Feuilletons? Wie kann das Feuilleton seine medialen Funk-tionen, nämlich die Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit, die Entwicklung einer intellektuellen Debattenkultur, nicht zuletzt die fundierte Auseinanderset-zung mit Literatur, Musik, Bildender Kunst wahrnehmen? Welche Formen von Kritik entstehen seit dem 21. Jahrhundert und wie inszeniert sich speziell das Feuilleton als Ort der kulturellen Selbstverständigung? Welche Rolle für eine mögliche neue Debattenkultur spielen dabei die Blogs, sozialen Medien und an-dere digitale Plattformen?