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4-2012 kontinente 27 REPORTAGE ALBTRAUM IM PARADIES US-Amerikaner und Europäer erleben in Cancún ihren mexika- nischen Traumurlaub – auf Kosten tausender Arbeiter in der Tourismusindustrie. An deren Seite stehen die Kapuziner. TEXT: SANDRA WEISS FOTOS: FLORIAN KOPP

REPORTAGE4-2012kontinent e •31 REPORTAGE „JungeMädchenundjungeMännerhabenkeine Zeitsichkennenzulernen.” LorenzoHoma,24,ChefkochundSlumbewohner

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Page 1: REPORTAGE4-2012kontinent e •31 REPORTAGE „JungeMädchenundjungeMännerhabenkeine Zeitsichkennenzulernen.” LorenzoHoma,24,ChefkochundSlumbewohner

4-2012 kontinente • 27

REPORTAGE

ALBTRAUMIMPARADIESUS-Amerikaner und Europäer erleben in Cancún ihren mexika-nischen Traumurlaub – auf Kosten tausender Arbeiter in derTourismusindustrie. An deren Seite stehen die Kapuziner.

TEXT:SANDRAWEISS FOTOS:FLORIANKOPP

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S chweißperlen glitzern auf seiner Stirn.Unter den sehnigen Oberarmenzeichnen sich die Muskeln ab. Den

feinen, warmen Sand, auf dem er sitzt, spürtJosé Francisco Saucedo nicht. Seine Händeumklammern denRand eines gestrandeten Fi-scherbootes. Einmal noch atmet er tief durch,dann versucht er den Kraftakt: Aufstehen.Seine dunklen Augen sind zu einem

schmalen Schlitz zusammengekniffen, dieZähne hat er fest aufeinandergebissen. Mitaller Kraft strebt der athletische Oberkörpernach oben und versucht, den dünnen, kraft-losen Beinchen seinen Willen aufzuzwingen.Doch heute klappt es nicht. Enttäuscht undermattet lässt sich José Francisco zurück-sinken indenSandvonCancún.Undverfluchtjenen 24. Dezember, der sein Leben auf denKopf stellte.Aufstehen? Darüber hatte sich der 46-Jäh-

rige nie groß Gedanken gemacht. Nie ließ ihnseindurchtrainierterKörper imStich.Nicht alstorjagender Steppke, nicht als tollkühner �

Traumkulisse:José Francisco sehntsich nach demMeer.Er wünscht sich seineGesundheit zurück.

Arbeitsleben:Die Kinder helfenihren Familien durcheigene Jobs.

REPORTAGE

Elitesoldat, selbst dann nicht, als ihm damalsindenBergen imtiefenHinterlandMexikosdieKugeln der Drogenmafia um die Ohren flogenund sich eine in seinen Bauch bohrte.Nach der Schussverletzung ließ er es

ruhiger angehen, quittierte den Dienst,siedelte sich mit Frau und fünf Kindern inCancún an. „Das Meer hat es mir angetan“,sagt der Mann, der aus dem trockenen Hoch-land Zentralmexikos stammt. Der Horizont,das Rauschen der Wellen, die Schreie derMöwen. Das sind die Dinge, die ihm auchheute noch Trost geben. Die er beobachtet,wenn er stundenlang in seinem Rollstuhl vordem Haus der Fischerkooperative sitzt undseinen Blick in die Ferne schweifen lässt. Bisdahin, wo Meer und Himmel ineinander ver-schmelzen, ein türkis-blaues Aquarell. Dortam Horizont ist sein Freund Jesús Izcaldeunterwegsmit seinemhölzernenKahn.Frühersind sie oft zusammen hinausgefahren.Nur noch ein kleiner, schwarzer Punkt ist

von Jesús zu sehen. Mit gewagten Manövern

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REPORTAGE

„JungeMädchen und jungeMänner haben keineZeit sich kennenzulernen.”

Lorenzo Homa, 24, Chefkoch und Slumbewohner

kreuzt er zwischen den Felsen, die so tückischknapp unter derWasseroberfläche liegen, undversucht,denRaubfischBarracudaausseinemVersteck zu locken. Hinter ihm das fröhlicheGeschrei der badenden Touristen und dieimposante Skyline der Hotelmeile vonCancún.

DieKinder sollen esmal besser habenEin Paradies, ein Geniestreich, ein Albtraum.Eine Retortenstadt, vor vier Jahrzehnten ausdem Boden gestampft von fantasievollenStädteplanern, korrupten Politikern undskrupellosen Bodenspekulanten. Ein zweitesMiami sollte es werden. Inzwischen hatCancúndemVorbild fastdenRangabgelaufen:über 70000 Hotelzimmer, eine Belegung von70 Prozent, sechseinhalb Millionen Besucherim Jahr 2011. Cancún ist das goldene Kalb desmexikanischen Tourismus; mit 5,2 MilliardenUS-Dollar der drittwichtigste DevisenbringernachdenGeldsendungenderausgewandertenMexikaner und dem Erdöl.Eine Stadt, die wächst wie ein Geschwür.

Um zehn Prozent nimmt die Bevölkerungjedes Jahr zu. Dort, wo gestern noch Busch-land war, ist morgen schon ein neues Viertel.Krankenhäuser, Kanalisation, Müllabfuhr,Schulen–mitdernötigen Infrastrukturkommtdie Stadtverwaltung kaum nach.Gegen Moskitos und die Sümpfe an-

kämpfend, errichteten Tausende vonArbeitern damals breite Prachtboulevards,denFlughafen,Strom-undWasserversorgung.Der Staat baute die ersten Hotels, die Urlauberkamen und in ihrem Schlepptau die Arbeits-suchenden aus ganz Mexiko. „Heerscharen

von Entwurzelten“, wie Kapuziner-BruderRodolfoVeith sienennt. SowieNicanorHoma.Auch er kam damals, 1985, aus dem kleinenIndigenadorf Spit-Há. Dort gab es nichts, nurElend und die Knochenarbeit auf dem Feld.Und wenn es nicht genügend regnete, wasoft geschah, verdorrte die Ernte und dieMenschen hungerten.Cancún, das war für den Grundschul-

abbrecher Abenteuer und Verheißung.Nicanor rodete Mangrovensümpfe und grubAbwässerkanäle.Dannarbeitete er als Kellner,als Küchenjunge, stieg auf zum Koch undbrachte esbis zumEinkäufer der Fleischwareneines großen Hotels. Arbeitskräfte warendamals rar gesät, die Hotels überboten sich,um einander gute Leute abzuwerben. Nachein paar Jahren holte Nicanor seine Frau ausSpit-Há und den ältesten Sohn, der jüngstewurde inCancúngeboren. „Es gingmirumdieKinder, sie sollten etwas lernen und es einmalbesser haben“, sagt der kleine, drahtige Mannund blickt stolz auf seine beiden Söhne,Lorenzo, 24, und Antonio,12.Der jüngere geht noch zur Schule, der ältere

ist in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Erist Koch in einem internationalen Hotel. Aucher hat als Tellerwäscher angefangen. Auch erhat Demütigungen, Beschimpfungen, Dis-kriminierung und Ausbeutung über sich er-gehen lassen. Die goldenen Zeiten der

Tourismusangestellten liegen mehr als 20Jahre zurück. Inzwischen beherrschen in-ternationale Hotelketten, vor allem ausSpanien, die Karibikküste. Drei-Monats-Ver-träge, damit der Angestellte keine AnsprücheaufsozialeAbsicherungoderVergünstigungenwie Urlaub und Weihnachtsgeld erhält, sinddie Regel. Unbezahlter Zwangsurlaub in derNebensaison, unbezahlte Überstunden in derHauptsaison. Alles mit Einverständnis derkorrupten Gewerkschaftsführer. Lorenzo hatdas jahrelang mitgemacht. Inzwischen hat esder ruhige, ernsteManngeschafft. Erhat einenFestvertrag, verdientmonatlich rund 300 Euro– den dreifachen Mindestlohn – plus Trink-und Weihnachtsgeld, und ist sozial abge-sichert. Damit gehört er zum Drittel derPrivilegierten der Tourismusindustrie.

Heimat fürNomaden auf der DurchreiseLorenzo lebt noch bei der Familie, in einerpalmbedeckten Hütte mit zwei Zimmern undAußen-Plumpsklo. Er schläft in einer Hänge-matte und vertreibt sich die wenige Freizeitmit Fernsehen. Manchmal kocht er in derkleinen Nische am Gasherd, eingeklemmtzwischen Kühlschrank und Esstisch. Amliebsten yucatekisch, mit Eiern gefüllte Mais-fladen, Zitrus-Hühnersuppe, scharf-würzigesSchweinefleisch. Manchmal arbeitet erdoppelte Schicht, von 7 bis 23 Uhr. Einen Tag

Beistand (li.):Bruder RodolfoVeith (li.) besuchtNicanor HomasFamilie.

Haus-Verkauf (M.):Nicolasa verkauftzuHauseeigeneSüßigkeiten.

Zuhause (re.):Als Provisoriumgedacht – zurHeimat geworden.

in derWochehat er frei.Dannerledigt Lorenzomeist Behördengänge. Zeit für eine Verlobte?„Nicht wirklich“, sagt der stämmige Mannmit dem runden Kindergesicht lächelnd. Aberimmerhin: ein eigenes Häuschen zahlt ergerade an. Sozialer Wohnungsbau, 50 Qua-dratmeter, so groß wie ein Zimmer in demLuxushotel, in dem er arbeitet. „Hier arbeitendie meisten jungen Mädchen unter ähnlichenBedingungen imTourismus,manhat garkeineZeit, sich kennenzulernen“, sagt Lorenzo.„Moderne Sklaverei“, murmelt sein Vater

aus der Hängematte. Mit Mitte 40 bekam erDiabetes und wurde zu alt für den Stress. DasHotel, indemerdamalsarbeitete, suchteeinenVorwandund entließ ihn schließlich. Plötzlichstand der Ernährer der Familie auf der Straße,ohne Ersparnisse, und musste von vorne an-fangen. Schließlich kam er bei der städtischenMüllabfuhr unter. Schicksale, wie RodolfoVeith sie zu Dutzenden kennt. Seit siebenJahren betreut er die kleine Mission derKapuziner im Norden der Millionenstadt.Dort, wo die Prachtboulevards zu Sandpistenwerden, wo statt eleganter Hotels kleine,palmbedeckte Blechhütten stehen. Diemeisten Siedlungen sind illegale Landbeset-zungen. Ein paar Hütten, auf die Schnelle zu-sammengeschustert von den Zuwanderern.Ohne Strom, ohneWasser, ohne Telefon.El Esfuerzo, die Strapaze, ist so ein Ort

voller Träume und Entbehrungen, errichtetvon Menschen mit der Hoffnung, schnell zuGeldzukommenunddannals reicheLeutezu-rückzukehren indieHeimat.NomadenaufderDurchreise. Ihnen einen Halt, ein bisschenHeimat geben, darumgeht esdenKapuzinern.

Touristenhochburg:Cancún ist eines der erfolgreichsten Urlaubszentren derWelt.

Scheinwelt: ImHotel ist Lorenzo Homa der vielsprachige Chef. Doch er lebt amRande der Armut.

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MEXIKO

ZAHLENUNDFAKTENStruktur:Mexiko heißt offiziell „VereinigteMexikanische Staaten“ und ist eineBundes-republik, die aus 31Bundesstaaten und demHauptstadtdistriktMexicoCity besteht.Staatsform:Präsidiale Bundesrepublik.Fläche: 1 972 550 Quadratkilometer, dasfünftgrößte Land auf dem amerikanischenDoppelkontinent.Einwohner:Rund 122,322Millionen.Religionen: 87 Prozent Katholiken,7,5%Protestanten; 3,5%Religionslose;0, 36%Sonstige.Cancún:Bis in die 1950er-Jahre war Cancúneine weitgehend unberührte Insel derKaribikküstemit einigen Fischerdörfern undpräkolumbianischen Ruinen derMaya. Ab1969 schufen der Staat und Privatinvestorenihren Gegenpol zumUS-amerikanischenMiami und demmexikanischen Acapulco.

LÄNDERINFO

„NächstesWeihnachten, dawerde ichsicherwieder laufen.”

José Francisco, 46, gelähmter ehemaliger Fischer

Oft sind Veith und seine Mitbrüder in denVierteln unterwegs, organisieren Kultur-festivals und kirchliche Feiern oder hören sichdie Sorgen der Menschen an. Entwurzelung,Diskriminierung, zerrüttete Familien, Pros-titution, Drogen und Alkoholabhängigkeit –das ist die Schattenseite von Cancún.Nicanorwohnt auchnach25 Jahrennoch in

El Esfuerzo – und arbeitet bei der Müllabfuhr.Andere Nachbarn, ebenfalls zu alt für dieSchinderei im Tourismus, verkaufen Mais-fladen amBusbahnhof, arbeiten als Klempneroder fliegende Händler an der vor kurzemasphaltierten Ausfallstraße. Aber immerhingibt es inzwischen Strom, einenKindergarten,eine Schule und eine Bushaltestelle.

Niemandwill hinter die Fassade schauenJedenTagumdieMittagszeitbeginntLorenzosMetamorphose. Wenn er sich mit kaltemWasser aus dem Eimer frischmacht und einneues Hemd anzieht, sich von der Mutter miteinem Kuss verabschiedet. Vorne an derAsphaltstraße steigt er in den überfüllten, sti-ckigen Minibus, im Stadtzentrum in einengrößeren, klimatisierten, der in die Hotelzonefährt. Und wenn er dort seine eleganteschwarze Uniform anzieht, die Kochmützeaufsetzt und zum „Chef“ mutiert, der seinenGästen im eleganten italienischen RestaurantSpaghetti mit Trüffelsoße und Langusten aufschwarzen Tintenfisch-Linguini kredenzt.„Für dieTouristenmüssenwir schick sein,wiees hinter der Fassade aussieht, interessiert

nicht“, sagt Lorenzo. Leise Pianomusik, vieleKerzen, viele Kellner. Eine Luxuswelt, in dereine Languste so viel kostet wie er in derWoche verdient.Überhaupt die Langusten. Für José

Francisco ein Fluch, für die Gäste aus Nord-amerika und Europa eine Delikatesse. 300Pesos, knapp 20 Euro, kostet ein Krustentierauf dem Markt. 56 Langusten hatte Franciscoin seinemNetz, als er an diesem verflixten 24.

Dezember auftauchte aus fast 30MeternTiefe.Dezember ist der beste Monat, wenn dienachtaktiven Meerestiere auf Wanderschaftgehen. Aber es ist auch der gefährlichste fürdie Fischer. Denn dann blasen heftige Nord-winde. Francisco wusste das, aber er fühltesich sicher. Hundertfach war er schon in derTiefe gewesen. Er kannte die Gewässer. Erwareiner der Besten. Doch jeder Tauchgang mitden alten Schläuchen, dem stotterndenGenerator und den einfachen Tauchermaskenist von Neuem ein Spiel mit dem Schicksal.Unddannpassiertees. „Es fühlte sichan,als

öffne man eine geschüttelte Sprudelflasche.“Franciscos Kräfte schwanden, seine Begleitermussten ihn ins Boot hieven, wo erbewegungslos zusammensank: Taucher-krankheit. „Es ist, als brenne man von innen.Aber ich habe die Zähne zusammengebissenund nicht geschrien.“ Kauman Landwurde ervon den Kollegen der Fischereikooperative indie Überdruckkammer des örtlichen Kranken-hauses gebracht. Er überlebte, doch seither ister an den Rollstuhl gefesselt. Früher konntesich Francisco dankdesHungers der Touristenauf Langusten ein wenig Luxus leisten: einMotorrad, ein teures Handy, Privatschulen fürdie Kinder. Damit ist es jetzt vorbei. Frau undKinder haben ihn verlassen, sind in dieHaupt-stadt gezogen. Damit er nicht verrückt wirdallein zu Hause, holen ihn jeden Tag seineFischerfreunde ab und nehmen ihn mit in dieKooperative. Sie teilen dort ihr Essen mit ihm,schenken ihm ab und zu ein paar Fische oderstecken ihm ein paar Münzen zu. Und da sitzt

Ausgemustert:DenHotels wurdeNicanor Homa zu alt. Nun arbeitet er bei derMüllabfuhr.

Seelsorge:Die Kapuziner geben den Ausgebeuteten der Tourismusindustrie Trost und Zuwendung.Luxusgut: Touristen zahlen gern für Langusten. Schinderei: José Francisco will seinen Körper unbedingt zur Gesundung zwingen.

Francisco tagaus, tagein und blickt aufs Meer.Einmal die Woche geht er in die Überdruck-kammer, jeden zweitenTag robbt er durch denSand und versucht, seinen geschundenenKörper wieder zu normalen Bewegungen zuzwingen. Anfangs schämte er sich, in-zwischen sind ihm die spöttischen Kom-mentare der anderen Fischer so egal wie dieSchmerzen und Krämpfe nach jeder Übung.„Nächstes Weihnachten, da werde ich ganzsicher wieder laufen“, sagt er trotzig.

REPORTAGE