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15 Fokus Tattoos Ein hautnahes Erlebnis in Kroatien Die Reportage — 20 Hotelpreise Wie sich Andreas Züllig gegen Booking.com und Co. durchsetzte Das Porträt — 25 Daniel Böniger (Text) und Sebastian Magnani (Fotos) Anders als seine Berufs- kollegen trägt Stefan Wiesner keine weisse Kochbluse, sondern eine schwarze Handwerker- hose. Zu Beginn des Abends steht er vor seinen Gästen, hinter ihm lodert ein eindrückliches Holzfeuer in einem Feuerring von Andreas Reichlin. An dieser Apparatur bereitet der Küchenchef aus Escholzmatt im Luzerner Entlebuch zurzeit ein ganzes Gourmetmenü zu. Einmal mehr diniert man im Restaurant Rössli anders, als man es von einem Punktekoch erwarten würde. Sie liessen Gäste in Ihrem Restaurant auch schon Torf essen oder an Steinen lecken. Warum machen Sie das? Zuerst waren meine Übernamen da. Man nannte mich, weil ich an- dere Wege ging, schon früh den «Gastrosophen». Oder den «Para- celsus der Küche». Ich schlug nach, wer denn dieser Paracelsus über- haupt ist. Und sein ganzheitliches Denken, das faszinierte mich. Das hat mich geprägt. Seither koche ich ganzheitlich. Was heisst das? Wenn ich beispielsweise eine Bir- ne verkoche – dann ist die Frucht für mich der Körper, das Destillat der Geist, die Asche aus dem Holz die Seele. Das alles verwende ich. Und ich fragte mich, wo der Birn- baum herkommt – aus der Erde. Darum verwende ich auch Erde als Zutat. Oder ich lasse das Holz des Birnbaums singen und beschalle damit das Salz, das ich verwende. Auch die Kohle aus dem Baumholz kann man essen. Das Fernsehen gab mir schliesslich den Titel «Hexer», auch das lebe ich seither. Verstehe ich Sie richtig: Man hat Sie in diese Rolle reingedrückt? So kann man es nicht sagen. Diese Übernamen gaben den Ausschlag dafür, dass ich weiterdachte, was ohnehin schon in mir angelegt war. Und ich wurde extremer. Einmal habe ich sogar ein Auto gekocht, damals verwendete ich Rost und Leder als Zutaten. Ich betrachte sol- che Materialien als Gewürze, als zusätzliche Aromen, die man beim Kochen einsetzen kann. Das ist ja interessant – aber wo bleibt da der Wohlgeschmack? Wir sind heute beim Essen sehr trainiert auf das, was ich Hochtöne nenne. Wir erkennen Vanille, Himbeere, Minze. Wenn man aber einen Kirschbaum verkocht, dann kann es vorkommen, dass auch an- dere darin enthaltene Aromen als nur Kirsche in den Vordergrund rücken – zum Beispiel Schokola- de. Die Blätter beispielsweise schmecken intensiv nach Amaret- to. Das nenne ich Zwischentöne. Aber Ihre Gerichte sollen schon gut schmecken, oder? Natürlich. Aber es gibt eine Welt jenseits von salzig und süss, sauer und bitter, jenseits der 350 Ge- ruchswahrnehmungen. Denken Sie an den Kartoffelsalat Ihrer Mut- ter. Wieso wird das immer der bes- te Kartoffelsalat bleiben, den es gibt? Weil er mit Erlebnissen ver- knüpft ist. Bei meiner Küche geht es mir auch darum, dass ich Emo- tionen auslösen kann. Welche Sinne werden bei einem guten Essen denn idealerweise noch angesprochen? Man kann ein Gericht ansehen, kann es riechen, hören und schme- cken. Und man kann es verinner- lichen. Gemalte Kunst hingegen kann das nicht – Kochen ist für mich ja auch eine Kunstform. Eine sehr weitgehende. Jüngst war eine Ärztin zu Gast, die meinte, dass man vielleicht über meine Speisen auch Zugang zu autistischen Men- schen bekommen könnte. Solche Sachen interessieren mich. Man muss bei Ihnen, wenn man das mehrgängige Gourmet- menü isst, in der Regel viel zuhören. Sie kommentieren alle Kreationen – warum sprechen die Gerichte nicht für sich? Weil die Gäste diese Art der Zube- reitungen nicht gewohnt sind. Da muss man tatsächlich einiges er- «Einmal habe ich sogar ein Auto gekocht» Stefan Wiesner über seine avantgardistische Naturküche, die Schmerzen beim Kreieren eines neuen Menüs und das perfekte Spiegelei «Ich lasse das Holz singen und beschalle damit das Salz, das ich verwende»: Stefan Wiesner, 55, bei der Suche von Zutaten im Wald bei Escholzmatt Hexer am Herd Stefan Wiesner, geboren 1961 in Escholzmatt LU, ist der wohl ausser-gewöhnlichste Koch der Schweiz. Im Gasthaus Rössli, das er von sei-nen Eltern übernommen hat, kocht er Mehrgänger, für die er Zutaten braucht, die man andernorts so nicht einsetzt: Torf, Holzkohle, Asche und Gold zum Beispiel. In einem Atelier gleich neben dem Restaurant bietet er Wurstkurse an, auch eine «ganz gewöhnliche Beiz» gehört zum Rössli-Angebot. Für das Gourmetmenü widmet sich Wies- ner dieses Jahr je ein Quartal lang den vier Elementen: Noch bis Ende September ist «Feuer» das Thema, danach wird sich alles um «Luft» drehen. Wiesner ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder. Fortsetzung — 17

Fokus · 2019. 10. 7. · Fokus. 15. Tattoos. Ein hautnahes Erlebnis . in Kroatien. Die Reportage — 20. Hotelpreise. Wie sich Andreas Züllig gegen . Booking.com und Co. durchsetzte

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Page 1: Fokus · 2019. 10. 7. · Fokus. 15. Tattoos. Ein hautnahes Erlebnis . in Kroatien. Die Reportage — 20. Hotelpreise. Wie sich Andreas Züllig gegen . Booking.com und Co. durchsetzte

15FokusTattoosEin hautnahes Erlebnis in KroatienDie Reportage — 20

HotelpreiseWie sich Andreas Züllig gegen Booking.com und Co. durchsetzteDas Porträt — 25

Daniel Böniger (Text) und Sebastian Magnani (Fotos)

Anders als seine Berufs-kollegen trägt Stefan Wiesner keine weisse Kochbluse, sondern eine schwarze Handwerker-hose. Zu Beginn des Abends steht er vor seinen Gästen, hinter ihm lodert ein eindrückliches Holzfeuer in einem Feuerring von Andreas Reichlin. An dieser Apparatur bereitet der Küchenchef aus Escholzmatt im Luzerner Entlebuch zurzeit ein ganzes Gourmetmenü zu. Einmal mehr diniert man im Restaurant Rössli anders, als man es von einem Punktekoch erwarten würde.

Sie liessen Gäste in Ihrem Restaurant auch schon Torf essen oder an Steinen lecken. Warum machen Sie das?

Zuerst waren meine Übernamen da. Man nannte mich, weil ich an-dere Wege ging, schon früh den «Gastrosophen». Oder den «Para-celsus der Küche». Ich schlug nach, wer denn dieser Paracelsus über-haupt ist. Und sein ganzheitliches Denken, das faszinierte mich. Das hat mich geprägt. Seither koche ich ganzheitlich. Was heisst das? Wenn ich beispielsweise eine Bir-ne verkoche – dann ist die Frucht für mich der Körper, das Destillat der Geist, die Asche aus dem Holz die Seele. Das alles verwende ich.Und ich fragte mich, wo der Birn-baum herkommt – aus der Erde. Darum verwende ich auch Erde als Zutat. Oder ich lasse das Holz des Birnbaums singen und beschalle damit das Salz, das ich verwende. Auch die Kohle aus dem Baumholz

kann man essen. Das Fernsehen gab mir schliesslich den Titel «Hexer», auch das lebe ich seither.Verstehe ich Sie richtig: Man hat Sie in diese Rolle reingedrückt?So kann man es nicht sagen. Diese Übernamen gaben den Ausschlag dafür, dass ich weiterdachte, was ohnehin schon in mir angelegt war. Und ich wurde extremer. Einmal habe ich sogar ein Auto gekocht, damals verwendete ich Rost und Leder als Zutaten. Ich betrachte sol-che Materialien als Gewürze, als zusätzliche Aromen, die man beim Kochen einsetzen kann.Das ist ja interessant – aber wo bleibt da der Wohlgeschmack?Wir sind heute beim Essen sehr trainiert auf das, was ich Hoch töne nenne. Wir erkennen Vanille, Himbeere, Minze. Wenn man aber einen Kirschbaum verkocht, dann

kann es vorkommen, dass auch an-dere darin enthaltene Aromen als nur Kirsche in den Vordergrund rücken – zum Beispiel Schokola-de. Die Blätter beispielsweise schmecken intensiv nach Amaret-to. Das nenne ich Zwischentöne.Aber Ihre Gerichte sollen schon gut schmecken, oder?Natürlich. Aber es gibt eine Welt jenseits von salzig und süss, sauer und bitter, jenseits der 350 Ge-ruchswahrnehmungen. Denken Sie an den Kartoffelsalat Ihrer Mut-ter. Wieso wird das immer der bes-te Kartoffelsalat bleiben, den es gibt? Weil er mit Erlebnissen ver-knüpft ist. Bei meiner Küche geht es mir auch darum, dass ich Emo-tionen auslösen kann.Welche Sinne werden bei einem guten Essen denn idealerweise noch angesprochen?

Man kann ein Gericht ansehen, kann es riechen, hören und schme-cken. Und man kann es verinner-lichen. Gemalte Kunst hingegen kann das nicht – Kochen ist für mich ja auch eine Kunstform. Eine sehr weitgehende. Jüngst war eine Ärztin zu Gast, die meinte, dass man vielleicht über meine Speisen auch Zugang zu autistischen Men-schen bekommen könnte. Solche Sachen interessieren mich.Man muss bei Ihnen, wenn man das mehrgängige Gourmet­menü isst, in der Regel viel zuhören. Sie kommentieren alle Kreationen – warum sprechen die Gerichte nicht für sich?Weil die Gäste diese Art der Zube-reitungen nicht gewohnt sind. Da muss man tatsächlich einiges er-

«Einmal habe ich sogar ein Auto gekocht»

Stefan Wiesner über seine avantgardistische Naturküche, die Schmerzen beim Kreieren eines neuen Menüs und das perfekte Spiegelei

«Ich lasse das Holz singen und beschalle damit das Salz, das ich verwende»: Stefan Wiesner, 55, bei der Suche von Zutaten im Wald bei Escholzmatt

Hexer am HerdStefan Wiesner, geboren 1961 in Escholzmatt LU, ist der wohl ausser-gewöhnlichste Koch der Schweiz. Im Gasthaus Rössli, das er von sei-nen Eltern übernommen hat, kocht er Mehrgänger, für die er Zutaten braucht, die man andernorts so nicht einsetzt: Torf, Holzkohle, Asche und Gold zum Beispiel. In einem Atelier gleich neben dem Restaurant bietet er Wurstkurse an, auch eine «ganz gewöhnliche Beiz» gehört zum Rössli-Angebot. Für das Gourmetmenü widmet sich Wies-ner dieses Jahr je ein Quartal lang den vier Elementen: Noch bis Ende September ist «Feuer» das Thema, danach wird sich alles um «Luft» drehen. Wiesner ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder. Fortsetzung — 17

Page 2: Fokus · 2019. 10. 7. · Fokus. 15. Tattoos. Ein hautnahes Erlebnis . in Kroatien. Die Reportage — 20. Hotelpreise. Wie sich Andreas Züllig gegen . Booking.com und Co. durchsetzte

Sonntagsgespräch 17sonntagszeitung.ch | 24. September 2017

klären. Vielleicht ändert sich das ja mit den Jahren. Ich erzähle aber nicht nur Geschichten, ich bin auch schon mit der Motorsäge ins Res-taurant gestanden, um die Gäste in den Wald zu versetzen. Das läuft längst nicht immer gleich. Beim jetzigen Menü – das Thema ist Feuer – rede ich eher wenig. Man hat das Gefühl, man könnte Ihnen jedes Thema geben und Sie könnten sich immer ein Gericht dazu ausdenken. Sind Sie nie gescheitert?Beim Feuer-Menü sind wir wäh-rend der ersten zwei Wochen an unsere Grenzen gestossen.Weshalb?Es ist nicht so leicht, ein achtgän-giges Gourmetmenü auf einem Feuer à la minute zuzubereiten. Weil man die Temperatur des Feu-ers nicht kontrollieren kann. Wir haben den Herd vermisst, wo man mit dem Schalter die Hitze regu-liert. Jetzt arbeiten wir mit einem Laser-Thermometer, das anzeigt, wo im Feuer welche Temperatur herrscht. Das ist wichtig, wenn wir etwa einen Blumenkohl in der Glut garen und mit Blumenkohl-blättersauce servieren. Dazu gibt es Berberitzen, die wir in fermen-tiertem Blumenkohlsaft eingelegt haben.Jetzt mal ehrlich: Sind während des Essens noch nie Gäste aufgestanden und wieder gegangen?Nein, nie. Die Leute, die zu mir kommen, wissen, was auf sie zu-kommt. Sie wollen, dass ein Menü wie ein Theaterstück inszeniert wird. Da gibt es Spannung, Lachen, Tränen vielleicht, Freud und Leid. Früher dachte man, der Span-nungsbogen eines Mehrgängers müsse ständig nach oben zeigen –bis zum Hauptgang. Und danach kommt noch das Dessert-Feuer-werk. Ich finde, dass ein Menü emotional rauf- und runtergehen soll, an die Grenzen und wieder zurück.Aber schon immer mit positiven Emotionen, oder?Es darf auch mal heftig werden. Ich versuche sogar manchmal, die Leute ein wenig zu schockieren, aber danach soll wieder eine posi-tive Emotion kommen.Welche Rolle spielt der Humor? Auch der soll Platz haben in mei-ner Küche. Humor setzt bekannt-lich Glückshormone frei. Einmal habe ich einen SVP-Gang gemacht, er thematisierte das weisse und das schwarze Schaf vom bekannten Polit-Plakat. Das Gericht entstand, weil ich beim Herstellen einer Bär-lauch-Essenz gemerkt habe, dass die Blätter weiss werden, wenn man sie mit Alkoholdampf behan-delt. Mit dem so entstandenen weissen Bärlauch belegte ich eine Lammhaxe, zündete sie an – und auf einen Schlag wurde das Lamm schwarz.Bei Ihnen soll das Essen also nicht nur satt machen. Ich möchte, dass sich drei, viel-leicht vier Gerichte so stark einprä-gen, dass man sie für den Rest sei-nes Lebens nicht mehr vergisst. Wenn man Ihnen zuhört, scheint es, dass Ihnen Ihre Gäste sehr wichtig sind. Daher rührt aber auch mein gros-ses Problem. Ich bin sehr feinfüh-lig. Und wenn ich während des Me-nüs merke, dass es meinen Gästen nicht gut geht, dann geht es mir auch nicht mehr gut. Das Kochen ist mehr als nur ein Geschäft für mich. Darum mag ich Gäste nicht, die einfach den Wiesner in ihrem Pflichtenheft abhaken wollen.Was machen Sie in einem solchen Fall?Dann muss ich mich quälen, dann ist es eben doch nur Business.

Kein Wunder, weiss der «Gault Millau» nicht so recht, wie er Sie einschätzen soll, auch wenn er Ihnen in der aktuellen Ausgabe beachtliche 17 Punkte gibt.Anhand der erschienenen Kritik glaube ich zu wissen, an welchem Abend der Tester da war. Er ist eine halbe Stunde zu spät gekommen und hat meine Einführung verpasst. Da konnte ich nicht viel machen, auch wenn ich versucht habe, ihn noch auf die Reise mitzunehmen.Der «Guide Michelin» bewertet Sie mit einem Stern. Genug?Es liegt nicht an mir, zu sagen, was meine Küche wert ist. Schade ist einfach, dass mir so der Austausch über die Landesgrenze hinaus ent-geht, den man mit zwei Sternen hätte. Hat man den zweiten Stern, wächst das Interesse bei Kollegen, Fach- und Medienleuten auch im Ausland. Das würde uns helfen, uns weiterzuentwickeln. Sind Sie nervös, wenn Sie ein Menü zum ersten Mal auftischen?

Extrem nervös. Ich merke das ganz körperlich und habe Schmerzen, wie bei einer Geburt. Meist geht das bloss ein, zwei Tage. Vor dem Feuer-Menü ist es mir jedoch zwei Wochen lang nicht gut gegangen.Die kreativen Phasen fordern Sie also ziemlich. Ich habe in Ihrem Atelier auch einen Militärschlafsack gesehen.Über Nacht bleibe ich schon nicht im Atelier, falls Sie das meinen. Wenn ich Menüs kreiere, ist das ein längerer Prozess. Erst überle-ge ich mir, welche Zutaten saiso-nal verfügbar sind und welche Fleischsorten ich verwenden will. Ist das Menüthema bestimmt, re-cherchiert mein Freund Roberto Koch im Internet und füttert mich mit Informationen darüber. Dann kommt die Phase, in der ich neben dem Bett einen Block habe, auf dem ich sämtliche Ideen notiere, die ich habe. Schliesslich gehe ich ein, zwei Tage weg und schreibe das Menü nieder. Das muss spä-testens einen Monat, bevor wir mit

den Gästen loslegen, geschehen. Man kann ja auch dann noch schei-tern, etwa wenn ein Fenchel im Salzteig nicht gelingen will, ohne allzu salzig zu werden. Und damit sind wir wieder beim Scheitern. Mit Eiern zu kochen, ist ja auch so schwierig. Wenn ein Koch das Ei beherrscht, dann verneige ich mich. Das braucht viel Feingefühl.Weil Eier immer anders sind?Ja, sie sind nicht immer gleich gross. Und das Ei-Alter spielt eine Rolle.Und wie geht ein perfektes Spiegelei?Es soll nicht unten stark gebraten sein und oben nicht. Sondern auf beiden Seiten eine ähnliche Farbe und Konsistenz haben. Es hilft, wenn man während des Bratens einen Deckel auf die Pfanne gibt.Sie sind hier im Rössli in Escholzmatt aufgewachsen – und trotzdem hatten Sie es zu Beginn nicht leicht bei den lokalen Gästen. Gibt es noch immer die Kritiker, die sich

fragen, was der Hexer da in seinem Säli macht, wo er die Gourmets empfängt? Die Kritiker gibt es noch, ja. Aber die stören sich nicht an der Figur Wiesner – mit schrägen Typen kommt man auf dem Land gut zu-recht. Ich werde nicht auf der Stras-se angepöbelt. Viel problematischer ist, dass ich am Samstagabend im Gourmetstübli den grössten Um-satz der Woche mache – und das ist enorm wichtig für unseren wirt-schaftlichen Erfolg. Das bedeutet aber, dass ich am gleichen Abend keine GV im Säli unterbringen kann. Manche denken dann, ich hätte das nicht nötig.Aber Sie bieten ja schon auch Bratwurst mit Pommes frites an in der Beiz.Ja, wir haben den Jodelclub hier, die Kirchenmusik, die Korbballe-rinnen, den Frauenturnverein. Das Dorfleben findet schon auch statt im Rössli. Ich versuche zudem, meine Zutaten in der Gegend auf-zutreiben. Dafür schalte ich auch

Inserate in der Zeitung. «Der Hexer braucht . . .», steht dann da. Und mein Handy ist voll mit Num-mern von Zulieferern, die mir Tan-nenschösslinge oder Vogelbeeren bringen können. Schmecken denn Tannen­schösslinge anders, wenn sie vom Brünig geliefert werden?Man kennt das vom griechischen Wein. In Griechenland in den Fe-rien schmeckt er top – wenn man ihn zu Hause trinkt, ist er unge-niessbar. Wo etwas wächst, da passt es auch hin. Auch wenn ein irisches Angus Beef vielleicht zarter wäre, bevorzuge ich schon das Evolèner Rind aus Schangnau. Man muss ja ein Fleisch nicht trinken können, sage ich immer.Regionalität wird in der Kulinarik zurzeit ja gross­geschrieben. Zugegeben, ich hatte auch schon Mühe damit, dass Rezepte von mir kopiert werden. Ich war einer der ersten, die eine Suppe aus Heu machten, heute gibt es die da und dort. Anderseits weiss ich, dass man mich so einfach nicht kopie-ren kann. Was halten Sie von «nose to tail», bei dem das ganze Tier und nicht bloss die Edelstücke verkocht werden?Auch da hat der Zeitgeist mich ein-geholt, man kocht inzwischen ja auch schon Pflanzen «from root to leaf». Aber es gibt noch genug an-dere Dinge, mit denen ich unter-scheidbar bleibe, meine Geschich-ten beispielsweise. Man muss be-greifen, warum man etwas auf den Teller tut. Vor kurzem habe ich einem jungen Koch in Zürich ge-holfen, eine Wildsau zu verkochen. Ich riet ihm, das Fleisch mit Trüf-feln und Eicheln zu kombinieren. Weil Wildsäue Trüffel essen und Trüffel mit den Eichenbäumen in Symbiose leben. Das hat er ge-macht, aber er wollte dann unbe-dingt noch Heu auf dem Teller ha-ben. Aber Heu hat mit dieser Ge-schichte nun wirklich nichts zu tun. Wie stehen Sie überhaupt zum Genuss von Fleisch?In meinem Gourmetmenü sind vielleicht drei Gänge von acht mit Fisch und Fleisch zubereitet. Ich finde, dass Gemüse ebenso inter-essant ist. Mir sind Flexitarier am nächsten. Und natürlich ist mir auch der Nose-to-tail-Gedanke wichtig. Zurzeit mache ich Würs-te aus ganzen schwarzen Cemani-Hühnern, da kommt dann alles rein: Magen, Leber, Herz, sogar die geschroteten Knochen. Was ist das am meisten unter­schätzte Stück des Tiers?Ich habe schon mit Kaninchen-Bauchlappen gearbeitet. Die kann man kochen, panieren und anbra-ten – wie saftiges Kalbfleisch.Vielleicht muss man Sie besser fragen, was bei den Bäumen unterschätzt wird?Das Kambium zwischen Rinde und Holz kommt mir in den Sinn. Im Frühling kann man sämtliche Blät-ter essen. Die Knospen sind ein Genuss, bevor sie blühen. Hinzu kommen die Samen, die Sprossen, Holzdestillate, die Kohle, sogar die Flechten . . . Bei den Mengen muss man natürlich vorsichtig sein, weil unsere Verdauung sich diese Pro-dukte nicht gewohnt ist. Auch die Früchte bieten mehr Möglichkei-ten, als viele denken. Ich habe schon ein Glace aus Apfelkernen gemacht oder einen Pfeffer aus Baumnussschalen.Sie haben auch schon Schnee­flocken eingesammelt und eine Suppe gekocht – schmeckt die anders als mit Schnee aus dem Kanton Wallis beispielsweise?Das mit dem Schnee war eine Spie-lerei, auch wenn es mir durchaus Ernst damit ist. Um auf Ihre Fra-ge einzugehen: Ich habe Schmelz- und Quellwasser, Brunnen- und Mineralwasser verglichen. Wenn man damit kocht, ist das Resultat nicht immer dasselbe.

Fortsetzung

Stefan Wiesner

«Hinzu kommen Holzdestillate, die Kohle, sogar die Flechten . . . Bei den Mengen muss man natürlich vorsichtig sein,

weil unsere Verdauung sich diese Produkte nicht gewohnt ist»