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Vandenhoeck & Ruprecht David Jünger Jahre der Ungewissheit Emigrationspläne deutscher Juden 1933–1938 Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Band 24

37mm Jahre der Ungewissheit - ciando.com · Im Schatten Weimars (1933/34) 45 1.1 »Um die Zukunft der deutschen Judenheit« – ... »Der eisige Nachthauch des Golus« – Die orthodoxe

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    Vandenhoeck & RuprechtV

    David Jünger

    Jahre der UngewissheitEmigrationspläne deutscher Juden 1933–1938

    In einer Gesamtschau auf die 1930er Jahre präsentiert die Studie einen Einblick in das Dilemma der Fragen der Emigration, die sich deutsche Juden vor der Zäsur des Jahres 1938 stellten. Anders als üblich nähert sich David Jünger dem Thema nicht aus der Perspektive des später eingetretenen Holocaust heraus. Die Untersuchung zielt auf die Wirkmächtigkeit vorausgegangener Zeiten jüdischer Erfahrung – Staatsangehörigkeit, Minderheitenrechte, Migration. Anhand zeitgenössischer Materialien zeigt der Autor sowohl Emigrationspläne jüdischer Einrichtungen als auch Fragen individueller Entscheidungen auf. So ergeben sich neue Einsichten in die Verhaltensweisen und Erwartungshorizonte deutscher Juden angesichts des sich zunehmend radikalisierenden NSRegimes.

    Der AutorDr. David Jünger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und am Zentrum Jüdische Studien BerlinBrandenburg.

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    Die Schriftenreihe des SimonDubnowInstituts (Leipzig) spiegelt das Profil der dort betriebenen Erforschung der jüdischen Lebenswelten in Mittel, Ostmittel und Osteuropa in ihrer Verschränkung mit den westlichen Judenheiten von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Jüdische Geschichte wird dabei stets im Kontext einer allgemeinen und gesamteuropäischen Geschichte verstanden. Die Aufmerksamkeit richtet sich daher auf kulturell gemischte historische Räume, auf die Interaktion von Juden mit der nichtjüdischen Umwelt, auf die Vielfalt jüdischer Lebenswelten sowie auf die wechselseitigen Beziehungen der Juden zwischen Ost und West.

    Weitere Informationen erhalten Sie unter www.vr.de und www.dubnow.de

    Schriften des SimonDubnowInstituts

    Bisher erschienen:

    Band 23:Carolin KosuchMissratene SöhneAnarchismus und Sprachkritik im Fin de Siècle

    Band 22:Sebastian VoigtDer jüdische Mai ’68Pierre Goldman, Daniel CohnBendit und André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich

    Band 21: Hendrik Niether Leipziger Juden und die DDR Eine Existenzerfahrung im Kalten Krieg

    Band 20: Maria GotzenDold Mojżesz Schorr und Majer Bałaban Polnischjüdische Historiker der Zwischenkriegszeit

    Band 19: Elisabeth Gallas »Das Leichenhaus der Bücher« Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945

    Band 18: Klaus Kempter Joseph Wulf Ein Historikerschicksal in Deutschland

    Schriften des SimonDubnowInstitutsBand 24

    Schriften des Simon-Dubnow-InstitutsBand 24

    37mm

    9783525301739_Umschlag_Juenger_Ungewissheit.indd 1 04.01.16 13:01

  • © 2017, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370520 — ISBN E-Book: 9783647370521

  • Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Herausgegeben von Dan Diner

    Band 24

    © 2017, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370520 — ISBN E-Book: 9783647370521

  • David Jünger

    Jahre der UngewissheitEmigrationspläne deutscher Juden 1933–1938

    2. Auflage

    Vandenhoeck & Ruprecht

    © 2017, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370520 — ISBN E-Book: 9783647370521

  • Lektorat: André Zimmermann, Leipzig

    Mit 1 Abbildung

    Umschlagabbildung: Deutsch-jüdische Flüchtlinge im Büro des Hilfsvereins der Deutschen Juden in Berlin (1935). © YIVO-Archiv New York, Sign. YIVO

    RG120, Germany 1933–45, General 97/Fotograf: ohne Angabe.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

    im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    ISSN 2197-098XISBN 978-3-647-37052-1

    Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

    Gedruckt mit Unterstützung des Freistaates Sachsen und gefördert durch die Stiftung Irene Bollag-Herzheimer, Basel.

    © 2017, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/

    Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de

    Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen

    bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

    Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

    © 2017, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370520 — ISBN E-Book: 9783647370521

  • Inhalt

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

    1. Im Schatten Weimars (1933/34) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

    1.1 »Um die Zukunft der deutschen Judenheit« – Nachdenken über Judentum, Nationalsozialismus und Emigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45Der 30. Januar 1933 und die Spätphase der Weimarer Republik – Kommentare zur Zeit  (47) | Prag, Paris, New York  – Politisches Exil und Emigration  (56) | Nach dem Pogrom  – Ein Ende und ein Neubeginn  (61) | Zwischen Berlin und Jerusalem  – Zionis-tische Gegenwartsarbeit  (70) | »In Liebe zu Deutschtum und Ju-dentum«  – Der Kampf um die Emanzipation  (87) | »Der eisige Nachthauch des Golus« – Die orthodoxe Gemeinschaft (104) | »Um die Zukunft der deutschen Judenheit«  – Ambivalenzen jüdischer Zeitdeutungen (115)

    1.2 Weimarer Verlängerungen – Kontinuitäten jüdischer Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120Auf der Suche nach einer Verhandlungslösung (121) | Transfer oder Emigration – Das Haavara-Abkommen 1933 (153) | Max Warburg und die ZVfD – Frühe Emigrationspläne und ihre Bedeutung (162) | »Die vollständige Lösung der deutschen Judenfrage« – Kontinui-täten jüdischer Politik (173)

    2. Zwischen Hoffnung und Verzweiflung (1935/36) . . . . . . . . . . . 179

    2.1 Alltag im Ausnahmezustand – Fragen jüdischer Existenz im nationalsozialistischen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . 179»Wir rechnen damit, hier nächstens totgeschlagen zu werden«  – Der Angriff auf die Juden 1935 (185) | Terror, Entrechtung, Rechts-sicherheit  – Jüdische Blicke auf die Nürnberger Gesetze  (201) | »Völlig apathisch und hoffnungslos« – Jüdisches Leben nach Nürn-berg (231) | Zwischen Hoffnung, Verzweiflung und Apathie – Fra-gen der Emigration (238)

    © 2017, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370520 — ISBN E-Book: 9783647370521

  • 6 Inhalt

    2.2 »Ein letzter Versuch« – Die Emigrationspläne und ihr Scheitern . . . . . . . . . . . . . . 253»Im vollen Bewußtsein der Verantwortung für das Schicksal der gesamten Judenheit«  – Auf dem Weg zu einer organisierten Auswanderungsplanung  (255) | Prolog in Berlin – Max Warburg und Hjalmar Schacht  (272) | Von Berlin nach London und New York  – Internationalisierung der Pläne  (280) | »Ein letzter Ver-such«  – Rückkehr nach Berlin  (299) | Das Scheitern der Pläne  – Eine Zusammenfassung (323)

    3. Entscheidungen (1937/38) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333Reise nach Palästina (333) | Wendejahr 1937 – Die Etablierung des na-tionalsozialistischen Staates  (344) | Von der Emigrationsplanung zur Liquidation (356) | »Leben und Tod des deutschen Judentums« – Vom »Anschluss« zum Novemberpogrom 1938 (362)

    Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373

    Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

    Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405Ungedruckte Quellen (405) | Onlinedatenbanken  (407) | Gedruckte Quellen (408) | Forschungsliteratur (415)

    Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436

    © 2017, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370520 — ISBN E-Book: 9783647370521

  • Vorwort

    Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die von der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig angenommen und am 14.  Februar 2013 verteidigt wurde. Es war kein leichter Weg. Dass die Studie in der vorliegenden Form zu einem Ab-schluss gelangte, verdanke ich auch vielfacher Unterstützung.

    Den größten Dank schulde ich meinem Betreuer, dem vormaligen Direk-tor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, Dan Diner. Bereits während meines Studiums hat er mich intellektuell inspiriert, mir nach dem Examen den Weg in die Wissen-schaft gewiesen und schließlich meine Dissertation angeregt und begleitet. Seinem Denken verdanke ich meinen eigenen Zugriff auf das Dissertations-thema wie auch einen wichtigen Teil meines akademischen Profils. Ebenso herzlich danke ich der Zweitbetreuerin meiner Arbeit, Stefanie Schüler-Springorum. Ihre inhaltliche Expertise und ihr beständiger fachlicher Rat haben die Arbeit entscheidend geprägt und mein Selbstbewusstsein als Wis-senschaftler gefördert.

    Zu Dank verpflichtet bin ich ferner den Förderern der Arbeit, zuvorderst dem Simon-Dubnow-Institut, nicht nur in finanzieller, sondern vor allem in ideeller Hinsicht. Die Arbeit an dieser renommierten Forschungseinrichtung schaffte die Voraussetzung für einen beständigen Austausch mit den Kol-leginnen und Kollegen wie auch den Kontakt mit internationalen Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftlern. Hier haben mich, besonders in allen akademisch-institutionellen Fragen, Susanne Zepp und Jörg Deventer un-terstützt. Die kontinuierliche Arbeit an der Dissertation ermöglichten: die Hans-Böckler-Stiftung, die mir ein dreijähriges Promotionsstipendium ge-währte, das Land Sachsen mit einer dreimonatigen Graduiertenförderung und die Stiftung Irene Bollag-Herzheimer, Basel, mit einer großzügigen Un-terstützung der Drucklegung.

    Neben den bereits genannten Personen hatten meine lieben und geschätz-ten Kolleginnen und Kollegen des Dubnow-Instituts den größten Anteil an der Konzeption und Durchführung der Arbeit wie auch der mentalen Beglei-tung, allen voran Elisabeth Gallas und Philipp Graf, weiter hin Nicolas Berg, Lutz Fiedler, Markus Kirchhoff, David Kowalski und Sebastian Voigt, sowie Judith Ciminski, Jan Eike Dunkhase, Arndt Engelhardt, Mandy Fitzpatrick, Jan Gerber, Hans-Joachim Hahn, Marion Hammer, Klaus Kempter, Thomas Meyer, Felix Pankonin, Nicole Petermann, Anna Pollmann, Grit N. Schef-

    © 2017, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370520 — ISBN E-Book: 9783647370521

  • 8 Vorwort

    fer, David Schick, David Slucki, Vicky Sorge, Sebastian Tränkle, Alexandra Tyrolf und Robert Zwarg.

    Darüber hinaus danke ich Michael Brenner, Raphael Gross, Matthias Mid-dell, Joachim Schlör und Kim Wünschmann, die mir in der Entstehungs-phase der Arbeit wichtige Hinweise gaben, Manfred Rudersdorf und Alfons Kenkmann, die mich durch das Promotionsverfahren und die Verteidigung der Dissertationsschrift führten, sowie meinen Hochschullehrern Ulrich Johannes Schneider und Thomas Wendt, die auch nach meinem Studien-abschluss in allen akademischen Fragen wichtige Ansprechpartner blieben.

    Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der konsultierten Archive, Bi-bliotheken und Forschungseinrichtungen gebührt ebenso mein Dank, ins-besondere Lee Rotbart (Central Zionist Archives, Jerusalem), Dorothea Hauser (Stiftung Max Warburg Archiv, Hamburg) sowie Steven Aschheim, Irene Aue-Ben-David und Keren Sagi (Franz Rosenzweig Minerva Research Center for German-Jewish Literature and Cultural History, Jerusalem).

    Bei der Überführung der Dissertationsschrift in das vorliegende Buch war die Leiterin der wissenschaftlichen Redaktion des Simon-Dubnow- Instituts Petra Klara Gamke-Breitschopf eine beständige Motivationsquelle, deren kluger Rat und unendliche Geduld die Entstehung des Buches beför-dert haben. Überdies konnte das äußerst sorgfältige Lektorat André Zimmer-manns den Text noch einmal entscheidend verbessern. Auch Ludwig Decke und Markus Wilhelm möchte ich danken, deren Hilfe bei der Gestaltung der Druckfassung sehr wertvoll war.

    Meine Freunde haben mich auf ganz unterschiedliche Weise unterstützt. Von Herzen möchte ich Anna-Carolin Augustin, Franziska Göpner, An-drea Kirchner, Claudia Koch, Anna Lux, Jenny Meurer, Alexandra Schauer und Susan Wille danken, die mir bei der Erstellung des Manuskripts gehol-fen haben. Für den unschätzbaren emotionalen Beistand danke ich Katrin Antweiler, Heiko Beyer, Pina Bock, Ulrike Breitsprecher, Tom Erdmann, Markus Flohr, Felix Hartung, Ewa Jarosz, Christoph Kasten, Doris Lieb-scher, David Uhlmann, Sarah Uhlmann, Ulrike Wagner, Sabrina Walter und Juliane Weber. Besonders bedanken möchte ich mich überdies bei Carolin Böhmig, Britt Holubec und Maik Winkelmann, die auf je besondere Weise entscheidenden Anteil am Gelingen dieser Arbeit hatten.

    Zuletzt möchte ich meiner Familie danken, die immer an meiner Seite stand, mir Vertrauen schenkte und Halt gab: Nora und Jörg mit Merle und Mika sowie Eike und Jana. Widmen möchte ich das Buch meinen Eltern Martina und Jürgen Jünger, die mir diesen Weg in harten Kämpfen, mit vie-len Entbehrungen und durch große Liebe ermöglicht haben – einen Weg, den sie selbst so nicht gehen konnten.

    David Jünger Berlin/Washington, D. C., im Winter 2015

    © 2017, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370520 — ISBN E-Book: 9783647370521

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    © 2017, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370520 — ISBN E-Book: 9783647370521

  • © 2017, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370520 — ISBN E-Book: 9783647370521

  • Einleitung

    Am 8. März 1939 versammelten sich in Berlin die Mitglieder des Hilfsver-eins der Juden in Deutschland (HV)1 zu einer Abschiedsfeier besonderer Art. Das langjährige Vorstandsmitglied Arthur Prinz (1898–1981) sollte wenige Tage später Deutschland verlassen, um nach Palästina auszuwandern und nie wieder zurückzukehren. Zum Abschied machten ihm die Vorstands-kollegen ein außergewöhnliches Geschenk: die Aufführung eines kleinen Theaterstücks, der eigens für diesen Anlass geschriebenen Tragikgroteske mit Gesang und Tanz in einem Aufzug. In dem Stück wird die Arbeit des HV, die Betreuung und Unterstützung jüdischer Auswanderer aus Deutsch-land, persifliert. Im Mittelpunkt der Aufführung steht Arthur Prinz, an einem Schreibtisch sitzend und von mehreren Personen bedrängt, die ihn um Rat fragen, um einen Stempel, um Informationen und um andere Hilfe-stellungen bitten. Prinz und seine Kollegen Kurt Stillschweig (1905–1955) und Alexander Gutfeld (1898–?) versuchen, das Chaos zu beherrschen – ver-geblich. Der »Chor der Rabbiner« ruft im Hintergrund immer wieder: »Wir wollen raus! Wir wollen raus! Wir wollen raus!«2 Die Szenerie war ein ge-treues Abbild der Realität, die den HV im Frühjahr 1939 täglich umgab. Zu dieser Zeit gab es für Juden in Deutschland nur noch ein Ziel: die sofortige Flucht. Diese war jedoch mit unzähligen Hindernissen verbunden: Ausreise-genehmigungen, Passprobleme, Affidavits, Transitbescheinigungen, Einrei-segenehmigungen, Arbeitserlaubnisse, Trauscheine, Devisenzertifikate und vieles mehr – Probleme, deren Lösung unter anderem zum Aufgabenbereich von Arthur Prinz gehörte.

    Die Kollegen überreichten Prinz außerdem eine von Gutfeld in den Wo-chen zuvor gezeichnete Karte der fiktiven jüdischen Inselkolonie Jutopia. Die realen wie auch imaginierten Orte und Namen bilden eine Welt ab, wie sie sich demjenigen darstellte, der in den Dreißigerjahren mit Fragen der jüdischen Emigration aus Deutschland befasst war. Etwas vorgelagert im Nordosten liegt die »Insel der Seeligen«, weiter südlich das kleine Zion, die »Überflüsse« durchschneiden Jutopia von West nach Ost, und im Westen,

    1 Bis 1935 Hilfsverein der deutschen Juden, danach umbenannt in Hilfsverein der Juden in Deutschland.

    2 LBINY/AR 5103, Das Rundschreiben B 999 Guatemala oder Arthur’s Traum. Tragikgro-teske mit Gesang und Tanz in einem Aufzug, 8. März 1939.

    © 2017, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370520 — ISBN E-Book: 9783647370521

  • 12 Einleitung

    unweit der kleinen und großen »Chamaden«,3 münden die Flüsse Milch und Honig ins Meer. Die Karte sei, so besagt ihre Legende, »nach neusten For-schungen gezeichnet«.4

    Der HV war seit 1933 die wichtigste jüdische Organisation zur Unterstüt-zung der jüdischen Auswanderer. Arthur Prinz hatte seine Tätigkeit im HV nach seiner Entlassung aus der Humboldt-Universität zu Berlin im Juli 1933 aufgenommen, ab Ende 1935 als Leiter der Informationsabteilung.5 An der Arbeit des HV lassen sich viele der Probleme und Fragen ablesen, die mit der jüdischen Emigration in den Jahren 1933 bis 1938 im Zusammenhang stan-den. Die Insel Jutopia war zwar nur eine Fiktion, die darauf verzeichneten Orte, Namen und Begriffe haben dennoch überwiegend einen realen Be-zug und können als Chiffren dieser Arbeit der vorangegangenen Jahre gele-sen werden. Auf der »Insel der Seeligen«, im Nordosten Jutopias, liegen die Küstenorte Wischnitz und Lifschitz, der kleine Fluss Auerbach, das Ört-chen Prinztown sowie die Berge Mt. St. Michel und Mt. Rosa. Sie alle ver-weisen auf leitende Vorstandsmitglieder des HV, die im März 1939 bereits emigriert und damit dem nationalsozialistischen Deutschland entkommen waren: Mark Wischnitzer (1882–1955), Samuel Lifschitz (1883–?), Frank L. Auerbach (1910–1964), Max Michel (1888–1941) und Werner Rosenberg (1903–1957). Auch Arthur Prinz war mit dem kleinen Ort Prinztown sym-bolisch bereits dort verzeichnet, sollte er doch wenige Tage später Deutsch-land endgültig verlassen. Auf der Hauptinsel befinden sich die Orte Bischofs-werder, Chassel und Horovitzleben sowie der Berg Löwenstein – Referenzen auf die verbliebenen Vorstandsmitglieder Franz Bischofswerder, Henry Chassel (1876–1943), Arnold Horovitz und Victor Löwenstein.

    Als Prinz im März 1939 nach Palästina auswanderte, war die jüdische Ge-meinschaft Deutschlands bereits in Auflösung begriffen. Nach der Pogrom-nacht vom 9. November 1938 waren die Nationalsozialisten dazu übergegan-gen, die Juden aus Deutschland zu vertreiben. »Nahezu alle Juden jüngeren und mittleren Alters versuchten verzweifelt rauszukommen«, erinnerte sich

    3 Nach dem hebräischen Wort »Chamad«, das so viel wie »Schönheit« oder »Anmut« bedeutet.

    4 LBINY/AR 5103, MF 681, Series III: Manuscripts, 1918–1978; Subseries 1: Fiction, 1939; Box 1, Folder 31, Bl. 418: »H.-V. Kolonie / Jutopia / nach neusten Forschungen gezeich-net / A. Isr. Gutfeld – 1939.« Der Ordner enthält weiterhin ein Vademecum in lateinischer Sprache, ein fiktives Zeugnis und weitere Karten und Zeichnungen, die Arthur Prinz zu seiner Verabschiedung überreicht wurden. Die Karte »Jutopia« ist ebenfalls abgedruckt und analysiert in: Triendl-Zadoff, Nächstes Jahr in Marienbad, 174–177. Ich danke Jan Eike Dunkhase für den Hinweis.

    5 Arthur Prinz wurde in Guatemala-Stadt geboren, 1904 kehrte die Familie nach Deutsch-land zurück; er war 1923–1933 Dozent für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Unter den Linden Berlin, ab Ende 1935 Leiter der Informationsabteilung des HV; 1939 Auswanderung nach Palästina; 1948 Emigration in die Vereinigten Staaten.

    © 2017, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370520 — ISBN E-Book: 9783647370521

  • 13Einleitung

    Prinz später. »Für diejenigen, die blieben wurde das Leben zu einem Alb-traum.«6 Anfang 1933 lebten in Deutschland beinahe 550 000 Juden,7 un-gefähr 150 000 von ihnen verließen bis zum Novemberpogrom das Land.8 Ein Großteil der deutschen Juden blieb somit bis Ende 1938 in Deutschland, auch Arthur Prinz. Im Oktober 1938 hatte er begonnen, eine Reise nach Pa-lästina zu planen, um seine schwerkranke Schwester dorthin zu begleiten. Er rang mit sich, ob er nach Deutschland zurückkehren oder die Gelegenheit ergreifen sollte, in Palästina zu bleiben. Sowohl Max Warburg (1867–1946) als auch Leo Baeck (1873–1956) drängten ihn jedoch zur Rückkehr, sodass er ein entsprechendes Gesuch an die Geheime Staatspolizei (Gestapo) richtete. Diese untersagte ihm aber die Rückkehr nach Deutschland, sodass seine Ausreise im März 1939 zur endgültigen Emigration wurde und sein Leben rettete.9 Die Geschichte von Arthur Prinz ähnelte dabei derjenigen vieler an-derer deutscher Juden, die in leitenden Positionen in der Gemeinde oder den politischen Organisationen tätig waren und die damit verbundenen Auf-gaben bis zuletzt ausführten.10 Aber auch aus verschiedenen anderen Grün-den entschied sich ein Großteil der deutschen Juden, bis zum November-pogrom und darüber hinaus in Deutschland zu bleiben.

    Die Geschichte der jüdischen Emigration aus Deutschland in den Jahren 1933 bis 1938 ist somit eine Geschichte der Auswanderung und zugleich eine des Bleibens, Ausharrens und Abwartens, bisweilen sogar der Rückkehr. Diese Geschichte ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. In ihr werden jü-dische Emigrationsfragen zwischen 1933 und 1938 untersucht, Fragen, die sich teilweise schon vorher gestellt hatten, ab 1933 jedoch zunehmend evi-dent wurden. In der Arbeit wird dargelegt, wie sich die deutschen Juden mit der Frage der Emigration im Privaten auseinandersetzten, wie in der jüdischen Öffentlichkeit darüber diskutiert wurde und wie die großen jü-dischen Organisationen den Emigrationsprozess planten und organisierten. Leitfrage der Untersuchung ist dabei, welche Bedeutung das Thema Emi-gration in den individuellen und kollektiven Zukunftsplanungen besaß und

    6 LBINY/ME 805, Prinz, Plunging into Chaos, 7 und 13.7 Benz (Hg.), Die Juden in Deutschland 1933–1945, Anhang »Jüdische Bevölkerungsstatis-

    tik«, 733.8 Emigrationszahlen für die Jahre 1933 bis 1938: 143 000 insgesamt, davon 1933: 37 000,

    1934: 23 000, 1935: 21 000, 1936: 25 000, 1937: 23 000, Januar bis Ende Juni 1938: 14 000. Vgl. hierzu Rosenstock, Exodus 1933–1939, 377.

    9 LBINY/ME 805, Prinz, Plunging into Chaos, 24–28.10 Hoffmann, Max M. Warburg, 190–200. Ernst G. Lowenthal hat ein Gedenkbuch an die

    jüdischen Opfer des Nationalsozialismus herausgegeben. Darin enthalten sind die Ge-schichten zahlreicher deutscher Juden, die aus ihrem Verantwortungsgefühl heraus in Deutschland blieben oder dorthin zurückkehrten und dadurch den Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Ders. (Hg.), Bewährung im Untergang.

    © 2017, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370520 — ISBN E-Book: 9783647370521

  • 14 Einleitung

    wie sich diese Bedeutung mit zunehmender Verfolgung durch die National-sozialisten im Verlauf der Dreißigerjahre wandelte.

    Die Karte von Jutopia kann dabei als eine Art Wegweiser gelesen werden, da hier in chiffrierter Form ein Panorama der Emigration in den Dreißi-gerjahren aufgespannt wird. In der Mitte Jutopias steht die »Zedakiah«, die Wohlfahrtsstelle, Synonym für den HV und doch auch mehr. Zwar wurden die jüdischen Auswanderer von Organisationen wie dem HV, dem Palästi-naamt und der Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge (HjW) unterstützt, die Gestaltung einer organisierten Emigrationsplanung lag aber nicht in de-ren Aufgabenbereich. Sie verstanden sich als philanthropische Wohltätig-keitsorganisationen und nicht als politische Vereinigungen. Die Frage der Emigrationsplanung war, wie Arthur Prinz im Verlauf der Dreißigerjahre immer wieder betonte, eine politische. Darüber hinaus gestaltete sich eine solche Planung äußerst kompliziert, da sich über deren grundsätzliche Art keine Einigung erzielen ließ: individuelle Hilfe für emigrationsbereite Juden oder die Unterstützung der Auswanderung größerer Gruppen? Auf diese Debatte wird in der Karte durch die im Norden Jutopias gelegenen »Grup-pensiedlungen« verwiesen. In der Kontroverse spiegelte sich die Sorge um eine mögliche Zerstreuung und Auflösung des deutschen Judentums infolge einer forcierten Einzelauswanderung.

    Entscheidender war ein anderer Konflikt, der auf der Karte in räumlicher Form angedeutet wird. Im äußersten Westen der Insel befindet sich die »Warburg« als Synonym für die liberalen deutschen Juden, die hier von Max Warburg repräsentiert wurden. Auf der entgegengesetzten Seite, weit im Osten, liegt das »Blumenfeld« mit seinen kleineren Orten Zion, Ruppin und Tell am See. Der Name eines der führenden deutschen Zionisten, Kurt Blumenfeld (1884–1963), steht hier für die zionistischen Strömungen in Deutschland.11

    Eine organisierte Emigrationsplanung barg für beide Seiten Gefahren. Die Liberalen befürchteten, eine solche könnte als Eingeständnis des Schei-terns der Emanzipation verstanden werden, ein Eindruck, der unbedingt vermieden werden sollte. Die zionistische Perspektive richtete sich auf den Aufbau Palästinas. Die Emigration in andere Länder wurde als Gefährdung der Palästinawanderung begriffen. Dieser Konflikt bestimmte die Emi-grationsdebatten bis über das Jahr 1938 hinaus. Die Auseinandersetzung der deutschen Juden mit der Frage der Emigration angesichts der national-sozialistischen Verfolgung war demnach wesentlich geprägt von den politi-

    11 Kurt Blumenfeld war von 1924 bis 1933 Vorsitzender der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) und stand für den Palästinazentrismus des deutschen Zionismus in diesen Jahren. Arthur Ruppin war in der Jewish Agency for Palestine (JA) für die Im-migration der deutschen Juden zuständig. Tell am See ist vermutlich eine Referenz auf Tel Aviv.

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  • 15Einleitung

    schen Anschauungen der verschiedenen jüdischen Gruppierungen und ih-ren je eigenen historischen Erfahrungen. Die Liberalen, die Zionisten, die Deutschnationalen oder die Orthodoxen – sie alle fanden unterschiedliche Antworten auf die sich zuspitzende Krise im Verlauf der Dreißigerjahre. Die ideologischen Konflikte sollten sich unter dem äußeren Druck noch ver-schärfen, obwohl die jüdischen Organisationen versuchten, die deutsche Ju-denheit in ihrem politischen Handeln zu einen. Kurz vor seiner Auswan-derung 1939 wurde Prinz von den Repräsentanten der wichtigsten jüdischen Organisationen auf herzliche Weise verabschiedet – seine Beschreibungen deuten hier auf eine beinahe harmonische Atmosphäre.12

    Die Warburg, im Südwesten Jutopias, lag auf der entgegengesetzten Seite des Blumenfelds, aber nur unweit von London und New York. Das sollte womöglich die enge Verbindung Max Warburgs zur Rothschild-Familie in London und zur eigenen Familie, vor allem zu seinem Bruder Felix M. Warburg (1871–1937), in New York andeuten. Diese Verbindungen waren von großer Bedeutung für die von Max Warburg seit 1933 entwickelten Emi-grationspläne, die er ab Ende 1935 in enger Abstimmung mit jüdischen Or-ganisationen in New York und London realisieren wollte. Es ist sicher kein Zufall, dass sich etwas weiter nördlich auf der Insel die »Pollackei« befindet, ein dem Jiddischen entlehnter Ausdruck für Polen. Die Pollackei kann dabei als Chiffre für Osteuropa gelesen werden. Die Lage der osteuropäischen Ju-denheiten verschlechterte sich in ökonomischer und politischer Hinsicht im Verlauf der Dreißigerjahre so dramatisch, dass sich der internationale Fo-kus ab 1935 von Deutschland auf das östliche Europa und hier vor allem auf Polen verschob. Die zunehmende Konzentration der internationalen Emi-grationshilfe auf den Osten Europas und die zeitweilige Marginalisierung der Situation in Deutschland hatten schwerwiegende Auswirkungen auf die Emigrationsplanungen für die deutschen Juden. Diese internationale Kon-stellation war für alle Emigrationsfragen maßgeblich.

    Um die verschiedenen Problemlagen, die mit der jüdischen Emigration zwischen 1933 und 1938 im Zusammenhang standen, umfassend beschrei-ben und erklären zu können, wird der Gegenstand auf vier verschiedenen Ebenen untersucht. Die erste Ebene ist diejenige der öffentlichen Emigra-tionsdebatten, die in jüdischen Zeitungen und Zeitschriften, Vorträgen und Kundgebungen sowie in Büchern und öffentlichen Streitschriften geführt wurden. Wenn auch die Bedingungen der öffentlichen Auseinandersetzung aufgrund repressiver Maßnahmen von staatlichen und polizeilichen Behör-den immer weiter eingeschränkt wurden, war sie dennoch bis Ende 1938 möglich. Die zweite Ebene ist diejenige der institutionellen Emigrationspla-nung. Dabei wird aufgezeigt, wie die jüdischen Organisationen intern über

    12 LBINY/ME 805, Prinz, Plunging into Chaos, 25.

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    die Emigrationsfrage diskutierten, welchen Stellenwert sie der Emigrations-planung im eigenen Aufgabenprofil beimaßen und wie sie diese Planung institutionalisierten. Die dritte Ebene umfasst die Emigrationspläne, die auf eine Auswanderung der Juden aus Deutschland als Kernbestandteil der umfassenden »Lösung der Judenfrage« – so eine zeitgenössische Formulie-rung – zielten. Diese Pläne wurden von den politischen Akteuren, wie bei-spielsweise Max Warburg, als Grundlage für Verhandlungen mit den deut-schen Behörden über den jüdischen Status konzipiert. Einige dieser Pläne erreichten tatsächlich Verhandlungsstatus. Die vierte Ebene schließlich um-fasst die individuelle Lebensplanung deutscher Juden und deren persönliche eingehende Beschäftigung mit der Frage der Emigration. Es werden sowohl Diskussionen im Familien- und Freundeskreis als auch der Alltag aus-gewählter Personen untersucht. Dabei wird der Präsenz des Politischen im Alltag wie auch der Transformation des Politischen in das Alltägliche und damit in den Bereich der individuellen Wahrnehmungen und Handlungen nachgegangen.

    Die Reaktionen auf die Krise der Dreißigerjahre und die Auseinander-setzungen mit der Frage der Emigration fielen gemäß der jeweiligen welt-anschaulichen und religiösen Prägung sowie der geografischen und sozialen Herkunft unterschiedlich aus. Die größte Gruppe unter den deutschen Ju-den waren die Liberalen, die vornehmlich vom Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) repräsentiert wurden.13 Daneben existierten die deutschnationalen Kleinverbände wie zum Beispiel der Ver-band nationaldeutscher Juden (VndJ), die sich an der Weimarer Rechten der Deutschen Volkspartei (DVP) und der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) orientierten.14 Dazwischen stand der Reichsbund jüdischer Front-soldaten (RjF).15 Diese Gruppierungen hatten einige Gemeinsamkeiten, un-terschieden sich aber deutlich in der Radikalität des von ihnen propagier-ten »Deutschtums«. Ihnen gegenüber standen die Zionisten, eine numerisch verhältnismäßig kleine Gruppe, die dennoch in den politischen Debatten großen Einfluss hatte. Sie waren mehrheitlich in der Zionistischen Vereini-gung für Deutschland (ZVfD) organisiert.16 Die wichtigste innerzionistische

    13 Der C. V. wies in den Weimarer Jahren zwischen 45 000 und 72 000 Mitglieder auf, 1933 zählte er ca. 64 000. Vgl. Reinharz, Deutschtum and Judentum in the Ideology of the Cen-tralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893–1914, 22.

    14 Weitere kleine Organisationen des deutschnationalen Lagers waren u. a. der von Hans-Joachim Schoeps gegründete Deutsche Vortrupp. Gefolgschaft Deutscher Juden und das Schwarze Fähnlein. Jungenschaft.

    15 Der RjF hatte vor 1933 ca. 30 000 Mitglieder, nach 1933 stiegen die Mitgliederzahlen auf ungefähr 50 000. Vgl. Dunker, Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten 1919–1938, 7.

    16 Ende 1932 hatte die ZVfD knapp 10 000 Mitglieder, Ende 1935 schon 22 000. Danach stie-gen die Mitgliederzahlen kaum noch an. Vgl. Teichert, Chasak!, 116.

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    Opposition stellten die Revisionisten, die sich ab 1934 als »Staatszionis-ten« neu formierten. Zu unterschiedlichen Einschätzungen und Reaktionen führten nicht nur die verschiedenen ideologischen, sondern auch die reli-giösen Prägungen. Die strenggläubigen beziehungsweise orthodoxen Aus-einandersetzungen mit dem Nationalsozialismus und Emigrationsfragen unterschieden sich teilweise deutlich von den politisch-weltanschaulichen, weshalb die Orthodoxie in dieser Arbeit ebenfalls eingehend untersucht wird.17 Zwar war 1933 fast ein Fünftel der Juden in Deutschland osteuro-päischer Herkunft oder staatenlos, dennoch finden die osteuropäischen Ju-den als separate Gruppe in der Arbeit nur wenig Beachtung.18 Im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Staaten waren in Deutschland die osteuropä-ischen Juden zur deutsch-jüdischen Mehrheit hin nicht klar abgegrenzt. Sie gründeten keine eigenen politischen Organisationen und gaben keine eige-nen Zeitungen heraus, sondern beteiligten sich am politischen und religiö-sen Leben der bestehenden jüdischen Gemeinschaft.

    Diese unterschiedlichen Prägungen und Anschauungen beeinflussten aber nicht nur das politische Handeln der jüdischen Organisationen, son-dern auch die Wahl der Emigrations- oder Zufluchtsorte. Auf der Karte Juto pias benennen die Küstenstädte einige dieser Orte, die für deutsche Ju-den bedeutend waren, die von 1933 bis 1939 das Land verließen. Dies wa-ren zunächst Städte wie Prag und London, unweit der deutschen Heimat, Zentren des politischen Exils. Später wurden andere Städte in größerer Ent-fernung wichtiger, die nicht mehr kurzzeitiges Exil, sondern längerfristige Emigration bedeuteten: New York, Oslo oder Kapstadt. Im Verlauf des Jah-res 1938, insbesondere nach dem Novemberpogrom, wurde aus der Emigra-tion die Flucht. Wohin man floh, war nun keine freie Entscheidung mehr, sondern ergab sich aus den Bedingungen für Einreise- und Aufenthalts-genehmigungen. Die Ziele waren häufig weit entfernt: Shanghai, Bangkok oder Sydney. Haifa oder Petach Tikwa dagegen standen mit der Alija und dem jüdischen Aufbauwerk in Palästina in Verbindung. Bereits anhand dieser Ortsnamen könnte die Geschichte der jüdischen Emigration aus Deutschland erzählt werden.

    Exil, Emigration, Flucht und Alija – diese Begriffe stehen für divergie-rende Konstellationen und transportieren je unterschiedliche Sinngehalte. Juliane Wetzel konstatiert in ihrer Darstellung der jüdischen Auswanderung aus dem nationalsozialistischen Deutschland, dass die jüdischen Emigran-ten »nicht mit den freiwilligen Auswanderern früherer Zeiten verglichen werden« könnten. Im Gegenteil, sie seien »fast ausschließlich Flüchtlinge,

    17 1933 waren ungefähr 20 000 bis 25 000 deutsche Juden Anhänger der Orthodoxie. Plum, Deutsche Juden oder Juden in Deutschland?, bes. 40.

    18 Adler-Rudel, Ostjuden in Deutschland, 1880–1940, 165.

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    ›Heimatvertriebene‹ [gewesen], die meist völlig mittellos über die Grenzen ihres Geburtslandes gejagt wurden.«19 Auch Richard Evans teilt die Auf-fassung: »Es war natürlich keine freiwillige oder unerzwungene Emigra-tion; es war eine Flucht ins Exil, um Bedingungen zu entrinnen, die für viele unerträglich wurden.«20 Doron Niederland hat hingegen gezeigt, dass die Gründe für die jüdische Auswanderung zwischen 1933 und 1938 ähnliche waren wie in den Jahren der Weimarer Republik und daher für die gesamte Zwischenkriegszeit von Emigration gesprochen werden müsse.21 In der For-schungsliteratur ist der Begriff der Flucht jedoch weit verbreitet, entweder in Abgrenzung oder als Äquivalent zum Begriff »Emigration«.22

    Das Problem einer solchen Deutung besteht darin, dass die Gründe des Verbleibens externalisiert werden müssen, um das Verhalten der deutschen Juden zu erklären. Externalisierung meint in diesem Zusammenhang, dass als Hauptgründe für eine vermeintlich »zögerliche Emigration« die äußeren Bedingungen der nationalsozialistischen Auswanderungsregularien und der Einwanderungsbestimmungen anderer Staaten angenommen werden.23 Diese äußeren Faktoren waren durchaus entscheidende Hindernisse bei der Pla-nung der eigenen Emigration und beeinflussten somit den individuellen Entscheidungsprozess. Dennoch standen sie dem Willen zur Auswanderung nicht unüberwindbar entgegen.

    In dieser Arbeit werden daher fast ausschließlich die Begriffe Emigra-tion oder Auswanderung statt Flucht und Exil benutzt. Allein die Situation des Frühjahrs 1933, in der Tausende den Verfolgungen der Nationalsozia-listen durch Flucht ins Exil entkamen, rechtfertigt letztere Begriffe. Diese Fluchtwelle kann jedoch nicht als jüdische, sondern muss als eminent poli-tische verstanden werden. Die jüdischen Flüchtlinge der ersten Monate flo-hen nicht deshalb, weil sie sich  – erklärtermaßen oder implizit  – als Teil der jüdischen Gemeinschaft definierten, sondern sie verließen Deutsch-land als verfolgte Linke beziehungsweise als erklärte politische Gegner des Nationalsozialismus.

    19 Wetzel, Auswanderung aus Deutschland, 413.20 Evans, Das Dritte Reich, Bd. 2, 673.21 Niederland, Juden aus Deutschland – Auswanderer oder Flüchtlinge?22 Kwiet/Eschwege, Selbstbehauptung und Widerstand, 142; Benz, Emigration.23 Wetzel, Auswanderung aus Deutschland, 416; Wischnitzer, Die jüdische Wanderung un-

    ter der Nazi-Herrschaft 1933–1939, 97; Margaliot, The Problem of the Rescue of German Jewry during the Years 1933–1939, 265; Laqueur, Mein 20.  Jahrhundert, 52. Wolfgang Benz nennt als Gründe zunächst verschiedene äußere Faktoren, als letzten, aber vielleicht doch entscheidenden schließlich das Selbstverständnis der deutschen Juden. Vgl. ders., Emigration, 188. Fritz Kieffer beschäftigt sich hingegen ausschließlich mit den interna-tionalen Migrationsbedingungen und tendiert dabei dazu, in diesen den Hauptgrund für die gescheiterte Emigration zu sehen. Vgl. ders., Judenverfolgung in Deutschland – eine innere Angelegenheit?

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    Wenn Evans schreibt, dass die Emigration keine freiwillige war, sondern äußeren Zwängen unterlag, ist ihm in dieser Einschätzung zwar recht zu ge-ben, dennoch sind diese Zwänge noch nicht Grund genug, um von Flucht anstatt von Emigration zu sprechen. Diejenigen, die bis 1938 emigrierten, flohen zumeist nicht vor einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben. Die meisten Juden verließen Deutschland, weil ihre ökonomischen Exis-tenzbedingungen gefährdet waren oder weil sie nicht als Deklassierte in einer judenfeindlichen Gesellschaft leben wollten. Die Zukunftsaussich-ten schienen in anderen Ländern im Vergleich zur schwierigen Situation im Heimatland erheblich besser zu sein.24 Damit besaßen die deutschen Juden verschiedene Handlungsoptionen, die sie gegeneinander abwägen muss-ten. Ein Beleg hierfür sind beispielsweise die jüdischen Remigranten, die 1934/35 zu Tausenden in das Deutsche Reich zurückkehrten, da ihnen dort die ökonomischen und damit die individuellen Existenzbedingungen güns-tiger erschienen als in den Ländern des vorübergehenden Exils. Aber auch die Urlaubsreisen der Jahre 1936 bis 1938 zeigen das Bestehen verschiede-ner Handlungsoptionen – den Verbleib im nationalsozialistischen Deutsch-land eingeschlossen. Der Emigrationsprozess bis 1938 war in hohem Maße mit Fragen des Eigentumstransfers verbunden. Die deutschen Ausfuhr- und Devisenbestimmungen verhinderten die verlustfreie Übertragung des Ver-mögens ins Ausland. Auch dieses entscheidende Problem erhielt auf der Karte von Jutopia einen exponierten Ort. Der Kartenmaßstab, in einer Art Koordinatensystem dargestellt, referiert auf den aktuellen Sperrmarkkurs, denjenigen Kurs also, zu dem Reichsmarkbestände in frei konvertierbare Währungen (Devisen) getauscht werden konnten.25 Damit bildeten im We-sentlichen die Verhältnisse vor dem Novemberpogrom den Referenzrah-men für die Karte, als vor allem monetäre Aspekte die Emigrationsfrage be-stimmten. Im Westen Jutopias deutet aber bereits ein kleiner Ort auf eine entscheidende Veränderung hin: das Küstendorf »Port Visum«. Nach der Pogromnacht 1938 ging es kaum noch um Transferfragen, sondern maßgeb-lich um die Bereitstellung von Aus-, Durch- und Einreisegenehmigungen.

    24 Die Unterscheidung zwischen »freiwilliger« und »erzwungener« Migration (Flucht) ist in der Migrationssoziologie nicht unumstritten, da von einer vollständig freien Entschei-dung zur Migration ohne äußere Zwänge bzw. Einflüsse selten gesprochen werden kann. Vgl. Düvell, Europäische und internationale Migration, bes. 5–32. Dies führt in der Kon-sequenz jedoch zu einer philosophischen Diskussion über Freiheit und Determinismus, die hier nicht geführt werden soll. Die Existenz von Entscheidungs- und Handlungs-optionen ist im vorliegenden Zusammenhang daher von zentraler Bedeutung.

    25 Der Transfer von Eigentum und Bargeldbeständen wurde durch eine große Anzahl von verschiedenen Bestimmungen geregelt, die im Einzelnen schwer nachzuvollziehen sind. Einen Überblick geben: Ebi, Export um jeden Preis; Cohn/Gottfeld, Auswanderungs-Vorschriften für Juden in Deutschland. Zum Sperr- und Registermarkverfahren: Lücke-fahr, Sperrmark und Registermark.

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    Nicht mehr die Sicherung der ökonomischen, sondern die Rettung der phy-sischen Existenz stand fortan im Zentrum. Ab diesem Zeitpunkt war aus der Emigrationsplanung die Notwendigkeit zur Flucht geworden.26

    Lässt der Begriff der Flucht zunächst noch offen, wovor geflohen wurde, ist der Begriff der »Rettung« bereits um einiges enger. Er korrespondiert mit der Frage nach den Gründen der vermeintlich »zögerlichen Emigration«, der in dieser Arbeit bewusst nicht nachgegangen wird. Mit der Frage nach dem Zögern der deutschen Juden ist bereits eine normative Setzung verbunden, die die Entwicklung der antijüdischen Politik in Deutschland bis zum Holo-caust als Ausgangsperspektive der Fragestellung wählt. Eine solche Perspek-tive setzt voraus, dass die Auswanderung die zu erwartende und vernünf-tige Reaktion gewesen sein müsste und das Verbleiben in Deutschland die zu erklärende Abweichung.

    Mit einer solchen Perspektive lässt sich das Verhalten der deutschen Ju-den aber nicht erklären, da sich ihr Erwartungshorizont nur aus dem eige-nen historischen Erfahrungsschatz in der Konfrontation mit Antisemitis-mus und Judenfeindschaft herleiten konnte. Bis Ende der 1930er Jahre waren die Tiefpunkte judenfeindlicher Politik der Pogrom und die kollektive Ver-treibung – eine insbesondere osteuropäisch-jüdische Erfahrung. Sich gegen die antijüdische Politik der Nationalsozialisten zu wehren, hieß daher in zeitgenössischer Perspektive, die Herrschaft des Rechts über die Straßenge-walt sicherzustellen und dem Auswanderungsdruck der Nationalsozialisten zu widerstehen. Damit konnte Emigration zunächst nicht als Rettung, son-dern nur als Niederlage vor dem Nationalsozialismus verstanden werden.

    Dass die Emigration im Nachhinein doch zur individuellen Rettung werden konnte, lag nicht am Entschluss zur Auswanderung, sondern an den historischen Umständen. Wer sich dafür entschied, nach Polen, in die Tschechoslowakei, nach Österreich oder Frankreich zu gehen, konnte in-folge der späteren deutschen Besatzung erneut in den Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten gelangen. Viele jüdische Emigranten wurden nach dem Einmarsch der deutschen Armee in diese Länder verhaftet, deportiert und ermordet, obwohl sie das zur Bedrohung gewordene Heimatland ver-lassen hatten. Selbst der Weg nach Palästina bot zu jener Zeit keine frag-

    26 Es gab auch vor 1938 Fälle von Flucht aufgrund der jüdischen Herkunft und nicht auf-grund politischer Einstellungen oder Handlungen. Juden wurden in Konzentrations-lagern inhaftiert, um ihre Auswanderung oder die Veräußerung ihres Eigentums zu er-zwingen. Andere wiederum waren nach den Nürnberger Gesetzen unmittelbar bedroht, wenn sie in einem nichtehelichen partnerschaftlichen oder sexuellen Verhältnis zu Nicht-juden standen. Hochzeiten zwischen Juden und Nichtjuden (nach den rassistischen Kri-terien der Nationalsozialisten) waren fortan ebenso untersagt. Der Handlungsspielraum von Personen, die davon betroffen waren, war derart eingeschränkt, dass von Emigration hier nicht mehr gesprochen werden kann, sondern eher von Flucht.

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    lose Sicherheit. Dass die Juden Palästinas vom Holocaust verschont blieben, war allein der Tatsache zu verdanken, dass der Vormarsch der Wehrmacht in Nordafrika in der ersten Schlacht bei El-Alamein im Juli 1942 in sprich-wörtlich letzter Sekunde gestoppt werden konnte. Wäre dies nicht gelun-gen, hätten die Juden Palästinas das Schicksal der Juden Europas sehr wahr-scheinlich geteilt.

    Für die Übersiedlung nach Palästina ist damit der Ausdruck »Rettung« ebenso anachronistisch wie für die Emigration aus dem nationalsozia-listischen Deutschland insgesamt. Indes ist dafür auch der Begriff der Emi-gration problematisch. Die jüdische Einwanderung nach Palästina wurde von den Zionisten als Alija bezeichnet, auch in Abgrenzung zu »gewöhn-lichen« Formen von Migration. Der hebräische Begriff bedeutet wörtlich Aufstieg und meint die symbolische Ersteigung des Bergs Zion – eine Meta-pher für das jüdische Aufbauwerk in Palästina. In zionistischer Lesart han-delte es sich hierbei um eine »Rückkehr« oder »Heimkehr« an die Urstätte des Judentums und nicht um Emigration im eigentlichen Sinne. Die Alija war somit immer mehr als die Emigration, mehr als bloß Exil oder Asyl. Angesichts der Verhältnisse in Deutschland war Palästina jedoch anderer-seits für viele das nach rationalen und nicht unbedingt nach ideologischen Kriterien gewählte Emigrationsziel. Dies zeigt nicht zuletzt ein berühmtes Bonmot jener Zeit, demzufolge deutschen Juden bei ihrer Einwanderung in Palästina die Frage gestellt wurde: »Kommen Sie aus Deutschland oder aus Überzeugung?«27 Die Zionisten standen dieser nicht ideologisch motivier-ten Einwanderung trotz der Verfolgung der deutschen Juden durch die Na-tionalsozialisten kritisch bis ablehnend gegenüber, da zahlreiche deutsche Einwanderer in den jüdischen Großstädten wie Haifa und Tel Aviv – ent-gegen der zionistischen Auffassung vom Wesen des jüdischen Aufbauwerks in Palästina – in einer Art Exil lebten.28 Somit war die Einwanderung deut-scher Juden nach Palästina vielschichtig, sie ist nicht allein mit dem Begriff der Emigration zu fassen.

    Vor diesem Hintergrund folgt diese Studie explizit nicht der Perspektive, die dem Gegenstand eingeschrieben zu sein scheint – einer Sichtweise, die mit dem Wissen um die Geschichte des Holocaust die Handlungen und jü-dischen Reaktionen der Dreißigerjahre befragt und deutet. In der histori-schen Forschung zu den 1930er Jahren, besonders in Bezug auf die Frage der jüdischen Emigration, ist diese Perspektive durchaus üblich, sie ein-zunehmen scheint evident zu sein. Die Bedeutung dieses epochalen Bruchs

    27 Willy Cohn, Tagebucheintrag vom 3. Mai 1933, in: ders., Kein Recht, nirgends, 39; Victor Klemperer, Tagebucheintrag vom 22. Mai 1933, in: ders., Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, Bd. 1, 29; Laqueur, Wanderer wider Willen, 128.

    28 Vgl. Laqueur, Geboren in Deutschland, 187–233; Schlör, Endlich im Gelobten Land?; Miron, Von Regisseuren zu Schauspielern.

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    macht es unmöglich, die Vorgeschichte des Holocaust darzustellen und zu analysieren, als hätte es diesen nicht gegeben. Und doch kann eine solche Perspektive zur Verengung führen, da sie das Verständnis zeitgenössischer Wahrnehmungen verstellt.

    In dieser Arbeit werden die Ereignisse der Jahre 1933 bis 1938 stattdes-sen aus der Perspektive einer noch offenen Entwicklung, einer noch unbe-kannten Zukunft betrachtet. Am Beispiel der Konferenz von Evian im Juli 1938 soll die Bedeutung einer solchen Herangehensweise hier kurz angedeu-tet werden.

    Die Einschätzungen der Konferenz von Evian durch den Repräsentanten der Reichsvertretung der Juden in Deutschland (RV) Shalom Adler-Rudel (1894–1975) und den Vertreter des World Jewish Congress (WJC) Nahum Goldmann (1895–1982)29 eröffnen einen Einblick in die Zeitgebundenheit des historischen Urteils. Die Konferenz fand im Juli 1938 im französischen Évian-les-Bains statt. An ihr nahmen auf Einladung Franklin D. Roosevelts 32 Staaten teil, um eine Lösung für die jüdische Flüchtlingskrise nach dem »Anschluss« Österreichs an Deutschland zu finden. Außer der Einrichtung eines internationalen Flüchtlingskomitees zeitigte sie keine konkreten Er-gebnisse. Unmittelbar nach dem Ende der Konferenz schrieb Adler-Rudel an den ehemaligen Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium (RWM) Hans Schäffer (1886–1967), der sich seit Juli 1933 im schwedischen Exil be-fand: »Als erstes würde ich sagen, dass ich mit dem Ergebnis der Konferenz absolut zufrieden bin; es entspricht ungefähr dem, was ich von der Kon-ferenz erwartet hatte, und ich glaube nicht, dass man bei vernünftiger Über-legung mehr erwarten konnte.«30 Diese Einschätzung ergab sich daraus, dass laut Adler-Rudel die deutsche Devisenlage der Grund des Emigrations-problems sei. Auf der Konferenz hätten die beteiligten Staaten dieses Pro-blem erstmals diskutiert und als solches anerkannt.

    In einem Aufsatz, den Adler-Rudel dreißig Jahre später verfasste, sprach er jedoch von einer »schrecklichen Enttäuschung für die jüdischen Reprä-sentanten, die nach Evian gekommen waren. Die großen Hoffnungen, die

    29 Nahum Goldmann wurde in Wischnewo, Polen, geboren und wuchs in Frankfurt am Main auf. Seit 1910 war er in der zionistischen Bewegung aktiv. Er lebte von 1933 bis 1940 in Genf und war für den WJC als Organisator und von 1935 bis 1939 als dessen Vertre-ter beim Völkerbund tätig. Im Juni 1935 wurde er offiziell aus Deutschland ausgebürgert. Mit Ausbruch des Krieges ging er als Vertreter der JA in die Vereinigten Staaten und war maßgeblich an der Ausarbeitung des Biltmore-Programms vom Mai 1942 beteiligt. Ab 1949 wurde er Vorsitzender der amerikanischen Sektion der JA, von 1954 bis 1977 Prä-sident des WJC und von 1956 bis 1968 Präsident der ZO/WZO. Er war entscheidend an der Gründung der Claims Conference 1951 sowie an den Verhandlungen zum Luxembur-ger Abkommen zur »Wiedergutmachung« beteiligt.

    30 Shalom Adler-Rudel an Hans Schäffer, 26. Juli 1938, in: ders. (Hg.), Das Auswanderungs-problem im Jahre 1938, 192 f.

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    sie gehegt hatten, wurden vernichtet durch die unklare Phraseologie und die unbestimmte Einstellung, die die Konferenz dominierten.«31 Seine zusam-menfassende Einschätzung stand schließlich im diametralen Gegensatz zu derjenigen, die er drei Jahrzehnte zuvor gegenüber Hans Schäffer gegeben hatte: »Das wenige, das erreicht wurde, stand in keinem Verhältnis zu den Hoffnungen, die im Vorfeld aufgekommen waren. Trotz des guten Willens endete alles in einem Misserfolg.«32 Auch Nahum Goldmann gab unmittel-bar im Anschluss an die Konferenz zu Protokoll, dass diese »unzweifelhaft einen Fortschritt in der Bemühung zur Lösung des jüdischen Flüchtlings-problems in Deutschland markiert.«33 In seinen Memoiren aus dem Jahr 1980 hingegen wurden die Ergebnisse der Konferenz zu einer »unabweis-baren Anklage gegen die zivilisierte Welt hinsichtlich ihrer Haltung gegen-über der Judenverfolgung durch den Nationalsozialismus«.34

    Die verschiedenen Wertungen Adler-Rudels und Goldmanns 1938 und 1968/1980 ergaben sich nicht daraus, dass sie später mehr über die Um-stände der Konferenz wussten als unmittelbar nach deren Ende. Die Diffe-renz ergibt sich vielmehr aus dem Unterschied einer noch offenen histori-schen Entwicklung im Jahr 1938 und dem Wissen um den Verlauf dieser Geschichte 1968/1980. Daran schließt sich unmittelbar die Frage an, wel-cher der Einschätzungen nun recht zu geben ist, der von 1938 oder der von 1968/1980? War die Konferenz den Umständen entsprechend erfolgreich verlaufen oder war sie wirklich gescheitert? Ein solches Urteil ist nur im je-weiligen Kontext der Zeit möglich. Die Konferenz von Evian erschien 1938 als Auftakt zu einer Internationalisierung und damit als möglicher Aus-gangspunkt einer Lösung der Flüchtlingsproblematik. Im Nachhinein zeigte sich aber, dass die Konferenz nicht der erhoffte Auftakt war, sondern eine vergebene Chance. Davon ausgehend war sowohl die Einschätzung von 1938 als auch die von 1968/1980 in ihrer je eigenen Logik richtig, aber beide kön-nen nicht als objektives Urteil verallgemeinert werden.

    In dieser Arbeit wird deshalb nicht die nachfolgende Entwicklung der judenfeindlichen Politik zur Grundlage der Analyse gemacht, sondern die historischen Erfahrungen der Zeitgenossen, der Blick also nicht nach vorn, sondern zurück gerichtet. Diese Perspektive ist auch der Karte von Jutopia immanent, auf der Orte und Namen verzeichnet sind, die sich nicht auf die

    31 Ders., The Evian Conference on the Refugee Question, 258.32 Ebd., 260.33 Zit. nach Beit-Zvi, Post-Ugandan Zionism on Trial, Bd. 1, 151. Auch andere jüdische Teil-

    nehmer äußerten ihre Zufriedenheit mit den Ergebnissen der Konferenz, so Jonah  B. Wise vom JDC und Arthur Ruppin von der JA: Beit-Zvi, Post-Ugandan Zionism on Trial, Bd. 1, 152; Jonah B. Wise an Morris Waldman, in: Dobkowski (Hg.), The Politics of Indif-ference, 81–83.

    34 Goldmann, Mein Leben als deutscher Jude, 300.

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    Ereignisse der Dreißigerjahre, sondern auf deren Vorgeschichte beziehen. So verweist der Ort »Graetz« auf den jüdischen Historiker Heinrich Graetz (1817–1891), der ein Wegbereiter einer säkularisierten Universalgeschichte der Juden und einer der wichtigsten Protagonisten der Wissenschaft des Judentums war. »Basel« und »Posen« wiederum verweisen maßgeblich auf die Geschichte des internationalen und deutschen Zionismus. Basel gilt als die Geburtsstätte des politischen Zionismus herzlscher Prägung. Hier fand seit 1897 die Mehrzahl der Zionistenkongresse statt. Der Delegiertentag der deutschen Zionisten in Posen im Jahr 1912 hingegen gilt als Wendepunkt des deutschen Zionismus hin zu einer stärkeren Konzentration auf die jü-dische Aufbauarbeit in Palästina. Der Posener Delegiertentag löste scharfe Debatten zwischen den deutschen Zionisten und Liberalen aus. Die in die-sen Debatten zum Ausdruck gebrachten Grundkonflikte blieben bis in die Dreißigerjahre bestehen und prägten die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen jüdischen Strömungen.

    Ausgangspunkt dieser Arbeit ist daher die These, dass sich die Strategien und Diskussionen der deutsch-jüdischen Politik in den Dreißigerjahren aus den zeitgenössischen Erfahrungsbeständen speisten: zum einen aus der jü-dischen Geschichte der zurückliegenden Dekaden und zum anderen aus den historischen Erfahrungen mit jüdischer Migration, mit dem jüdischen Status in nationalstaatlichen Ordnungen und mit dem Verhältnis der Dias-porajudenheiten zueinander, vor allem dem Gegensatz zwischen osteuropä-ischen und westeuropäischen Judenheiten. Die Planungen und Gestaltungs-vorschläge, insbesondere jene zur jüdischen Emigration, bauten auf solchen Erfahrungsbeständen auf. Nur wenn man diese berücksichtigt, lassen sich die Wahrnehmungen und Einschätzungen, Handlungen und Erwartungen der deutschen Juden angemessen darstellen, verstehen und analysieren.

    Diese vorgelagerten Zeiten bilden den Hintergrund, ohne selbst Ge-genstand der Arbeit zu sein. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vielmehr vom Antritt der Regierung Hitler am 30.  Januar 1933 bis zum »Entscheidungsjahr« 1938. Das Jahr 1938 brachte zwei wesentliche Zäsu-ren mit sich. Mit der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich am 13.  März begannen die Nationalsozialisten unter der Leitung Adolf Eichmanns (1906–1962) damit, die österreichischen Juden aus dem ehe-mals österreichischen Staatsgebiet zu vertreiben – eine Politik, die zunächst nicht auf das sogenannte Altreich angewendet wurde. Das »Modell Öster-reich« wurde nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 schließlich auf das gesamte Deutsche Reich übertragen. Mit dem 13. März und dem 9. No-vember 1938 endete somit die erste Phase der nationalsozialistischen Juden-verfolgung in Deutschland, die eine Politik der Entrechtung war. Es begann die zweite Phase, die Politik der Vertreibung. Damit einher ging das Verbot nahezu aller jüdischen Organisationen, Verbände und Zeitungen. Mit dem

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    Jahr 1938 änderten sich die politischen, ökonomischen und sozialen Rah-menbedingungen für die deutschen Juden entscheidend. Hatte es bis dahin öffentliche Debatten, eine durchaus selbstbestimmte Organisationsstruktur und verschiedene Handlungsoptionen gegeben, bestand nun nur noch die Möglichkeit, auf die Anordnungen der nationalsozialistischen Machthaber zu reagieren. Auswandern oder Bleiben waren nicht länger die Alternativen. Es gab nur noch eine Wahl: die Flucht.

    Diese Entwicklung hatte sich freilich schon 1937 abgezeichnet. Seit Ende dieses Jahres wurde eine Dynamik in Gang gesetzt, die die antijüdische Poli-tik immer weiter beschleunigte. Einer Katastrophe folgte in immer kürze-ren Abständen die nächste. Durch die Einschränkung der politischen Ge-staltungsmöglichkeiten verebbten 1937 auch die öffentlichen Debatten über Emigration und endeten die Verhandlungen über die Emigrationspläne mit den staatlichen Behörden. Obwohl das Jahr 1938 in vielerlei Hinsicht ein »Entscheidungsjahr« war, hatten die deutschen Juden an seinen Entschei-dungen keinen Anteil mehr. Die Darstellung der Jahre 1937/38 fällt dem-entsprechend kürzer aus, da die zu untersuchenden Emigrationsfragen in diesem Zeitraum ihre Schärfe verloren hatten und stattdessen durch Fragen ersetzt wurden, die mit Flucht und Vertreibung im Zusammenhang standen und daher nicht mehr Gegenstand der Untersuchung sind.

    So wie die deutsch-jüdische Perspektive im Mittelpunkt der Studie steht, bilden die antijüdische Politik der Nationalsozialisten und die judenfeind-liche Stimmung in der deutschen Gesellschaft den ereignisgeschichtlichen Rahmen der Arbeit, ohne aber näher betrachtet zu werden. Ebenso wenig liegt der Fokus auf den äußeren Bedingungen und Grenzen der Emigra-tion. Fragen von Passgesetzen, Devisenbestimmungen oder Einreisegeneh-migungen, von internationaler Diplomatie und Flüchtlingspolitik finden in dem Maße Erwähnung, wie sie für die unmittelbare Darstellung nötig sind. Schließlich fließt auch die institutionelle Emigrationspraxis einzelner jü-discher Auswanderungsorganisationen in die Arbeit ein, steht aber gleich-falls nicht in deren Zentrum.

    Die Arbeit ist in drei Hauptkapitel gegliedert, die im Wesentlichen der Chronologie folgen und denen eine Darstellung des Forschungsstandes vorangestellt und eine Schlussbetrachtung  – in der in einer Gesamtschau auf die jüdischen Emigrationsfragen in den Jahren 1933 bis 1938 geblickt wird – nachgeschaltet ist. Das erste Hauptkapitel behandelt die Jahre 1933 und 1934, in denen sich die nationalsozialistische Herrschaft schrittweise etablierte. Jüdischen Zeitgenossen erschienen sie häufig noch als eine Ver-längerung der Weimarer Zeit. In dieser Periode waren Fragen der Emigra-tion eher marginal. Das zweite Kapitel ist der Zeitspanne von 1935 bis 1936 gewidmet, in deren Verlauf die nationalsozialistische Herrschaft gefestigt wurde. Einerseits wollte die jüdische Gemeinschaft die deutsche Regierung

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    zu einer Verhandlungslösung über den jüdischen Rechtsstatus drängen und andererseits entwickelten sich Fragen der Emigration zu einem zentralen Bestandteil der öffentlichen Debatte, der individuellen Zukunftsplanungen und der Verhandlungen mit den deutschen Behörden. Im dritten Kapitel werden die Transformationen der Jahre 1937 und 1938 dargestellt. Die Er-eignisse, die eine Verschärfung der antijüdischen Politik der Nationalsozia-listen bedeuteten, überschlugen sich nahezu und Zukunftsplanungen waren kaum noch möglich.

    Zum Stand der Forschung

    Die verschiedenen Aspekte, Teilbereiche und Zeiträume der jüdischen Emi-gration in Deutschland in den Jahren 1933 bis 1938 sind sehr unterschiedlich aufgearbeitet. Viele Einzelaspekte der jüdischen Emigration sind sorgfäl-tig untersucht, viele bestehende Quellen ausgewertet worden, die ereignis-geschichtlichen Abläufe vom Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft über die Nürnberger Gesetze bis zum Novemberpogrom und zum Holo-caust sind bekannt. Und doch gibt es einige wesentliche Aspekte, deren Er-forschung noch aussteht, oder genauer: deren Untersuchung in den 1970er Jahren abbrach. Diese Desiderate stehen im Zusammenhang mit Fragen des Zugriffs auf das Thema der jüdischen Emigration. Ein bedeutender Teil der Forschung untersucht die jüdischen Reaktionen auf den Nationalsozialis-mus sowie die jüdische Emigration aus Deutschland vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs aus der Perspektive der nachfolgenden Geschichte des Holocaust. Die Fragen, die diese Geschichte zwangsläufig evoziert, werden dabei auch auf die Dreißigerjahre übertragen oder in diese Zeit rückverlän-gert. Aus dieser Perspektive stehen die jüdischen Reaktionen auf die Frage der Emigration in den Dreißigerjahren unter dem doppelten Vorbehalt des realpolitischen Scheiterns und des moralischen Versagens.

    Angesichts des Holocaust werden sowohl die zeitgenössische Einschät-zung der Lage in Deutschland und der Notwendigkeit der Emigration als auch die Bemühungen der deutschen und internationalen jüdischen Orga-nisationen, diese Emigration zu organisieren, als eine Geschichte des Schei-terns wahrgenommen. Dies geschieht vor allem dadurch, dass die jüdische Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland als Rettung vor der Ermordung verstanden wird. Wie viele Menschen mehr hätten gerettet werden können, gilt somit als eine der Leitfragen der heutigen Forschung.35

    35 Ainsztein, How Many More Could Have Been Saved (1967). Zur besseren Orientierung steht im Kap. »Zum Stand der Forschung« das Erscheinungsjahr hinter dem Titel.

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    Die Frage nach den Rettungsmöglichkeiten korrespondiert mit dem zwei-ten Vorbehalt der bestehenden Forschung: der Frage nach Schuld, Verant-wortung und Moral. Auch hierbei ist der Holocaust Ausgangspunkt einer Perspektive, die die Handlungen der Protagonisten der Dreißigerjahre an den nachfolgenden Ereignissen misst. Immer wieder wird nach der Ver-antwortung der westlichen Welt  – insbesondere der Vereinigten Staaten und Großbritanniens –, des weltweiten Zionismus – besonders der Jewish Agency for Palestine (JA) –, der internationalen jüdischen Organisationen, aber auch der deutschen Juden gefragt. Diese Fragen sind nicht unberech-tigt und doch kann das moralische Urteil die historische Erkenntnis ver-stellen. In einigen Studien wird die Verantwortung gar in Komplizen- oder Mittäterschaft transformiert: »Die Nazis waren die Mörder, aber wir ließen sie gewähren«,36 heißt es beispielsweise bei David S. Wyman. Ralph Wein-garten wiederum spricht von der »Hilfeleistung der westlichen Welt bei der Endlösung der deutschen Judenfrage«37 und William R. Perl unterstellt gar eine »holocaust conspiracy«, eine Verschwörung der westlichen Welt zur Unterstützung des deutschen Judenmords.38 Auch wenn man das Verhalten der Alliierten bei der Hilfe für die europäischen Juden durchaus kritisieren kann, sind die zitierten Urteile unzulässige Überspitzungen.39 Von der An-gemessenheit solcher Urteile und Begriffe abgesehen, kann dieser verbreitete Ansatz zu den hier interessierenden Fragen von Selbstbestimmung, Emigra-tionsplänen und -planungen sowie zu den zeitgenössischen Analysen der politischen Situation wenig beitragen. Diese Forschungstradition hat sich vornehmlich in den letzten Jahrzehnten gefestigt und damit gleichzeitig eine andere Forschungstradition überformt, die in den ersten Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs maßgeblich war.

    36 Wyman, Das unerwünschte Volk (2000), 7.37 Weingarten, Die Hilfeleistung der westlichen Welt bei der Endlösung der deutschen

    Judenfrage (1981).38 Perl, The Holocaust Conspiracy (1989). Auch Timothy Maga spricht von der »American

    and French complicity in the deaths of millions of helpless Europeans during the era of the Second World War.« Ders., America, France, and the European Refugee Problem 1933–1947 (1985), IV.

    39 Eine ganze Forschungstradition, v. a. in den Vereinigten Staaten, widmet sich seit den Sechzigerjahren den Fragen von Verantwortung und Schuld sowie dem »Versagen« der westlichen Staatenwelt und der jüdischen Organisationen: Morse, While Six Million Died (1968); Anton-Heinz Schmidt, Evian 1938 n. Chr. – wohin mit den Juden? (1998); Beit-Zvi, Post-Ugandan Zionism on Trial (1991); Lookstein, Were We Our Brothers’ Keepers? (1985); Wells, Und sie machten Politik (1989); Medoff, FDR and the Holocaust (2013). Diese Positionen sind kritisiert worden v. a. von Rubinstein, The Myth of Rescue (1997), und Bauer, Holocaust Rescue Revisited (2013). Für den zionistischen Jischuw vgl. Friling, Arrows in the Dark (2005). Sehr ausgewogene Positionen nehmen v. a. Henry L. Feingold und Yehuda Bauer ein: Feingold, Bearing Witness (1995); Bauer, Jewish Reactions to the Holocaust (1989).

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    Frühe Forschung zu Emigration und Nationalsozialismus

    Die frühe Forschung zum Nationalsozialismus und der jüdischen Emigra-tion aus dem nationalsozialistischen Deutschland beschäftigte sich vor al-lem mit den politischen Strukturen der deutschen Juden und untersuchte ihren Gegenstand im Kontext einer »Geschichte des deutschen Judentums«. Diese Forschung wurde nahezu ausschließlich von Personen geleistet, die in den Zwanziger- und Dreißigerjahren selbst Führungspositionen in den jü-dischen Organisationen Deutschlands eingenommen hatten. Ihre Quellen bestanden vorwiegend aus eigenen Erinnerungen, aus Interviews und Ge-sprächen sowie dem jeweiligen Privatarchiv. Diese Arbeiten sind damit zwi-schen Primär- und Sekundärquelle angesiedelt. Ihnen wird in dieser Studie eine besondere Bedeutung zugemessen, weil sie größtenteils eine Perspektive einnehmen, die auch der vorliegenden Arbeit zugrunde liegen soll. Sie be-schreiben die Geschichte der Emanzipation in Deutschland und untersuchen in diesem Zusammenhang maßgeblich die jüdischen Entwicklungen. Dabei beziehen sie sich auf Erfahrungsschätze, die sie in der »Emanzipationszeit«, von der Mitte des 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert also, gewonnen haben.

    Um die Mitte der Vierzigerjahre entstanden erste Studien zu Migration und Vertreibung im Allgemeinen und zur jüdischen Emigration aus dem nationalsozialistischen Herrschaftsbereich im Besonderen.40 In ihnen wur-den aktuelle Probleme von Vertreibung, Umsiedlung, Staatenlosigkeit und Repatriierung beschrieben und analysiert. Diese Arbeiten waren in prakti-scher Absicht verfasst, um für die internationale Staatengemeinschaft hand-lungsleitend zu sein. Die Autoren der Studien waren selbst in die Emigrati-ons- und Flüchtlingshilfe involviert.

    Diesen frühen Studien folgten lange Zeit kaum weitere Forschungsarbei-ten. Die längeren Abschnitte zur Emigration aus dem nationalsozialisti-schen Deutschland in Wischnitzers Studie To Dwell in Safety (1948)41 und im von Arieh Tartakower und Kurt R. Grossmann verfassten Werk The Jewish Refugee (1944)42 sollten für lange Zeit die einzigen Standardtexte zur Erfor-schung der jüdischen Emigration bleiben. Ergänzt wurden sie lediglich durch kleinere Aufsätze anderer Autoren und thematisch begrenzte Einzelstudien.43

    40 Simpson, The Refugee Problem (1939); Kulischer, The Displacement of Population in Europe (1943); ders., Jewish Migrations (1943); Tartakower/Grossmann, The Jewish Re-fugee (1944); Schechtman, European Population Transfers, 1939–1945 (1946); Kulischer, Europe on the Move (1948); Wischnitzer, To Dwell in Safety (1948).

    41 Wischnitzer, Die jüdische Wanderung unter der Nazi-Herrschaft 1933–1939 (zuerst: ders., To Dwell in Safety [1948]), 171–223.

    42 Tartakower/Grossmann, The Jewish Refugee (1944).43 Rosenstock, Exodus 1933–1939 (1959); Prinz, The Role of the Gestapo in Obstruction and

    Promoting Jewish Emigration (1958); Ernst Marcus, The German Foreign Office and the

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    In den Fünfziger- und vor allem ab den Sechzigerjahren erschienen erste Arbeiten zu Teilaspekten der Emigration wie der Jugendalija, der illega-len Immigration nach Palästina oder der Hilfstätigkeit jüdischer Organisa-tionen in Großbritannien.44

    Doch erst im Jahr 1969 legte Grossmann eine Geschichte der Hitler-Flüchtlinge vor, die den ersten Versuch darstellt, eine allgemeine Geschichte der politischen und jüdischen Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland zu schreiben.45 Auch Grossmann war in den Jahren 1933 bis 1945 einer der wichtigsten Akteure der internationalen Emigrations- und Flüchtlingshilfe. Dies spiegelt sich unmittelbar in der Anlage der Arbeit wi-der, die Sekundärquelle und Autobiografie in einem ist. Es sind vor allem seine persönlichen Erfahrungen in der Emigrations- und Flüchtlingshilfe, die die empirische Basis der Studie bilden. Neben diesen ist das Werk mit vielen Berichten und persönlichen Zeugnissen anderer Personen  – Emig-ranten und Emigrationshelfer – angereichert. Auf weitere Sekundärquellen wird nur vereinzelt zurückgegriffen. Trotz dieser Mischform aus Primär- und Sekundärquelle und der Verbindung zur eigenen Emigrationshilfe ist diese Arbeit bis heute ein Standardwerk über die jüdische Emigration aus Deutschland.

    Die Geschichte der Hitler-Flüchtlinge ist paradigmatisch für die frühen Forschungen zum Nationalsozialismus. Diese konzentrierten sich zumeist auf die Zeit von 1933 bis 1938, in der ein institutionell-politisches Leben der Juden möglich war. Die in dieser Zeit entstandenen Arbeiten wurden fast ausschließlich von jüdischen Protagonisten der Zwanziger- und Drei-ßigerjahre verfasst. Sie waren so auch Reflexionen ihrer eigenen politischen Arbeit in Deutschland bis zur Emigration und häufig in autobiografischer Form erschienen.46 Des Weiteren entstanden mehrere Forschungsarbeiten zur institutionellen Struktur und politischen Geschichte des deutschen

    Palestine Question in the Period 1933–1939 (1958). Werner Rosenstocks Aufsatz gilt bis heute als Standardwerk insbesondere hinsichtlich des darin enthaltenen Zahlenmaterials. Die Aufsätze von Arthur Prinz und Ernst Marcus sind Berichte ihrer Tätigkeit als Ver-treter des HV (Prinz) und des Palästinaamts (Marcus) und damit eher als Primärquellen zu verstehen.

    44 Kimche/Kimche, The Secret Roads (1954); Bentwich, They Found Refuge (1956); Freier, Let the Children Come, o. J. [um 1961].

    45 Grossmann, Emigration (1969). Diese Arbeit ist gleichzeitig eine Erweiterung seiner be-reits 1944 zusammen mit Arieh Tartakower vorgelegten Studie The Jewish Refugee.

    46 Warburg, Aus meinen Aufzeichnungen (1952); Schoeps, Die letzten dreißig Jahre (1956); Bentwich, My 77 Years (1961); Blumenfeld, Erlebte Judenfrage (1962); Rosenblüth, Go Forth and Serve (1961); Goldmann, Staatsmann ohne Staat (1970). 1980/81 erschien die zweibändige, vollständig überarbeitete und erweiterte Autobiografie Goldmanns: ders., Mein Leben als deutscher Jude; ders., Mein Leben; Lichtheim, Rückkehr (1953/1970).

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