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Egon Erwin Kisch...Egon Erwin Kisch Entdeckungen in Mexiko Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Aufbau Verlag, Berlin, 1947, 1974 1. Auflage, ISBN 978-3-962817-07-7 II Inhaltsverzeichnis

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Egon Erwin Kisch

Entdeckungen in Mexiko

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Egon Erwin Kisch

Entdeckungen in Mexiko

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019EV: Aufbau Verlag, Berlin, 1947, 19741. Auflage, ISBN 978-3-962817-07-7

null-papier.de/676

null-papier.de/katalog

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Inhaltsverzeichnis

Geschichten mit dem Mais 2 ........................................ Ein Vulkan bricht aus 16 .............................................. Kolleg: Kulturgeschichte des Kaktus 31 ......................

I. Heraldik 31 .................................................................... II. Bildende Kunst 32 ........................................................ III. Literatur 34 ................................................................. IV. Geschichte 36 ............................................................. V. Manufakturwesen 39 .................................................... VI. Revolutionsgeschichte 41 ........................................... VII. Industrie 42 ............................................................... VIII. Pharmakologie 45 ..................................................... IX. Ethnografie 47 ............................................................ X. Gastronomie 49 ............................................................ XI. Hydrologie 50 .............................................................. XII. Dialektik 52 ...............................................................

Der Nibelungenhort von Mexiko 54 ............................. I. Wie man den Schatz fand 54 ......................................... II. Das Gold flüchtet 62 .................................................... III. Das große Suchen 68 ..................................................

Interview mit den Pyramiden 77 ................................. I 78 ................................................................................... II 80 .................................................................................. III 84 ................................................................................. IV 90 ................................................................................. V 92 ..................................................................................

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III

VI 94 ................................................................................. VII 96 ................................................................................

»Nicht jedem Volke ward solches getan …« 100 .......... Das verteilte Baumwolland 116 ................................... Maximilian von Habsburg und Karl Marx 140 ............. Landschaft, geschaffen um des Silbers willen 155 ....... Liebe und Lepra 168 .................................................... Mineral der motorisierten Menschheit 183 ................. Agavenhain in der Kaschemme 196 .............................

I 196 ................................................................................. II 202 ................................................................................

Fragen, nichts als Fragen auf dem Monte Albán211 ...............................................................................

An der Kräuterbude 220 ............................................... Der Mensch im Kampf der Hähne 234 ......................... Geschäftsreise 250 ....................................................... Indiodorf unter dem Davidstern 264 ........................... Mexikoforschung bei den Nazis 278 ............................ Verwirrung einer Kaiserin 289 ..................................... Zum Geburtstag des feuerspeienden Bergs 305 ........... Bonanza oder die Prinzen der glücklichen Strähne

316 ............................................................................... Wirtschaftliches Feuilleton über Torreón 334 ............. Was immer der Peyote sei … 353 ................................. Der Hafen der Seeräuber 361 ....................................... Der Kaugummi, erzählt vom Ende bis zum Anfang

375 ............................................................................... Die fetten und die mageren Jahre der Stricke 393 .......

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IV

Die Vanille-Indianer 407 ............................................. Die Petroleumleitung 420 ............................................

I 420 ................................................................................. II 433 ................................................................................

Der Kaspar Hauser unter den Nationen 443 ................ Versuch einer Beschreibung von Chichen Itza 454 ...... Sportbetrieb bei den alten Mayas 463 .......................... Teoberto Maler, ein Mann in verzauberter Stadt

469 ............................................................................... Marktnotierungen 479 ................................................. Erlebnisse beim Erdbeben 497 .....................................

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Danke

Danke, dass Sie sich für ein E-Book aus meinem Ver-lag entschieden haben.

Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben,schreiben Sie mir.

IhrJürgen Schulze

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Geschichten mit dem Mais

Der mexikanischen Erde verdankt die Welt den Mais,ihren großen Ernährer. (Nur der Reis ist ein noch grö-ßerer.)

Der Mais ist eines der Kroninsignien von Mexiko;Krone ist die Agave, Zepter ist der Orgelkaktus, undder golden erstrahlende Reichsapfel ist der Maiskol-ben.

Nirgends tritt eine Ackerfrucht in Städten so sicht-barlich in Erscheinung wie der Mais in Mexiko. Daserste, was auffällt, sind die Tortillerías, Bäckereienund Bäckerläden zugleich und doch auch keines vonbeiden. Schaufenster und Türen fehlen, so zwar, dassdas Lokal zu einer offenen Nische der Straße wird. EinTeil der Arbeit vollzieht sich sogar auf dem Bürgers-teig: das Scheuern der steinernen Reibe »Metate«, dieReinigung des eisernen Herds und am Abend das Kne-ten der ausgebrannten Holzkohle zu einer Art Bri-ketts.

Das Innere aber, wenn man bei einem so weit geöff-neten Raum von einem Innern sprechen kann, istkeine Bäckerwerkstatt mit Backofenglut und schwit-zenden Gesellen und schürenden Lehrlingen, mit lan-gen Feuerzangen, sargähnlichen Trögen und vielstö-ckigen Brotregalen.

In den Tortillerías sind nur Frauen am Werk. Vor-

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erst kneten sie den aus Kalk und gemahlenem Mais be-stehenden Teig, die Masa. Es ist der Kalk, der die Sch-mackhaftigkeit und die beliebte Helle der Tortilla aus-macht und den Esser vor Rachitis schützt; auf Schrittund Tritt sieht man, dass die Tortilla den Zähnen guttut, – selbst die ältesten Mexikaner fletschen ein lü-ckenloses weißes Gebiss mitsamt rosarotem Zahnf-leisch, wie es bei Brotfressern nur dann erstrahlt,wenn es vom Dentisten stammt.

Ist der Teig durchgeknetet und geschmeidig, dannnimmt die Tortillera … Ehe wir weiterschreiben, müs-sen wir den Leser warnen, das Wort Tortillera etwa inSpanien so ohne weiteres anzuwenden. In Spanienmacht und isst man keine Tortillas, aber es gibt Tortil-leras. So heißen nämlich dort die lesbischen Frauen.(Als ein Schiff mit spanischen Flüchtlingen in Ver-acruz landete und mexikanische Zeitungen an Bord ka-men, starrten die Passagiere verblüfft auf die Über-schrift »Streik der Tortilleras«. Welch seltsames Land,sagten die Neuankömmlinge, wo solche Frauen strei-ken. Verlangen sie kürzere Arbeitszeit, höhere Löhne,Kollektivvertrag?)

Aber wir sind bei den normalen mexikanischen Tor-tilleras, während sie von der Teigmasse einen kleinenKlumpen zwischen die Handflächen nehmen. Nun be-ginnt ein weithin hörbarer Arbeitsgang. Der Klumpenwird zu einer runden und dünnen Platte gepatscht,die, um noch kreisrunder und noch dünner zu werden,unzählige Male und in hohem Bogen blitzschnell aus

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der einen Handfläche in die andere fliegt. Die Tschinel-lenschläger der seligen Wiener Burgmusik werden vonden Tortilleras geradezu an die Wand geklatscht, –was Wunder, jonglieren doch die Mexikanerinnenschon seit Urzeiten ihr tägliches Brot auf diese Artund Weise, wie sollten sie’s da nicht besser können alsein Soldat mit beschränkter Dienstzeit!

Kundinnen füllen den Laden, begleiten das Klat-schen mit ihrem Klatsch, dieweil die Disken die Luftdurchfliegen. Von Zeit zu Zeit taucht die Tortilleraihre Hände in warmes Wasser, um haftengebliebeneTeigstückchen abzuspülen. Schließlich hat der Fladeneine fast arithmetische Kreisrundheit erreicht. Aufden Comal, die heiße Herdplatte, kommt nun ein we-nig Fett, damit die Tortilla nicht kleben bleibe, wennsie daraufgelegt wird, und sie wird daraufgelegt.Leicht angebacken, mit einem schwarzen Fleck auf gel-bem Fond, frisch und warm, ist sie ein Eierkuchenohne Ei, ohne Salz und ohne Zucker. Die Tortilla istdas Brot von Millionen, und dient auch als Gabel, Löf-fel und Teller für jene, die zu diesem Brot noch etwasanderes zu essen haben.

Der tägliche Marktbesuch wird mit dem Einkaufder Tortillas beschlossen, und aus der Tortillería läuftdie Käuferin geradenwegs nach Hause, um die Tortil-las noch warm auf den Tisch zu bringen. Dort, wo dasBacken im Haus geschieht, geschieht es während derTischzeit, und ununterbrochen werden aus der Kücheneue Tortillas herangetragen, auf dass sie so heiß ge-

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gessen werden, wie sie gekocht sind.In den Dörfern regiert nicht die Tortillería das Stra-

ßenbild, sondern der Molino de Nixtamal, die Mais-mühle. Kein Dorf, das nicht mindestens einen Ladenmit dieser Aufschrift und einer kleinen Mühle mit Ga-solinmotor hat. »Nixtamal« ist ein indianisches Wort,das sich in die heutige Zeit Mexikos hinübergerettethat. (Auch das Wort »Tlapalería« stammt von einemaztekischen Substantiv, aber da es in der Aztekenzeitkaum Farbwarengeschäfte gab, muss es erst später inGeschäftsgebrauch gekommen sein. Nixtamal wurdejedoch schon in der prähispanischen Zeit zermahlen.)

Die Frauen der Provinz bringen ihren eigenen Maisin den Molino de Nixtamal. Etwas Mais hat auf demLande jedermann, zumindest ein paar Stauden, dierings um die Hütte aufschießen. In den Höfen steht –Wahrzeichen des mexikanischen Dorfes – ein vierecki-ges, schlankes Türmchen, aus Maisstroh geflochten:der Cincolote, Speicher für Maiskolben. Ein Dachschützt ihn gegen Regen, und er steht hoch auf hölzer-nen Füßen, damit die Ratten nicht hinaufkriechen kön-nen.

Dem Cincolote entstammen die Körner, welche dieHausfrau im Molino de Nixtamal mit Kalk zur Masavermahlen lässt. Zu Hause – jeder Küchenherd eineTortillería – bäckt sie die Tortillas für ihre Familie.Oder auch für den Verkauf. Die Tortillas auf denMarkt zu tragen ist Altenteil der Urahne. Barfüßig, aufden Zehenspitzen, mit gebeugten Knien und schnel-

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len kurzen Schritten, den Korb auf dem Kopf balancie-rend, trabt sie seit tausend Jahren ihren Marktweg, oftmeilenweit. Ein mitleidiges Auto will sie mitnehmen.Antwortlos, verständnislos trabt sie weiter, demMarkte zu. Dort hockt sie seit dem ersten jener tau-send Jahre unbeweglich mitten im stoßenden Gewühlvor dem gleichen Korb mit den gleichen Tortillas ander gleichen Stelle. Wenn das letzte Stück seinen Käu-fer gefunden hat, trabt sie nach Hause, wie sie gekom-men.

Die Molinos de Nixtamal in den großen Städtensind Fabriken, elektrisch betrieben, Aktien- oder Kom-manditgesellschaften gehörig. Gegen sie und gegenihre Maislieferanten richten sich die Vorwürfe der Be-völkerung, wenn der Preis der Tortilla steigt. Denn derPreis der Tortilla bestimmt das Leben der Massen.

Bei der Demonstration am Ersten Mai in Mexiko--Stadt fällt einem, der die vorige Maifeier in New Yorkerlebt hat, zweierlei auf: die agrarische Grundhaltungder mexikanischen Industriearbeiter und die geringeBetonung des Interesses am Geldwert. Auf dem Wegzum Union Square hatten die New Yorker Kolonnengegen die Erhöhung des Untergrundbahntarifs protes-

tiert. »Five cents is fair enough«,1

sie zeigten Tabellenmit unzulänglichen Löhnen, und den gemalten Lohn-tüten standen gemalte Säcke mit den Millionenprofi-ten der Verwaltungsräte gegenüber. Der mexikanischeArbeiter, weit schlechter bezahlt, erwähnt an seinemFeiertag dergleichen nicht. Er lebt in einem Lande, wo

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die Revolution noch nichts Verjährtes, nichts my-thisch Verfälschtes ist, sondern eine Gegenwart, der al-les Ersprießliche oder halbwegs Ersprießliche ent-stammt. In Mexiko rühmen sich selbst Reaktionäre inrasselnden Reden mit rollendem R der riesigen Rolle,die sie in der ruhmreichen Revolution gespielt habenwollen.

An der Seite der Landarbeiter haben die Stadtarbei-ter für Landaufteilung und gegen Leibeigenschaft ge-kämpft, und sie tragen noch immer diese agrarischenIdeale vor sich her. Das Porträt des Bauernführers Emi-liano Zapata reitet über den Beamten der Pfandleihan-stalt, »Land und Freiheit«, verlangen die Metallarbei-ter. Und alle, ob sie Belegschaften der Petroleumzen-trale oder des Elektrizitätswerks, ob sie Autobusschaff-ner, Lehrer, Eisenbahner, Buchdrucker, Rohrleger, Tex-tilarbeiter, Angestellte der Stierkampfarena oder Kino-operateure sind, alle vereinigen sich in Banner undRuf zum Protest gegen den gemeinsamen Feind: »Con-tra los acaparadores del maíz«, gegen die Maisspeku-lanten.

Übrigens bewegt sich die Maidemonstration mit-ten in einem ambulanten Markt von Nahrungsmitteln,und auch auf dem dominiert der Mais. In allen For-men bieten ihn die Straßenhändler an.

»Elote« heißt in Mexiko der pure Maiskolben. Ge-sotten oder geröstet wird er von des Straßenkochsglimmenden Holzkohlen weggekauft und auf demMarsch geknabbert. Auch die vier Nationalspeisen, Ta-

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males, Enchiladas, Tacos oder Quesadillas, kauft undisst man unterwegs. Die Unterschiede zwischen die-sen vier Gerichten muss man lernen, wenn man Me-xiko durchwandert und unter dem wählen will, wasGarküche und Markt feilhalten.

1. Tamales: außen Mais, innen Mais. Eingeschla-gen in ein Maisblatt liegt die mitsamt der Schale ge-schrotete Maismasse; sie ist in Dampf gekocht, oft mitetwas Fleisch, und wenn man will – und man will im-mer – mit Chilepfeffer darin.

2. Enchiladas: eine gerollte Tortilla, gefüllt mit et-was Truthahn- oder sonstigem Fleisch, Gemüse oderweißem Käse, gedünstet in Tomatensoße, gespicktmit Zwiebeln. Und wenn man will – und man will im-mer – mit Chilepfeffer.

3. Tacos: sie sind die mexikanischen Sandwichs,knusprige Tortillas mit Frijoles (Bohnen) darin, Ge-müse oder Fleisch und wenn man will – und man willimmer – mit Chilepfeffer.

4. Quesadillas: eine Tortilla mit Fleisch, Wurst,Käse oder Flor de Calabaza (Kürbisblüte) gefüllt, in hei-ßem Fett gesotten. Und, ob man will oder nicht, im-mer mit Chilepfeffer.

Jedoch nicht nur gegessen wird der Mais, sondernauch getrunken. Der Atole ist ein Getränk, wiewohl ermehr an verdünnten Brei oder Grießsuppe erinnert; er-zeugt wird er aus gequirltem Maismehl und manchmalmit Fruchtsaft vermischt. Oder Pozole, eine Suppe ausgetrocknetem Mais, über einem Schweinskopf ge-

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kocht, mit rohen Zwiebeln und jenen Garbanzos2

reichversehen, gegen die Heines Atta Troll so heftig los-zieht.

Auch zur Alkoholisierung des Volkes trägt derMais das Seine bei, in Mexiko durch den Pulque deMaíz, der dem gewöhnlichen Pulque in nichts nach-steht, und in Bolivien durch die Chicha, deren abson-derliche Technologie ihrer Beliebtheit keinen Abbruchtut. Den ganzen Tag lang, während aller ihrer Beschäf-tigungen, kauen die bolivianischen Frauen frischeMaiskörner und spucken sie von Zeit zu Zeit in einenBottich. Kraft des Speichels löst sich der Zuckergehaltund geht in Gärung über, und am Abend können sichdie Ehemänner das hinter die Binde gießen, was dieEhefrauen im Laufe des Tages fürsorglich zubereitethaben. So viel und noch mehr lässt sich aus dem Maismachen, so mannigfaltig lässt er sich genießen.

Der toltekischen Religion zufolge war Mais derStoff, aus dem der Mensch besteht. Aus der Höhle Cin-calli, dem Haus des Mais, wurden die ungeborenenKinder auf die Mutterleiber verteilt und konnten bloßdurch Genuss von Mais leben und wachsen. Aber nurZufall oder eine Gnade der Götter war es, wenn die In-dios in ihrer Nomadenzeit einer Staude von wildemMais begegneten. Meist mussten sie hungern, und aufihre bange Frage: Wo liegt die Höhle Cincalli? gab esnur die Antwort: Das wissen die Götter.

Jedoch nicht einmal die Götter wussten das, undgerade die hätten es besonders gern gewusst. Denn

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auf Erden wurde der Mais »Gras der Götter« genannt,und wenn die Menschen erfahren würden, dass die All-wissenden nicht wissen, wo ihr eigenes Gras wachse,so wäre es mit religiösem Respekt und Opferwilligkeitvorbei.

Deshalb betrauten die Götter einen der Ihren mitder Investigation. Dieser brachte verhältnismäßigrasch heraus, dass die scharlachrote Ameise im Hausdes Mais verkehre, und zwar nur in der sogenanntenZwinkernden Nacht. Die Adresse dieses Hauseskonnte der Götterdetektiv lange nicht eruieren. Erstnach zweiundfünfzig Jahren der Beobachtung gelanges ihm, in der Zwinkernden Nacht die scharlachroteAmeise zu ertappen, als sie aus einem Bergspalt kammit einem ganzen Maiskorn auf der Schulter. Genauso wie es die irdischen Detektive in solchen Fällentun, verkleidete sich der göttliche, er verkleidete sichals scharlachrote Ameise und schlüpfte durch dieSpalte in die Höhle Cincalli, die von unten bis oben ge-füllt war mit goldenen Körnern. So brachten die Göt-ter den Mais zu den Menschen und bewiesen, dass siewussten, wo er zu holen sei.

Der Mensch wurde nun ein ganzer Mensch. Erbrauchte nicht mehr umherzuirren, um sein Essen zufinden, er vergrub die Körner in die Erde und wartete,bis sie auferstanden und ihm eine Mahlzeit auftisch-ten. Solcherart seßhaft geworden, baute er sein Dach,und aus Hütte und Hütte wurde die Gemeinschaft.

Allerdings, allzu üppig ließen die Götter den Men-

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schen nicht werden, er sollte abhängig bleiben vonden Göttern. Deshalb verknappten sie den Mais, esgab Missernten und Hunger. Die Menschen, nicht ge-willt, Hungersnöte gottergeben hinzunehmen, wehr-ten sich. Sie legten in den fetten Jahren Kornkammernan für allfällige magere Jahre.

Nachdem die Spanier ins Land gedrungen waren,drangen sie auch in diese Speicher ein, und bekamenErektionen von Habgier angesichts des bis zum Dach-boden aufgeschichteten Goldes. Umso heftiger war dieEnttäuschung, als sie erkannten, dass es nur Körner ei-ner Ackerfrucht waren. Wohl sandten sie einige Pro-ben davon nach Spanien, aber der Hof kannte dasKorn bereits, denn Columbus hatte es mitgebracht,ohne Interesse dafür zu wecken. Einige spanischeGranden, die es als ein kurioses Kraut in ihren Gartenpflanzten, ernteten nur das Naserümpfen ihrer Da-men.

Zwanzig Jahre nach der Cortezschen Sendungschenkten die Gründer der Stadt Valladolid in Yucatánihrer Patenstadt in Spanien einen Sack mit Mais. DieStadtväter des spanischen Valladolid wussten dieGabe besser einzuschätzen. Sie bauten den Mais an,verbreiteten ihn über ganz Europa und gründeten eineProduktenbörse, die jahrhundertelang dem Maishan-del der Welt die Kurse diktierte.

In manchen Ländern nannte man den Mais »Ku-kuruz«, in manchen »Corn«. Zumeist aber hieß er »tür-kischer Weizen«, und zwar aus dem gleichen Grunde,

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aus dem man in England den Truthahn »Turkey«nennt. Jene Turkey, der wir beides verdanken, liegt inMexiko. Europa vermochte damals nicht über den Kon-tinent hinauszudenken und identifizierte sich selbstmit dem Weltall. Ferne, exotische Landschaften konn-ten nicht anderswo gelegen sein als in dem Grenzwin-kel Europas: der Türkei.

Auch nach der Vertreibung der Maisgötter und derEinsetzung von Kalenderheiligen kam es in Mexiko zuMaisverknappung und Teuerung, ja es kam zu Aufstän-den gegen die »Acaparadores del maíz«. Von einerMaisrevolte im Juni 1692 erfährt man, wenn man sichfür einen Reporter jener Zeit interessiert, für Carlosde Sigüenza y Góngora, der sich und seine Zeitschrift»Mercurio Volante« nannte.

Günstlinge des Vizekönigs hatten zu Spekulations-zwecken Mais gehamstert. Vergeblich stand die Bevöl-kerung Schlange vor den Molinos de Nixtamal und vorden Tortillerías. Es setzte Zusammenstöße mit derStadtwache, und dabei wurde eine Frau von Hellebar-den durchbohrt. Erbittert wälzte sich die Menge zumSchloss, steckte es in Brand, und Kollege Carlos de Si-güenza y Góngora, der rasende Merkur, lässt durchbli-cken, dass viele Tote und sonstiges Unheil zu bekla-gen waren.

Spekulierende Günstlinge des Vizekönigs gibt esnicht mehr, seit es das Amt des Vizekönigs nicht mehrgibt, aber der Mais hat nicht aufgehört, Objekt der Spe-kulation zu sein. Keine Regierung, die nicht versucht

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hätte, diesem Kardinalproblem der Innenpolitik beizu-kommen. Maximalpreise für Mais und Tortillas wur-den festgesetzt, Anbaugesetze erlassen, Zoll- undTransporttarife reguliert; Vorschüsse auf Ernten ge-währt und ein Notstandsspeicher für den Distrito Fe-deral, das hauptstädtische Gebiet, eingerichtet, worinmindestens 12 000 und höchstens 25 000 Tonnen la-gern für eine dreißigtägige Versorgung.

Außerdem wird nach Mexiko, das früher Mais ex-portierte, Mais eingeführt. Wegen der frachtgünstigenNähe der nordamerikanischen Maishäfen am Golf vonMexiko (Corpus Christi, Houston-Galveston und NewOrleans) verschwand schon vor Kriegsausbruch dergelbe, an Vitamin B reiche Plata-Mais Argentiniensfast ganz vom mexikanischen Markt. – Statt seinerwird Whitecorn 2, ein weißer, flachkörniger Mais ausden Vereinigten Staaten, gehandelt, und das Wort»Whitecorn Number Two« kehrt in Erlässen und Proto-kollen immer wieder, ohne dass die Tortillera oder garder Tortilla-Esser eine Ahnung hat, was das bedeutet.

Umso besser weiß man in der Calle Mesones, wasWhitecorn Number Two bedeutet. Calle Mesones istdie Straße der Pfeffersäcke, bildlich und konkret. Sä-cke mit Chilepfeffer kommen hierher, liegen hier undgehen von hier ab, und Säcke mit anderen Gewürzen,mit Nahrungs- und Futtermitteln, vor allem mit Mais.Hinter Schaltern und an Telefonen spekulieren diePfeffersäcke in Menschengestalt.

Unbefahrbar ist tagsüber die Fahrbahn der Straße,

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weil Frachtautos und Personenautos sie verstopfen;über kein Auto, ja nicht einmal über Schuhwerk verfü-gen die vom Lande herangewanderten Lastträger, diehier löschen und laden.

Was in dieser Straße nicht direkt dem Großhandelmit Nahrungsmitteln dient, dient ihm indirekt. Ge-schäfte mit Säcken und Seilen aus Henequén, der Fa-ser von Yucatán, Reparaturwerkstätten mit riesigenReifen für riesige Lastautos, Tischlereien für Kistenund – eine Spezialität, die der sonst ähnliche Straßen-zug an den Pariser Markthallen nicht kennt – Waffen-handlungen mit Revolvern für Einkäufer von Mais.

Die Calle Mesones ist eine Börse, aber ihre Mitglie-der sind immerhin der Ware nah. Anders als auf demChicagoer Board of Trade. Dort hört man zwar diePfeife der Börsianer, sieht jedoch keinen Maiskolben.Noch weniger sieht man, wie die Maiskolben nach die-ser Pfeife tanzen. (Filmoperateur: Überblenden Sievon den Bewegungen der Chicagoer Kurstafel auf dievon Hand zu Hand springenden Tortillas in der Tortil-lería!)

Zu viele Regisseure und Choreografen sind am Ar-rangement dieses Balletts beteiligt, und der, für dender Mais kein Divertissement, sondern Nahrung bedeu-tet, kommt um den Genuss. Aber die Börsenspekula-tion trägt nicht die Alleinschuld daran, dass der VaterUnser das Gebet um das tägliche Maisbrot nicht erhö-ren kann. Zu den vielen Schwierigkeiten ist eine neuegetreten.

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Die Vereinigten Staaten von Nordamerika kaufendie mexikanischen Arbeitskräfte auf. Sie bieten Tages-löhne bis zu acht Dollar und Verträge bis zu neun Mo-naten, also Verdienstmöglichkeiten, wie sie keinemLandarbeiter in Mexiko lächeln. Eine Massenübersied-lung über die Grenze hat eingesetzt, eine wahre Völ-kerwanderung. Ganze Distrikte Mexikos stehen entvöl-kert da, weil ihre Bewohner auf den Tomaten-, Spi-nat-, Broccoli- und Obstplantagen und bei Reparatu-ren von Eisenbahngleisen in Kalifornien und Texas be-schäftigt sind.

Dem Bauern bleiben keine Arbeitskräfte. So geht

er entweder als »Bracero«3

nach USA, oder er bautstatt Mais, der ihm nur 325 Pesos per Tonne brächte,zum Beispiel Sesam an mit einem Ertragspreis von1100 Pesos. Alle Nutzpflanzen stehen weit höher imKurs als der Mais, ohne den das Volk verhungernmüsste.

(engl.) Fünf Cent ist (mehr als) genug. <<<1.Kichererbsen <<<2.(span.) Tagelöhner. <<<3.

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Ein Vulkan bricht aus

Ich sitze auf dem Trittbrett eines Autos, um zu skizzie-ren, was sich vor mir begibt. Mit grellem Hohn be-leuchtet das Modell mein Papier. Für dieses Modellgibt es keinen Begriff. Es ist kein Lebewesen und lebtdennoch in unausgesetzter Bewegung. Es ist ein geolo-gisches oder ein mineralogisches Ding, jedenfalls anor-ganisch, und dennoch tobt es und faucht es und gröltes und wirft Steine und Spott auf mein Papier.

Heute Nachmittag kam ich zu diesem Wesen, dassich vor zwei Wochen aus dem Bauch von Mutter Erdezu gebären begonnen hat und sich mit dem losgelös-ten Teil des Körpers hochreckte und immer höher,hundert Meter, zweihundert Meter. Das Neugeboreneschrie zum Himmel, sein Nabel war entzündet, esspritzte Blut und Galle, es fauchte die Atmosphärevoll und schüttete eine Riesenmenge Unrat aus sich.

Dieser Unrat liegt um den entstehenden Berg wieein Mühlstein oder wie die Krempe eines Sombreros.Das Material ist Schlacke. Ihre großen, scharfzackigenStücke drücken sich aneinander, als wären sie gewebtund geplättet zu einem überdimensionalen Sombrero,als wären sie gemeißelt zum Mühlstein für GottesMühlen. Dick ist der Stoff der Krempe, dick der Mühl-stein, zwölf Meter dick.

Ich trat an diese zwölf Meter hohe Lavawand, aber

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ich konnte sie nicht berühren, sie ergriff mich mit ih-rer Glut. So ging ich denn die Glut ab, Kilometer imKreise. Es klirrte im Gemäuer, rasselte wie Eisenket-ten, einer oder der andere der Mauersteine löste sichund fiel herab. Nur als Ganzes und nur allmählich er-weitert sich der Kreis der Lava, wie ein Wellenring,zehn Meter per Tag rückt der Rand vor, immer senk-recht bleibend. Was im Wege steht, wird mitgenom-men, hohe Bäume verschwinden ohne Spur.

Ich hatte mir Lava als etwas Dickflüssiges, Glasigesvorgestellt, einen Strom. Das hier jedoch war plum-pes, zackiges, dunkelgraues Geröll. Nicht einmal ent-fernt verwandt ist es dem Obsidian, der wie ein düste-rer Halbedelstein dem Durchwanderer mexikanischerZonen oft entgegenfunkelt; aus der zu Obsidian erkal-teten Lava erzeugten die Indios Waffen und Werk-

zeuge, Idolos1

und Schmuck – aus den Bestandteilendieser Mauer ließe sich gar nichts machen. Sie sindSteine, aus dem ewigen Dunkel des Erdenschoßes demewigen Hell der Sonne zugeworfen. Steil fielen sie nie-der, hart neben dem Krater, aus dem sie kamen. Aberschon nach einigen Sekunden, mit dem nächsten Aus-bruch, langten neue Emigranten an, wollten der Hei-mat möglichst nahe bleiben und drängten die Erstan-kömmlinge zur Seite. Die rückten ab in konzentri-schem Kreis, Schritt für Schritt, zehn Meter in vierund-zwanzig Stunden.

Das Vorfeld des Vulkans und seines Lavakreises istflaches Land, Maisfeld und Kuhweide, hier und da ein

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mit Nadelwald bestandener Hügel, dessen Fuß jetztauf der dem Vulkan zugekehrten Seite zwölf Meterhoch mit Lavablöcken bedeckt ist.

Auf der anderen Seite eines solchen Hügels ver-suchte ich emporzuklettern. Die Steigung war nichtgroß, aber staubige Asche bedeckte den Hang, sodassich bis zu den Knien einsank. Leicht buddelte ich michwieder heraus und kroch bäuchlings weiter, wobei mirÄste halbverschütteter Bäume hilfsbereit die Handreichten.

Von der Höhe konnte ich das Lavafeld übersehen.Block neben Block, grau und rauchend, bewegte sichmit unheimlicher Langsamkeit, ein Ozean aus gesch-molzenem Basalt, eine Sahara aus halberstarrtenSchlacken. Nichts, nichts, nichts Menschliches, keineVerbindung zu irgendeinem Lebewesen. Jene anderenWüsten, jene anderen Meere, die bislang diesem Ge-röll Heimat waren, niemals wurden sie von einer Kara-wane durchquert oder von einem Schiff befahren, vonjener Welt unter der Erdkruste berichten nur Theorienund Hypothesen.

Hier auf meines Hügels Zinnen stand ich in derHöhe des Kraters, dem Krater gegenüber. Er erglänztein überirdischer (oder soll ich sagen: unterirdischer?)Beleuchtung. Viel ging darin vor, jedoch es war, alsblickte ich statt in den mich blendenden Schein ineine schwarze Nacht, so wenig konnte ich erkennen.Selbst wenn ich nur aussage, dass der Krater als Muldeoben auf dem Berg eingebettet liegt, ist diese Aussage

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falsch. Die Öffnung der Erde ist tiefer unten, auf demverschütteten Maisfeld eines Mannes aus der nahenOrtschaft Paricutín.

Dieser Mann, der Indio Dionisio Pulido, kam vorvierzehn Tagen, am Nachmittag des 20. Februar 1943,hierher und sah plötzlich, wie seine Ackerfläche aus-einanderklaffte, sich hochhob, zu qualmen und zu don-nern begann, und er nahm die Beine in die Hände.

Von Dionisios Maisfeld blieb nichts übrig, nie wie-der in aller Ewigkeit wird es ein Maisfeld sein. Dennder Krater hat es vollgespien und speit weiter, sodassein Berg entstand, der ununterbrochen wächst, undauf dessen Plateau nun der Krater eingebettet scheintgleich einer Mulde.

Aus dieser Mulde schießt alle vier oder sechs Se-kunden die Rauch- und Feuersäule ins Firmament.Neunmal nacheinander sind die Explosionen verhält-nismäßig schwach, dann kommen vier von mittleremGrad, dann zwei starke und schließlich die stärkste,eine unheimliche, fulminante Eruption. Diese Reihen-folge wird eingehalten, wenn auch nicht die Inter-valle. Manchmal platzt eine starke Detonation rück-sichtslos in eine schwache hinein.

Schon heute Morgen und aus einer Ferne von Mei-len hatte ich, als ich durch den Staat Michoacán hier-herfuhr, die Rauch- und Feuersäule gesehen. Da warsie freilich nur eine Rauchsäule schlechthin gewesen.Auch am Nachmittag, als ich bei ihr ankam, schien sieaus Qualm und Dampf zu bestehen, ein enormer Blu-

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menkohl aus Rauch, in dessen Mitte ein rötlicherStrunk schimmerte. Mit Anbruch der Dunkelheitwurde es anders.

Mit Anbruch der Dunkelheit wurde alles hell. Vorallem die Rauchsäule. Die ist jetzt zur Feuersäule ge-worden. Rot springt sie auf, rot ragt sie hoch, rot ver-schwindet sie. Die Flamme, die nachmittags kaumeine Unterströmung des wallenden Rauches war, domi-niert absolut, und der graue Dampf darf nur mehr wieein Schatten in ihrem Innern umherhuschen.

In heißen Farben vollzieht sich ihr Aufsprung, auf-regend und in wechselvollen Formen. Einmal ist es einRoss, das aus dem Berg heraussprengt, sich aufbäumt,schnaubt und zusammenbricht. Einmal erscheint eineallegorische Statue mit einer Fackel in der erhobenenHand – Symbol, das im kosmischen Nu zu einem spur-losen Nichts vergeht. Einmal wächst aus dem Zauber-berg eine Palme auf mit breitem goldenem Stamm, gol-denem Astwerk und goldenen Früchten; ach, derStamm zersplittert, die Zweige zerbrechen, und die Ko-kosnüsse fallen zu Boden, bevor ich mich dessen ver-sehe. Einmal scheint die Feuersäule eine wirklicheSäule zu sein, eine barocke Säule mit üppigen Aus-buchtungen und Windungen, die wie Brüste, Hüftenund Becken sind, lockend reckt sie sich bis zum Him-mel, um zu bersten, wenn sie ihr Ziel erreicht. Einmalist sie ein Feuerwerk mit steil aufzischenden Raketenund platzenden Sprühregenkörperchen, ein Feuer-werk, wie es der erste Schlossherr von Versailles nicht

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erträumte.Ununterbrochen keucht es aus dem Krater stoßar-

tig wie eine Lokomotive, ununterbrochen schießt eineBatterie, auch während die Eruption hochgeht, ab-sackt und erlischt. Wenn eine Seeschlacht tobt, wennChemikalien explodieren, wenn eine bombardierteStadt zum Flammenmeer wird, wenn Hochöfen lodern– ich weiß den Grund. Aber hier? Weshalb faucht esund donnert es, warum werden Fels und Brand undAsche zuerst himmelan und dann erdwärts geschleu-dert, wer und was schafft da in diesem Schlund, wielange wird das dauern, noch einen Tag oder ein Jahr-tausend?

Wäre es für die gärende Unterwelt nicht bequemergewesen, durch die unergründlich tiefen Schluchtender Gegend, die »Barrancas«, oder durch die Kanäleund Trichter der schon vorhandenen Vulkane aufzu-stoßen als durch dieses Tal? Warum ward gerade dasstille Paricutín auserkoren, und darin der Acker des In-dios Dionisio Pulido?

Am Nachmittag sah ich Steine aus dem Krater flie-gen, die sich unterwegs aus der Rauchsäule lösten undin alle Himmelsrichtungen absprangen. Vom Abend-dämmer an aber sind es Feuerblöcke. Sie fahren demSternbild des Orion zu, und einen Augenblick langscheinen sie ihm anzugehören. Ist dieser Augenblickvergangen, dann blitzen sie sternschnuppenartig aufden Berg hernieder, den vor ihnen andere Feuerblöckegeschaffen haben. Viele der Sternsteine fallen in den

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Krater zurück, andere auf den Gipfel des Bergkegelsund kullern und purzeln von dort herab. Als wäre dieBasis des Bergkegels in 360 Grad eingeteilt, rollt zu je-dem Grad von der Spitze eine goldene Strähne, drei-hundertsechzig Lawinen aus flüssigem Gold. Der Bergwird durchsichtig.

Ich höre die Kanonade nicht mehr, ich spüre denBrandgeruch nicht mehr, ich fühle die Hitze nichtmehr. Ich schaue nur und bin in Visionen verstrickt.

Tagsüber war der Lavarand eine Mauer aus dunkel-grauen, blaugrauen Basaltschlacken. Nachtsüber aberstehen die Blöcke in Brand. Ich könnte beeiden, dass

ich die Grande Corniche2

vor mir habe: Hellbeleuchtet

schiebt sich das Casino de la Jetée3

ins Meer, es bren-nen in waagrechter, regelmäßiger Kette die Straßen-lampen der Promenade des Anglais, dann schwingtsich die Lichterkette hügelan und hügelab und mün-det in der illuminierten Kuppel der Spielerkathedralevon Monte Carlo. Dazwischen, von Lichtreklamenüberwölbt, Bars, Pavillons und Geschäfte mit Juwelenund allen erdenklichen Arten von Glanz. Der Glanz be-leuchtet das Papier, auf dem ich schreibe.

Vor vierzehn Tagen gab es auf dem Podium dieserGaukelspiele noch wirkliches Leben. Das ist weg fürimmerdar, weg ist das Gras mit Käfer und Wurm, wegdas Maisfeld mit Feldmaus und Maulwurf, weg derBaum mit Vogel und Schmetterling, weg die Weidemit Kuh und Esel. Im Umkreis aber, hart am Rand des

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Ausbruchs, setzt sich das Leben fort.Vögel schwirren umher, für die es doch eine Klei-

nigkeit wäre, sich in eine kühle, von Gedröhn und Geb-litz nicht gestörte Sphäre zu erheben. Ganz tief flie-gen diese farbenreichen Vögel, nahe dem aschenbe-deckten Erdboden, an meinen Knien vorbei, wahr-scheinlich suchen sie ihr Nest und ihre Familie und fin-den sich nicht zurecht in der total veränderten Ge-gend.

Schütter steht der Wald da. Den Bäumen ist inMannshöhe ein Stück Rinde ausgeschnitten, dasnackte Holz schaut heraus, und wenn vom Vulkan herReflexe auf dieses gelbe Gesicht fallen, schneidet esGrimassen. Unheimlich ist es, den zuckenden Fratzenausgesetzt zu sein, obwohl man weiß, dass sie nurSchnitte im Baumstamm sind, aus denen das Harz inein darunter angebrachtes Gefäß fließt.

Ich kenne die Psychologie von Vulkanen nicht. Istder eben erstandene enttäuscht, weil er ein Objekt derNeugierde, des Geldverdienens und der Sensation ge-worden ist? Seit Vulkangedenken ist es noch keinemergangen wie ihm. Man hängt ihm ein Mikrophon vordie Nase, und er muss hineinkeuchen, hineinhustenoder hineindonnern für die Rundfunkhörer der Konti-nente. Man stellt ihm einen fotografischen Apparatvor die Nase, und jeden Anblick, den er profil oder en

face4

bietet, bietet er den Abonnenten der illustriertenWeltpresse dar. Man streckt ihm eine Filmkamera vordie Nase, und wie er sich räuspert und wie er spuckt,