12
19.04.2008 PHANTASTENMUSIK TEODORO ANZELLOTTI TAMARA STEFANOVICH ANDREAS STAIER

4245 DNW 04 PRO05 iNet - Norddeutscher Rundfunk · OLIVIER MESSIAEN (1908 – 1992) Auszüge aus „Catalogue d’oiseaux“ für Klavier (1956 – 1958) L’alouette calandrelle

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: 4245 DNW 04 PRO05 iNet - Norddeutscher Rundfunk · OLIVIER MESSIAEN (1908 – 1992) Auszüge aus „Catalogue d’oiseaux“ für Klavier (1956 – 1958) L’alouette calandrelle

19.0

4.2

00

8

PHAN

TAST

ENM

USI

KTE

OD

OR

O A

NZE

LLO

TTI

TA

MA

RA

STE

FAN

OV

ICH

A

ND

REA

S S

TAIE

R

Page 2: 4245 DNW 04 PRO05 iNet - Norddeutscher Rundfunk · OLIVIER MESSIAEN (1908 – 1992) Auszüge aus „Catalogue d’oiseaux“ für Klavier (1956 – 1958) L’alouette calandrelle

EDITORIAL

KONZERTVOM LESEN DER GESCHICHTE(N) – WERKE FÜR CEMBALO, HAMMERFLÜGEL,

KLAVIER UND AKKORDEON AUS FÜNF JAHRHUNDERTEN

BIOGRAFIEN

VORSCHAU

IMPRESSUM

03

08

04

PHANTASTENMUSIK

05

10

11

Ausschnitte dieses Konzerts werden am 31. Mai ab 22.05 Uhr

auf NDR Kultur übertragen; zuvor gibt es an diesem Abend

ab 20.05 Uhr eine Ausgabe von PRISMA MUSIK unter dem Titel

„Ein Klavier! Ein Klavier!“.

Page 3: 4245 DNW 04 PRO05 iNet - Norddeutscher Rundfunk · OLIVIER MESSIAEN (1908 – 1992) Auszüge aus „Catalogue d’oiseaux“ für Klavier (1956 – 1958) L’alouette calandrelle

Andreas Staier ist zweifellos der führende deutsche Spezialist

für die Spielpraxis und Klangwelt des Hammerflügels – seine

Interpretationen haben ihm längst weltweite Reputation einge-

bracht. Tamara Stefanovich, die in der Reihe NDR das neue werk

zuletzt mit György Ligetis Klavierkonzert zu erleben war, hat sich

in einer wahrlich rasanten Karriere an die Spitze der internatio-

nalen Pianistenzunft gespielt. Und Teodoro Anzellotti, der dem

modernen Akkordeon als Konzertinstrument unerhörte Facetten

erschlossen und wichtige Kompositionen uraufgeführt hat (mehr

als 300 neue Werke wurden für ihn geschrieben), ist der bekann-

teste Akkordeonist unserer Zeit.

Ich freue mich also sehr, dass diese drei Künstler für ein gemein-

sames Konzert der Reihen NDR Das Alte Werk und NDR das

neue werk gewonnen werden konnten. Sie widmen sich in einem

großen Programm virtuoser Musik für Cembalo, Hammerflügel,

Klavier und Akkordeon aus fünf Jahrhunderten, und sie werden

auch einigen Nebenwegen des Repertoires nachgehen. Teodoro

Anzellotti wird dabei ein Auftragswerk des NDR aus der Taufe

heben: Die „Wiegenlieder“ von Brice Pauset.

Ich wünsche Ihnen einen anregenden Konzertabend im Rolf-

Liebermann-Studio!

EDITORIAL

ROLF BECK

Leitung Bereich Orchester und Chor des NDR

Page 4: 4245 DNW 04 PRO05 iNet - Norddeutscher Rundfunk · OLIVIER MESSIAEN (1908 – 1992) Auszüge aus „Catalogue d’oiseaux“ für Klavier (1956 – 1958) L’alouette calandrelle

ROLF-LIEBERMANN-STUDIO DES NDR

OBERSTRASSE | 20 UHR

KONZERTANDREAS STAIER, Cembalo und

Hammerflügel

TAMARA STEFANOVICH, Klavier

TEODORO ANZELLOTTI, Akkordeon

BRICE PAUSET (*1965)

Kontra-Sonate für Hammerflügel (2000)

I. Movement

FRANZ SCHUBERT (1797 – 1828)

Sonate a-moll op. 42 D 845 für Hammerflügel

(1825)

I. Moderato

II. Andante, poco mosso

III. Scherzo. Allegro vivace

IV. Rondo. Allegro vivace

BRICE PAUSET

Kontra-Sonate für Hammerflügel (2000)

II. Movement

— Pause —

OLIVIER MESSIAEN (1908 – 1992)

Auszüge aus „Catalogue d’oiseaux“ für Klavier

(1956 – 1958)

L’alouette calandrelle (Die Kurzzehenlerche)

Le Loriot (Der Pirol)

Le courlis cendré (Der Große Brachvogel)

Le traquet rieur (Der Trauersteinschmätzer)

— Pause —

JOHANN JACOB FROBERGER

(1616 – 1667)

Suite VI C-Dur FbWV 612

„Lamento sopra la dolorosa perdita della Real

Maestà di Ferdinando IV“ für Cembalo (1656)

(Lamento) – Gigue – Courante – Sarabande

„Tombeau fait à Paris sur la mort de Monsieur

Blancheroche, lequel se joue fort lentement a la

discrétion sans oberserver aucune mesure “

FbWV 632 (1652)

bearbeitet für Akkordeon

BRICE PAUSET

Wiegenlieder für Akkordeon (2008)

Uraufführung, Auftragswerk des NDR

JOHANN JACOB FROBERGER

Lamentation „sur ce que j’ay été volé et se joue

à la discrétion et encore mieux que les soldats

m’ont traité“ aus der Suite XIV g-moll FbWV 614

(ca. 1652)

bearbeitet für Akkordeon

DOMENICO SCARLATTI

(1685 – 1758)

Sonata Es-Dur Andante e cantabile K 474

(ca. 1745)

Sonata G-Dur Allegro K 105 (ca. 1735)

Sonata H-Dur Vivo K 262 (ca. 1750)

bearbeitet für Akkordeon

LUCIANO BERIO (1925 – 2003)

Sequenza XIII

(Chanson) für Akkordeon (1995/1996)

Moderation: Habakuk Traber

SAMSTAG, 19.04.08

PHANTASTENMUSIK

PH

AN

TAS

TEN

MU

SIK

04KONZERT

in Kooperation mit

NDR Das Alte Werk

Page 5: 4245 DNW 04 PRO05 iNet - Norddeutscher Rundfunk · OLIVIER MESSIAEN (1908 – 1992) Auszüge aus „Catalogue d’oiseaux“ für Klavier (1956 – 1958) L’alouette calandrelle

VOM LESEN DER GESCHICHTE(N)

„Gegenstand, Stoff, Aufgabe einer künstlerischen Darstellung“,

so lautet die einschlägige Duden-Definition des Begriffes „Su-

jet“. Den Werken des heutigen Abends ist gemeinsam, dass sie

in ganz unterschiedlicher Weise auf Sujets bezogen sind. Eine

solche Vorlage kann rein musikalischer Art sein, wie dies in

Brice Pausets Kontra-Sonate zu Schuberts Sonate D 845 der Fall

ist. Es kann sich dabei aber auch um das möglichst getreue Ab-

bild eines Naturphänomens handeln, wie bei Messiaens akri-

bischer Transkription von Vogelstimmen. Einen ähnlichen Hang

zum Realismus hatte auch der große Geschichtenerzähler der

barocken Klaviermusik, Johann Jacob Froberger, der in seinen

Suiten allerdings lieber denkwürdige Begebenheiten aus seinem

Leben detailgetreu in Töne setzte. Domenico Scarlatti und der

Vater der musikalischen Postmoderne, Luciano Berio, nutzten

dagegen Stilschablonen und instrumententypische Wendungen

als Vorlage und Ausgangspunkt für ihre Musik. Unterschiedlich

stark gebrochen und verwandelt klingen in den Werken des heu-

tigen Abends also entweder die Stimme der Natur, Flamenco-

gitarren, Kneipenklänge oder Klassiker der Klavierliteratur mit.

Eine in Worten zu erzählende Geschichte, einschlägig bekannte

Musik oder idiomatische Spielweisen werden in ein anderes

Medium, in den Gesamtzusammenhang eines neuen Stückes

oder auf ein anderes Instrument verpflanzt.

Für den 1965 in Besançon geborenen Brice Pauset ist die Mu-

sikgeschichte das zentrale Thema seiner Arbeit. In einer Zeit, in

der gleichzeitig und gleichberechtigt die verschiedensten Stile

nebeneinander bestehen und das Musikerbe der Menschheit in

kritischen Ausgaben und auf Tonträgern nahezu beliebig verfüg-

bar geworden ist, arbeitet Pauset sich konsequent an den Denk-

mälern der europäischen Musikkultur ab. „Das kompositorische

Werk steht heute dem Konsum der gesamten kulturellen Ver-

gangenheit gegenüber“, so lautet Pausets Analyse der gegen-

wärtigen Situation. Und entsprechend fällt sein künstlerisches

Credo aus: „Unsere musikalische Zeit ist derart mit der Vergan-

genheit konfrontiert, dass man gezwungen ist, eine Nahtstelle

WERKE FÜR CEMBALO, HAMMERFLÜGEL, KLAVIER UND AKKORDEON AUS FÜNF JAHRHUNDERTEN

OLIVIER

MESSIAEN

05

Page 6: 4245 DNW 04 PRO05 iNet - Norddeutscher Rundfunk · OLIVIER MESSIAEN (1908 – 1992) Auszüge aus „Catalogue d’oiseaux“ für Klavier (1956 – 1958) L’alouette calandrelle

PH

AN

TAS

TEN

MU

SIK

06

zwischen Vergangenheit und heute zu finden.“ Auf diese Heraus-

forderung reagiert Pauset mit dem Entwurf einer Musik über

Musik. Er greift auf große Denkmäler der Tonkunst wie Kanons

von Bach, Suiten von Froberger und Couperin oder eine Sonate

von Schubert zurück, um diese Werke neu zu lesen und sie aus

heutiger Sicht fortzuschreiben. Der Titel von Pausets bekann-

testem Werk spiegelt dabei geradezu programmatisch jene

Idee, die seinem gesamten Œuvre zugrunde liegt: Die acht Rät-

selkanons, die Johann Sebastian Bach seinem berühmtesten

Variationswerk als Anhang beigegeben hat, verarbeitete Pauset

1997 zu seinen „Goldberg-Ausbreitungen“. In der im Jahre 2000

komponierten „Kontra-Sonate“ nimmt Pauset dagegen Franz

Schuberts Klaviersonate a-moll op. 42 zum Ausgangspunkt

eines zweisätzigen Werkes. Pausets Musik funktioniert dabei

wie ein Kommentar, der auf der Basis von Material aus deren

erstem und letztem Satz Schuberts Vorlage einrahmt und in ei-

nen neuen Gesamtzusammenhang stellt. Dass der Alte-Musik-

Experte Pauset dabei für einen historischen Hammerflügel der

Schubert-Zeit schreibt, rückt – wenn Schubert ebenfalls auf

dem historischen Instrument gespielt wird – sowohl seine zeit-

genössischen Klänge als auch unsere längst vom modernen

Konzertflügel geprägten Hörerwartungen in eine neue Perspek-

tive. Seine „Wiegenlieder“ für Akkordeon bezeichnet Pauset

dagegen als späten Abkömmling des barocken „stylus phantas-

ticus“, wobei die Assoziation zu Wiegenliedern in diesem Fall

einmal nicht über eine konkrete musikalische Vorlage begründet

ist, sondern durch die Haltung des Instrumentes, das der Spie-

ler „wie ein Kind“ in seinen Armen wiegt.

Einer der wichtigsten Faktoren im Leben und Schaffen des

Olivier Messiaen war seine franziskanische Zugewandheit zum

großen Buch der Natur. Als echte Forscherleidenschaft äußerte

sich diese Naturliebe in einem ausgeprägten Hang zu enzyklo-

pädischer Vollständigkeit bei ausführlicher Würdigung sämt-

licher Details. So informieren umfangreiche Vorworte den Inter-

preten Messiaenscher Werke genauestens über alle darin vor-

kommenden Vogelarten, deren Lebensumfeld, die Färbung ihres

Gefieders sowie das Verbreitungsgebiet. Naturtreue und orni-

thologische Sorgfalt waren für den Komponisten eine Glaubens-

sache. Und er scheute sich nicht, dem um Authentizität bemüh-

ten Interpreten seines Vogelkataloges frühmorgendliche Wald-

spaziergänge anzuraten. Messiaen selber betrieb solche Studien

mit im Laufe seines Lebens stetig wachsender Gründlichkeit.

Immer mit Notizblock und Notenpapier ausgerüstet, nutzte er

jede Gelegenheit, Vogelstimmen und Naturgeräusche aufzuzei-

chnen, um sie später in seinen Kompositionen zu verwenden.

Eine Frucht dieser musikalischen Feldforschung ist sein „Cata-

logue d’oiseaux“, in dem nicht nur die Stimmen seiner gelieb-

ten Vögel auf das Klavier übertragen werden, sondern zugleich

auch deren Lebensumfeld in Musik gesetzt wird. Für morgend-

liche Sänger wird eine Dämmerung mitkomponiert, wer am Was-

ser nistet, wird samt Wellenbewegungen portraitiert, und wes-

sen Gefieder bunt schillert, den ehrt Messiaen mit dem ganzen

Spektrum seiner raffinierten Harmonik.

„Denn dieser Phantastische Styl ist die allerfreieste und un-

gebundenste Setz- Sing- und Spielart, die man nur erdencken

kann, da man bald auf diese bald auf jene Einfälle geräth […]

An die Regeln der Harmonie bindet man sich allein bey dieser

Schreib-Art, sonst an keine.“ Mit diesen Worten charakterisierte

Johann Mattheson jenen frei schweifenden, an keine Melodie und

keine Taktordnung gebundenen „Stylus phantasticus“, an den

auch der Titel des heutigen Abends gemahnt. Einer der promi-

nentesten Vertreter dieses Stiles war Johann Jacob Froberger,

dessen intime Musik so völlig zwang- und scheinbar formlos

dahinfließt wie ein musikalisches Selbstgespräch. Vermutlich

gerade wegen dieser Freiheit von musikalischen Schemata hat

Froberger seine Musik häufig an eine erzählerische Vorlage

gebunden. Was ihm in seinem Leben als reisender Virtuose in

diplomatischen Diensten begegnete, reflektierte er getreulich

in seinen Suiten. So kann man etwa dank eines 1999 entdeckten

Manuskriptes voll detaillierter Erläuterungen Phrase für Phrase

verfolgen, wie im ersten Satz der Suite XXVII der Sturz eines

Reisegefährten in den Rhein, das Erschrecken der Mitreisenden,

das Gestrampel des Nichtschwimmers und das glückliche Ende

in Noten gesetzt sind.

Frobergers liebstes Thema aber war der Tod. Nicht nur „Ge-

danken über meinen eigenen zukünftigen Tod“ machte er sich,

sondern sein Werk weist auch eine Vielzahl von Lamentos und

Tombeaus auf, die dem Andenken Verstorbener gewidmet sind.

Das Tombeau für Monsieur Blancheroche etwa erzählt die

Page 7: 4245 DNW 04 PRO05 iNet - Norddeutscher Rundfunk · OLIVIER MESSIAEN (1908 – 1992) Auszüge aus „Catalogue d’oiseaux“ für Klavier (1956 – 1958) L’alouette calandrelle

Geschichte von dem mit Froberger befreundeten Lautenisten

Blancheroche, der nach einem Besuch bei der stadtbekannten

Kurtisane Mme de St Thomas von einer Leiter stürzte und auch

durch einen von Froberger eiligst herbeigeholten Arzt nicht

mehr zu retten war. Das Lamento für Ferdinand IV dagegen ist

für dessen Vater Ferdinand III. geschrieben. Der hatte mit dem

frühen Tod seines Sohnes 1654 alle Hoffnungen begraben

müssen, seinen Stammhalter als Kaiser gekrönt zu sehen. Dass

Froberger hier die Tonart C-Dur wählt und dem Lamento drei

Tanzsätze folgen, erklärt man zumeist damit, dass er hier weni-

ger den Toten beklagen als seinem Dienstherren Trost zuspre-

chen wollte. Die Lamentation „sur ce que j’ay été volé …“

schließlich berichtet von den Prügeln, die der reisende Musikus

auf dem Weg von Brüssel nach Löwen von einer Bande lothrin-

gischer Grenzsoldaten bezogen hat.

Das Leben des Domenico Scarlatti war in seltsamer Weise zwei-

geteilt. Bis heute sprechen seine Biografen vom „italienischen“

und vom „spanischen“ Scarlatti, so als würde es sich um zwei

verschiedene Personen handeln. Und in der Tat trennt die bei-

den Lebenshälften des Komponisten ein tiefer Graben. Bis zu

seinem 45. Lebensjahr galt Domenico Scarlatti vor allem als der

Sohn seines großen Vaters, Alessandro Scarlatti. Zwar hatte

sich Domenico bis dahin bereits einen hervorragenden Ruf als

Cembalist erworben und eine stattliche Zahl von Opern, Sin-

fonien und Sakralwerken geschaffen, doch es gelang ihm nie,

ganz aus dem Schatten Alessandros zu treten. Dies änderte sich

erst im Jahr 1729, als Domenico im Gefolge der Prinzessin Maria

Barbara von Portugal nach Spanien übersiedelte. Als Privat-

cembalist der Monarchin schuf Scarlatti in den letzten 27 Jah-

ren seines Lebens jene 555 Kompositionen für Cembalo um

derentwillen er heute einen Ehrenplatz in der Musikgeschichte

und im Herzen vieler Musikliebhaber innehat.

Erst die Begegnung mit der iberischen Musik entfesselte bei

Scarlatti jene kreative Energien, die er im Umfeld des dominan-

ten Vaters nie hatte entfalten können. In der Volksmusik seines

Gastlandes begegneten ihm jene abrupten Kontraste, perkus-

siven Rhythmen, fremdartigen Tonsysteme und dissonanten

Klangballungen, die seine Musik so kühn und unverwechselbar

machen. Und auch seine epochalen Beiträge zur Technik des

Klavierspiels verdanken sich vor allem dem Umstand, dass Scar-

latti den andalusischen Gitarristen sehr genau auf die Finger ge-

sehen hat. Blockartig verschobene Akkorde, wie sei für die Gi-

tarre typisch sind, und Abschnitte in modaler Harmonik prägen

z. B. die Sonate K. 105, die man zu Scarlattis sogenannten „Fla-

menco-Sonaten“ zählt.

Während die tonangebenden Avantgardisten der 1950er- und

1960er-Jahre darauf setzten, die Musik aus dem Geiste mathe-

matischer Rationalität völlig neu zu erfinden, war Luciano Berio

von vornherein ein Verfechter historischer Kontinuität. Statt auf

„Tabula rasa“ setzte Berio auf die „Tendenz, mit Geschichte zu

arbeiten“. Das „bewusste Transformieren historischer ,Mine-

ralien‘“ erhob der geschichtsbewusste Italiener zu seinem Pro-

gramm. Das bekannteste Zeugnis dieses Arbeitens auf einer his-

torischen Folie ist Berios „Sinfonia“ (1968/1969), deren dritter

Satz Takt für Takt auf dem dritten Satz von Gustav Mahlers Zwei-

ter Sinfonie beruht und Mahlers Klänge mit Zitaten aus der Mu-

sikgeschichte von Bach bis Stockhausen überlagert.

Musikalische Erinnerungen, auch solche, die im Klang eines

Instrumentes transportiert werden, sind Berios Material. In der

Sequenza XIII wird das Instrument dabei auch als soziales Phä-

nomen zum Thema. Auf die Herkunft des Akkordeons aus der

populären Musik, auf seine Prägung durch Arbeiterlieder, Tango,

Jazz oder Volkstümliches weist Berio mit dem Untertitel, „Can-

zone/bzw. Chanson“, bewusst hin: „Damit der Interpret versteht,

dass es einen inneren Zusammenhang mit dem populären Ge-

brauch des Instrumentes gibt.“ Speziell für Teodoro Anzellotti

hat Berio mit der Sequenza XIII ein Akkordeonstück geschrie-

ben, in dem Avantgarde und der „sehr einfache idiomatischen

Aspekt des Instrumentes“ sich vereinen. Ein schlichtes, lied-

haftes Thema, das gleichwohl „eiskalt kalkuliert ist“ (Anzellotti),

eröffnet die Sequenza und kehrt im Laufe des Stückes refrain-

artig wieder. An den populären Hintergrund des Akkordeons er-

innern zudem etliche konventionelle Akkorde, die bei Instrumen-

ten älterer Bauart als harmonische Stereotypen fest „einpro-

grammiert“ waren und den eigentümlichen Klang des Akkorde-

ons geprägt haben.

Ilja Stephan

07

PH

AN

TAS

TEN

MU

SIK

Page 8: 4245 DNW 04 PRO05 iNet - Norddeutscher Rundfunk · OLIVIER MESSIAEN (1908 – 1992) Auszüge aus „Catalogue d’oiseaux“ für Klavier (1956 – 1958) L’alouette calandrelle

08 BIOGRAFIEN

Andreas Staier, in Göttingen geboren, stu-

dierte Klavier und Cembalo in Hannover

und Amsterdam. Als Cembalist des

Ensembles Musica Antiqua Köln von 1983

bis 1986 unternahm er internationale Kon-

zertreisen, die ihn in alle europäischen

Länder, nach Süd- und Nordamerika sowie

nach Australien, Neuseeland und Südosta-

sien führten. Zahlreiche Einspielungen, die

während dieser Zeit entstanden, wurden

mit internationalen Preisen ausgezeichnet.

1986 hat sich Andreas Staier endgültig der

freien Solisten-Laufbahn zugewandt und

sich als Cembalo- und Hammerklavier-

Solist einen herausragenden Ruf erworben.

Neben seiner solistischen Tätigkeit arbeitet

er mit vielen bedeutenden Kammermusik-

partnern zusammen wie z. B. Anne Sophie

von Otter, Pedro Memelsdorff, Alexej Lubi-

mov und als feststehendes Trio mit Daniel

Sepec und Jean-Guihen Queyras. Eine

langjährige enge musikalische Partner-

schaft verbindet ihn mit dem Tenor Chris-

toph Prégardien. Als Solist gibt Andreas

Staier regelmäßig Konzerte mit Concerto

Köln, dem Freiburger Barockorchester, der

Akademie für Alte Musik Berlin, dem

Orchestre des Champs-Elysées Paris u. a.

Dabei tritt Andreas Staier regelmäßig bei

den großen internationalen Musikfestivals

auf (Festival de La Roque d'Anthéron, Festi-

val de Saintes, Festival de Montreux, Styri-

arte Graz, Schubertiade Schwarzenberg,

Schleswig-Holstein Musik Festival, Bach-

Fest Leipzig, Bachtage Berlin, Bachwoche

Ansbach, Kissinger Sommer u. a.) sowie auf

vielen großen Konzertbühnen in aller Welt.

Er hat eine Vielzahl von CD-Einspielungen

vorgelegt, die größtenteils mit internatio-

nalen Schallplattenpreisen ausgezeichnet

wurden. Bei Aeon erschien 2004 die Kon-

tra-Sonate von Brice Pauset, die Andreas

Staier im Sommer 2001 zur Uraufführung

brachte.

Tamara Stefanovich, die schon in jungen

Jahren Preisträgerin mehrerer internatio-

naler Wettbewerbe war, gab ihren ersten

Soloabend mit sieben Jahren und erlangte

den Master-Abschluss als Neunzehnjährige

in ihrer Heimatstadt Belgrad. Anschließend

setzte sie ihre Studien bei Claude Frank

am Curtis Institute of Music in Philadelphia

und später bei Pierre-Laurent Aimard in

Köln fort. Außerdem besuchte die Pianistin

Meisterkurse bei herausragenden Musikern

wie bei Mitgliedern des Alban Berg und

des Guarneri Quartetts, bei Richard Goode,

Eugene Istomin, Radu Lupu sowie bei Kom-

ponisten wie Pierre Boulez, George Crumb,

Peter Eötvös und György Kurtag. Heute tritt

Tamara Stefanovich, die seit dem Jahr

2003 regelmäßig mit Pierre-Laurent

Aimard zusammenarbeitet, in den großen

Konzerthäusern der Welt auf. In der Saison

2007/2008 stehen Konzerte u. a. mit dem

Cleveland und dem London Symphony

Orchestra an sowie mit dem Philharmonia

Orchestra London, dem St. Paul Chamber

Orchestra, dem Ensemble MusikFabrik und

der Camerata Salzburg. Dabei spielt Tama-

ra Stefanovich unter Dirigenten wie Pierre

Boulez, Peter Eötvös, Jonathan Nott, Esa-

Pekka Salonen und Etienne Siebens. Tama-

ra Stefanovich hat Meisterkurse und Work-

shops in Hannover, London, Leicester und

Belgrad gegeben. Mit Jimi Tenor hat sie an

ANDREAS STAIER, Cembalo

TAMARA STEFANOVICH, Klavier

Page 9: 4245 DNW 04 PRO05 iNet - Norddeutscher Rundfunk · OLIVIER MESSIAEN (1908 – 1992) Auszüge aus „Catalogue d’oiseaux“ für Klavier (1956 – 1958) L’alouette calandrelle

einem Remix von Ligetis Klavierkonzert

gearbeitet und Werke von York Höller,

Marco Stroppa, Vassos Nicolaou, Johannes

Maria Staud und Peter Eötvös uraufgeführt.

Im süditalienischen Apulien geboren,

wuchs Teodoro Anzellotti in der Nähe von

Baden-Baden auf. Sein Musikstudium im

Fach Akkordeon absolvierte er an den

Musikhochschulen von Karlsruhe und Tros-

singen bei Jürgen Habermann und Hugo

Noth und gewann bald verschiedene inter-

nationale Wettbewerbe. Seit den 1980er

Jahren ist er regelmäßiger Gast bei großen

Festivals und wird als Solist von führenden

Orchestern engagiert, womit Teodoro

Anzellotti wesentlich zur Integration des

Akkordeons in das klassische Musikleben

beigetragen hat. Hierbei stellte er seine

Kunst insbesondere in den Dienst der

Neuen Musik. Durch neue Spieltechniken

hat er die Klangfarben seines Instruments

erheblich erweitert und neue Hörbilder

etabliert. Mehr als 300 neue Werke wurden

für Teodoro Anzellotti geschrieben, u. a. von

George Aperghis, Heinz Holliger, Toshio

Hosokawa, Mauricio Kagel, Michael Jarrell,

Isabel Mundry, Brice Pauset, Gerard Pes-

son, Matthias Pintscher, Wolfgang Rihm,

Salvatore Sciarrino, Marco Stroppa, Jörg

Widmann und Hans Zender. Luciano Berio

schuf für ihn die Sequenza XIII, die Anzel-

lotti 1995 in Rotterdam uraufführte und

danach bei vielen renommierten Festivals

in aller Welt interpretierte. Seit 1987 unter-

richtet Teodoro Anzellotti an der Hochschu-

le der Künste Bern, seit 2002 auch an der

Musikhochschule Freiburg im Breisgau.

09

PH

AN

TAS

TEN

MU

SIK

Seine Diskographie umfasst ein Werk-

spektrum, das von Bach und Scarlatti über

Janáček und Satie bis zu John Cage und

Matthias Pintscher reicht.

TEODORO ANZELLOTTI, Akkordeon

Page 10: 4245 DNW 04 PRO05 iNet - Norddeutscher Rundfunk · OLIVIER MESSIAEN (1908 – 1992) Auszüge aus „Catalogue d’oiseaux“ für Klavier (1956 – 1958) L’alouette calandrelle

Ihre nächsten Konzerte in der Reihe

NDR das neue werk

ROLF-LIEBERMANN-STUDIO DES NDR

OBERSTRASSE 120

PORTRAIT KAIJA SAARIAHO

FREITAG, 25.04.2008 | 20 UHR

KONZERT 1

NDR SINFONIEORCHESTER

Dirigentin: SUSANNA MÄLKKI

Solisten: MELANIE WALZ, Sopran

MARKUS EICHE, Bariton

CAMILLA HOITENGA, Flöte

KAIJA SAARIAHO

Nymphea Reflection

Aile du songe

(Konzert für Flöte und Orchester)

Cinq reflets

aus der Oper „L’amour de loin“

(Deutsche Erstaufführung)

10 VORSCHAU

SAMSTAG, 26.04.2008 | 20 UHR

KONZERT 2

MELANIE WALZ, Sopran

CAMILLA HOITENGA, Flöte

JEAN-BAPTISTE BARRIERE, Video-Livekon-

zept und Projektionen

KAIJA SAARIAHO

Laconisme de l’aile

für Flöte

From the Grammar of Dreams

für Sopran und Elektronik

NoaNoa

für Flöte und Elektronik

Dolce Tormento

für Piccoloflöte

Changing Light

für Sopran und Flöte

Lonh

für Sopran und Elektronik

Page 11: 4245 DNW 04 PRO05 iNet - Norddeutscher Rundfunk · OLIVIER MESSIAEN (1908 – 1992) Auszüge aus „Catalogue d’oiseaux“ für Klavier (1956 – 1958) L’alouette calandrelle

Herausgegeben vom

Norddeutschen Rundfunk

Programmdirektion Hörfunk

Leitung Bereich Orchester und Chor:

Rolf Beck

Redaktion NDR das neue werk:

Dr. Richard Armbruster

Redaktion des Programmheftes:

Dr. Richard Armbruster

Dr. Harald Hodeige

Textnachweis:

Der Einführungstext von Dr. Ilja Stephan

ist ein Originalbeitrag für den NDR.

E-Mail: [email protected]

Fotos: Gita Mundry | NDR;

Harmonia Mundi | France-Alvaro Jamez (Umschlag)

picture-alliance | maxppp (S. 2)

picture-alliance | akg-images | Marion Kalter (S. 5)

Gestaltung: Klasse 3b

Litho: Reproform GmbH

Druck: KMP Print Point

11IMPRESSUM

Page 12: 4245 DNW 04 PRO05 iNet - Norddeutscher Rundfunk · OLIVIER MESSIAEN (1908 – 1992) Auszüge aus „Catalogue d’oiseaux“ für Klavier (1956 – 1958) L’alouette calandrelle