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30 Jahre KISS – Unterstützung für immer wieder neue Gruppen KISS Selbsthilfemagazin für Kassel und Umgebung · 2017 Selbsthilfe-Infotag: Samstag, 4. November 2017 von 9.30 bis 20 Uhr im dez

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30 Jahre KISS – Unterstützung für immer wieder neue Gruppen

KISS Selbsthilfemagazin für Kassel und Umgebung · 2017

Selbsthilfe-Infotag: Samstag, 4. November 2017 von 9.30 bis 20 Uhr im dez

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ImpressumHerausgeber:Stadt Kassel, Gesundheitsamt Region KasselKISS - Kontakt- und Informationsstellefür SelbsthilfegruppenWilhelmshöher Allee 32A34117 KasselTelefon: 0561/92005-53 99Fax: 0561/92005-5322E-Mail: [email protected]: Carola Jantzen (v.i.S.d.P.), Texte: Jacqueline Engelke, vitaminbe kommunikation, KasselDruck: Grafische Werkstatt, KasselLayout: A. Lattrich Grafik-Design, KasselAuflage: 3000Copyright: Nachdruck nur mit GenehmigungBildernachweis:KISS: Titelfotos, Selbsthilfetag (S.5), Weinbergstraße (S.7), Förderrat (S.8), Eröffnung Weinberg , Letz/Eisenberg (S.9) Nikolausfeiern (S.11), Winter-Heider (S.12), Selbsthilfe-wegweiser (S.12), Selbsthilfetag (S. 14), 1100 Jahre Kassel (S.15), Qualitätsmanagement (S.16), Gesundheit im Gespräch (S.17) Engelke: Brandt (S. 6), Eisenberg (S.10)Lothar Brenzcek (S.32), Heiko Meyer (S.19/Selbert)Gruppen: Syringomyelie (S.26), Stimmenhörer (S.30)Interessengemeinschaft FraX (S.22/23) Fotolia.com: Photographee.eu (S.21), Robert Kneschke (S.22/Hände), Claudia Paulussen (S.24), Soupstock (S.25), J. Mühlbauer exclus (S.27), goldpix (S.28), Peter Atkins (S. 29), fotmek (S.33)Die bei den Gruppen abgedruckten Fotos dienen in den meisten Fällen illustrativen Zwecken

Inhalt

EditorialSelbsthilfe-Infotag: Am 4. November ist „Selbsthilfe-Infotag“ in Kassel 30Jahre KISS: GesternSelbsthilfe: „Die KISS hat alles optimal abgedeckt“ Barbara Stolterfoht: „Eine sehr lebendige Zivilgesellschaft“Peter Ludwig Eisenberg: Die Gesund-heitsförderung weiterentwickelnChristine Winter-Heider: „Sehr viel Achtung vor den Menschen“Die KISS heute: Gestiegene Anforde-rungen und Fülle von AufgabenDie KISS morgen: Auf die Menschen kommt es anWünsche für die Zukunft: Anne Janz, Susanne Selbert, Dr. Karin MüllerDie KorsiSisters in der Skoli-Gang

Neue GruppenDie frühe Diagnose ist wichtig Gruppe für SkolioseKinder bevorzugen RoutinenGruppe zum Fragilen X-SyndromAlle Kinder entsprechend ihren Fähigkeiten fördernGesprächskreis von Eltern mit hoch-begabten KindernLeben mit einer „Syrinx“Gruppe für SyringomyelieEndlich mal alles essen dürfenZöliakie-Gruppe für Kinder und JugendlicheKriegsenkel – „Ich habe überhaupt keine Wurzeln“Gesunde und erfüllende Beziehungen führen – CoDA-Gruppe „Ein Austausch kann Wunden heilen“Gruppe für Stimmenhörer

InfoteilAA in Kassel hat gleich drei GründerParkinson: Tanzprojekt – Alles was ihr sehtAG Seelische Gesundheit: Netzwerk aus AnsprechpartnernZum Abschied für immerFördermittelSelbsthilfethemen 2017

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Liebe Leserinnen und Leser,

seit der Entstehung von KISS vor 30 Jahren ist es unser großes Ziel, den „Selbst-hilfegedanken“ zu verbreiten. Ein gutes Mittel dazu ist seit 2010 dieses Heft. Wir möchten Ihnen zeigen, wozu Selbsthilfegruppen in der Lage sind und war-um wir auch nach 30 Jahren noch davon überzeugt sind, dass die Gruppen eine einmalige Gelegenheit sind, etwas für seine Gesundheit zu tun. Und das meinen wir auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene.

In diesem Jahr feiern wir das 30-jährige Bestehen von KISS nicht nur am 2. Dezember um 16 Uhr im Kasseler Rathaus, sondern auch mit einem Teil im Selbsthilfe-Magazin. Wir haben in den Unterlagen der Entstehungsjahre ab 1987 gegraben und die Akteure von damals interviewt. Dabei ist ein spannen-des Zeitbild aus den Anfängen der Selbsthilfegruppen und der Selbsthilfekon-taktstelle entstanden, das wir mit den heutigen Rahmenbedingungen vergli-chen haben. Zum Schluss beschäftigen wir uns mit der Zukunft der Selbsthilfe und den Möglichkeiten des Wandels um mit der Zeit zu gehen.

Im zweiten Teil des Heftes stellen wir Ihnen Gruppen vor, die sich im letzten Jahr gegründet haben. Vielleicht ist etwas für Sie dabei? Dann beraten wir Sie gern, wie Sie Kontakt aufnehmen können. Insgesamt gibt es rund 250 Selbst-hilfegruppen, die sich in Stadt und Landkreis Kassel treffen, fast zu jeder Er-krankung, sei sie körperlich, psychisch oder eine Sucht, und auch zu besonde-ren Lebenslagen, wie die Eltern hochbegabter Kinder. Einige Gruppen sind beim Selbsthilfe-Infotag im dez am 4. November persönlich anzutreffen. Hierzu la-den wir Sie herzlich ein.

Bedanken möchte ich mich bei Jacqueline Engelke, die das Selbsthilfe-Magazin schreibt und in diesem Jahr besonders viel Recherchearbeit hatte. Sie hat wie jedes Mal wieder alles sehr gut hinbekommen. Danken möchte ich an dieser Stelle allen früheren und heutigen Gruppengründern, -leitern und -mitgliedern für ihr ehrenamtliches Engagement, ihre Energie und ihren Mut, sich ins Grup-penleben zu begeben. Danken möchte ich auch allen früheren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der KISS, die sich außer mir für diese tolle Einrichtung und für die Gruppen hauptamtlich angestellt im Gesundheitsamt mit Arbeitszeiten an Abenden und Wochenenden über das normale Maß hinaus engagiert haben (in der Reihenfolge ihres Auftretens): Peter Ludwig Eisenberg, Christiane Winter-Heider, Christiane Polley, Renate Wohlgemuth, Peter Finke, Ulrich Druve, Sven Heise, Alexander Koisser, Karl-Heinz Brestrich, Beatrice Busch und Cordula Klinzing.

Ihnen liebe Leserinnen und Leser wünsche ich ein paar interessante Minuten beim Lesen der folgenden Seiten und viele interessante Erkenntnisse über die Selbsthilfe in Stadt und Landkreis Kassel. Ich freue mich, wenn Sie mithelfen, den Selbsthilfegedanken zu verbreiten. Bei Fragen dazu wenden Sie sich ein-fach an die KISS.

Carola JantzeDipl. Psychologin, Leiterin der KISS

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Carola Jantzen, Diplom-Psychologin

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Am 4. November ist „Selbsthilfe-Infotag“ in KasselKasseler Selbsthilfegruppen präsentieren sich mit Infoständen im Einkaufszentrum dez

Sa., 4. Nov. 2017

Selbsthilfe- Infotag

Selbsthilfegruppen präsentieren sich im Einkaufszentrumin Kassel 9.30 – 20.00 Uhr

Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen (KISS-Kassel) Telefon: 05 61 9 20 05-53 99 · www.selbsthilfe-kassel.deGesundheitsamt Region Kassel

informieren zu:Behinderung/chronische ErkrankungPsychische ProblemeSuchtBesondere Lebenslagen

- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen (KISS-Kassel) - und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen (KISS-Kassel) - und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen (KISS-Kassel) - und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen (KISS-Kassel) - und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen (KISS-Kassel) - und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen (KISS-Kassel) - und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen (KISS-Kassel) - und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen (KISS-Kassel) - und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen (KISS-Kassel) Gesundheitsamt Region KasselGesundheitsamt Region KasselGesundheitsamt Region Kassel

informieren zu:informieren zu:informieren zu:BehinderungBehinderungBehinderungBehinderung

99 · www.selbsthilfe-kassel.de

Selbsthilfegruppen präsentieren sich im Einkaufszentrumin Kassel 9.30 – 20.00 Uhr

informieren zu:BehinderungBehinderungBehinderung/chronische Erkrankungchronische Erkrankungchronische ErkrankungPsychische ProblemePsychische ProblemePsychische ProblemePsychische ProblemePsychische ProblemeSuchtSuchtSuchtBesondere LebenslagenBesondere LebenslagenBesondere LebenslagenBesondere LebenslagenBesondere Lebenslagen

sich im Einkaufszentrumin Kassel 9.30 – 20.00 Uhr

Teilnehmende Selbsthilfegruppen• Adipositas Selbsthilfegruppe Wolfhagen• AdP e.V. - Bauchspeicheldrüsen- erkrankte• Allergie-, Neurodermitis- und Asthmahilfe Hessen e.V. (ANAH)• Alternativmedizin Selbsthilfe gruppe Kassel• Aphasiker Selbsthilfegruppe Kassel • Asbestose Selbsthilfegruppe Kassel-Borken-Nordhessen e.V.• Blaues Kreuz Kassel e. V.• Deutsche Parkinson Vereinigung• Frauenselbsthilfe nach Krebs• Gesprächskreis für Eltern hoch- begabter Kinder und Jugendlicher• Huntington Selbsthilfe Nordhessen• IG der Nierenkranken Nordhessen e.V.• Kasseler Muskelstammtisch• Leukämie und Lymphom SHG Nordhessen• Lungenemphysem - COPD Gruppe Nordhessen-Kassel• Migräne Selbsthilfegruppe Kassel• Multiple Sklerose Baunatal / DMSG Hessen• Nahrungsmittelunverträglichkeiten Gruppe Kassel• People First – Mensch zuerst• Polio Selbsthilfegruppe Kassel• Rheuma Liga Hessen e. V. Ortsgruppe Kassel• Tinnitus Selbsthilfegruppe Kassel

Für alle weiteren Erkrankungen und Themen: KISS, Kontakt- und Informations-stelle für Selbsthilfegruppen beim Gesundheitsamt Region Kassel

Seit fast 30 Jahren präsentieren sich die Kasseler Selbsthilfegruppen mit Infoständen einen Tag lang in der Öffentlichkeit. Dann stehen Betrof-fene und Angehörige ganz verschie-dener chronischer Erkrankungen und Behinderungen, mit psychischen oder Suchtproblemen oder in be-sonderen Lebenslagen interessierten Besuchern und Besucherinnen im persönlichen Gespräch zur Verfügung.

Gern überreichen sie kostenlose Broschüren und Flyer mit aktuellen Informationen auf dem neuesten Stand der Wissenschaft und Medizin und erläutern, wie ihre Gruppen-treffen ablaufen und welche Vorteile man von der Gruppe hat.

Im Einkaufszentum dezMeist findet dieser „Selbsthilfetag“ im Sommer in der Kasseler Innen-stadt statt, aber in documenta-Jah-ren wie 2017 stehen uns dort keine Flächen zur Verfügung. Deshalb ha-ben wir uns in diesem Jahr zu einem wetterunabhängigen „Selbsthilfe-In-fotag“ unter dem Dach des Einkaufs-zentrums dez entschieden.

Wir danken dem Center-Manager, Herrn Ehlers, der uns dazu eingela-den und uns zeitgleich mit den AOK Gesundheitstagen im Einkaufszent-rum zusammengebracht hat.

Wir laden Sie herzlich ein, uns im dez zu besuchen, am Samstag zu langen Öffnungszeiten von 9.30 bis 20 Uhr.

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1987 1988 1989• Start mit Christiane Heider, Bundesmodellprogramm, Büro Wilhelmshöher Allee 32A, 5. Stock

• 1. Selbsthilfetag im Rathaus Kassel • erster eigener PC • erstes Selbsthilfeplenum

• 1. Selbsthilfewegweiser • 150 Gruppen

„Die KISS hat alles optimal abgedeckt“Unterstützung für die Selbsthilfe ist heute selbstverständlich – musste jedoch erkämpft werden

Wie alles begannAls 1987 ein Bundesmodellpro-gramm zur Gründung von Kontakt- und Informationsstellen für die Selbsthilfe führte, war Selbsthilfe bereits ein lange bekanntes Konzept. Genossenschaften und Gewerk-schaften stellten schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts eine Form der Selbsthilfe dar, in der Menschen sich unabhängig von professionellen Institutionen für ihre Interessen or-ganisierten.

Antwort auf soziale AusgrenzungAm Anfang stand als Vorläufer der Selbsthilfe die Hilfe für Suchtkranke wie das Blaue Kreuz, in Kassel grün-dete sich 1895 der erste Blaukreuz-Verein. Diese Gründungen waren eine Antwort auf die soziale Ausgrenzung und schlechte medizinische Versor-gung von suchtkranken Menschen.

Ab den 1970er Jahren waren es Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen, die sich organisierten, um eine bessere ge-sellschaftliche Teilhabe aber auch konkrete Lebenshilfe zu erreichen und um ihre Krankheit besser zu bewältigen und sich gegenseitig zu unterstützen.

Psychische ErkrankungenProf. Dr. Michael Lukas Möller führte als erster am Lehrstuhl für Psycho-therapie und Psychosomatische Me-dizin an der Justus Liebig Universität Gießen Selbsthilfegruppen für Men-schen mit psychischen Erkrankungen ein, die sich bald in ganz Deutschland verbreiteten. 1982 wurde mit seiner Unterstützung die Deutsche Arbeits-gemeinschaft der Selbsthilfegruppen (DAG/SHG) gegründet, die noch heu-

Selbsthilfetag 2002 auf dem Königsplatz in Kassel

Hochmoderner AnsatzDer Selbsthilfegedanke ist ein An-satz, der heute noch hochmodern ist und mit Schlagworten wie „Empo-werment“ deutsch: „Ermächtigung/Orientierung an Ressourcen“ und „Bürgerschaftliches Engagement“ umschrieben wird.

te als Fachgesellschaft der Selbsthilfe bundesweit aktiv ist.

„Die KISS ist für mich und die Gruppe wichtig, denn sie bietet organisatorische Unterstützung zum Beispiel Öffent-lichkeitsarbeit; Austausch mit anderen Selbsthilfegruppen; die Möglichkeit, sich kostenfrei in einem Raum zu tref-fen; gute Beratungs- und Weiterbil-dungsmöglichkeiten und professionelle Ansprechpartner.“ Reimann, Selbsthilfe

Nordhessen Morbus Crohn/Colitis ulcerosa

30 Jahre KISS: Gestern

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1990 1991 1992• Zwei Standorte für Gruppentreffen erkämpft

• Gründung des Förderrats der Selbsthilfegruppen

• Stadt Kassel finanziert KISS dauerhaft mit Landeszuschüssen

Auch in Kassel waren Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen aktiv geworden. So ist Klaus Seitz seit Anfang der 80er Jahre in Sachen Erfahrungs- und Informationsaustausch bei Diabetes aktiv und ist noch heute stellver-tretender Vorsitzender der Diabetes Selbsthilfe Nordhessen. Karin Brandt gründete im April 1981 die Rheuma-Liga, Ortsgruppe Kassel und Sabine Markert im März 1987, kurz nach der Gründung des Bundesverbandes, einen Gesprächskreis zur Sarkoidose, den sie bis heute leitet. Alle drei ha-ben den Aufbau der KISS begleitet. Sie griffen zur Selbsthilfe, um auszu-gleichen, was das Gesundheitssystem nicht bot.

„Diabetes ist eine Erkrankung, die 24 Stunden am Tag Handeln erfordert, Handeln in Eigenverantwortung und Selbstmanagement“, erläutert Klaus Seitz. Ziel war und ist es, den Alltag zu bewältigen. Die Hilfe der Fachleu-te entsprach damals nicht dem Be-darf der Betroffenen. Und, sagt Seitz, Selbsthilfe wollte auch bei Politik und Gesundheitssystem die Interessen der Selbsthilfe und damit der Betrof-fenen einbringen. Also einen politi-schen Ansatz verfolgen. Karin Brandt erkrankte bereits mit 27 Jahren an Rheuma. Als sie nach 12 Wochen aus dem Krankenhaus kam, war ihr klar: „Ich werde die Krankheit nicht los.“ Doch die Informationen waren zu dieser Zeit spärlich. Im Ge-

gensatz zu heute berichteten weder Fernsehen noch Zeitungen regelmä-ßig über Gesundheitsthemen. Dass es eine Rheuma-Liga gab, erfuhr sie bei einer Kur 1972 zufällig. Sie schrieb einen Brief, bekam jedoch keine Ant-wort, erst 1977 gelang der Kontakt. „Ich habe viel geweint“, ergänzt Sabine Markert. Nachdem sie die Diagnose Sarkoidose bekommen hatte, waren weitere Informationen Fehlanzeige. Stattdessen erinnert sie sich noch an den Satz: „Seien Sie doch froh, ist ja kein Krebs.“ Dann entdeckte sie zufällig, dass ein Be-troffener in Kassel eine Gruppe grün-den wollte. Sie ging hin und ist dabei geblieben. „Nie darf jemand so allein gelassen werden“, schildert sie ihre Motivation.

Porto, Räume und Pressearbeit In den 80ern war es nicht schwer, eine Gruppe zu gründen. Doch selbst kleine administrative Dinge konnten zum Problem werden, das jeder für

sich lösen musste. Etwas zu kopieren ging nur in „Kopierstudios“, „ich habe noch heute die Quittungen“, erzählt Karin Brandt. Über finanzielle Mittel verfügten die Gruppen in der Regel nicht. Immerhin hatte die Rheuma-Liga Glück und bekam Hilfe von der AOK, die bis heute ihren Rundbrief versendet. Man habe um Porto und solche Dinge kämpfen müssen, erzählt Klaus Seitz. Erika Seitz, die mit ihm entfernt ver-wandt ist, nickt, auch sie war von Anfang an für die Allergie, Neuroder-mitis und Asthmahilfe in Kassel aktiv. Vor allem Räume für die Treffen zu finden, konnte zum Problem werden. Auf Bürgerhäuser und Kirchenge-meinden konnte man nicht immer zurückgreifen und Lokale waren zu öffentlich für die Treffen. Öffentlich-keitsarbeit für die Gruppen, deren Themen und Treffen blieben eben-falls der Eigeninitiative der Gruppen überlassen. „Damals hatte ich keine Ahnung, wie ich ein Treffen in die Zeitung bekommen soll“, erinnert sich Sabine Markert. Die Zusammenarbeit mit den Ärzten ließ zu wünschen übrig. Es gab Ärzte, die der Selbsthilfe gegenüber sehr offen waren. Doch viele blickten noch mit Skepsis auf die aufgeklärten Pa-tienten und die Selbsthilfe mit ihrem emanzipatorischen Ansatz. Einen Arzt zu einem Vortrag in die Gruppe zu bekommen für gerade Mal einen Blumenstrauß war nicht einfach, wie Sabine Markert sagt.

Selbsthilfe in Kassel

Karin Brandt (links oben), Sabine Markert, Klaus Seitz

30 Jahre KISS: Gestern

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Die Anfänge der KISS Mit dem Bundesmodellprogramm „Informations- und Unterstützungs-stellen für Selbsthilfegruppen“ entstand in Kassel 1987 eine Kon-takt- und Informationsstelle für die Selbsthilfe, die die örtlichen Gruppen unterstützen sollte. Karin Brandt erinnert sich noch an die erste Ver-anstaltung im Bürgersaal, bei der auch Vereine wie fab e.V. (Verein zur Förderung der Autonomie Behinder-ter) und andere dabei waren. Ein re-gelmäßiges Selbsthilfeplenum wurde eingerichtet, in dem die Bedürfnisse der Gruppen und deren Durchset-zung zum Thema gemacht wurden. Selbsthilfetage waren wichtig, darin

sind sich alle einig, auch für die Ver-netzung untereinander. Dazu gehörte ebenso der erste Selbsthilfewegwei-ser, damals noch ein dickes Buch, in dem ausführliche Informationen über die Gruppen zu finden waren. Sabine Markert erinnert sich noch, wie hilfreich sie die erste Fortbildung der KISS mit einer Redakteurin der HNA empfand. Karin Brandt hat bei einem Seminar mit der Telefonseel-sorge gelernt, sich besser abzugren-zen. Und, klar, die Supervision für die Gruppenleitenden war und ist wichtig. Der Förderrat, der sich schon in den ersten Jahren gründete und dem alle drei angehörten, ist ein weiterer Meilensteinen der Selbsthilfeun-terstützung in Kassel. Er vergab die finanziellen Mittel anfangs aus dem Modellprogramm, dann von der Stadt und später aus Spenden und

Bußgeldern. Der Förderrat war ein Sprachrohr der Gruppen nach außen und stand der KISS beratend zur Seite. Diese Funktionen hat er auch heute noch.

Die Eröffnung der ersten Räume für die Selbsthilfe in der Weinbergstraße 1 im Jahr 1991.

„KISS ist für mich ein immer präsenter Rettungsring. Die KISS hilft bei meiner Aufgabe, eine Gruppe zu leiten. Tipps, Anregungen, Hinweise, Schulung, Austausch – alles hilft der Gruppe.“Hannelore Böttcher, Ilco-Selbsthilfegruppe Kassel

„Durch die KISS habe ich verschiedene Selbsthilfegruppen kennengelernt. Die Gruppen sind ein Teil meines Lebens, ohne sie wäre ich sehr einsam.“ Luise Öhler, Selbsthilfegruppe Polio

Bei allen drei „Selbsthilfevetera-nen“ fällt immer mal wieder das Wort „Kampf“. Sie mussten um ihre Interessen kämpfen, sich auch po-litisch einsetzen. „Was haben wir gekämpft“, sagt Karin Brandt und ergänzt: „Wir sind Selbsthilfegrup-pen und müssen es selbst in die Hand nehmen.“ Doch sie fanden Unterstützung für ihre Anliegen. Bei-spielsweise im engagierten Einsatz von Christiane Heider, heute Winter-Heider, die die KISS aufbaute.

„Wir hätten gerne finanzielle Un-terstützung gehabt“, erinnert sich Klaus Seitz. Und am liebsten gleich ein ganzes Haus der Selbsthilfe mit ausreichend Räumen für Treffen und Sprechstunden. Erste Räume er-kämpfte sich die Selbsthilfe im Haus Weinbergstraße 1, „die bald zu klein wurden“, sagt Klaus Seitz. In einem der Gruppenräume gab es Schränke, in denen die Gruppen ihr Material unterbringen konnten. „Wir waren damals froh, überhaupt Räume zu haben“, sagt Seitz. Selbsthilfetage und WegweiserDie Öffentlichkeitsarbeit bekam durch die KISS einen Schub. Die

1993 1994 1995• KISS Kassel ist Partnerin für Erfurt im Modellprogramm Ost für den Aufbau von Kontaktstellen

• Podiumsdiskussion „Selbsthilfe hat Konjunktur doch von Geld keine Spur“

• Erstmals Supervision für Selbsthilfegruppenleiter

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Die Gegenwart Vieles, was damals erkämpft werden musste, ist heute selbstverständ-lich geworden. Der Selbsthilfetag ist eine Institution, „Tu Gutes und rede darüber“, sagt Klaus Seitz. Er spricht von einer „Riesenentwick-lung“. Die KISS ist für alle drei eine sehr wichtige Einrichtung, die sie viel und gut unterstützt hat und es noch immer tut. Klaus Seitz fällt auch die relativ neue AG Patientenrechte ein, bei der die KISS im positiven Sinne die Fäden zusammenhalte. Oder die Einbeziehung der Selbsthilfe bei der Veranstaltungsreihe „Gesundheit im Gespräch“.

Die Aufgaben der Zukunft „Selbsthilfe hat inzwischen einen gu-ten Stand“, stellt Klaus Seitz fest. Sie ist anerkannt und hat sich etabliert. Doch wollen sich immer weniger Menschen für die Arbeit engagieren. Die Suche nach Nachfolgern für die Gruppen wird von allen als wichtiges Thema genannt. Während früher beispielsweise 200 Menschen den Weg zum Selbsthil-feplenum fanden, sind es heute sehr viel weniger. Früher gab es dabei eine echte Wahl zum Förderrat mit mehreren Kandidaten. Heute sei man froh, wenn Menschen überhaupt bereit sind, sich dort zu engagieren. Infos aus dem InternetWaren Informationen früher Man-gelware, finden Betroffene heute im Internet viele Infos – die nicht immer hilfreich seien. Vor allem jüngeren Menschen reicht das Internet, so dass immer weniger in die Gruppen kom-men. Auch die Ärzte würden heute selbst Symposien organisieren und Veranstaltungen für Patienten an-bieten, beobachtete Sabine Markert. Sie haben – auch von der Selbsthil-fe – gelernt, dass solche Angebote wichtig sind und etwas bringen.

Ein weiteres Thema, das viele Selbst-hilfegruppen vor allem bei chro-nischen Krankheiten umtreibt, ist der Mangel an Ärzten, vor allem an Fachärzten. Klaus Seitz wünscht sich deshalb wieder mehr politisches En-gagement der Selbsthilfe vor Ort.

1996 1997 1998• Tag der offenen Tür im Klinikum Kassel mit Selbsthilfegruppen

• Fest zum 10jährigen im Kulturbahnhof• Selbsthilfestammtischgründung, • 170 Gruppen

• HNA stellt Selbsthilfegruppen in Form von Visitenkarten vor

Die regelmäßigen Ankündigungen in der lokalen Presse, die Supervision, die Fortbildungen und vieles mehr erleichtern den Gruppen ihre Arbeit. Vor allem für neue Gruppen ist die KISS eine große Hilfe. „Die KISS hat alles optimal abgedeckt“, stellt Sabi-ne Markert fest.

„Die KISS bietet den Rahmen und die Möglichkeiten, mit anderen Betroffenen in konstruktiven Kontakt zu kommen und sich damit positiv in die Gemein-schaft einzubringen.“ Heinz Neumann, Zwerchfellhochstand

„KISS bedeutet für unsere Gruppe Hilfe und Unterstützung in allen organisa-torischen und technischen Fragen, aber auch Hilfe und Rat bei Schwierigkeiten im Gruppengeschehen.“ Hildegard Jauch, Lupus Erythematodes

Der Förderrat 2002: v.l. Karin Brandt, Rolf Birkelbach, Klaus Seitz, Sabine Markert, Berthold Büchs, Elisabeth Ahrens.

Der Erfahrungsaustausch Karin Brandt ist sich am Ende über eins sicher: Das Wichtigste in der Selbsthilfe ist und bleibt der Erfah-rungsaustausch mit Selbst-Betrof-fenen.

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Barbara Stolterfoht wurde 1984 nicht nur die erste kommunale Frauenbeauftragte in Kassel, sie war von 1985 bis 1992 auch Dezernentin für Frauen, Gesundheit und Soziales und damit zuständig für die Grün-dung der KISS.

Sie könne sich noch gut an die po-litischen Kämpfe erinnern, die der Gründung von KISS vorausgingen, schreibt Barbara Stolterfoht in einer Mail als Antwort auf die Frage, ob Sie zu einem kurzen Interview zur Grün-dung der KISS bereit wäre. Da sie zur documenta sowieso nach Kassel kommt, findet sich unproblematisch ein Termin.

Kassel war, sagt die damalige Dezer-nentin, Mitte der 80er eine arme Kommune. Durch die Lage am Zo-nenrandgebiet war die wirtschaftli-che Situation schlecht. Der Kämmerer bemühte sich darum, Geld zu sparen. Er war ein Gegner von Modellpro-grammen, denn am Ende bleibe die Stadt auf den Kosten sitzen. „Und dann gab es so eine merkwürdige

Sozialdezernentin, die sich für eine Kontaktstelle für die Selbsthilfe und ein Bundesmodellprogramm ein-setzte“, schildert Barbara Stolterfoht lächelnd. „Eigentlich hatten wir keine Chance, doch wir haben sie genutzt.“

Starke SelbsthilfebewegungDie Selbsthilfebewegung war zu der Zeit relativ stark, viele Patienten brachen auf und nahmen nicht mehr alles von den Ärzten hin. Manche sahen darin „wildgewordene Pati-entenhorden“, andere, wie sie selbst, fanden den Aufbruch der Patienten und die Selbstorganisation von Men-schen und das bürgerschaftliche En-gagement für die eigene Gesundheit sehr spannend.

Doch die meisten Gruppen arbeite-ten allein vor sich hin und hatten zu wenig Kraft, um sich zu organisieren. Deshalb brauchten sie Selbsthilfe-kontaktstellen zur Unterstützung. Es sei ja nicht darum gegangen, jemanden zu vereinnahmen, son-dern um eine Dienstleistung für die Selbsthilfe.

„Eine sehr lebendige Zivilgesellschaft“Von wildgewordenen Patientenhorden und einer Dienstleistung für die Selbsthilfe

Im Gesundheitsamt unter Leitung von Dr. Albrecht Letz hatte Peter Ludwig Eisenberg in Zusammenarbeit mit den Selbsthilfegruppen ein Kon-zept für die Kontaktstelle entwickelt, die gemeinsame Überzeugungsarbeit konnte beginnen und war erfolgreich. Auch die Parteien, allen voran SPD und Grüne, erkannten, dass eine sehr lebendige Zivilgesellschaft zu ihrem Klientel gehörte, die es zu unterstüt-zen galt. Ein starkes Argument waren auch die finanziellen Mittel des Bun-desmodellprogramms „Selbsthilfe-unterstützung“, durch die der Stadt ein paar Jahre lang keine Kosten entstanden. So wurde die Teilnahme am Modellprogramm schließlich in Magistrat und Stadtverordnetenver-sammlung beschlossen.

Die ehemalige Sozialdezernentin stellt rückblickend fest, dass Kassel häufig an der Spitze der Bewegung war, wenn es im gesundheitlichen und sozialen Bereich um Neues ging. Und das, obwohl Kassel keine reiche Stadt war.

Barbara Stolterfoht, damals zuständige Dezer-nentin bei der Stadt Kassel, bei der Eröffnung der Räume in der Weinbergstraße.

Der damalige Leiter des Gesundheitsamtes, Dr. Albrecht Letz und Psychiatriekoordinator Peter Lud-wig Eisenberg unterstützten die Einrichtung einer Selbsthilfekontaktstelle.

1999 2000 2001• Erster Internetauftritt von KISS für die Selbsthilfegruppen

• Selbsthilfetag auf dem Spohrplatz • KISS-Leitungswechsel. Neu: Carola Jantzen

• Selbsthilferundbrief für Gruppenleiter wird zur Zeitung für Alle • Selbsthilfetag erstmals auf dem Königsplatz • Krankenkassenförderung wird gesetzliche „Kann-Leistung“

30 Jahre KISS: Gestern

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Peter Ludwig Eisenberg arbeitete von 1974 bis 1992 als Koordinator für Gesundheits- und Behindertenhilfe. Während des Modellprogramms „Kontaktstelle“ war er zugleich Projektleiter.

KISS-Magazin: Herr Eisenberg, wie kam es zur Gründung der KISS in Kassel?

Peter Ludwig Eisenberg: Anfang der 80er Jahre wurde im Gesundheits-amt ein neuer Arbeitsschwerpunkt „Sozialmedizinische Koordination“ geschaffen, um für die Gesundheits- und Behindertenhilfe an Strukturen der regionalen Versorgung im Stadt-bereich mitzuwirken. Zunächst ging es darum, die Kooperation mit den vor Ort ansässigen Einrichtungen für Psychiatrie, Sucht und Behinderte zu verbessern. Doch schon bald stellte sich verstärkt die Frage, wie Be-troffene selbst einbezogen werden können, besonders Menschen, die

ein Interesse an der Entwicklung von Selbsthilfegruppen hatten. Als wir nach Lösungen suchten stellte sich heraus, dass es bundesweit bereits Entwicklungen gab. Hilfreich für uns war die Zusammenarbeit mit der seit 1982 bestehenden Deutschen Ar-beitsgemeinschaft Selbsthilfegrup-pen (DAG SHG). Sie verstand sich als Fachverband für Selbsthilfegruppen. Ihr Ziel war, den Selbsthilfegedanken gesellschaftlich zu etablieren. Dazu gehörte die Werbung für eine Unter-stützung der Selbsthilfe im Gesund-heitswesen und einer dafür notwen-digen Infrastruktur.

KISS-Magazin: War es von Anfang an klar, dass das Gesundheitsamt für solche Fragen zuständig ist?

Peter Ludwig Eisenberg: Die ersten Reaktionen vor Ort waren zunächst zwiespältig. Damals setzte man be-vorzugt darauf, solche Aufgaben auf die Träger der Freien Wohlfahrts-pflege zu verlagern. Dem Kasseler Gesundheitsamt ging es aber darum, die gesetzlichen Aufgaben der Ge-sundheitshilfen und -förderung wei-terzuentwickeln. Das fand Anklang im Sozial- und Gesundheitsdezernat und in den politischen Gremien der Stadt. Diese Absicherung ermög-lichte es, ein „Konzept einer Kon-takt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen“ zu entwickeln und sich darum zu bemühen, an einem Modellversuch des damali-gen Bundesministeriums für Familie teilzunehmen.

KISS-Magazin: Existierten beim Bundesministerium Bedenken im Hinblick auf die Anbindung der KISS an ein Gesundheitsamt?

Peter Ludwig Eisenberg: Kassel war das einzige Konzept im geplanten Modellprogramm, bei dem die KISS an ein kommunales Gesundheits-amt angegliedert werden sollte. Es gelang, diese Variante im Modell-programm im Vorfeld zu berücksich-tigen, als Alternative zu den anderen bei der Freien Wohlfahrtspflege initiierten Konzepten. Diese positi-ve Entwicklung ermöglichte es der damaligen Sozial- und Gesundheits-dezernentin, Barbara Stolterfoht, den Weg dafür zu ebnen, dass im Oktober 1987 der Magistrat ebenso wie die Stadtverordnetenversammlung der Teilnahme am Modellversuch frak-tionsübergreifend zustimmte.

KISS-Magazin: Was bedeutete die Teilnahme am Modellprogramm?

Peter Ludwig Eisenberg: Durch das Modellprogramm flossen bis Ende 1991 Fördergelder. Aber von Beginn an wurden auch Wege gesucht, die Kontaktstelle – so sie sich bewährte – langfristig einer Regelfinanzierung zuzuführen. Christiane Heider über-nahm als erste Mitarbeiterin die Be-ratungsaufgaben. Schnell stellte sich das Bedürfnis der Selbsthilfegruppen heraus, kostenfreie Räume zu finden. Das Gesundheitsamt mietete Räume in der Kurt-Schumacher-Straße 2

Die Gesundheitsförderung weiterentwickelnDie Bedeutung von Kontaktstellen für Selbsthilfegruppen neu begreifen

Peter Ludwig Eisenberg im Interview

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2002 2003 2004• Krankenkassen fördern KISS erstmals pauschal• Erster Nikolausempfang für Selbsthilfegruppen

• Selbsthilfetag auf Königsplatz und im City-Point: KISS Schirmbildfoto • Zusätzliche halbe Stelle Beratung mit Sven Heise (bis 2008)

• Treffpunktzusammenlegung in Wilhelmsh. Allee 32A, 4. OG • Podiumsdiskussion „Sifft hä dann?“ • Selbsthilfetag erstmals auf dem Friedrichsplatz

30 Jahre KISS: Gestern

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und der Weinbergstraße 1 an. Die Möblierung wurde teilweise über Spenden aufgebracht, unter anderem auch vom Landesverband der Paritäter.

KISS-Magazin: Die Aufgaben der KISS waren ja erst einmal neu, auch für das Gesundheitsamt.

Peter Ludwig Eisenberg: Das Be-sondere am hiesigen Konzept war das Ziel, dass alle Selbsthilfegruppen

ihre Arbeit autonom umsetzen kön-nen. Sie sollten bei der Zusammen-arbeit mit KISS keine Vereinbarungen mit dem Gesundheitsamt oder der Stadt eingehen müssen. Doch die Entscheidungskompetenz, finanzi-elle Hilfen zu gewährleisten, hatte ausschließlich das Gesundheitsamt. Um dennoch die Selbsthilfe an den Bewilligungsverfahren zu beteiligen, wurde ein Förderrat der Selbsthilfe-gruppen mit einem entsprechenden Vorschlagsrecht etabliert.

Neben den Räumen in der Weinbergstraße (unten) bekamen die Gruppen 1992 drei weitere Räume und ein kleines Büro in der Kurt-Schumacherstraße 2 (oben) zur Verfügung gestellt. In beide kam der Nikolaus, das Foto in der Kurt-Schumacherstraße entstand 1992, in der Weinbergstraße 2003.

KISS-Magazin: Es ist ja gelungen, die Finanzierung der KISS auch nach dem Modellprojekt zu sichern.

Peter Ludwig Eisenberg: Die Be-gleitforschung des Bundesmodell programms zeigte, dass sich das für Kassel entwickelte Konzept bewährt hatte. Dieser Nachweis war ent-scheidend für die Bemühungen, das Projekt „Kontaktstelle für Selbst hilfegruppen“ in eine Regel-finanzierung durch die Stadt zu überführen. Begünstigt wurde das durch die Zusage des Landes Hessen für eine langfristige Förderung, aber auch durch andere Finanzierungs-möglichkeiten einiger Sozialver-sicherungsträger.

Um ein solches Ergebnis zu erreichen, ist es gestern wie heute notwendig, sich ständig auch mit den überregio-nalen Entwicklungen der Selbsthilfe-bewegung auseinanderzusetzen und konstruktiv daran mitzuwirken, die Formen der Unterstützung weiter-zuentwickeln. Dies ist mit der KISS in Kassel gut gelungen, wenn man heute zum 30jährigen Jubiläum eine Bilanz zieht.

2005 2006 2007• Start der Rubrik Selbsthilfe in der HNA, von KISS koordinierte Gruppentermine für jeweils eine Woche

• KISS wird Mitveranstalter bei der Reihe „Gesundheit im Gespräch“ mit Selbsthilfevertretern

• Jubiläumsfeier 20 Jahre KISS im Bürgersaal Rathaus Kassel mit Ausstellung „Schatzkisten“, von den Gruppen gestaltet

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1990Zwei Standorte für Gruppentreffen erkämpft

Christiane Heider, heute Winter-Heider, übernahm 1987 die Aufgabe, die Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen aufzubauen und führte sie bis Mitte 2000 weiter.

In einem Zimmer der Praxis von Dr. Christiane Winter-Heider gibt es eine Menge Spielzeug und Plüsch-tiere. Kein Wunder, die erste Leiterin der KISS arbeitet heute als Psycho-therapeutin für Kinder und Jugend-liche. Und sie hat noch einige jener Spielzeuge, die sie als Abschiedsge-schenk der Selbsthilfegruppen bei ihrem Weggang von KISS bekam. Sie war 1987 beim Gesundheitsamt in der sozialmedizinischen Abteilung tätig und durch ihre Mitarbeit für den Gesundheitstag im Mai 1987 hatte sie bereits mit Gruppen der Selbst-hilfe zusammengearbeitet.

Am 15. Dezember 1987 in der Wil-helmshöher Allee 32A in einem win-zigen Büro im 5. Stock – das später Kopierzimmer wurde – machte sie sich daran, mit einem Aktenordner und einem Telefon, einem Schreib-telefon für Gehörlose sowie einer

Schreibmaschine und einem Diktier-gerät die KISS in Kassel im Rahmen des Modellprogramms des Bundes aufzubauen. Außer ihr gab es eine Sekretärin und Peter Ludwig Ei-senberg.

Ihre Hauptaufgabe war, die Selbsthilfegruppen in der Stadt präsent zu machen, ein selbsthilfefreundliches Klima zu schaffen, die Gruppen zu beraten, aber auch bei der Neugründung von Gruppen hilfreich zur Seite zu stehen. Sie sollte die Verbindungs-person zwischen der Verwaltung und den Selbsthilfegruppen sein.

Skepsis legte sich baldNatürlich gab es anfangs Fragen und manchmal Skepsis. Geht das mit der Angliederung an das Amt? Wird die Selbsthilfe vereinnahmt? Passt das zusammen – Selbsthilfe und eine Verwaltung? Tatsächlich waren die Wege in der Verwaltung manchmal länger als es die Bedürfnisse der Gruppen und die Aufgaben der KISS erforderten. Doch es konnten immer Lösungen gefunden werden. Dass die Stelle beim Gesundheitsamt ange-siedelt war, schuf eine vorteilhafte Nähe, um die Belange der Gruppe an das Amt und die Kommunalpolitik heranzutragen. Christiane Winter-Heider schrieb erst einmal Gruppen und Initiativen an – damals gab es eine größere Offenheit darüber, was alles zur Selbsthilfe gehörte. Da tauchten die Grauen Panther (Seniorenpartei) ebenso auf wie

„Sehr viel Achtung vor den Menschen“Christiane Winter-Heider war die erste Leiterin der KISS und baute die Kontaktstelle auf

Christiane Winter-Heider

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2008 2009• Zuständigkeit durch Fusion der Gesundheitsämter auf Landkreis Kassel erweitert

• Erste gemeinsame Präsentation bei den Kasseler Gesundheitstagen

• Umzug Büro und Gruppenräume ins 3. OG, Wilhelmshöher Allee 32A• Video „Experten in eigener Sache“ über Kasseler Selbsthilfegruppen

die Rheuma-Liga, Maske Blauhaus in Tinaia (Kunstprojekt psychisch Kranker) oder der fab e.V. Bei einer ersten Informationsveranstaltung im Februar 1988 war der Bürgersaal im Rathaus so voll, dass keiner mehr hineinpasste.

Zuerst informierte die KISS über sich, sammelte aber vor allem die Wünsche der Selbsthilfe. Es zeigte sich schnell, dass die Selbsthilfe vor allem Räume brauchte. Christiane Winter-Heider vertrat diesen Be-darf gegenüber dem Gesundheits-amt und der Kommunalpolitik, die Gruppen schrieben Petitionen und leisteten Überzeugungsarbeit. Die KISS-Mitarbeiterin durfte sogar, was ungewöhnlich war, in der Stadtver-ordnetenversammlung zu dem Thema reden.

Die Bemühungen waren erfolgreich: 1991 stand eine Wohnung mit drei Räumen in der Weinbergstraße 1 zur Verfügung, in der auch der

30 Jahre KISS: Gestern

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Club Behinderter und ihrer Freunde (CeBeeF) zwei Tage die Woche Räume belegte. Ein Jahr später kamen weitere Räume in der Kurt-Schumacher-Straße im Haus der Begegnung dazu. Regelmäßige PlenumsgruppenBald hatten viele Gruppen Kontakt zur KISS aufgenommen, erinnert sie sich. Regelmäßige Planungsgruppen, genannt Selbsthilfeplenum, fanden statt, die Leiterin der KISS kooperier-te eng mit den Gruppenvertretern. Aus dem Bundesmodellprogramm standen auch den Selbsthilfegruppen finanzielle Mittel zur Verfügung, die ab 1991 vom Förderrat für Kasseler Selbsthilfegruppen vergeben wurden.

Die KISS organisierte Veranstal- tungen, die von den Gruppen ge-wünscht wurden. So gab es ein Seminar zur Jugendförderung, Ver-anstaltungen zum „Wahnsinn Psy-chiatrie“ und zur Zusammenarbeit mit Professionellen, die von Seiten der Selbsthilfe durchaus erwünscht war. So gehörte es zu den Aufgaben der KISS, Kontakte zu den Profis zu schaffen. Wer eine Selbsthilfegruppe suchte, wendete sich bald ebenfalls an die KISS. Kopierer und ComputerSchon 1988 gab es einen ersten Selbsthilfetag und 1989 erstellte die

Gesamthochschule, in Zusammen-arbeit mit der KISS, einen ersten Selbsthilfewegweiser. 1989 bekam die KISS – gesponsert von einem Pharmaverband – den ersten Com-puter. Von nun an konnte die Mit-arbeiterin Plakate und Handzettel für die Selbsthilfe entwerfen und auf dem neuen Kopierer vervielfältigen. Fortbildungen zur Öffentlichkeits-arbeit und anderen Themen wurden angeboten. Im Rahmen des Modell-projekts waren Jahresberichte und Statistiken zu erarbeiten.

1992 kam die Patenschaft für die Gründung einer KISS in Erfurt dazu, denn mit der Wiedervereinigung legte die Bundesregierung ein wei-teres Modellprogramm für die neuen Bundesländer auf. Der Aufbau der Selbsthilfegruppen sollte auch den Demokratisierungsprozess unter-stützen. Christiane Winter-Heider erinnert sich an Tagungen in den neuen Bundesländern im Rahmen des Programms. Das Spektrum der Aufgaben wuchs, die Zeit reichte zu-nehmend weniger.

Als Christiane Winter-Heider im Jahr 2000 ging, gab es eine funktionierende KISS. Was sie aus ihrer Arbeit mitgenommen hat? „Sehr viel Achtung vor den Menschen, die sich trotz ihrer Beeinträchtigung engagieren.“

Die KISS wandelte im Laufe der Jahre ihr Logo

Im September 1989 fand in den Städtischen Kliniken ein Tag der Selbsthilfegruppen und Initiativen statt.

42 Gruppen präsentierten sich 2000 auf dem Friedrichsplatz in Kassel. Und der Flyer war künstlerisch gestaltet.

2010 2011• Neue Mitarbeiter bei KISS: Karl-Heinz Brestrich Beratung (bis 2015) und Beatrice Busch Büro

• Erstes buntes „KISS-Selbsthilfemagazin“ als Jahreszeitung

• Erstes Qualitätssiegel für KISS• 252 Selbsthilfegruppen – Höchststand

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Das grundlegende Profil der KISS ist über die Jahre zwar gleich geblie-ben, doch gibt es eine Reihe von Än-derungen in Quantität und Qualität der Arbeit. Die Kernaufgaben sind noch immer: Dokumentation und Organisation, Selbsthilfeinteressen-ten zu beraten, Selbsthilfegruppen zu unterstützen, Öffentlichkeitsar-beit für die Selbsthilfe zu betreiben, für Vernetzung untereinander und mit Fachleuten zu sorgen. Doch die Fülle der Aufgaben der Kontakt-stelle in Kassel hat zugenommen. Die Anforderungen an die Pro - fes sionalität, an Koordinierung, Vernetzung und Vermittlung sind gestiegen.

hat daher ihre Wichtigkeit im Lauf der Zeit nicht verloren, „denn die meisten Menschen in Deutschland haben zwar inzwischen das Wort „Selbsthilfegruppe“ schon einmal ge-hört und glauben zu wissen, was sich dahinter verbirgt. Dabei handelt es sich allerdings häufig um Vorurteile, die zu einer Abwertung der Gruppen führen. Zu einem selbsthilfefreund-lichen Klima gehört, den Betroffe-nen und der Selbsthilfe Kompetenz zuzutrauen. Dafür muss heute noch immer bei Institutionen und Öffent-lichkeit engagiert geworben werden“, stellt Carola Jantzen fest.

• Kommunikation herstellenWesentliche Leistung einer Kontakt-stelle sei es, vorher nicht bestehende Kommunikation herzustellen, steht im Abschlussbericht des Modellpro-gramms. Auch heute noch bereitet die KISS den Boden, damit Kommu-nikation in den Gruppen, zwischen den Gruppen und mit Professionellen einzeln und in Netzwerken stattfin-den kann.

„KISS bedeutet für uns, eine Anlaufstel-le zu haben, wenn wir Fragen haben. KISS unterstützt uns in allen Lebens-lagen. ... Die Mitarbeitenden der KISS haben immer ein offenes Ohr für uns.“ Astrid Boll, Selbsthilfegruppe Rheumaliga Kassel

Was geblieben ist

• Die GrundhaltungDamals wie heute ist die Grundhal-tung der Arbeit eine unterstützende, die die Gruppen selbstbestimmt sein lässt. Dazu gehört, von den Bedürf-nissen der Selbsthilfegruppen auszu-gehen. Was brauchen und wollen die Gruppen? Die KISS ist ein Dienstleis-ter für die Selbsthilfe.

• Ein selbsthilfefreundliches Klima schaffenDas Bundesmodellprogramm defi-nierte 1987 als eine Hauptaufgabe der Kontaktstellen, ein selbsthilfe-freundliches Klima in der Stadt zu schaffen. So sieht das die heutige Leiterin der KISS, Carola Jantzen, auch heute noch. „Die meisten Men-schen suchen erst nach Hilfe, wenn sie leiden. Die Selbsthilfe für diese Menschen auffindbar zu machen und in der Öffentlichkeit präsent zu halten, ist noch immer Kern unse-rer Arbeit bei KISS“, fügt sie hinzu. Öffentlichkeitsarbeit in jeder Form

Selbsthilfetage, die seit 2004 auf dem Friedrichsplatz stattfinden, sind ein wichtiger Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Selbsthilfe.

1990Zwei Standorte für Gruppentreffen erkämpft

2012• Jubiläumsfeier 25 Jahre KISS im Bootshaus Kassel• Erstmalig Teilnahme bei Wolfhager „Gesundbleibtagen“

• Gründung der AG Patientenrechte• Infostand beim Hessentag in Kassel• Größte Fußgruppe beim Festzug 1100 Jahre Kassel mit 178 Selbsthilfegruppenmitgliedern und KISS

2013

Gestiegene Anforderungen und Fülle von AufgabenDie Selbsthilfe ist heute anerkannt/Kontaktstellen sind nicht mehr wegzudenken

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Was sich geändert hat

• Die Zahl der GruppenIm Verlauf von 30 Jahren ist die Zahl der Gruppen in Kassel von 70 bei Gründung der Selbsthilfekontakt-stelle bis auf 250 nach Einbeziehung der Landkreis-Selbsthilfegruppen in 2008 gestiegen. Zu den Gruppen für häufige Erkrankungen wie Rheu-ma und Diabetes kamen solche für seltene Erkrankungen wie Morbus Behcet und Fragiles X-Syndrom hinzu. Für diese Gruppen mit großen Einzugsgebieten eignet sich Kassel in der Mitte Deutschlands gut als Treff-punkt.

Es konnten im Laufe der Zeit auch mehr Krankheiten diagnostiziert werden, wie zum Beispiel Fibromy-algie. Auch bei den psychischen Er-krankungen (Borderline) und Such-terkrankungen (THC, Medikamente) wurde das Spektrum breiter. Grup-pen mit Themen in „Besonderen Le-benslagen“ spiegeln die gesellschaft-liche Entwicklung, beispielsweise bei Hochsensiblen, Kriegsenkeln und schwulen Vätern.

• Selbsthilfe und KISS sind etabliert und anerkannt Wie sich Anerkennung der Selbsthilfe verändert hat, lässt sich mit folgen-den Begriffen beschreiben: „Entwer-tung – Beachtung – Anerkennung – Systemeinbindung“. Als die KISS mit der Arbeit begann, war das Vertrau-en der Professionellen in die Kompe-tenz der Betroffenen in den Gruppen noch nicht sehr groß. Viele werteten die Treffen als „Kaffeekränzchen“

oder „Jammergruppen“ ab. Die Anerkennung der Gruppen wuchs nach vielen positiven persönlichen Berichten über den hilfreichen Er-fahrungsaustausch von Betroffenen und Angehörigen im Laufe der Zeit immer mehr. Besonders die gegen-seitige Unterstützung der Mitglieder und damit die psychosozialen Effekte der Gruppen werden inzwischen sehr geschätzt.

Ziel einiger Gruppen ist es, viel Wis-sen über die Erkrankung zu sammeln, um mit dem Arzt in puncto Behand-lung Entscheidungen auf Augenhöhe treffen zu können. Bisher sehen dies nur einige Mediziner positiv, die Akzeptanz nimmt aber zu, be-sonders an Krankenhäusern und in Krebszentren. Hier wird Selbsthilfe inzwischen planmäßig eingebunden, da die Qualitätsrichtlinien für die Krankenhäuser dies verlangen. Eine sehr weitreichende, schriftlich fest dokumentierte Anerkennung der Selbsthilfe.

• Das Gesundheitsamt als TrägerDie Frage, ob ein Gesundheitsamt Träger der KISS sein kann, wurde schon im Modellprogramm mit ei-nem klaren „Ja“ beantwortet. Dies bestätigt auch Carola Jantzen, die heutige Leiterin der KISS. Die Wege sind kürzer und die Möglichkeiten der Vernetzung besser.

1100 Jahre Kassel im Jahr 2013 – die KISS stellte die größte Fußgruppe beim Festumzug.

2014• KISS betreibt eine eigene Facebookseite und bietet Fortbildung für Gruppenleiter dazu an

• Projektbeginn „Elternselbsthilfegruppen stärken“ (bis 2016).

• Fortbildung zum Patienten-Arztgespräch in der AG Patientenrechte

2015

30 Jahre KISS: Heute

GesundheitsamtRegion Kassel

Als nach Abschluss des Modellpro-gramms die Stadt als Träger und das Land als Förderer der Selbsthilfekon-taktstelle einstieg, musste – anders als bei vielen Beratungsangeboten freier Träger – keine Zeit und Energie investiert werden, um weitere För-dermittel einzuwerben. Man konnte sich auch später noch auf die eigent-lichen Aufgaben konzentrieren, was für viele Beratungsangebote bei frei-en Trägern häufig ganz anders war.

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• Alles unter einem DachDie KISS hält für die Gruppen seit 2004 rund 300 Quadratmeter an an-sprechenden und kostenfreien Räu-men in der Wilhelmshöher Allee 32A als „Selbsthilfetreffpunkt“ bereit, ein heute unumstrittenes Angebot.

Vorher verteilten sich die Räume auf zwei Standorte, die vom Büro der KISS entfernt waren. Während die Räume früher immerhin zweckmäßig eingerichtet waren, herrscht heute im Treffpunkt eine freundliche At-mosphäre mit gepflegten Pflanzen vor den Fenstern und einer jahres-zeitlich angepasster Tischdekoration. Die Selbsthilfegruppen fühlen sich hier zu Hause, in über 100 Schrank-fächern lagern sie ihr eigenes Info-material.

• Die FinanzierungAnfangs kamen die Gelder für die Kontaktstelle aus dem Bundesmo-dellprogramm. Nach dessen Ende gelang es dank Einsatz der Verant-wortlichen und der Selbsthilfegrup-pen, die KISS weiter aus städtischen Mitteln, einem Landeszuschuss und anderen Töpfen zu finanzieren. Das ist bis heute so geblieben. 2002 förderten die gesetzlichen Kranken-kassen zehn Prozent vom Haushalt der KISS, jedoch nur Sachkosten. Bis 2016 ist dieser Anteil auf 45 Prozent gestiegen, mit dem inzwischen auch Personalkosten beglichen werden können. Grund für diese Steigerung ist die geänderte gesetzliche Lage. Die Krankenkassen sind inzwischen verpflichtet, 1,08 Euro pro Versicher- tem für die Selbsthilfe auszugeben.

Dies hat sich auch positiv auf die fi-nanzielle Situation der Gruppen aus-gewirkt. Allerdings gilt letzteres nur für Gruppen zu Gesundheitsthemen. Selbsthilfegruppen zu sozialen The-men, wie alleinerziehende Eltern oder Arbeitslosigkeit, fallen nicht unter diese Förderung. Sie können Mittel aus den Spendengeldern beantra-gen, die vom Förderrat der Kasseler Selbsthilfegruppen vergeben werden.

Die verbesserte Finanzierung sowie die Zunahme an Aufgaben bedeutete auch mehr Personal. Zu Beginn der Kontaktstelle waren eine Ganztags-stelle und eine halbe Stelle Sekreta-riat für die KISS vorgesehen. Heute arbeiten dort drei Mitarbeitende in Vollzeit.

• Die QualitätssicherungGut für KISS Kassel war, dass es im Verlauf der 30 Jahre nur einen Wech- sel der leitenden Mitarbeiterin gab (im Jahr 2000 von Christiane Winter-Heider auf Carola Jantzen), die je-weils viel Erfahrung mit den Selbst-hilfegruppen und den speziellen Anforderungen der Selbsthilfeunter-stützung sammeln konnten. Dies trägt sehr zur Qualität der Arbeit bei.

Die KISS hat gemeinsam mit vier wei teren hessischen Selbsthilfekon-taktstellen als erste in Deutschland ein Qualitätsmanagement-System eingeführt und die Qualität ihrer Ar-beit zertifizieren lassen. Dabei wur-den von 2004 bis 2009 alle Arbeits-prozesse gesammelt, bewertet und in einem Handbuch dokumentiert. In einem kontinuierlichen Prozess wird nun die Arbeit der KISS jährlich ana-

lysiert, Abläufe und Prozesse werden im Detail schriftlich festgehalten und überprüft. Wie läuft eine Beratung von Anfang bis zum Ende? Passiert ein Fehler, geht man mit System der Frage nach, wie er zukünftig vermie-den werden kann. Die KISS setzt sich jährlich Qualitätsziele, um die Arbeit zu verbessern. Die Arbeit von KISS hat sich verän-dert, von einer Reaktion auf die ak-tuellen Bedürfnisse der Gruppen in

v. links: Beatrice Busch, Karl-Heinz Brestrich und KISS-Leiterin Carola Jantzen präsentieren das Qualitätssiegel

2015• Zwischenbericht des Projekts „Elternselbsthilfe gruppen stärken“ deckt Versorgungsprobleme auf• Infostand beim Hessentag in Hofgeismar

• KISS unterstützt die Parkinsonselbsthilfegruppe beim Kampf gegen den Kasseler „Neurologenmangel“

• Höchste Zahl von Beratungen bei KISS: 1028• Tagung „Aufwachsen mit Behinderung in Nordhessen“

2016

eine vorausschauende Planung mit Beteiligung der Gruppen. In diesem Rahmen wird wieder viel mehr doku-mentiert und evaluiert als in früheren Zeiten (Ausnahme ist der Start mit dem Bundesmodellprogramm). Be-reits in den Anfangszeiten wurde der KISS Kassel im Vergleich zu den an-deren Kontaktstellen ein besonders guter Kontakt zu den Gruppen at-testiert, der heute, durch den Einsatz von E-Mails, noch viel intensiver ist.

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• Öffentlichkeitsarbeit Viele Medien zur Öffentlichkeits-arbeit, die in den ersten Jahren der KISS entwickelt wurden, gibt es noch heute. Doch sie haben ihr Gesicht verändert. Im Selbsthilfewegwei-ser standen anfangs ausführliche Informationen über die Gruppen, heute werden nur noch Anschrift und Ansprechpartner genannt. Die restlichen Informationen wanderten ins Internet. Noch immer existiert ein Rundbrief, der alle sechs bis acht Wochen an 350 Adressaten versen-det wird, 250 noch immer als Brief, die restlichen per E-Mail. Der Vertei-ler ist viel größer geworden.

Aus dem Rundbrief entstand eine Zeitung, die ein bis zwei Mal im Jahr in schwarz-weiß erschien und mittlerweile zum jährlichen, bunten Selbsthilfemagazin geworden ist.Auch hier ist der Verteiler größer

mit eigenen Texten vorstellen kön-nen. Die Angaben im Internet inklu-sive Veranstaltungshinweise werden von der KISS wöchentlich aktuali-siert. Das setzt einen guten Kontakt zu den Gruppen voraus, auf den die KISS schon immer viel Wert gelegt hat. Die KISS Kassel ist im Internet auch im sozialen Netzwerk Facebook vertreten, als eine von etwa zwei Dutzend Selbsthilfekontaktstellen bundesweit. Über Facebook werden Veranstaltungshinweise und Informa -tionen verbreitet. Auch das setzt Ak-tualität und tägliche Aktivität voraus.

Die E-Mails sind aus der Kommu-nikation nicht mehr wegzudenken. Durch Mails ist die Kommunikation viel kleinteiliger und kurzfristiger geworden, denn erwartet wird, dass die Antwort am gleichen, spätestens am nächsten Tag erfolgt.

• Und noch mehr AktivitätenMit der Reihe „Gesundheit im Ge-spräch“ bietet sich der Selbsthilfe eine weitere Chance, ihre Kompetenz zu zeigen und ihr Angebot bekannt zu machen. Gemeinsam mit Profis informieren Vertreter der Gruppen vom Podium aus über Gesundheits-themen wie Krebs oder Schlaganfall. Die Veranstaltungen werden simul-tan in Gebärdensprache übersetzt, gefilmt, vom Offenen Kanal Kassel ausgestrahlt und sind im Internet jederzeit abrufbar.

Der Beitrag der Selbsthilfegruppen bei den Gesundheitstagen Nordhes-sen wird jährlich größer, inzwischen füllen die Infostände ein eigenes Foyer. Die Gruppen sind laut Veran-

geworden, es geht kostenlos an alle Praxen, Ärzte und andere Gesund-heitsberufe in Stadt und Landkreis Kassel, an Kliniken, Apotheken, Bera-tungsstellen ebenso wie Selbsthilfe.

Die Zahl der Möglichkeiten für Selbsthilfegruppen, sich in der Öf-fentlichkeit zu präsentieren, sei es in den Medien oder bei Infotagen, ist im Lauf der Zeit so angestiegen, dass aus Kapazitätsgründen bei den Gruppen und KISS nicht mehr jede Chance wahrgenommen werden kann, sondern eine Auswahl getrof-fen werden muss. Dabei übernimmt KISS die Rolle eines Organisators und Koordinators.

• Internet – schneller und aktuellerDie KISS Kassel war die erste hess. Kontaktstelle, die eine Internetseite einrichtete, auf der sich die Gruppen

stalter „zu einer wichtigen Säule der Gesundheitstage geworden“.

Mit der Arbeitsgruppe Patienten-rechte wendet sich die Selbsthilfe allgemeinen Themen und Mängeln im Gesundheitssystem zu. Sei es der Mangel an Fachärzten oder das Ge-

2017• Zweite Stelle zur Beratung wird unbefristete Vollzeitstelle

• Fotoprojekt „Gemeinsam stark“ zum 30jährigen Jubiläum• Selbsthilfe-Infotag im dez-Einkaufszentrum

• Ende des Mietvertrags für den Selbsthilfe- treffpunkt im Haus der AWO. KISS und die Gruppen ziehen um

2018

spräch mit einer Klinik über mögliche Verbesserungen – die AG Patienten-rechte bietet dafür ein Forum. Die Haltung der Selbsthilfe ist heute weni-ger kämpferisch als in den Anfangsta-gen. Es geht darum, im Gesundheits-system die richtigen Ansatzpunkte zu finden, um etwas zu bewegen.

Das Interesse bei „Gesundheit im Gespräch“ ist groß, so 2016 zum Thema „Eingriffe am Herz“.

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Auf die Menschen kommt es an Hat Selbsthilfeentwicklung den Wendepunkt erreicht?/KISS der Zukunft flexibel und niedrigschwellig

zwar bei KISS einen Raum zu einem festen Termin reserviert haben, sich aber vorher online verständigen, ob genügend Mitglieder kommen. Viele Kontakte laufen über Online-Foren, Facebook und WhatsApp. Doch irgendwann möchten sich Teilnehmer gern persönlich kennenlernen. In der Art sind bereits einige neue Gruppen bei KISS entstanden, die sich nun re-gelmäßig persönlich vor Ort treffen.

Wissen über ErkrankungenSelbsthilfegruppen sind noch immer ein besonderer Ort der Wissens-vermittlung über Erkrankungen. Sie sind nicht mehr wie früher der einzige Ort. Viel gibt es im Internet, aber auch viel Falsches. Arztvorträge werden in Kassel derzeit wöchentlich an einer der fünf Kliniken angeboten, auch als gut genutztes Marketing-instrument. Doch der Arztbesuch in der Gruppe ist noch immer etwas Besonderes und es gilt, dies mehr herauszustellen. Aus den Beiträgen der engagierten, gut vorinformier-ten Gruppenmitglieder lässt sich ein Mehrgewinn für alle Beteiligten erzielen, auch für den Arzt. Bereits heute organisieren Selbsthilfegrup-pen gezielt Begegnungen mit Ärzten, um sie mit der Lebenswirklichkeit der Erkrankten vertrauter zu ma-chen. Eine stärkere Einbeziehung in entsprechende Studiengänge hat Zukunftspotential.

Auch Gruppenleiter sind Betroffene und Erkrankte, die Leistungsgrenzen haben. Anforderungen wie Fachwis-sen auf Augenhöhe des Arztes oder verpflichtende Besuche auf Kranken-hausstationen mit Gesprächen am Krankenbett überfordern auf Dauer oft. Dann will erst recht niemand mehr die Leitung einer Gruppe über-nehmen. Nicht die eine kompetente

Leitfigur für die Gruppe zu finden, sondern die Anforderungen geringer zu halten und die Leitungsaufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen, gibt Hoffnung für den Fortbestand der Gruppen.

Wissen kann man sich in der Gruppe auch gemeinsam erarbeiten. Initi-ativen des Gesetzgebers kommen dem zurzeit sogar entgegen. Gerade wurde auf Bundesebene ein „Bündnis für Patientenkompetenz“ gestartet. Ziele sind unter anderem, verständ-lichere Patienteninformationen und mehr Wissen über Ansprüche im Ge-sundheitssystem. Auf diesem Gebiet sind Selbsthilfegruppen schon lange unterwegs – und doch zeigt eine aktuelle Umfrage, dass nicht einmal die Hälfte aller chronisch Erkrankten angibt, genügend Grundlagenwissen zu ihrer Erkrankung zu haben. Da gibt es immer noch viel zu tun.

Menschliche BegegnungOb Fachwissen der Ärzte oder Erfah-rungswissen der Betroffenen – die Kernkompetenz der Selbsthilfegrup-pen ist die menschliche Begegnung, die gegenseitige Unterstützung, das Erleben mutmachender, lebendiger Vorbilder und die Überwindung von Isolation und Verzweiflung. Das kann die Selbsthilfe am besten und das wird zu allen Zeiten von Menschen gesucht und dort gefunden werden

Die KISS in Kassel wird zukünftig wahrscheinlich niedrigschwelliger werden. Sie wird wohl nicht mehr auf Menschen warten, die eine Gruppe gründen wollen, sondern zum offe-nen Erfahrungsaustausch einladen, vielleicht sogar Räume für spontane Treffen zu Verfügung stellen. Na-türlich mit der Erwartung, dass sich daraus ein fester Gruppenkern bilden

Die absolute Zahl der Kasseler Selbsthilfegruppen ist in den vergan-genen Jahren nicht mehr gestiegen, abgesehen von kleinen Schwankun-gen. Es gibt zwar neue Gruppen, aber es hören auch immer wieder Gruppen auf. Gruppen, die sich lange unter einer kompetenten Gruppenleitung trafen, finden keine Nachfolge für die Leitung. Der gesellschaftliche Trend, sich ehrenamtlich zu engagieren, aber nicht langfristig zu verpflichten, hat auch die Selbsthilfegruppen er-reicht. Verbindlichkeit ist ein großes Thema. Gruppenmitglieder, die auf jeden Fall wiederkommen wollten, bleiben einfach weg, manche Absage kommt kurzfristig.

Informationen über Erkrankungen bekommt man schnell und direkt aus dem Internet. Erst wenn sie wider-sprüchlich sind, sucht man die Erfah-rungen Betroffener in der Selbsthilfe. Hat man die gewünschten Informati-onen, bleibt man wieder weg. An Ge-meinschaft und seelischer Unterstüt-zung haben viele kein Interesse oder Online-Kontakte reichen ihnen aus. Der Gedanke, in der Gruppe nicht nur sich, sondern auch anderen helfen zu können, liegt vielen fern.

Trübe Zukunft?Sieht so aus, als sei die Zukunft trübe, als ob Gruppen und Selbsthilfekon-taktstellen wie die KISS sich mit ver-einten Kräften gegen einen starken Wind der Individualisierung stemmen müssten. Einfacher ist es, mit dem Wind zu gehen: Dazu werden Selbst-hilfegruppen und -Kontaktstellen sich wandeln müssen.

Die Angebote der Vernetzung im Internet gilt es für die Selbsthil-fegruppen zum Vorteil zu nutzen. Bereits jetzt gibt es Gruppen, die

30 Jahre KISS: Morgen

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kann. Denn nur, wenn Menschen sich in Begegnungen näher kommen und Vertrauen fassen, kann Selbsthilfe ihre Qualitäten voll entwickeln. KISS bleibt die Aufgabe, in Fortbildung und Supervision den Gruppenmit-gliedern das Handwerkszeug für gelingende Kommunikation und Begegnung in den Gruppen zur Ver-fügung zu stellen.

Die Möglichkeiten zur Öffentlich-keitsarbeit und die Online-Präsens mit Internet- und Facebook Seite sind zurzeit nicht steigerbar. Das hängt immer auch von den Personal-kapazitäten ab. Offen sind aber viele Themenfelder in der Kommune, in der sich der Selbsthilfegedanke stär-ker verankern ließe. Junge Leute (Uni Kassel), Migration, Demografischer Wandel, Pflege, Demenz, sind solche Themen. Zukunftsaufgabe von KISS wird sein, mit den Versorgungspla-nern von Stadt und Landkreis Kassel zusammenzuarbeiten und Selbsthil-fegruppen an den passenden Stellen anzuregen.

Inklusion als ThemaGesetzliche Rahmenbedingungen sind gesetzt, sie bestimmen zukünf-tige Entwicklungen der Selbsthilfe mit. So wird KISS die Inklusion von Menschen mit Behinderungen zum Beispiel durch die Unterstützung von Elternselbsthilfegruppen mit beglei-ten. Zukünftig werden immer mehr Patientenvertreter in Gremien der Versorgungsplanung benötigt, sie müssen sich ein vielfältiges Wissen über das System erarbeiten, um mitreden zu können. Dabei werden sie von KISS unterstützt. Die KISS der Zukunft ist flexibel, niedrigschwellig und offen, online vernetzt und sich der Stärken der Selbsthilfe bewusst. Sie ermuntert die Gruppen, den allmählichen Wandel zuzulassen aber bei dem Wichtigsten zu bleiben, denn „Auf die Menschen kommt es an“.Autorin: Carola Jantzen

Ich wünsche uns allen, dass die KISS so lebendig und vielfältig bleibt, wie in der Vergangenheit. Auf die Unterstüt-zung des Land-

kreises Kassel kann sie dabei – auch in schwierigen Zeiten – zählen. Hilfe zur Selbsthilfe ist die Basis der Arbeit von KISS und diese Arbeit ist heute mindestens genauso wichtig, wie zur Gründungszeit vor 30 Jahren. Die Vernetzung von Menschen, die selbst oder in der

Familie oder im Freundeskreis mit Beeinträchtigungen und Einschrän-kungen leben, ist gerade für den ländlichen Raum von besonderer Bedeutung. Denn gerade im länd-lichen Bereich ist der Kontakt zu Menschen, denen es genauso geht, allein aufgrund der Entfernungen und der geringeren Anzahl von Schicksalsgenossen, schwieriger zu organisieren. Hier bietet das ehrenamtliche Engagement unter dem Dach von KISS eine große Unterstützung. Susanne Selbert, Erste Kreisbeigeordnete

„Ich wünsche mir, dass • KISS weiterhin als eine wichtige Einrichtung für die Bürgerinnen und Bürger in Stadt und Landkreis

Kassel inmitten des Gesundheits-amtes gesehen wird und bestehen bleibt• KISS weiterhin die Kompetenzen von Bürgerinnen und Bürgern mit gesundheitlichen Problemen oder

sozialen Belastungen zur Selbsthilfe und Selbstorganisation ausbildet und unterstützt • wir gemeinsam, wie in den letzten Jahren, mit der Veranstaltungsreihe „Gesundheit im Gespräch“ eine öffentliche Plattform für Selbst-hilfegruppen sind, die Brücken zu den niedergelassenen beziehungs-weise Klinikärzten und vielen Therapie angeboten baut.“ Dr. Karin Müller, Leiterin Gesundheitsamt der Region Kassel

KISS hat sich in 30 Jahren erfolg-reicher Arbeit zu einer tragenden Struktur für den Selbsthilfege-danken und die

Selbsthilfegruppen in Kassel und der Region entwickelt. KISS ist die zentrale Anlaufstelle für alle Fragen und Anliegen der gesundheit-lichen und sozialen Selbsthilfe in unserer Region und baut Brücken zur professionellen medizinischen Versorgung. KISS bündelt und unterstützt das Erfahrungswissen und die Selbsthilfepotenziale

der Bürgerinnen und Bürger. Das professionelle Angebot wird so durch die Betroffenenperspektive in einem ganzheitlichen Sinn ergänzt.Ich wünsche der KISS, dass sie die hervorragende Zusammenarbeit mit den Selbsthilfegruppen und professionellen Helfern und Helfe-rinnen, Krankenkassen, Behörden, Verbänden und Medien in gewohnt engagierter und innovativer Weise fortsetzt und weiterhin das Vertrauen der Selbsthilfegruppen für diese wichtige Arbeit genießt. Anne Janz, Dezernentin für Jugend, Schulen, Frauen und Gesundheit der Stadt Kassel

Was wünschen Sie der KISS für die Zukunft?

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Zwei junge Mädchen mit Skoliose, einer seitlichen Wirbelsäulenver-krümmung (siehe nebenstehenden Artikel), die erblich bedingt gehäuft bei Mädchen in der Pubertät auftritt und durch das Tragen eines steifen Korsetts reguliert werden kann. Zwei Mädchen aus Berlin fanden sich vor ein paar Jahren über einen Internet-Blog, in dem die eine ein Tagebuch zum Umgang mit ihrer Erkrankung führte. Sie nennen sich die KorsiSis-ters und machen anderen Mädchen Mut, das Korsett anzunehmen. Wei-tere Mitglieder kamen hinzu, daraus wurde dann die Skoli-Gang.

Stars in sozialen MedienOb sie sich als Selbsthilfegruppe verstehen, möchte ich nach einem Vortrag in Kassel von ihnen wissen. Ja, doch sie würden das aber auf keinen Fall im Namen so nennen, das sei ja langweilig. Selbsthilfegruppe also als theoretischer Fachbegriff. Ganz selbstverständlich und ohne Scheu vor der Öffentlichkeit teilen sie ihre Erfahrungen auf allen sozialen Medien im Internet. Auf ihrem Flyer in Gestalt einer Postkarte finden sich die Logos von Facebook, Instagram, Youtube und twitter. Ihr Youtube Kanal hat 3500 Abonennten, einzelne Videos, in denen sie von ihren Aktivi-täten aber auch von der Entwicklung ihrer Erkrankung erzählen, wurden schon 76.000 Mal angeklickt. Ihre „Follower“ sind bundesweit verteilt, ein großes Treffen für alle haben sie inzwischen organisiert.

So selbstverständlich, wie sie sich im Internet bewegen, ist es für sie auch, sich persönlich kennenzulernen und sich als Skoli-Gang in Berlin immer wieder zu treffen. Sie finden es prima, andere Betroffene intensiver

Die KorsiSisters in der Skoli-GangDie Zukunft der Selbsthilfe ist schon da: Jung, vernetzt und digital präsent

kennenzulernen, so dass daraus auch private Freundschaften entstehen, in denen man nicht nur über Skoliose spricht. Kontakt wird über Whats-App gehalten, man fragt nach, wie es so geht. Und man verabredet sich immer wieder mal zu gemeinsamen Aktivitäten. Regelmäßige Gesprächs-gruppentreffen an einem festen Ter-min gibt es nicht.

Spaß ist wichtigDas muss schon Spaß machen, und da fällt den Mädchen aus der ganzen Gruppe immer wieder etwas Neues ein. Ein gemeinsames Picknick, eine Übernachtung im Schrebergarten der Eltern eines Gruppenmitglieds, ein Ausflug an die Ostsee, eine Mo-denschau mit eigenem Style und Kleidung, die das Korsett einbezieht.Und immer wird alles fotografisch festgehalten und auf Facebook und anderen sozialen Medien geteilt.

Auch spezielle krankengymnastische Übungen zeigen die KorsiSisters im Autorin: Carola Jantzen

Internet. Einmal hat die ganze Grup-pe sich vorgenommen, einen Monat lang konsequent jeden Tag zu Hau-se ihre Übungen zu machen. Diese „Challenge“ hieß „Dye – Do your exercises“, also: „Mach Deine Übun-gen“. Täglich wurde über WhatsApp gegenseitig nachgefragt und moti-viert, wurden Punkte gesammelt und gelobt, ein sehr intensiver Kontakt. Zu dieser Idee wurden sie von einer befreundeten Skoliosegruppe aus Amerika angeregt. Weltweit vernetzt sein ist im Internet ja auch kein Pro-blem.

Keine Angst vor sozialen Medien. Die jungen Leute wissen sie für sich zu nutzen, sie sind als „Digital Natives“ mit dem Internet aufgewachsen und kennen keine Scheu. Sie bringen Menschen zusammen, schaffen den Wunsch nach persönlichem Kontakt. Die Selbsthilfe wird sich dadurch wandeln, aber überflüssig wird sie nicht.

30 Jahre KISS: Morgen

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In einer leichten Form tritt sie häu-figer auf – ab einer bestimmten Krümmung der Wirbelsäule wird Skoliose zu einer Krankheit. Die Krümmung kann Folgen haben, von Schmerzen über Verlust der Beweglichkeit bis zu Störungen bei Lunge und Herz. Seit Januar gibt es in Kassel eine Selbsthilfegruppe, in der Erkrankte sich austauschen und informieren können. Geleitet wird sie von Elias Hofmeister.

Nachdem bei seiner Tochter Skolio-se diagnostiziert wurde, nahm er in 2016 Kontakt zum Bundesverband Skoliose-Selbsthilfe auf. Mittlerweile kennt er sich gut mit der Erkrankung aus. Skoliose kommt aus dem Grie-chischen und bedeutet „krumm“. Die Wirbelsäule ist bei Skoliose seitlich verkrümmt, zusätzlich sind einzelne Wirbel verdreht. „Viele Menschen haben eine kleinere Abweichung“, erläutert Hofmeister, „die nicht be-handelt werden muss“. Erst ab 10 Grad spricht man von einer Skoliose, sie gehört zu den seltenen Erkran-kungen.

Krankengymnastik und KorsettJe nach Schwere sind spezielle Kran-kengymnastik, ein Korsett oder bei einer Krümmung über 50 Grad sogar eine Operation die gebotene Thera-pie. Welche Folgen die Skoliose hat, hängt vom Grad des Krümmungs-winkels ab. Rippenbuckel und Len-denwulst sehen nicht schön aus, auch Schulter und Becken können sich verändern. Durch eine starke Krüm-mung kann es zu Atemnot kommen, weil die Wirbelsäule auf die Lunge drückt.

Meist tritt die Krankheit vor oder in der Pubertät auf, wobei Mädchen häufiger betroffen sind. Wichtig ist

Die frühe Diagnose ist wichtig Skoliose - Erkrankung der Wirbelsäule tritt häufig in der Pubertät auf/Bewegung ist das A und O

eine frühe Diagnose. Den Verdacht auf Skoliose kann man im Grunde ganz einfach durch einen Vorbeuge-test feststellen: Rücken freimachen, sich ganz vorbeugen. „Dann sieht eine zweite Person, ob die Wirbel-säule gerade ist“, sagt Hofmeister. Wenn nicht, sollte man zur weiteren Abklärung einen Orthopäden auf-suchen.

Doch nicht alle Orthopäden kennen sich mit der Erkrankung aus, die bei den seltenen Erkrankungen zu den häufigeren gehört. Umso wichtiger ist die Information in der Selbsthilfe-gruppe über Spezialisten sowie über Therapie und Therapeuten, die sich mit Skoliose auskennen. „Bewegung ist das A und O“, weiß Hofmeister. Denn ohne Bewegung und Therapie kommt es schneller zu Versteifungen, Bewegungseinschränkungen und Schmerzen.

Erfolge von anderen motivierenErfolge von anderen durch Bewe-gung und Physiotherapie können dazu motivieren, sich selbst mehr zu bewegen. Ab 20 Grad Krümmung hilft ein Korsett, doch gerade in der Pubertät wollen Jugendliche nicht 16 bis 22 Stunden pro Tag ein sol-ches Korsett tragen. Auch hier kann

die Gruppe ermutigen. Meist kamen bisher Eltern oder Verwandte in die Gruppe. Doch sie existiert noch nicht sehr lange und Hofmeister möchte zusätzlich eine Gruppe speziell für Jugendliche ins Leben rufen.

Was eine Selbsthilfegruppe bieten kann ist Zeit – die Ärzte kaum haben. „Jeder kann sagen, was er möchte und seine Befindlichkeiten schildern“, sagt der Gruppenleiter. Er plant auch Grillabende und Vorträge, eine Phy-siotherapeutin hat über eine spezielle Krankengymnastik für Skoliose in-formiert. Und er hat die KorsiSisters aus Berlin (siehe Seite 20) eingeladen, eine junge Gruppe, die auf ihre eige-ne freche Art zum Tragen des Kor-setts ermutigt. Ihre Botschaft unter anderem: Wenn du dich mit anderen zusammentust, die dasselbe durch-machen, hilft das ungemein.

Info und Kontakt:Die Gruppe trifft sich an jedem 4. Samstag im Monat, 14Uhr, bei KISS, Wilhelmshöher Allee 32 a, Kassel. Kontakt über Elias Hofmeister, E-Mail: [email protected] Weitere Infos: www.bundesver-band-skoliose.de, www.skoliose.de, www.srs.org

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Das Fragile-X Snydrom (FraX) ist die häufigste Form erblicher Lern- und geistiger Behinderungen. Die Familien, aber auch das Umfeld, werden vor echte Herausforde-rungen gestellt, weil die Kinder mit X-Syndrom sich auffällig verhalten. In Kassel bekommen betroffene Familien in einer Selbsthilfegruppe Informationen und Hilfe von an-deren Betroffenen, lernen aus den Erfahrungen anderer Familien und mit der Diagnose FraX zu leben. Die Selbsthilfegruppe in Kassel existiert seit rund zwei Jahren, geleitet wird sie von Ria van Houten.

Hätte ihr Sohn sich nicht auffällig verhalten, wäre Ria van Houten gar nicht auf Idee gekommen, dass auch ihre Tochter am Fragilen-X Syndrom erkrankt sein könnte. Meist sind die Jungen stärker betroffen und fallen auf, vererbt wird der Gendefekt al-lerdings über die Mütter, denn nur die Mütter können das veränderte X-Chromosom an den Nachwuchs weitergeben. Viele Frauen sind meist

Die Auswirkungen der Erkrankung sind weitreichend und unterschied-lich. Manchmal gelten die Kinder nur als „schüchtern“, doch sie können auch starke soziale Ängste haben und zeigen Verhaltensweisen, die autis-tische Züge tragen. Dass etwas nicht stimmt, wird bei Jungen spätestens in der Schule unübersehbar. Dann

Kinder bevorzugen RoutinenKinder und Jugendliche mit Fragilem X-Syndrom stellen Bezugspersonen vor spezielle Herausforderungen

beginnt die Suche nach der Ursache. Ist die Diagnose „FraX“ gestellt, ist sie für die Eltern ein Schock und es fällt schwer, sie zu akzeptieren. Andere betroffene Eltern in der Gruppe, die diese Gefühle selbst durchlebt haben, können dabei helfen. Denn es heißt Abschied zu nehmen von dem, was man sich für sein Kind vorgestellt und

Fragiles-X SyndromDas Fragile-X Syndrom wird durch einen Gendefekt auf dem X-Chromo-som - einer beschädigten Sequenz in den Basen - hervorgerufen. Etwa je-des 3000. Neugeborene ist betroffen, geschätzt leben in Deutschland etwa 25 000 Menschen mit Fragilem-X Syndrom. Vererbt wird der Gende-fekt über die Mutter, etwa jede 200. Frau ist Anlageträgerin, oft ohne es selbst zu wissen. Das Spektrum der Beeinträchtigun-gen ist sehr weit und reicht von gar keinen oder sehr milden Symptomen bei Mädchen bis hin zu schwerer geistiger Behinderung bei Jungen und

Mädchen, wobei männliche Patien-ten in der Regel stärker betroffen sind. Körperliche Folgen können lan-ge und schmale Gesichter, große und abstehende Ohren sein. Betroffene fallen vor allem durch ihr Verhalten auf. Hyperaktivität, Handwedeln und Handbeißen, Defizite in der Auf-merksamkeit sowie der Feinmotorik, verzögerte Entwicklung vor allem in der Sprache, soziale Scheu, dem Bestehen auf festen Abläufen, bis hin zu einer Autismus-Spektrum-Störung. Die Symptome können un-terschiedlich stark ausgeprägt sein.Quelle: www.frax.de Personenfotos: IG Fragiles X

lediglich Trägerin der Anlage, ohne selbst Symptome zu haben. Nicht jede Frau mit der Anlage vererbt die Krankheit, die Wahrscheinlichkeit liegt bei 50 zu 50.

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Infos und Kontakt Die Gruppe trifft sich in der Regel in den ungeraden Monaten am vierten Dienstag im Monat, 19 Uhr, bei der KISS. Der nächste Termin ist der 28. November. Die Termine werden auch über die KISS Webseite sowie unter www.frax.de/stammtische bekannt gegeben. Bitte melden Sie sich an: Ria van Houten, Tel: 0177/5535582, E-Mail: [email protected]. Ria van Houten ist auch stellvertre-tende Vorsitzende der Interessen-gemeinschaft Fragiles-X e.V. sowie Landesvertreterin für Hessen-Nord.Weitere Infos zum Thema: www.frax.de

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erträumt hat. Vor allem die Mütter leiden unter Schuldgefühlen, da sie die Erkrankung vererbt haben. Dazu kommt, dass die Verwandten infor-miert werden sollten, weil es weitere Anlageträger und Anlageträgerinnen geben könnte. „In solchen Fällen sind Familien, die ganz offen mit dem Thema umgehen, für andere ein gutes Beispiel“, sagt Ria van Houten.

Die Bewältigung des Alltags ist ein weiteres wichtiges Thema in der Gruppe. Betroffene Kinder bevor-zugen bekannte Tagesabläufe und halten gern Routinen ein. Verände-rungen und Übergänge sind für sie oft schwer zu bewältigen. Wenn der Schulbus ihres Sohnes beispielswei-se nur fünf Minuten später kommt, wird er aufgeregt und muss sich übergeben, sagt die Gruppenleiterin. Manchmal kommen die Kinder nach Hause und schreien oder sind furcht-bar aufgeregt. Die Eltern wissen dann nicht, warum. Auslöser kann eine Veränderung in der Schule gewesen sein, vielleicht wurde das Kind auf einen anderen Platz gesetzt.

Häufig fragt der Lehrer das Kind, was denn los sei, wenn es sich aufregt. Doch das regt das Kind nur mehr auf. Lehrkräfte und Erzieher müssen den richtigen Umgang mit den von FraX betroffenen Kindern erst lernen. Hier bietet der bundesweit aktive Dach-verband Interessengemeinschaft Fragiles-X-e.V. Informationsmaterial an, auch in der Gruppe in Kassel gibt es Tipps dazu.

Kläre ich den Mitmenschen darüber auf, was mein Kind hat, wenn es sich auffällig verhält und auf Unverständ-nis trifft? Ein Kind macht notorisch nach, was es gerade hört. Andere haben verbale oder motorische Ticks.

FraX Kinder agieren sehr häufig au-ßerhalb des Normbereichs. Da kann ein Vater ein gutes Beispiel sein, der mit seinen beiden betroffenen Söh-nen das Zugabteil betrat und gleich erklärte: „Meine Söhne haben FraX, wenn Sie wissen möchten, was das ist, ich sitze dort drüben.“ Die Inte-ressengemeinschaft Fragiles-X e.V. entwickelte Karten mit Infos, die manche Eltern bei Bedarf gerne verteilen. Je früher die Diagnose gestellt wur-de, umso früher können die Betroffe-nen und die Bezugspersonen lernen, mit den Auffälligkeiten besser um-zugehen. Auch die Sozialkompetenz der betroffenen Kinder kann trainiert werden. Trotz der Beeinträchtigung besitzen Menschen mit FraX Fähig-keiten und Talente wie andere auch. Viele haben ein hervorragendes Langzeitgedächtnis, prägen sich be-sondere Orte und Wege fotografisch ein. Oder sie haben ein besonderes Interesse für ein Sachgebiet und eig-nen sich dazu viel Wissen an. Und sie sind meist lebensfrohe und freund-liche Persönlichkeiten.

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und Kopfweh. Dass Mädchen eher leiser und stiller sind, Jungs hingegen auffällig werden, ist bei hochbegab-ten Kindern der klassische Fall, doch nicht der typische. Es gibt auch laute Mädchen und stille Jungen mit Kopf- und Bauchschmerzen.

„Wir waren lange Zeit mit unseren eigenen Problemen beschäftigt“, er-zählt die Mutter, die im Leitungsteam der Gruppe das Kontakttelefon über-nommen hat. Sie führten viele Schul-gespräche und fühlten sich alleine. Sie fragten sich, wo man kompeten-te, qualifizierte Unterstützung finden könne und wollten auf keinen Fall überheblich und ehrgeizig wirken, wenn man über die Hochbegabung der Kinder spricht. Diese Befürch-tung vor dem Urteil der anderen Menschen ist verbreitet. Anrufer am Kontakttelefon fragen manchmal, wie man es am besten formuliert, dass das Kind hochbegabt ist. Damit niemand es in den falsch versteht.

Dabei gehe es im Grunde doch dar-um, „alle Kinder ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten entsprechend wahr-zunehmen und zu fördern“, erläutert die Mutter.

Hochbegabung Zurzeit gibt es keine einheitliche anerkannte Definition von Hoch-begabung. Allgemein wird gesagt, dass hochbegabte Kinder Gleich-altrigen auf musischem, sportlichen oder intellektuellen Gebiet weit voraus sind. Im Allgemeinen geht man bei einem Intelligenzquoti-enten von 130 und mehr von einer Hochbegabung aus, doch ist der Intelligenztest nur ein Werkzeug zur Diagnose. Bezeichnende Merkmale können auch darunter auftreten. Hochbegabte Kinder zeichnen sich durch sehr früh entwickelte, weit überdurchschnittliche Fähigkeiten und Interessen aus. Dies kann un-

terschiedliche Intelligenzbereiche betreffen – logisch-mathematische, sprachliche, musikalische, sportliche oder soziale, manchmal auch meh-rere oder alle Bereiche gleichzeitig. Etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung sind weit überdurch-schnittlich intellektuell befähigt und gelten somit als hochbegabt. Hochbegabte Kinder sind oft auch hochsensibel. Es gibt manchmal ähnliche Auffälligkeiten mit anderen Bereichen wie zum Beispiel AD(H)S, was zu Fehldiagnosen führen kann. Ziel ist es, diese Fehldiagnosen in Zukunft zu vermeiden. Quelle: dghk.de

Alle Kinder entsprechend ihren Fähigkeiten fördern Gesprächskreis von Eltern mit hochbegabten Kindern/Hochbegabung kann auch zu Auffälligkeiten führen

Die Meinung, hochbegabte Kinder müssten doch ohne Probleme die erforderlichen Leistungen erbrin-gen, trifft auf viele, aber keineswegs auf alle Kinder zu. Die Hochbega-bung eines Kindes fällt oft erst dann auf, wenn es Schwierigkeiten in der Schule oder im Kindergarten gibt. In Kassel haben die Eltern von hoch-begabten Kindern eine Gruppe ge-gründet, in der sie sich gegenseitig unterstützen.

Wird die Hochbegabung eines Kindes nicht erkannt, kann es bei den Kin-dern zu Schwierigkeiten in der Ent-wicklung kommen. Vielleicht spüren sie, dass sie anders sind als andere, andere Interessen haben und oft auf Unverständnis treffen und gebremst werden. Oder aber sie langweilen sich, finden die üblichen Spiele und Aktivitäten wenig interessant, sind unterfordert und zeigen trotz hoher Intelligenz schwache Leistungen und lösen Aufgaben sogar falsch. Manche Kinder fangen dann an, den Clown zu spielen oder sie stören, um wahrge-nommen zu werden, oder reagieren mit Verweigerung. Diese Auffällig-keiten führen zur Ursachenforschung und werden zum Anlass, eine Hoch-begabung zu vermuten.

Kaspereien und VerweigerungDiese Erfahrung machten auch drei Elternpaare, die gemeinsam die Lei-tung der Kasseler Selbsthilfegrup-pe für Eltern hochbegabter Kinder übernommen haben. Eine Familie hat zwei hochbegabte Kinder. Der Sohn fiel in der Grundschule durch Kaspereien und Verweigerung auf, die Eltern wurden zum Gespräch ge-beten. Die Tochter ist eher ruhig und still, hatte in der Schule viel Bauch-

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Info und Kontakt:Der Gesprächskreis für betrof-fene Eltern aus Nordhessen trifft sich an jedem 4. Donnerstag im Monat (nicht an Feiertagen und in den Schulferien), 20 Uhr im KISS-Selbsthilfetreffpunkt, Wilhelms-höher Allee 32A , Kassel, im Josef-Rinald-Raum. Kontakt: Martina Rudolph, Tel. 0561/2409897 oder E-Mail: [email protected]. Weitere Infos zum Thema: www.dghk.de

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Erfahrungen werden ausgetauscht, Tipps gegeben. Auch unsere Kinder, sagt die Mutter, sollen sich in Kin-dergarten und Schule wohlfühlen dürfen, wenn sie so sein können, wie sie sind – eben Kinder mit be-sonderer Begabung.

Doch nicht nur Erzieher und Lehr-kräfte werden durch die hochbe-gabten Kinder gefordert, sondern auch die Eltern. Die Kinder stellen viele Fragen vom Sinn des Lebens bis zu philosophischen, naturwissen-schaftlichen oder anderen Themen, sind sehr wissbegierig, entwickeln spezielle Interessen und wollen Futter für ihren Geist. Aber auch Spaß und Abschalten sind natürlich für die Familien wichtig. Wie man diesen Bedürfnissen als Eltern be-gegnet, darüber tauscht man sich ebenfalls aus. Neben reinen Gesprä-chen sind gemeinsame Ausflüge mit den Familien geplant. Einmal trafen sich die Familien bereits zu einem

Netzwerk in NordhessenSchließlich fanden die Eltern die Deutsche Gesellschaft für das hoch-begabte Kind (DGhK), lernten sich darüber kennen und überlegten, wie sie ein Netzwerk in Nordhessen aufbauen und auf sich aufmerksam machen könnten. Die Suche nach einem Raum führte sie zur KISS. Für den kostenlosen Raum im Selbsthil-fetreffpunkt „sind wir dankbar, denn ansprechende Räume sind wichtig“, ist sich das Leitungsteam einig. Auch im Hinblick auf Vernetzung und Öf-fentlichkeitsarbeit ist die KISS sehr hilfreich. „So haben wir mit der DGhK und KISS zwei seriöse, erfahrene Partner auf unserer Seite“, stellen sie fest.

Beim ersten Treffen organisierten die Leiter der Gruppe einen Vortrag einer im Thema erfahrenen Psychothera-peutin aus Marburg und viele Inter-essierte kamen. Die weiteren Treffen, die einmal im Monat stattfinden, waren gut besucht. Die Gruppe ist für alle Eltern offen, nicht nur für Mitglieder der DGhK.

Schule wichtiges ThemaBeim Kontakttelefon melden sich häufiger Eltern, die fragen, wie man eine Hochbegabung bemerkt, ob sie ihr Kind testen lassen oder es vorzeitig einschulen sollten. Eltern, die den Weg in die Gruppe finden, wissen meistens bereits, dass ihr Kind hochbegabt ist. Schule ist für sie ein wichtiges Thema, weil bei ihren Kindern die Hochbegabung bereits zu Schwierigkeiten in Schule oder Kindergarten geführt hat. Wie führt man Lehrergespräche am besten? Was können Lehrkräfte tun, um auch diesen Kindern gerecht zu werden?

Ausflug, wobei sich die Kinder auf Anhieb sehr gut verstanden. Deshalb gibt es Überlegungen, weitere Fami-lienaktionen zu planen.

Die Fotos dienen lediglich der Illustration und stellen keine Gruppenmitglieder dar.

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„Wir haben bei Ihnen eine Syrinx gefunden“, sagte der Arzt zu Maria Hecht nach einer MRT (Magnet-resonanztomographie). Ihre Frage, was sie dagegen machen könne, beantwortete er mit: „Nichts“. Maria Hecht recherchierte im In-ternet und entdeckte eine Selbst-hilfeorganisation für Syringomyelie in Hessen/Darmstadt. Deren Vor-sitzende kamen am 11. November 2016 für ein erstes Treffen nach Kassel. Weil auf Anhieb zehn Inte-ressierte teilnahmen, entstand die Idee zu einer Kasseler Selbsthilfe-gruppe, deren Leitung Maria Hecht übernahm.

Syringomyelie ist eine seltene Krank-heit – rund acht von 100 000 Men-schen erkranken daran. Sie gehört zu den Krankheiten, die die Zirkula-tion des Liquors (Nervenwasser) be-einträchtigen. Bei der Syringomyelie entsteht ein mit Flüssigkeit gefüllter Hohlraum in der grauen Substanz des Rückenmarks, die Syrinx. Die Krankheit kann angeboren oder er-worben sein, letzteres zum Beispiel durch Entzündungen, Unfälle oder Tumore.

Syrinx hat vielfältige FolgenBis die Krankheit diagnostiziert wird, vergeht oft viel Zeit. Häufig wird eine MRT aufgrund anderer Ursachen durchgeführt, die Ärzte entdecken dabei als Zufallsbefund unter Um-ständen eine „Syrinx“. Die Folgen dieses Hohlraums sind vielfältig. „Ich habe immer Schmerzen“, schildert die Gruppenleiterin. Zeitweise treten Ausfallerscheinungen auf. „Plötzlich rutschte mir eine Kaffeetasse aus der Hand.“ Stehen oder Laufen funktio-niert nicht mehr. Weil diese Ausfälle bei ihr nur zeitweise auftreten, kann Maria Hecht Aktivitäten nur kurzfris-tig planen.

Die Symptome und die Bewältigung der Krankheit im Alltag sind Themen bei den Gruppentreffen. „Mir zittern die Hände, habt ihr das auch?“ fragte ein Betroffener. Ein „Ja, kennen wir auch“ der anderen Gruppenmitglie-der erleichtert. Besonders, wenn es um Themen wie Blasen- und Ent-leerungsstörungen geht. Man fühlt sich nicht mehr alleingelassen ist eine der wichtigsten Erfahrung in der Gruppe. Denn selbst die Familie versteht manchmal nicht, was in dem Erkrankten vorgeht.

Ärzte kennen sich bei der seltenen Krankheit oft nicht oder nur wenig aus, deswegen ist der Austausch über Ärzte, Kliniken und Ergo- be-ziehungsweise Physiotherapeuten wichtig. Da es sich um eine seltene Krankheit handelt, ist das Einzugsge-biet der Gruppe groß. Eine Betroffene kommt aus Hannover, eine Familie aus Bielefeld.

Öffentlichkeit informierenNeben den Treffen will die Gruppe die Öffentlichkeit über die Krankheit informieren, so war sie beispielswei-se bei den Gesundheitstagen Nord-

Leben mit einer „Syrinx“Gruppe für seltene Krankheiten Syringomyelie, Chiari-Malformation & Co

hessen in Kassel präsent. Allgemein ist das Unverständnis für Menschen mit Syringomyelie hoch. „Die Betrof-fenen sehen ja nicht krank aus“, sagt die Gruppenleiterin. Doch sie leiden unter Schmerzen, Erschöpfung und Müdigkeit. Während sie auf eine Behandlung wartete, bekam sie einmal den Satz zu hören: „Wieder so eine, die keine Lust auf Arbeit hat.“ Das wollte Ma-ria Hecht nicht auf sich sitzen lassen. So erläuterte sie dem erstaunten Zuhörer, wie viel Schmerzen sie hat. Verursacht von ihrer „Madame“. So nämlich nennt Maria Hecht ihre Syrinx.

Info und Kontakt:Maria Hecht, Tel.: 0176/34328956. E-Mail: kasselsyrinx@syrinx- hessen-da.de Nächstes Gruppentreffen Sams-tag, 2. Dezember, 14 Uhr. Danach sind Treffen jeden ersten Samstag im Monat vorgesehen. Ort: KISS Selbsthilfetreffpunkt, Wilhelms-whöher Allee 32A, Kassel. Die Gruppe ist offen für Menschen mit Syringomyelie, Chiari-Malfor-mation und anderen, die Zirkulation des Nervenwassers beeinträchti-gende Rückenmarkerkrankungen sowie deren Angehörige. Weitere Infos: www.syrinx-hessen-da.de

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Menschen mit Zöliakie vertragen das Klebeeiweiß Gluten nicht, das in vielen Getreidesorten vorkommt. Deshalb müssen sie sich glutenfrei ernähren. Besonders für Kinder und Jugendliche ist es nicht immer ganz einfach, anders zu sein wie die anderen und nicht alles essen zu dürfen. Deshalb gründete Katharina Lorenz die Gruppe „Zölikids“, in der sich Eltern, aber vor allem Kinder und Jugendliche treffen. Bei Zöliakie hilft nur der strikte Verzicht auf Nahrungsmittel, die Gluten enthalten. Bei der chroni-schen, autoimmunlogisch bedingten Erkrankung Zöliakie bilden sich im Dünndarm aufgrund einer Entzün-dung der Darmschleimhaut bestimm-te Zotten zurück. Als Folge können Nährstoffe nicht mehr richtig auf-genommen werden. Die vielfältigen Symptome treten selten alle zusam-men auf. Unter anderem können Blä-hungen, Durchfall, Gewichtsverlust, ungeklärter Eisenmangel, Knochen-schmerzen oder Arthritis, bei Kindern auch Wachstumsschwierigkeiten, Anzeichen für Zöliakie sein. Die Er-krankung kann auch bei Erwachsenen noch erstmalig auftreten.

Endlich mal alles essen dürfen Zölikids – Gruppe für Kinder und Jugendliche mit einer Glutenunverträglichkeit/Familien tauschen sich aus

Info und Kontakt:Die Treffen finden etwa vier Mal im Jahr statt, Termine können über die Mail bei Katharina Lorenz erfragt werden. Katharina Lorenz, E-Mail: [email protected]. Weitere Infos zum Thema: www.dzg-online.de

Glutenfreie NahrungsmittelDie Eltern tauschen sich in der Grup-pe über glutenfreie Nahrungsmittel aus, beispielsweise, welche beson-ders gut schmecken. Wichtiges The-ma ist die Frage, wie man Lehrkräfte beziehungsweise Erzieher und Erzie-herinnen in Kindertagesstätten am besten informiert. Zwar wissen die meisten Jugendlichen viel darüber, was sie essen dürfen und was nicht. Doch sie wissen nicht alles und vor allem jüngere Kinder brauchen Un-terstützung.

Meist reagiert der Freundeskreis der Jugendlichen verständnisvoll. So besorgten die Freunde der Tochter von Katharina Lorenz eine gluten-freie Pizza und backten Waffeln mit glutenfreiem Mehl. Allerdings darf man dafür nicht dasselbe Waffeleisen benutzen wie für Waffeln mit Gluten, denn bereits Spuren von Gluten kön-nen den Krankheitsprozess anstoßen. Doch Katharina Lorenz sagt, sie be-trachte das Thema Zöliakie möglichst entspannt. Denn ihre Erfahrung ist, je entspannter die Eltern mit dem Thema umgehen, umso einfacher ist es für die Kinder, mit ihrer Zöliakie zu leben.

Mut zur Gruppengründung„Meine Kinder hatten keine typi-schen Symptome“, erzählt Katharina Lorenz. Die Diagnose Zöliakie war ein Zufall. Der Kinderarzt machte ihr dann Mut zur Gruppengründung. Das erste Treffen fand im Herbst 2016 in der Praxis statt. Katharina Lorenz kannte mit Diana Rogge be-reits eine weitere betroffene Mutter, die mit ihr gemeinsam die Leitung der Gruppe übernahm. Die Gruppe ist offen für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren. Einzugsgebiet ist der Großraum Kassel, deshalb finden die Treffen an verschiedenen Orten statt. Mal in Bad Emstal, das diesjährige Sommerfest in Lohfelden, mal gab es auch einen Abend mit Backtipps für glutenfreie Plätzchen.

Was die Kinder und Jugendlichen bei den Treffen besonders genießen ist das Buffet, von dem sie alles essen dürfen ohne sagen zu müssen: „Das darf ich nicht.“ Denn die Eltern bringen bei den Treffen gluten- freies Essen mit. Die Kinder und Jugend lichen erleben zudem andere, denen es genauso geht wie ihnen. Sie sind also gar nicht so unge-wöhnlich.

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Sie sind im Frieden groß geworden und haben einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, die Kinder von Eltern, die im Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit Kinder und Ju-gendliche waren. Eigentlich müsste es ihnen doch gut gehen. Doch ein Krieg hinterlässt Spuren über die Generationen hinweg. Die Kriegsen-kel versuchen aufzuarbeiten, warum sie sich oft alles andere als glücklich fühlen. In Kassel hat sich dazu im Januar eine Gruppe gegründet. Zwei Gruppenteilnehmerinnen erzählen.

Im November 2016 war die Buch-autorin Susanne Bode zu Gast in Kassel. Ihr neuestes Buch handelt von der Generation der Kriegsenkel und den Folgen, die der Krieg und die oft traumatischen Erfahrungen der Eltern auf diese Generation hatten. Kriegsenkel sind in den 60er und 70er, auch schon in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ge-boren worden. Bei der Lesung lagen Handzettel einer Betroffenen aus, die zur Gründung einer Selbsthilfe-gruppe zu diesem Thema einlud. Im Januar gab es ein erstes Treffen, seit-dem kommt die Gruppe regelmäßig einmal im Monat zusammen.

Bei den ersten Treffen erzählten die Anwesenden erst einmal von ihrer Geschichte, sagt eine der Teilneh-merinnen. Dabei kam eine lange Liste von Themen zusammen, jedoch gab es auch viele Parallelen. „Wir spü-ren die Erlebnisse unserer Eltern“, berichtet sie weiter. Viele der Eltern sind Vertriebene. Als Tochter hat sie noch heute Gefühle von Trauer, die ihre Mutter nicht gezeigt hat. Eine andere Teilnehmerin, in deren Ver-wandtschaft es ebenfalls Fluchter-fahrungen gibt, sagt: „Ich habe über-haupt keine Wurzeln“. Sie sei nicht übermäßig glücklich damit.

Dieses Gefühl von Heimatlosigkeit und die Sehnsucht nach Wurzeln haben viele Kriegsenkel. Mangelndes Selbstbewusstsein, Angst, eine un-erklärliche Rast- und Ruhelosigkeit, ein Leben in ständigem Zweifel sind Folgen dessen, was Forscher mit dem Begriff „transgenerationale Weiter-gabe kriegsbedingter Belastungen“ umschreiben. Wurden die Eltern traumatisiert, hat das Folgen für ihre Kinder. Sie fühlen sich unbewusst verantwortlich und schuldig für das Leid der Eltern, das diese meist nicht offen äußern. Die Kriegsenkel er-lebten zwar Wohlstand und Frieden, doch gleichzeitig die unsichtbaren Auswirkungen der Nöte ihrer Eltern. Kern des Problems ist oft, dass nicht geredet, sondern geschwiegen wur-de. So schildert auch eine der Grup-penteilnehmerinnen, dass ihre Mut-ter nach vorne schaute und kaum ein Wort über die Vergangenheit verlor.

Traumata der ElternHeute machen sich die Enkel auf, die Traumata ihrer Eltern aufzuspüren. Sie versuchen herauszufinden, was geschehen ist. „Wir können jetzt den Sachen auf den Grund gehen“, sagt eine der beiden Gruppenteilneh-merinnen. Ihr Vater sei immer ein ruppiger Mensch gewesen und sie

habe spät verstanden, dass seine Art eine Konsequenz dessen war, was er erlebt hatte. Die zweite Gruppen-teilnehmerin berichtet, dass sie sich als „Tätertochter“ erlebe. Dies hätte ihr Leben entscheidend dahingehend geprägt, dass sie sich schon früh und durchgehend gegen Gewalt, Unge-rechtigkeiten, Schweigen und Krieg engagierte.

Es tut gut, über seine eigenen Ge-fühle zu reden, schildern sie ihre Erfahrungen in der Gruppe. Leute zu finden, die Ähnliches erlebt haben und einen Weg zu finden, damit um-zugehen. So empfinde sie beispiels-weise Trauer nicht mehr so negativ. Die andere Teilnehmerin ergänzt, wie wichtig es ist zu erfahren: Es geht anderen auch so. Sie lernte dadurch, dass sie keine „Macke“ oder einen Makel hat. Und sie sei sich selbst ge-genüber wohlwollender geworden.

Kriegsenkel - „Ich habe überhaupt keine Wurzeln“ Enkel machen sich auf, die Auswirkungen des Krieges auf ihre Generation aufzuarbeiten

Info und Kontakt:Die Gruppe trifft sich i.d.R. an je-dem ersten Montag im Monat, 19 Uhr, im KISS Selbsthilfetreffpunkt, Wilhelmshöher Allee 32 A, in Kassel. Um Anmeldung wird gebeten: KISS, Tel. 0561/92005-5399 oder E-Mail: [email protected]

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Gesunde und erfüllende Beziehungen führenCoDA – eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit dem Wunsch nach gesunden Beziehungen.

Info und Kontakt:Die Gruppe trifft sich jeden Mittwoch, 17 Uhr, in der KISS, Wilhelmshöher Allee 32A, in Kassel. Kontakt: Über die KISS, Tel.: 0561/92005-5399 oder E-Mail: [email protected] oder Martin, Tel.: 0176/24325904.

Gesunde Beziehungen zu leben, schädliche und ungesunde Abhän-gigkeiten von anderen Menschen zu erkennen ist das Ziel der CoDA Gruppen. Die Abkürzung steht für „Co-Dependents Anonymous/An-onyme Co-Abhängige“. Wie alle Anonymen Gruppen arbeiten die Gruppen nach dem 12-Schritte-Programm. Seit etwa einem halben Jahr trifft sich wieder eine CoDA-Gruppe in Kassel.

Co-Abhängige richten ihr Denken, ihre Energie und Kraft auf ihre Part-ner oder auch Eltern, Kinder und Freunde. Sie definieren sich über die Beziehung, die zur Quelle von Identität, Selbstwert und Wohlbefin-den wird. Manche werden dadurch depressiv oder greifen zur Sucht und übernehmen nicht die Verant-wortung für sich selbst. In der Folge entstehen Streit, Stress, Zwang und Anpassung. Oft hätten Co-Abhängige dieselben Symptome wie süchtige Menschen, sie sind abhängig und un-fähig gesunde Beziehungen zu leben, sagt Martin, der die Gruppe in Kas-sel initiiert hat. Angst vor Nähe und Partnerschaft ist vielen Menschen in der Gruppe gemeinsam, oft kommen auch Menschen in die Gruppe, die ohne Partner leben.

Ziel der Menschen in der Gruppe ist es, gesunde und erfüllende Bezie-hungen zu sich und anderen Men-schen führen zu können. Zu Beginn der Treffen wird ein Thema festge-legt, jeder spricht von sich selbst in der Ich-Form. Ratschläge werden nicht gegeben. Die anderen hören einfach zu, was eine wichtige Erfah-rung für Menschen mit Beziehungs-problemen ist. Sie lernen zuzuhören und erleben gleichzeitig, dass ihnen zugehört wird. Etwas, was sie oft nicht können oder kennen. Viele

sprechen auch das erste Mal in der Ich-Form von sich selbst, bemerkte Martin. Alle diese Erfahrungen in der Gruppe öffnen und bringen Erkennt-nis. Unter anderem die Erkenntnis, dass es anderen genauso geht. Das hilft dabei, sich selbst nicht mehr zu verurteilen und anzunehmen.

Die meisten Menschen, die in die Gruppe kommen, sind älter, ab 40, aber es kommen auch jüngere. Cirka ein Drittel sind Männer, erzählt der Initiator von CoDA. Er kannte das 12-Schritte-Programm der Ano-nymen Gruppen und suchte nach einer CoDA Gruppe in Kassel. Da es keine gab, initiierte er das Kasse-ler Meeting. Erklärungsbedürftig im Programm ist der Schritt, eine Macht anzuerkennen, die größer ist als man selbst. Dabei geht es darum, das Leben so anzunehmen, wie es ist und aufhören zu glauben, man könne alles kontrollieren. Ob man unter der höheren Macht die Natur, Gott oder das Universum oder noch etwas anderes versteht, bleibt jedem selbst überlassen. „Es geht darum, sich in das Leben einzubringen und sich nicht darüber zu stellen“, erklärt Martin abschließend.

Das Foto dient lediglich der Illustration und stellt keine Gruppenmitglieder dar.

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Manche Menschen hören Stimmen, obwohl niemand in ihrer Nähe ist Sie hören sie nur selber. Für manche ist das ein vorübergehendes oder gelegentliches Phänomen, andere können gut damit leben, doch vie-le Menschen quälen die ständigen Stimmen und beeinträchtigen ihren Alltag. Eine Betroffene möchte jetzt den Austausch von Menschen, die permanent mit Stimmen zu tun ha-ben, ermöglichen und eine Selbst-hilfegruppe gründen.

Sie sucht einen Erfahrungsaus-tausch und gegenseitige Unterstüt-zung dabei, mit diesem Phänomen umzugehen. Die Stimmen können unterschiedlich laut sein und unter-schiedliche Dinge sagen, oft auch Beleidigungen und höhnisches Ge-lächter. Bei der Betroffenen in Kassel sind es abwertende Äußerungen. „Die ganze Zeit ist da ein Raunen, als

„Ein Austausch kann Wunden heilen“ Menschen, die Stimmen hören, leiden oft darunter/Andere Betroffene können helfen

wäre man ein Gefangener des Him-mels“, schildert sie. Solche Stimmen sorgten dafür, dass das Leben nicht mehr lebenswert, sondern eine Qual sei. Die meisten Betroffenen machten Therapie, doch nicht alle Therapeuten arbeiteten zu diesem Thema.

Verschiedene TheorienDie Ursachen für das Hören von Stimmen sind noch unklar und es gibt verschiedene Theorien. Laut einer Theorie handelt es sich um „In-terpretationsfehler“ des Gehirns. Das Stimmenhören tritt oft in einschnei-denden Situationen auf, nach einem Trauerfall, langem Alleinsein oder traumatischen Erlebnissen. Bei Men-schen mit Schizophrenie oder Psy-chosen ist das Stimmenhören häufig Teil der Krankheit und kann sehr quälend sein. Viele Betroffene, die permanent Stimmen hören, haben Psychiatrieerfahrung, denn Stim-

Info und Kontakt:Über die Kontakt- und Selbsthilfe-stelle KISS, Tel.: 0561/92005-5399 oder E-Mail: [email protected] Weitere Infos zum Thema: www.stimmenhoeren.de

menhören wird meist als psychisches Leiden oder psychische Krankheit diagnostiziert. Doch es soll auch be-rühmte Menschen wie Sokrates oder Gandhi gegeben haben, die Stimmen hörten.

Viele Stimmenhörer reden nicht über ihr Problem, weil sie Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung haben. So hat die Gruppengründerin zwar Anrufe bekommen, sie kennt auch selbst Menschen, die betroffen sind und hat eigene Psychiatrieer-fahrung. Doch noch fanden sich nicht genügend Menschen für eine Gruppe. Es kann, sagt sie, auch einen Erfah-rungsaustausch zu zweit oder dritt oder telefonisch geben.

Selbstbestimmt lebenEinen Austausch von Menschen, deren Alltag vom Stimmenhören beeinträchtigt ist, die ihre lästigen Stimmen loswerden wollen, um selbstbestimmt zu leben. Jeder hat seine eigenen Erfahrungen und kann Tipps geben, wie man mit den Stim-men umgehen kann. Allein die Er-fahrung, anderen geht es so wie mir, kann hilfreich sein. „Ein Austausch kann Wunden heilen“, sagt sie. Und lädt Menschen ein, die den Willen haben, trotz der Stimmen am Leben teilzuhaben und sich gemeinsam da-bei zu unterstützen.

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Info und Kontakt:Die Al-Anon Gruppen treffen sich bei der KISS am Donnerstag, 20 Uhr und Samstag, 17 Uhr. Die AA-Gruppen jeden Tag in der Woche an verschie-denen Orten. Die Treffen können über das Internet: www.anonyme-alkoholiker.de oder über die KISS erfragt werden.

Am 9. September gab es im Katharina- Bora-Haus in Kassel gleich einen doppelten Grund zum Feiern. Die Anonymen Alkoholiker (AA) wurden 50 und die Al Anon Familiengruppen 45 Jahre alt. Im Mai 1967 trafen sich vier Alkoholiker im Kolpinghaus, der Startschuss für die AA, die heute jeden Tag ein Treffen anbieten, erzählt Fried-helm, der 1968 dazukam und noch heute aktiv ist.

AA in Kassel hat gleich drei Gründer, die bei ihrer stationären Therapie das 12-Schritte-Programm der Anonymen Gruppen kennenlernten und sich danach in Kassel trafen, um mit dem Programm weiterzuma-chen. Zwischendurch traf man sich in einer Privatwohnung, weil die Miete im Kolpinghaus nicht mehr gezahlt werden konnte, die AA finanzieren sich ausschließlich über Spenden. Nach mehreren Stationen kam man zur Selbsthilfekontaktstelle in der Wilhelmshöher Allee, wo neben anderen Orten Meetings stattfinden.

Musik und Tanz am Abend Ein großes Ereignis war das Deutsch-landtreffen 1985 in der Stadthalle in Kassel. Dort starteten die Kasseler Gruppen etwas Neues: Es gab am Abend Musik und Tanz. Daraus entstand eine Tradition, die bis heute bei den Deutschlandtreffen fortgesetzt wird. Allerdings wird mittlerweile im kleinen Schwarzen und mit den rich-tigen Schuhen getanzt.

Die Al Anon Gruppen, von denen es zwei in Kassel gibt, entstanden fünf Jahre nach den AA-Gruppen. Bei einem

AA in Kassel hat gleich drei Gründer50 Jahre Anonyme Alkoholiker und 45 Jahre Al-Anon/Feier im Katharina-Bora-Haus

öffentlichen Infomeeting hörte Christa eine angehörige Frau aus Frankfurt und seit 1972 finden auch die Angehö-rigen ein Angebot entsprechend den 12 Schritten der AA. Während anfangs vorwiegend die Partnerinnen von Alkoholikern kamen, sind es heute auch viele erwachsene Kinder aus sucht-belasteten Familien, manchmal auch Eltern. Wobei sich häufig herausstellt, dass die Partnerinnen selbst aus Fami-lien mit Suchterfahrung kommen.

In den Gruppen gilt strikt das Prinzip der Anonymität. Jeder kann, muss aber nicht, in den Treffen über das reden, was ihn beschäftigt. Die Themen und Probleme ergeben sich. Ratschläge werden nicht erteilt, jeder spricht von sich. AA bietet mittlerweile auch online Meetings an. Laut Präambel sind die AA „eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, die miteinander ihre

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Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen, um ihr gemeinsames Problem zu lösen und anderen zur Genesung vom Alko-holismus zu verhelfen.“

Demut und DankbarkeitDass dabei auch gelacht werden und man Spaß haben darf, zeigte die Feier am Samstag. Der Vormittag stand bei einem gemeinsamen Meeting unter dem Thema „Demut und Dankbarkeit“, am Nachmittag traf man sich zu einem öffentlichen Meeting mit allen Freun-den und Freundinnen, Angehörigen und Interessierten.

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Infos und KontaktVera Borchers, Deutsche Parkinson Vereinigung e.V., Regionalgruppe Kassel, Tel.: 0561/402704. E-Mail: [email protected], www.parki-kassel.de Das Tanztheaterprojekt ist im Internet in der Mediathek Hessen in drei Teilen dokumentiert worden und dort zu sehen: www.mediathek-hessen.de Suchwort: Alles was ihr seht.

Tanzprojekt: Alles was ihr sehtMenschen mit Parkinson standen nach nur 15 Stunden Probe auf der Bühne im Dock 4 in Kassel

Tanzabend. Alle werden aufgefordert. Nur eine Frau nicht. Sie fühlt sich an die Schule erinnert, beim Volleyball wollte sie auch keiner haben. „Bin ich eine graue Maus oder einfach nur zu langsam?“, fragt sie sich. Dann greift eine andere Frau aus der Gruppe ein. „Stell doch den Parkinson einfach in die Ecke“, rät sie. „Hab Spaß und tanze allein.“ So entwickelt sich ein Tanz mit allen Akteuren auf der Bühne im Dock 4 in Kassel.

Nur 15 Stunden ProbenFünf Menschen mit Parkinson, ein Angehöriger und die Tänzerin Christa Pape stehen bei diesem Tanzthea-terprojekt mit dem Titel „Alles was ihr seht“ (ist nicht alles, was ich bin) auf der Bühne, das von der Selbsthil-fegruppe der Deutschen Parkinson Vereinigung in Kassel initiiert wurde. In nur 15 Stunden Probe hatten sie mit dem Tänzer und Choreografen Tomas Bünger einzelne Szenen entwickelt und brachten den Mut auf, sich auf der Bühne zu zeigen. Nicht ganz einfach angesichts einer Krankheit wie Par-kinson, die alle Lebensbereiche betrifft und bei der die Betroffenen sich eher zurückziehen.

Doch der Mut hat sich gelohnt – mehr als 60 Zuschauer waren begeistert und diskutierten am Ende der Aufführung rege mit den Tänzern und Tänzerinnen. Der Abend habe auf andere Art bewegt als professionelles Theater, stellte ein Besucher fest. Vera Borchers, Leiterin der Selbsthilfegruppe, erzählte wie es zu dem Projekt kam. Renate Brzenczek schickte aus Australien eine Mail – sie hatte dort Tanzen für Menschen mit Parkinson entdeckt. Vera Borchers hatte einige Jahre vorher über das Mark Morris Dance Center in New York mit Tomas Bünger aus Bremen Kon-takt aufgenommen, der dort eine spe-zielle Ausbildung absolviert hatte für den Tanz mit Menschen, die an Par-kinson erkrankt sind. Seitdem fanden jährlich ein bis zwei Tanzworkshops mit ihm in Kassel statt. Dabei entstand auch die Idee dieses Bühnenauftritts. Mittel der Aktion Mensch machten das Tanzprojekt schließlich möglich.

Tanzen ist eine optimale Begleitthe-rapie bei Parkinson. Abgesehen davon entstand bei den Proben eine intensive Gemeinschaftserfahrung, die allen Spaß gemacht hat. „Uns allen war die Liebe zum Tanz und zur Bewegung wichtig“, erzählten die Tänzer und Tänzerinnen.

Weitere Aufführung im DezemberAm Ende regten die Zuschauer an, die einzelnen Szenen des Stücks noch ein-mal aufzuführen. Tatsächlich soll am Dienstag, 5. Dezember, 16.30 Uhr im Vortragssaal der Paracelsus-Elena-Klinik eine zweite Aufführung unter der Regie von Mareike Steffens statt finden. Eintritt frei, Spenden sind willkommen zur Deckung der Hono-rar- und Technikkosten. Eine Platz-reservierung unter 05624/1516 ist empfehlenswert.

Die Akteure des TanzprojektsTänzer und Tänzerinnen:Vera Borchers Renate BrzenzcekBärbel ReichhardtWolfgang ReichhardtChrista PapeHans StackebrandtHenrike TaupitzChoreografie: Tomas BüngerRegieassistenz: Mareike SteffensFilmproduktion: Merlin Franke

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In der Region Kassel treffen sich circa 25 Selbsthilfegruppen zu psychischen Problemen oder seelischen Themen, angefangen bei A wie Angst bis zu Z wie Zwänge. Einige Gruppen bestehen bereits über viele Jahre, andere sind relativ jung. In den meisten Gruppen treffen sich Betroffene, in wenigen auch Angehörige.

So verschieden die Gruppen auch sind, im Bereich der seelischen Erkrankun-gen bestehen gemeinsame Interessen und Erfahrungen. In der Arbeitsge-meinschaft (AG) Seelische Gesundheit bildet sich ein Netzwerk aus Ansprech-partnern der Gruppen, das vor allem drei Ziele verfolgt: • Informationsaustausch durch VernetzungSelbsthilfegruppen wirken aufgrund vieler Faktoren. Ein wichtiger Faktor ist die Ansammlung und der Austausch von Wissen. Dabei handelt es sich zu-allererst um Erfahrungswissen, aber auch um Wissen aus Vorträgen, aus Fortbildungen und aus den Publikatio-nen der Dachverbände. Durch die Ver-netzung der Ansprechpartner poten-ziert sich der Informationsfluss, denn aus den einzelnen Gruppen kann über das Netzwerk das Wissen in alle Grup-pen weitergetragen werden. Aktuell wurde zum Beispiel über die Erfahrun-gen vor Ort mit den Neuregelungen im Psychotherapeutengesetz gesprochen, durch die jeder Patient sehr schnell ein Erstgespräch bei einem Psychothera-peuten erhalten soll.

• Erfahrungsaustausch zum Grup- pengeschehen durch VernetzungDie Selbsthilfegruppen zu seelischen Themen sind meist kleine Gesprächs-selbsthilfegruppen mit maximal zehn Teilnehmern und Teilnehmerinnen.

Manchmal entstehen ähnliche Fragen zur Gruppendynamik: Wie gehe ich mit schwierigen Gesprächen um? Wie stelle ich eine Verbindlichkeit her? Wie integ-riere ich neue Mitglieder? Auch hierfür ist Platz in der AG.

• Lokale Interessenvertretung durch VernetzungEin wichtiges Anliegen der AG ist es, die eigenen Erfahrungen in die Planungs-gremien der psychiatrischen Versor-gung einzubringen und sich für gute Versorgungstrukturen einzusetzen. Doch wie kann der Erfahrungsschatz der Betroffenen aus den Selbsthilfe-gruppen in die Planung von Hilfeange-boten für Menschen mit psychischen Erkrankungen eingebracht werden?

Mit dieser Frage haben wir den Psy-chiatriekoordinator der Region Kassel, Hans-Peter Schmied, in die AG einge-laden. Er hat uns zu den verschiedenen Gremien der psychiatrischen Versor-gung informiert, zum Beispiel über den Gemeindepsychiatrischen Verbund. Außerdem stellte er das zum 1. August 2017 in Hessen in Kraft getretene Psychisch-Kranken-Hilfegesetz (PsychKHG) vor. Danach werden in Hessen beispielsweise Besuchskom-missionen als Kontrollinstrument für Psychiatrische Krankenhäuser gebildet

und Beschwerdestellen eingerichtet. An diesen sollen sowohl Professionelle wie Psychiater und Pflegefachkräfte als auch Psychiatrie-Erfahrene und deren Angehörige teilnehmen. Schon jetzt haben zwei engagierte Ansprechpart-ner aus der AG Patientenrechte signali-siert, sich in diesen Gremien engagieren zu wollen. Der Erfahrungsaustausch in der AG Seelische Gesundheit wird ihre zukünftige Tätigkeit unterstützen und begleiten.

Die ersten Schritte sind getan. Bislang nehmen Vertreter und Vertreterinnen aus sieben verschiedenen Selbsthilfe-gruppen an der AG teil. Weitere An-sprechpartner von Selbsthilfegruppen zu seelischen Erkrankungen sind herz-lich willkommen. Die Treffen finden in zweimonatlichem Abstand im Selbst-hilfetreffpunkt statt. Bei Interesse kön-nen Sie sich direkt an die KISS wenden.

Netzwerk aus AnsprechpartnernIn der Arbeitsgemeinschaft Seelische Gesundheit treffen sich Gruppen zu psychischen Erkrankungen

Autor: Sven Heise

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Ausgaben des Selbsthilfefonds 2016Gruppe Projekt BewilligtAlternativmedizin Honorar- und Fahrtkosten Referenten 445,00€ANAH Teilnahme Allergiekongress in Berlin 297,57€Anonyme Spieler Fachtreffen in Bad Hersfeld (Fahrt) 42,00€Angehörige nach Suizid Therapeutischer Gruppenspaziergang 200,00€Hochsensible Menschen Gruppe IV Fachbuch 19,95€Kreis der Männer/Männergesundheit Starthilfepauschale 50,00€Neue Wege Hofgeismar (Depression) Starthilfepauschale 50,00€Parkinson Selbsthilfegruppe Busfahrt zum Parkinsonforum in GÖ 76,00€Stille Wasser (soziale Phobie) Fortbildung in Höxter 205,50€Trennung/Scheidung Oberweser Starthilfepauschale 50,00€Vätergruppe Honorar u. Fahrtkosten Referent 300,00€Insgesamt 1736,02€

Der Selbsthilfefonds braucht Spender. Jede Summe ist willkommen. IBAN: DE16 5205 0353 0000 0110 99 BIC:HELADEF1KAS, Kasseler Sparkasse Empfänger: Stadt Kassel, -53-Selbsthilfefonds.

Der Selbsthilfefonds ist laut Geschäftsordnung verpflichtet, einmal im Jahr zu veröffentlichen, welche Gruppen in welcher Höhe aus dem Fonds zu welchem Zweck gefördert wurden.Weitere Infos siehe www.selbsthilfe-kassel.de unter „Finanzielle Förderung“.

So schnell kann es gehen. Eben war Rainer Dumeier noch mitten unter uns, bei KISS in reger Diskussion in den Förderratssitzungen der Kasseler Selbsthilfegruppen – heute ist er nicht mehr da.

Eine Krebserkrankung hat ihn Mitte September überraschend schnell aus unserer Mitte geholt. Rainer Dumeier war ein freundlicher, bescheidener Mensch, der auch sagte, wenn ihm etwas nicht gefiel. Nicht so laut, aber doch deutlich. Bereits vor dem Jahr 2000 lernten wir uns bei der Planung von gemeinsamen Veranstaltungen mit Suchtselbsthilfegruppen kennen, davon handelte unser letztes Gespräch am Krankenbett.

Wie sehr haben wir uns gefreut, dass dadurch die alte Rivalität der Suchtselbsthilfegruppen aufgebro-chen werden konnte. Platzhirsch-denken war nicht sein Gebiet, er schaffte Verbindungen. Zuerst war

er im Freundeskreis Kassel Süd aktiv, später bei den Guttemplern Chatten-burg. Dass er mal ein Alkoholproblem hatte, war ihm so nicht anzumerken, da war seine Gehbehinderung durch die Gehstöcke schon sichtbarer.

In den letzten Jahren engagierte er sich zusätzlich beim Behinder-tenstammtisch des Vereins zur Förderung der Autonomie behin-derter Menschen fab e.V., er genoss die Gemeinschaft in den Gruppen. Überall, wo er aktiv war, übernahm er auch Verantwortung: als Kassen-

wart, als Verbindungsmann zur KISS, als Förderratsmitglied, als stellverte-tender Stammtisch“leiter“ – so war es wenigstens geplant. Wir danken ihm an dieser Stelle für sein Engage-ment, für seine Art, über den Teller-rand hinauszuschauen, für seine Zeit und Energie, sich für die Selbsthilfe einzusetzen. Wir werden noch lange an ihn denken.

Carola Jantzenim Namen der KISS und des Förder-rats der Selbsthilfegruppen in Stadt und Landkreis Kassel

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Zum Abschied für immer

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Selbsthilfethemen Region Kassel 2017

AbnehmenAbtreibungAdipositasAD(H)SÄltere MenschenAidsAkne inversaAlkoholAllein ErziehendeALSAllergieAlternativmedizinAmputationAngehörigeAngstAphasieArbeitslosigkeitArthrogryposisArthroseAsbestoseAsthmaAtemstillstandAufmerksamkeitsdefizit- syndromAugenerkrankungenAutismus

BandscheibenleidenBauchspeicheldrüsenkrebsBehindertensportBehinderungenBesatzungskinderBeziehungsproblemeBipolare StörungenBlindheitBorderlineBorrelioseBrustkrebsBulimieBurn Out

Cerebrale BewegungsstörungChromosomale SchädigungChronische DarmentzündungChronischesErschöpfungssyndromChronische SchmerzenChronisch KrankeCo-AbhängigkeitColitis ulcerosaCOPD

DarmerkrankungenDepressionenDiabetesDown-SyndromDrogenabhängigkeitDialyse

Dyskalkulie

EinsamkeitEmotionale ProblemeEpilepsieEss-Störungen

FehlgeburtFragiles X-SyndromFibromyalgieFrauenFructoseintoleranz

GehörlosigkeitGestoseGewalterfahrung

Hartz IVHashimotoHauterkrankungenHeimkinder Hepatitis CHerzerkrankungenHerzsportHirnschädigungHistaminintoleranzHIV-PositiveHochbegabungHochsensible HSPHomosexualitätHörschädigungHüftluxationHuntingtonHydrocephalusHyperaktivitätHyperthyreose

Inklusion

KehlkopfoperierteKindestodKleinwüchsige MenschenKörperbehinderungKomaKrebserkrankungenKriegsenkelKrisen KonflikteKünstlicher Blasen-/Darm-ausgang

LactoseintoleranzLangzeit-Sauerstoff-TherapieLebensmittelunver-träglichkeitLebererkrankungenLegasthenie

LeukämieLernschwierigkeitenLungenemphysemLungenfibroseLungenkrebsLupus ErythematodesLymphome

MännerMagenbandoperationMagenkrebsMagersuchtMakuladegenerationManieMedikamenten abhängigkeitMehrlingeMeningitisMessiesMigräneMigrantInnenMobbingMorbus BasedowMorbus BechterewMorbus BehcetMorbus CrohnMorbus RecklinghausenMukoviscidoseMultiple SkleroseMütterMuskelerkrankungenMyasthenia GravisMyelodysplastisches Syn-drom

NarkolepsieNetzhautdegenerationNeurodermitisNeurofibromatoseNierenerkrankungen

OmphalozeleOsteoporose

PanikattackenParkinsonPartnerschaftsgewaltPflegePhenylketonuriePoliomyelitisPositiv DenkenProstatakrebsPsoriasisPsychische Probleme PsychosomatikPtBSRestless LegsRetinitis Pigmentosa

Rett-SyndromRheumaRückenschmerzen

SarkoidoseSchädel-Hirn-PatientInnenScheidungSchilddrüsen-erkrankungenSchlafapnoeSchlaganfallSchüchternheitSchuppenflechteSchwerhörigkeitSchwuleSeelische GesundheitSeelische GewaltSehgeschädigteSeniorInnenSexueller MissbrauchSinglesSklerodermieSkolioseSoziale ÄngsteSpastikSpielsuchtSpina bifidaSprachstörungenStalkingStillenStomaStotternSuchterkrankungenSuizidSyringomyelie

TinnitusTransplantationTraumaTrauerTrennungTrigeminus-NeuralgieTurner Syndrom

Übergewicht

VäterVerwaiste Eltern

Wirbelsäulener-krankungen

ZöliakieZwangserkrankungenZwerchfellhochstand

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Gesundheitsamt Region Kassel

KISS

Kontakt- und Informationsstelle

für Selbsthilfegruppen, Kassel

Unsere Anschrift

KISS - KASSEL

Wilhelmshöher Allee 32A

34117 Kassel

Telefon: 0561/92005-53 99

Fax: 0561/92005-53 22

E-Mail: [email protected]

Telefonische Sprechzeiten der KISS:

Montag und Donnerstag 9.00 – 12.30 Uhr

Mittwoch 14.00 – 17.30 Uhr

und nach Vereinbarung persönlich

in der Beratungsstelle.

Internet

Aktuelle Informationen über Selbsthilfegruppen in

Stadt und Landkreis Kassel erhalten Sie auf unserer

Internetseite unter: www.selbsthilfe-kassel.de