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22.11.2010

Die romanischen Sprachen aus soziolinguistischer Perspektive

1

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Die Soziolinguistik im wissenschaftsgeschichtlichen Überblick

2

Norbert Dittmar:Grundlagen der Soziolinguistik – Ein Arbeitsbuch mit Aufgaben. Tübingen 1997.

Brigitte Schlieben-Lange:Soziolinguistik. Eine Einführung. Stuttgart/Berlin/Köln 31991.

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Die Soziolinguistik im wissenschaftsgeschichtlichen Überblick

Vorwissenschaftliche Phase - Sprachphilosophie

3

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Vorwissenschaftliche PhaseLudovico Castelvetro (1505-

1571)Correzione d’alcune cose del

Dialogo delle lingue di Benedetto Varchi (1563/1572)Impliziter Hinweis auf die Existenz

einer vulgärlateinischen Sprache.

4

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Vorwissenschaftliche Phase

5

Drei Entwicklungsstufen nach L. Castelvetro• Die zunehmende Wichtigkeit der

vulgärlateinischen Varietät in Rom.• = Sprachkontakt unterschiedlicher sozialer Gruppen

• Die Dominanz des Vulgärlateinischen während der Gotenherrschaft. • = interlingualer Sprachkontakt und Sprachkontakt

unterschiedlicher sozialer Gruppen• = die Elite war gezwungen, sich an den Sprachgebrauch

der bildungsfernen Schichten anzupassen• Der Übergang vom korrumpierten Latein zum

volgare während der Herrschaft der Langobarden nach mehreren Generationen.

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Vorwissenschaftliche Phase

6

Gottfried Wilhelm LeibnizUnvorgreifliche Gedanken

betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache (entst. 1697, publ. 1717)

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Vorwissenschaftliche Phase

7

Jean-Jacques Rousseau (1712-1778)Discours sur l‘inégalité (1755)

Kann es vor der Existenz der Sprache so etwas wie eine menschliche Gemeinschaft geben?

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Vorwissenschaftliche PhaseSprache und Gesellschaft als

Gegenstand philosophischer Reflexion

Karl Marx, Deutsche Ideologie (1845) „Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein,

- die Sprache ist das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst existierende, wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Befürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit anderen Menschen“

(zit. nach Schlieben-Lange 1991, 15)

8

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Vorwissenschaftliche PhaseSprach-philosophie

Für die Sprachphilosophie stellt die Gesellschaftlichkeit eine Grundbestimmung der Sprache dar.

Sprache ist bestimmt durch ihre Intentionalitätdurch ihre

GesellschaftlichkeitDurch ihr Auftreten als

historische Einzelsprache

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Vorwissenschaftliche PhaseSprach-philosophie

Anthropologie

Bewusstseins-philosophie

Gegenseitige Bedingtheit vonSpracheGesellschaftBewusstsein

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Soziolinguistische Problemstellung

Allgemeiner Überblick

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Soziolinguistische Problemstellungen

Die gesellschaftliche Bedingtheit von Sprachen

Sprachen kommen nur als historische Einzelsprachen vor

Sie sind daher gebunden an eine bestimmteGesellschaftSchicht Nation Minderheit(…)

12

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Soziolinguistische Problemstellungen

Die gesellschaftliche Bedingtheit von Sprachen

Die gesellschaftliche Determination betrifft nicht nur die Existenz als

historische Einzelsprache,sondern auch die Inhalte der

betreffenden Sprache.

Für die betreffende Sprache ergeben sich dadurch bestimmte Bezeichnungsnotwendigkeiten.

13

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Soziolinguistische Problemstellungen

Die gesellschaftliche Bedingtheit von Sprachen

Die Themen, Dinge, Realitäten, welche für die betreffende Gesellschaft wichtig sin, müssen entsprechend differenziert bezeichnet werden:z.B. die Unterscheidung zwischen

Blutsverwandtschaft und angeheirateter Verwandtschaft

z.B. Ausdifferenziertes System von Höflichkeitspronomina in in stark hierarchisch geprägten Gesellschaften

14

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Soziolinguistische Problemstellungen

Die gesellschaftliche Bedingtheit von Sprachen

Determination sprachlicher Strukturen durch gesellschaftliche GegebenheitenGesellschaftliche

Relevanzstrukturen schaffenBezeichnungsnotwendigkeiten

für die betreffende Sprache

15

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Soziolinguistische ProblemstellungenDie Sprachbedingtheit der Gesellschaft

Umgekehrte PerspektiveSprache schafft

IdentitätNationen

Minderheiten definieren sich über die gemeinsame Sprache

Die gemeinsame Sprache trägt zur Identität von Gruppen, Subkulturen etc.bei

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Soziolinguistische ProblemstellungenDie Sprachbedingtheit der Gesellschaft

Auch die Art der Erfassung der Wirklichkeit durch die Gesellschaft ist sprachlich geprägt

Gesellschaften erfassen die Wirklichkeit in den Kategorien, welche die Sprache anbietet

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Soziolinguistische Problemstellungen

Wilhelm v. HumboldtHypothese einer sprachlich

vermittelten Weltansicht

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Soziolinguistische ProblemstellungenSprache und Gesellschaft als Handlungssysteme

Sprache und Gesellschaft sind keine unveränderlichen Größen

Einfluss des Menschen (als Subjekt des Handelns) auf Sprache und Gesellschaft

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Soziolinguistische ProblemstellungenDynamik der Handlungssysteme

SozialisationIn Handlungen lernt das Kind

die Sprache sowie ihre korrekte Anwendung in sozialen Situationen

Durch das Leben in sozialen Zusammenhängen lernt es Sprache und mit Hilfe von Sprache zu kommunizieren und zu interagieren

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Soziolinguistische ProblemstellungenDynamik der Handlungssysteme

GeschichteVeränderungen

gesellschaftlicher und sprachlicher Normen können immer nur aus Handlungen der Träger von Sprache und Gesellschaft entstehen

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Soziolinguistische ProblemstellungenDynamik der Handlungssysteme

Verschiedene VeränderungenAussterben oder Fortleben einer

InstitutionModifizierung oder

Neueinführung einer Institutionein Wortein Braucheine Spracheein politisches System

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Soziolinguistische ProblemstellungenDynamik der Handlungssysteme

Weder Gesellschaften noch Sprachen ändern sich selbsttätig, sondern immer nur durch Handlungen der beteiligten Menschen

23

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Sprachhandlungen Sprachsysteme

Nicht-sprachl. Handlungen Andere Systeme (Ökonomische Struktur,

Norm und Wertestellungen)

SL

1 2

1 2

1 2

1 2

1 = schaffen; verändern2 = verfestigen

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Sprechen – Sprache - Text

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Der Zusammenhang zwischen Sprache und Gesellschaft ist nicht direkt, sondern basiert über die Vermittlung des Sprechens und der Texte.

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Sprechen – Sprache - Text

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Veränderung sozialer Ordnungen und der Sprache durch:MassenalphabetisierungNeue mediale Verhältnisse (Buchdruck,

Internet)

Sprechen Sprache Text

Kultur Sprachgemeischaft Textgemeinschft

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

Im 20. Jahrhundert

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

Vereinigte Staaten von Amerika und Kanada

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

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1965-1975Etablierung der Soziolinguistik

als linguistische TeildisziplinDie Soziolinguistik in den USA

und KanadaAuseinandersetzung mit der

Generativen Transformationsgrammatik (GTG) Chomskys

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

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Die Soziolinguistik in den USA und KanadaKritik an der GTG

Idealisierung homogener Sprachgemeinschaften

Zweideutigkeit des Begriffs der Performanz

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

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Besondere BedingungenBilinguismus durch

EinwanderungBeobachtung von

AkkulturationSprachwandelSprachmischung

Besonderes Interesse an Hispanics und Schwarzen

In Kanada Anglophonie vs. Frankophonie

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

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Richtungen der nordamerikanischen SoziolinguistikBilinguismus-Diglossie-StudienUntersuchungen von StadtsprachenEthnography of Communication

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikFerguson (1921-1998)

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Charles A. Ferguson,Diglossia (1959)

Zwei Formen derselben Sprache sind in ihrer Verwendung spezialisiert

High varietyLow variety

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

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Joshua Fishman (*1926)Erweiterung von Fergusons

Diglossie-BegriffNicht nur auf eine Sprache bezogen,

sondern auch auf verschiedene Sprachen

Unterscheidung zwischen der sozialen Funktionszuweisung (Diglossie) und der individuellen zweisprachigen Kompetenz (Bilinguismus)

→ Aufweichung des Diglossiebegriffs → Kritik an Fishman (u.a. aus

Katalonien)

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

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Bilinguismus und DiglossieJoshua Fishman

Language Loyalty in the United States (1966)Die besondere Situation im

klassischen Einwanderungsland USAo language shift: Aufgabe der

mitgebrachten Sprache nach einigen Generationen

o Language mantenance: Beibehaltung der mitgebrachten Sprachen

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikW. Lambert (1922 – 2009)

36

In KanadaWallace Lambert

A Social Psychology of Bilingualism (1967)matched guise technique

o = Feststellung der Korrelation von Gebrauch einer Sprache und politischen, sozialen u. kulturellen Wertvorstellungen (in Kanada)

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikVier Gruppen von Einwohnern1.Bewohner englischer Herkunft

2.Portugiesische Einwanderer

3.Indianer

4.Neue Siedler unterschied-licher Herkunft

37

Stadtsprachen (Urban Language Studies)William Labov (*1927)

The Social Motivation of a Sound Change (1963)

Behandlung der Sprachsituation einer Insel (Martha‘s Vineyard/Massachusetts)

Wichtig für die Weiterentwicklung der Soziolinguistik

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikFünf verschiedene Sprechsituationen

1.Zwanglose Sprechweise

2.Gewählte Sprechweise

3.Vorlesestil

4.Wortlisten

5.Aussprache von Minimalpaaren

38

Stadtsprachen (Urban Language Studies)William Labov

The Social Stratification of English in New York City (1966)

Untersuchung von vier Schichten(1) lower class(2) working class(3) lower middle class(4) upper middle class

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikJ. Gumperz (*1922)

39

Ethnography of CommunicationEinbettung sprachlicher

Handlungen in InteraktionssituationenJan-Petter Blom / John Gumperz:

Social Meaning in Linguistic Structure: Code Switching in Norway (1972)Koexistenz von lokalen Dialekten

und Standardsprachen In welchen Situationen wird welche

Sprachform verwendet?o situational switchingo metaphorical switching

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

Großbritannien

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

Frankreich

42

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikFrankreich

Eigene soziolinguistische Tradition

43

Rezeption der britischen und nordamerikanischen Soziolinguistik mit Verspätung

Eigene Entwicklung in FrankreichZunächst eine Art Textlinguistik,

die sich mit politischen Texten befasst

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikFrankreich

44

Verknüpfung zwischen Strukturalismus und soziolinguistischen Fragestellungen

1960Ruth Reichstein (Schülerin

von André Martinet)Untersuchung zur phonologischen

Erscheinungen in ParisBestimmte phonologische

Oppositionen werden nur im 16. Arrondissement aufrechterhalten

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikFrankreichZentralismus

Dominanz des StrukturalismusLinguistik

EthnologiePsychoanalysePhilosophie

Verschmelzung von Textlinguistik und Soziolinguistik

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Marcel CohenMarxistischer Ansatz

Pour une sociologie du langageHistoire d‘une lange, le français

In den 70er Jahren beginnt die Auseinandersetzung mit den ethnischen Minderheiten Frankreichs

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikFrankreich

46

1974 hatte Jean-Baptiste Marcellesi zusammen mit Bernard Gardin eine Introduction à la sociolinguistique. La sociolinguistique verfasst – für lange Zeit die einzige französische Einführung.

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikFrankreich

47

1977 – ein Schlüsselmoment für die Soziolinguistik in Frankreichin der Zeitschrift Langages, Nr.

46 (1977) erscheint Jean-Baptiste Marcellesis Artikel „Langage et classes sociales: le marrisme“

Entzündung einer Sprachdebatte

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikFrankreich

48

ExkursLe marrisme

Bezugnahme auf den sowjetischen Linguisten Nikolai Jakowlewitsch Marr (1864-1934)Marr erarbeitete eine Neue Lehre

von der Sprache (Japhetitologie). Die Hypothese war, dass alle

modernen Sprachen dazu tendierten, in eine einzige Sprache - die der kommunistischen Gesellschaft - zu münden.

Die Theorie wurde von Partei (KPdSU) und Regierung der Sowjetunion anerkannt (bis 1950).

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikNikolai Jakowlewitsch Marr

Neue Lehre von der Sprache

49

In einem vielbeachteten Artikel in der Zeitung Prawda erklärte Stalin am 20. Juni 1950 die Japhetitologie Marrs für unmarxistisch.

In der Folge wurde in der sowjetischen Sprachwissenschaft wieder verstärkt Methoden der junggrammatischen Schule angewandt.

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikNikolai Jakowlewitsch Marr

Neue Lehre von der Sprache

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Überbauthesedie Sprache ist als

Überbauphänomen auf der Basis der Produktion und Produktionsverhältnisse anzusehen.

Lehre vom Klassencharakter der Sprache die Sprache ist wie jedes

Überbauphänomen klassenbedingt.

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikNikolai Jakowlewitsch Marr

Neue Lehre von der Sprache

51

Stadialtypologiedie Sprachzustände lösen einander

mit dem Wechsel der Gesellschaftsformationen ab.

Die Theorie der Sprachfamilien müsse durch eine Theorie der Sprachstadien abgelöst werden.

Jede Gesellschaftsstruktur bringt ein ihr entsprechendes Sprachstadium hervor.

Auch der Kommunismus werde einen ihm entsprechenden völlig neuen Sprachzustand hervorbringen.

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikNikolai Jakowlewitsch Marr

Neue Lehre von der Sprache

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Theorie vom einheitlichen glottogonischen Prozess Die Entwicklungswege aller Sprachen sind

gleich. Sprachkreuzungstheorie

Die Kreuzung von Sprachen ist hauptverantwortlich für die Divergenz nah verwandter Dialekte.

Sprachen können sich nicht wie im Stammbaummodell voneinander abspalten, sondern nur miteinander kreuzen und dabei neue Sprachen hervorbringen.

Dabei kann eine Sprache in einer sozialen Explosion sich bis zur Unkenntlichkeit verwandeln.

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikExkurs

53

Walentin Nikolajewitsch Woloschinow (1895-1936)Marxismus und Sprachphilosophie

[russ. Orig. Марксизм и философия языка], Leningrad 11929, 21930 (engl./amerikanisch: 1973, deutsch: 11975 Frankfurt/M, Berlin, Wien)Woloschinow setzte sich kritisch mit

dem zeichentheoretischen Kommunikationsmodell von Ferdinand de Saussure auseinander, an dem er eine ahistorische Perspektive bemängelte.

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

Italien

54

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikItalien

55

Italien stellt aufgrund seines Reichtums an Dialekten sowie wegen seiner Vielzahl von ethnischen Minderheitensprachen ein ideales sozio- und varietätenlinguistisches Studienobjekt dar.

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikItalien

56

Die wissenschaftliche Rezeption der neuen linguistischen Teildisziplin setzte in den späten 60er Jahren ein.

Im September 1969 fanden in Rom Giornate internazionali di sociolinguistica statt, deren Ergebnisse ein Jahr darauf publiziert wurden.

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikItalien

57

Die ersten italienischen Monographien mit soziolinguistischer Thematik erschienen gegen Mitte der 70er Jahre.

1974 erschienen sowohl Gaetano Berrutos La sociolinguistica als auch Gianna Marcatos La sociolinguistica in Italia.

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikItalien

58

Es folgten italienische Fassungen der Werke von Trumper (1979), Marcellesi/Gardin (1979), Hudson (1980) und Dell (1980).

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikItalien

59

Seit Mitte der 70er Jahre sind zahlreiche Studien zur sprachlichen Variation in Italien erschienen.

Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang die Untersuchung von Bazzanella (1980) und Tempesta (1980) zur soziolinguistischen Situation im schulischen Bereich.

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikItalien

60

Weitere Arbeiten entstanden zum italiano regionale bestimmter Regionen, z.B. zur regionalen Varietät des

Italienischen im Salento (Sobreo / Romanello 1981) und auf Sizilien (Tropea 1976; Leone 1982),

zum mailändischen Stadtdialekt (Galli de‘ Pratesi 1984),

zur sprachlichen Situation in Sardinien (Sole 1988) oder im Tessin (Petralli 1990).

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

Spanien

61

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikSpanien

62

1965-1975Schlussphase der Franco-

DiktaturUnterdrückung der ethnischen

Minderheitensprachen Baskisch, Galicisch, Katalanisch

Zunehmender Widerstand gegen die Unterdrückung in Katalonien sowie im Baskenland

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der SoziolinguistikSpanien

63

Antoni M. Badia i Margarit (*1920)La llengua dels Barcelonins

(1969)Planung des Projekts 1965Ausgangslage

Die Situation des Katalanischen wurde als kritisch empfunden

Die soziolinguistische Untersuchung sollte Klarheit bringen

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

64

Ziele der UntersuchungDie Einstellung der Katalanen

zum KatalanischenBeherrschung der SpracheBindung an die Sprache

Der Einfluss der Einwanderer aus dem Süden Spaniens auf das Katalanische

Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das SpanischeEinflussnahme auf die

gesellschaftliche Realität

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

65

Fünfteilige Planung(1) Umfrage(2) Ergebnisse und Auswertung

o Beziehungen von Sprache undgeographischer Herkunft der Sprecher sowie deren soziale Herkunft

(3) Assimilation und Übernahme des Katalanischen durch die Einwanderer und deren Kinder

(4) Koexistenz von Katalanisch und Kastilisch in individueller und kultureller Hinsicht

(5) Zusammenfassende Interpretation

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

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Die DatenerhebungAus den Wahlerhebungslisten von

1960 der zwölf Stadtbezirke Barcelonas wurde eine Informantengruppe von 21.772 Bürgern ausgewählt (Zufallsauswahl, ca. jeder 20. Haushalt )

Austeilung eines Fragebogens mit 35 (mehrteiligen) Fragen in katalanischer und kastilischer Fassung (es konnte auf Katalanisch oder Kastilisch geantwortet werden)

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

67

Die DatenerhebungWahrung der AnonymitätAngabe folgender Daten

GeburtsortSchulbildungBerufZeit und Ort der Erlernung des

Katalanischen bzw. des KastilischenGrad der Beherrschung der

SprachenSprache von Eltern und EhegattenSituationen, in denen die Sprachen

verwendet werdenBeurteilung der katalanischen Kultur

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

68

Die DatenerhebungZusätzlich wurden 222

Hausbesuche durchgeführtZiel

Kontrolle der DatenAufschluss über Reaktionen der

Informanten (Interesse, Widerstand, Ablehnung, Gleichgültigkeit, Misstrauen)

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

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Die DatenerhebungErgebnisse der HausbesucheZurückhaltung auf die

Fragebögen in den ärmeren Stadtvierteln

Offenheit hingegen im Gespräch

In den wohlhabenden Vierteln war die Situation genau umgekehrt

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

70

Die DatenerhebungRücklauf von 3485 Fragebögen

(= 16%)Die Betreiligung schwankte je

nach Stadtbezierk61,7% wurde auf Katalanisch

beantwortet38,3% auf KastilischUnterschiede zwischen

Fragebogen und Hausbesuchen

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

71

Die Ergebnisse78,9%: Katalanisch als

Umgangssprache19,8%: Kastilisch als

UmgangsspracheFragebogenaktion: nur 61,7%

Katalanisch!Viele Katalanen hatten seinerzeit

Schwierigkeiten mit der kat. Schriftsprache (es gab unter Franco keinen katalanischen Schulunterricht)

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

72

Die ErgebnisseBei der Generation über 40 war

das Katalanische häufiger Umgangssprache als bei den Jüngeren

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

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Die ErgebnisseDrei Gruppen von Gebieten

Traditionelle Bezirke III-VIIIHohe BeteiligungWenig ZuwanderungBildungsbürgertum

Bezirke II und IX-XIGeringe Beteiligung an der

FragebogenaktionViele Zuwanderer (teilweise

angepasst)Bezirk XI: Kastilisch sprechende

Katalanen der Oberschicht

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

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Die ErgebnisseBezirke I, V, XII

Weniger als 50% sprechen Katalanisch

Neubaugebiete ohne Tradition (I, V)oder sanierungsbedürftige

Altstadtviertel (XII)

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

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Die ErgebnisseVon den Informanten sind

78,8% in Katalonien geborenVon den nicht in Katalonien

Geborenen sind 37,4% aus dem Süden (23,2% Andalusier)

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

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Die ErgebnisseDer Sprachgebrauch in der

FamilieInformanten mit katalanischen Eltern

(60,8%) sprechen zu 95,5% das Katalanische als Umgangssprache

13% der Informanten mit gemischten Elternpaaren sprechen zu 84,4% (80,4%) Katalanisch

Sogar 38,2% der Informanten mit nichtkatalanischen Eltern sprechen das Katalanische als Umgangssprache

64,4% sprechen mit ihren Kindern Katalanisch

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

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Die ErgebnisseDer Sprachgebrauch in der

FamilieLediglich 50,2% der Kinder sprechen

untereinander Katalanisch

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik

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WürdigungEine Pionierleistung im Bereich

der RomanistikVergleichbar mit den Arbeiten

von Labov in den USABadias Untersuchung ist

allerdings eher soziologisch als linguistisch orientiert, denn man erfährt wenig über das Katalanische oder Kastilische

Eine gewisse Einseitigkeit

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Themen und Probleme der Soziolinguistik im Überblick

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Probleme des konkreten Zusammenwirkens von Sprache und Gesellschaft in historischen SituationDie Varietäten der historischen EinzelspracheSprache als Identitäts- und PrestigesymbolDie Kodifizierung von SprachenSprachliche Norm als soziale KontrolleAttitüden (Einstellungen der Sprecher)

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Themen und Probleme der Soziolinguistik im Überblick

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Probleme der DatengewinnungDas Beobachter-Paradoxon