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Nacht der Engel von Gonzo Dieses E-Book wurde erstellt für Reinhard Jahn ([email protected]) am 23.03.2011 um 16:37 Uhr, IP: 80.139.201.11

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Nacht der Engel

vonGonzo

Dieses E-Book wurde erstellt für Reinhard Jahn ([email protected])am 23.03.2011 um 16:37 Uhr, IP: 80.139.201.11

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Inhaltsverzeichnis

Nacht der Engel ..................................................................... 3Impressum ........................................................................ 15Kurztext .......................................................................... 16

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Nacht der Engel

Es gibt Engel und Engel. Da sind die Cherubime, unrasiert und mit diesem wilden Blick, die

dich kosten wie eine süße Frucht. Da sind die Seraphime, die dich so aufs Bett manövrieren,

dass sie sich dabei die ganze Zeit selbst im Ankleidespiegel beobachten können. Und da es

gibt natürlich die Erzengel wie diesen Herrn Gabriel, der am Heiligabend um fünf nach zwölf in

mein Büro schneite: Mary Amos - Ermittlungen. Von hier oben im zweiten Stock habe einen

guten Blick auf die Einkaufstraße, das wahrscheinlich älteste Kinos Deutschlands und den

Burgplatz, an dessen Rand sich das Essener Münster erhebt. Herr Gabriel hatte sich vor einer

Stunde telefonisch avisiert, als ich mich gerade ins Finale des Weihnachtstrubels stürzen

wollte, um noch ein Geschenk für meinen alten Herrn zu besorgen, der im Altenheim am

Stadtwald auf meinen Besuch wartete.

"Es geht um ein Mädchen", sagte Herr Gabriel und reichte mir ein Foto. "Eva."

Ich betrachtete ein makelloses Jungmädchengesicht mit dunklen, sinnlichen Augen, vollen

Wangen und einem weichen Kinn. "Wer war noch gleich Ihr Auftraggeber?"

Er lächelte ein schmales Erzengellächeln. "Er ist leider unabkömmlich. Eva ist seine Tochter.

Sie ist im Januar aus dem Internat in Genf weggelaufen. Ich will hier nicht auf Einzelheiten

eingehen - auf alle Fälle erhielt ich die Information, dass Eva vor kurzem in einem Hotel hier in

Essen gesehen worden ist."

„Welches?“

„Hotel Eden.“

Er reichte mir eine Visitenkarte. "Mein Funktelefon. Sie können rund um die Uhr anrufen.

Nehmen Sie auf keinen Fall Kontakt zu ihr auf. Ich werde persönlich kommen, um sie

heimzubringen."

 

* * *

Für die nächste Stunde blendete ich das Weihnachtsgewimmel unten auf der Kettwiger Straße

aus, auch das Leuchten der Lichtbilder über der Fußgänzerzone und das ewige "Jingle

bells"-Gedudel des russischen Unterhaltungstrios unterm Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Zuerst

suchte ich bei Google Maps das Hotel Eden und entdeckte es 'Am Taufstein', einer Sackgasse

an der Südseite des Baldeneysees. Als ich anrief, ging nur der Anrufbeantworter ran, spielte

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"Driving home for Christmas", und erklärte mir, dass da Hotel über die Feiertage geschlossen

sei. Dann telefonierte ich die Krankenhäuser, die Bahnhofsmission, die Krisenhilfe, die

Heilsarmee und alle anderen ab. Alles negativ. Zum Schluss versuchte ich es bei der

Kriminalbereitschaft im Präsidium an der Büscherstraße.

"Hallo Mary", sagte Hauptkommissarin Roswitha Pless.

Ich gab ihr Evas Daten. "Blond, 15 Jahre, circa 1 Meter 65, 50 Kilo, wenn's hoch kommt. Habt

ihr sie aufgegriffen?"

Sie hantierte eine Weile mit ihrem Computer "Nein", sagte sie. "Süchtig? Babystrich

Helbingbrücken?"

"Keine Ahnung."

"Dann viel Erfolg!"

"Kann ich gebrauchen. Schon mal im Hotel Eden gewesen?"

Pless lachte. "In was für Kreisen verkehrst du denn neuerdings? Außer dem lieben Gott und

dem Polizeipräsidenten kann sich das keiner leisten. Aber frag mal Drei-Finger-Joe. Sein

Bruder war Zimmerkellner im Eden."

Drei-Finger-Joe hatte eine Bar am neuen Berliner Platz, zwischen Arbeitsamt, Bordell und

Universität, wo im letzten Jahr die Immobilienhaie den Häuserkampf um die letzten

Grundstücke für die Innenstadterweiterung West ausgefochten hatten.

Die letzte auf meiner Liste war Angela. Sie hatte sich selber für die Weihnachtsschicht

eingeteilt. Normalerweise lässt sie ihre vier Taxis von Studenten fahren und macht zuhause in

unserem Penthouse die Buchhaltung.

Ich erzählte ihr von Eva. "Welche Szeneläden und Clubs haben heute Abend offen? Sind in

der Gegend irgendwelche Parties angesagt? Und frag die Kollegen, ob jemand die Kleine

gefahren hat."

"Geht klar", sagte Angela und zählte eine Latte von Jugendtreffs und Discos mit alternativen

Weihnachtsfeiern auf. "War's das? Da vorne steht ein Weihnachtsmann, der will nach Hause."

* * *

Am Bahnhof schleppten ein paar versprengte Reisende ihre Koffer zum Taxistand. Unterm

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Vordach hingen ein paar schwarzgekleidete Emos herum. Ich hielt ihnen das Foto von Eva hin.

"Schon mal gesehen?"

Das Bild machte die Runde. "Keine Ahnung!"

Weil ich schonmal in der Nähe war, ging durch den Bahnhof und dann die paar Meter zur

„Ente“, gleich neben dem Pressehaus an der Sachsestraße. Zwei Online-Redakteure von

derwesten.de hockten verloren am Tresen und sahen mich nur träge an, als ich nach Judas

fragte. Wie Judas wirklich hieß, wusste keiner oder niemand hatte sich die Mühe gemacht, es

herauszubekommen. Er war eine Art Gerüchtehändler, hing den ganzen Tag in der "Ente"

herum und erzählte den Reportern alles, was sie über die dreckigen Geschäfte in der Stadt

wissen wollten.

"Judas?" Der Wirt stellte mir einen Kognak hin. "Vielleicht kommt er noch."

Ich schrieb ihm die Adresse vom Seniorenstift auf meine Karte. "Da kann er mich nachher

erreichen." Ich legte einen Zehner dazu. "Gib ihm das, als Anzahlung."

Im Altenheim würden Paulus und die anderen Senioren jetzt ihren Kuchen mit Kakao

verabreicht bekommen, und ich fand, dass es an der Zeit war, mal ein paar Takte mit

Drei-Finger-Joe zu reden.

* * *

Joes Laden hieß "Paradiso". Vor der Bar stand nur ein einsamer schwarzer Alfa Romeo und

drinnen lehnten zwei schwere Fälle von italienischem Design – Cerutti-Schuhe und

Mafiosi-Kettchen – mit Joe an der Bar. Joe tupfte sich mit seinem Seidentaschentuch das Blut

ab, das ihm aus der gebrochenen Nase lief. Ich atmete durch und lockerte schonmal die

Muskeln.

Einer der Typen kaute an einem Cocktailspieß und brachte es trotzdem fertig zu sagen: "Ist

geschlossen, Signora!"

Drei-Finger-Joe sagte gar nichts. Seit rund um den Berliner Platz die Grundstückspreise

explodierten, versuchten einige Leute ihm einzureden, dass es besser für ihn wäre, das

"Paradiso" zu verkaufen und sich irgendwo zur Ruhe zu setzen.

Ich trat näher. "Ich müsste mal aufs Klo."

"Hast du was an den Ohren?" Der Cocktailspieß langte nach meiner Schulter. Ich griff zu,

stellte dabei ein Bein vor und verdrehte ihm den Arm hinter dem Rücken, dass es im

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Schultergelenk krachte und er mit dem Kopf auf die Theke knallte. Er schrie auf. "Ihr wolltet

gerade gehen, oder?, fragte ich.

"Okay", sagte der Typ mit einem Blick auf den Baseballschläger, den Joe unter der Theke

hervorgeholt hatte. Sein Kumpel zog sie Schultern ein und schob Cocktailspießchen zum

Ausgang. Joe sperrte hinter ihnen ab.

"Freunde von dir?", fragte ich.

Joe hob die Hand mit den fehlenden Fingern. "Das übliche. Ihr Boss will die Bar. Ich bin der

letzte aus dem Block, der noch nicht verkauft hat." Er grinste. "Aber ohne mein Grundstück

können sie ihr Eros-Center nicht hochziehen." Joe verstaute den Baseballschläger. Draußen

fuhr der Alfa ab. "Erzähl mir was übers Eden, Joe."

"Eden? Kenn ich nicht."

"Aber dein Bruder, hab ich gehört!"

Er zuckte mit den Schultern. "Der Kunde kriegt alles, wofür er bezahlt."

"Edelbordell?"

"Viersprachig und mit Sonderservice!"

"Wem gehört der Laden?"

"Einer Gesellschaft. CBM-Immobilien. Schade, dass unsere beiden Freunde nicht mehr hier

sind, die hätten dir alles darüber erzählen können. CBM will das neue Eros-Center hier bauen.

Das eben war ihr letztes Angebot. Jetzt verhandeln sie wohl mit meinem Bruder. Das Weichei

ist ja leider mein Erbe."

Ich zeigte ihm das Bild von Eva. "Was könnte so einem Mädel im Eden passieren?"

Joe grinste. "Manchmal, sagt mein Bruder, gibt's spezielle Parties."

"Für wen?"

Seine Nase begann wieder zu bluten. "Sagen wir: für einen BMW, einen Rolls Royce und

einen Ferrari."

* * *

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Im Seniorenstift schallte "Ihr Kinderlein kommet" aus dem Speisesaal. Mein Vater saß abseits

in seinem Rollstuhl, den er eigentlich gar nicht braucht, aber in dem er sich gern

herumschieben lässt. Neben ihm, mit einer Warmhaltekanne Kaffee und einem Teller voller

Spekulatius hockte Judas. "Ich habe deine Nachricht bekommen", sagte er. "Dein Vater erzählt

gerade von den Grundstücksgeschäften der ehemaligen Oberbürgermeisterin. Höchst

amüsant."

Ich setzte mich zu ihnen und schob Judas Evas Foto hin. „Hotel Eden?“

Judas legte die Stirn in sorgenvolle Falten und in der nächsten Viertelstunde bekam ich einen

Haufen Gerüchte, Geschichten und Anekdoten über das „Eden“ aufgetischt, dass ich

Neuigkeiten, die er darüberstreute fast überhört hätte. Hinter der Gesellschaft, der das Hotel

gehörte, steckten angeblich die Mächtigen der Stadt. "Gerold Casper, Friedhelm Morr und

Giovanni Benedetto", sagte Judas und malte mit dem Finger drei Buchstaben auf den Tisch.

"Der Baudezernent, der größte Immobilienbesitzer der Region und ein italienischer

Geschäftsmann mit vielfältigen Interessen."

Mein Vater stellte an seinem Hörgerät herum, um ja kein Wort zu verpassen. Judas wedelte

mit der Hand, sein Metallarmband, das eine sich selbst verschlingende Schlange darstellte,

klapperte gegen die Rolex, die er sich mit dem Nachrichtenhandel verdient hatte.

"Die Herren von der CBM", fragte ich. "Ein BMW, ein Rolls Royce, ein Ferrari?"

Judas grinste. "Nicht schlecht, Miss Amos!"

* * *

Draußen pfiff ein eisiger Wind, und ich war durchgefroren, bevor ich meinen Wagen erreichte.

Ich verbrachte die nächste Stunde damit, alle Clubs und Discos abzugrasen, die Angela mir

durchgegeben hatte. Überall zeigte ich Evas Foto, doch das Ergebnis war gleich Null. In den

Szenekneipen im Univiertel ging's etwas ruhiger zu. Ein paar Studenten hockten unter einer

Kunststofftanne um eine Krippenszene mit Barbie als Maria, Ken als Joseph und einem

kleinen Schlumpf als Christkind herum. Aus dem Lautsprecher beschwor gerade Paul

McCartney die "Wonderful Christmas Time", als mich Angela über das Handy erreichte.

"Scheint so, als hätte einer von meinen Kollegen die Kleine eben gefahren", sagte sie. "Stand

im Stadthafen an einem von den Schrottplätzen und hatte gerade genug Geld bis zur

Nordwache am Porscheplatz. Sie ist dann zu den Bullen rein, das hat er noch gesehen."

* * *

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Vor der Nordwache kam mir in der Ausfahrt vom Parkplatz des Polizeireviers der dunkle Opel

von Kommissarin Pless entgegen. Sie stoppte neben mir. Ich ließ die Scheibe ein Stück

herunter. "Schon Bescherung."

"Kann man wohl sagen", meinte sie. "Warst du vielleicht vorhin bei Drei-Finger-Joe?"

"Wieso?"

"Weil vor einer Stunde vor dem Paradiso eine Bombe hochgegangen ist."

"Was ist mit Joe? Ist er..."

"Der war im Getränkelager. Ihm ist nichts passiert, aber einem von seinen Kunden." Pless

kramte einen Plastikbeutel aus der Plastikbox auf dem Beifahrersitz. "Das ist wohl alles, was

wir für eine Identifizierung haben."

Ich atmete tief ein. In der Tüte steckten eine zerdrückte Rolex und Metallarmband, das eine

sich selbst verschlingende Schlange darstellte.

"Judas", sagte ich. "Der Tote ist Judas."

"Wer?" Pless sah mich erstaunt an.

Ich sagte ihr nur, was es mit Judas auf sich gehabt hatte. Dass er für mich unterwegs gewesen

war, ließ ich vorsichtshalber weg.

"Frohes Fest noch!", sagte Pless, rangierte ihren Wagen an meinem vorbei und rollte vom

Parkplatz.

Ich sah ihr nach, bis sie im Schneegestöber verschwunden war und griff dann zum Handy. Joe

ließ es endlos klingeln, ehe er abnahm.

"Was ist passiert?", fragte ich.

"Ich sag gar nichts."

"Verkaufst du jetzt oder verkaufst du nicht?"

"Natürlich verkauf ich. Aber jetzt bestimme ich den Preis."

"Was wollte Judas von dir?"

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Er seufzte. "Fragt nach dem Hotel Eden, rauf und runter. Der war schlimmer als du. Die Parties

da, die Männer da, die Mädchen da.. Dann seh ich die beiden Galgenvögel von heute Mittag

wieder vorfahren. Sie steigen aus und kommen rüber, und ich geh ins Lager, um meine Knarre

zu holen, da schmeißen sie vorne auch schon ihr Ding durchs Fenster. Ich hör Judas noch

brüllen, was der Scheiß soll und dann rummst es auch schon."

"Und?", fragte ich.

Joe lachte böse. "Außer den beiden Galgenvögeln saß noch jemand in dem Wagen. Mister

Ferrari, alles klar?"

"Verstehe", sagte ich.

"Ich hab eben mit ihm telefoniert", sagte Joe. "Wir sind uns sehr schnell über den Preis für das

Paradiso einig geworden."

"Und der wäre", fragte ich. "Nur interessehalber?"

Joe kicherte. "Ein Anteil am neuen Eros-Center."

* * *

Ich blieb ich noch ein Weile im Wagen sitzen, bevor ich hinüber zur Wache ging. Der

Flockentaumel hatte die Reifenspuren auf dem Parkplatz schon wieder verwischt. Im der

Wache roch es nach altem Schweiß, Zigarettenrauch und Kaffee. Hinter der Barriere hockte

Obermeister Bantzok, was bedeutete, dass die C-Schicht Dienst hatte, von denen ich die

meisten noch aus meiner Zeit bei der Truppe kannte.

Ich legte ihm das Bild von Eva auf den Tresen. "Ist sie hier?"

Bantzok klappte sofort das Türchen auf. "Geh durch!"

Im Aufenthaltsraum hatten sie die Schreibtische zusammengerückt und ein Weihnachtsbüfett

mit Schnittchen und Marmorkuchen aufgebaut. Endrulat und Bongard tranken Bionade und

hörten etwas aus dem CD-Spieler, was wie ein Weihnachtslied von Rammstein klang. Endrulat

schob mir einen Pappteller mit Kuchen hin.

Ehe ich nach Eva fragen konnte, kam Hauptmeister Hoffmeister mit knallrotem Kopf von den

Ausnüchterungszellen hereingestürzt. "Was ist jetzt mit dem Notarzt? Das Kind ist schon fast

da!"

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Eine uniformierte Kollegin kam ebenfalls von hinten, hektische Flecke im Gesicht. "Ich brauch

Hilfe. Und Handtücher. Jede Menge. Und Schere und Mull zum Abnabeln." Sie verschwand

wieder. Wir hörten dumpfes Stöhnen und Schreien.

Bongard hatte den Notfallkoffer aus dem Schrank geholt und drückte ihn mir in die Hand. "Los,

das ist Weiberkram!"

* * *

Auf der Pritsche der Zelle lag Eva unter einer Decke und hechelte und presste unter den

Anfeuerungsrufen der Beamtin.

"Ja", schrie die Polizistin, "feste."

Eva schrie auf. Bongard packte mir einen Stapel Handtücher auf die Arme. Ich reichte eins an

die Beamtin weiter.

"Jetzt", rief sie. "Pressen!" Ich rief mit.

Das Mädchen stöhnte und drückte. Seine Schenkel zitterten heftig; ich griff nach ihrer Hand.

Sie krallte sich fest.

"Ja!", brüllten wir alle drei. "Ja! Ja!"

Der Kopf trat hervor und dann ging plötzlich alles ganz leicht. Die Beamtin zog das Kind

vorsichtig heraus. Ich gab ihr ein zweites Handtuch. "Schere!" verlangte sie. "Mull!"

Ich kramte im Erste-Hilfe-Kasten und schnitt ihr einen langen Streifen Verbandsstoff ab. Sie

verknotete das Ende und trennte die Nabelschnur durch. Die junge Mutter hob den Kopf. Das

Haar hing ihr schweißnass in die Stirn. Die Beamtin klopfte dem Baby auf den Hintern, es

japste und brüllte dann mit seiner dünnen Stimme los.

Die Kollegin wischte den Säugling behutsam sauber, dann reichte sie Eva das Kind. Es hörte

auf zu weinen und zog das Näschen kraus.

"Meinen Glückwunsch, Eva", sagte ich.

"Sepp, soll kommen", murmelte sie und sagte eine Telefonnummer.

* * *

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Ich fand, das ich genug ausgehalten hatte. Mit der Nachgeburt und dem Nähen sollte sich der

Notarzt beschäftigen, der inzwischen eingetroffen war. Im Aufenthaltsraum standen alle

herum.

"Alles okay", sagte ich, "Kind und Mutter sind wohlauf."

Endrulat hatte einen Geschenkkorb mit Küchentüchern ausgepolstert. "Für den Kleinen!"

Ich zog das Telefon heran und wählte die Nummer, die mir Eva genannt hatte. Es dauerte eine

ganze Weile, ehe sich ein Junge meldete.

"Sepp?", fragte ich. "Eva ist gerade Mutter geworden. Ein Junge. Sie möchte dich sehen."

"Wo ist sie?" Die Stimme zitterte.

Ich gab ihr die Adresse. "Nimm eine Taxe", sagte ich. "Wenn du kein Geld hast, verlang

Angela Weber und sag ihr, dass Mary Amos dich schickt."

* * *

Eva sah mich fragend an, als ich wieder zu ihr kam. Der Kleine lag in Handtücher gewickelt in

ihren Armen. "Sephi", flüsterte sie.

"Er kommt gleich", sagte sich. "Ist er der Vater?"

Sie drückte das Kind an sich und sah einfach durch mich durch. Ich sagte mir, dass ich jetzt

wohl am besten Gabriel anrufen sollte, um ihm zu sagen, dass ich den Auftrag erledigt hatte.

Dann würde ich vielleicht schon bald in der Badewanne liegen und mit "White Christmas" und

einem doppelten Kognak die Feiertage einläuten können.

Die Tür hinter mir ging auf und ein schmaler Junge schob sich herein. "Ev." Er setzte sich zu

ihr und hielt ihre Hand.

"Sephi!" Sie zeigte ihm das Kind und er lächelte.

"Bist du der Vater?", fragte ich den Jungen.

Er sah nicht auf, sondern blickte Eva an. "Ev?"

Sie schwieg. Sepp erhob sich. "Sie weiß nicht wer der Vater ist", murmelte er. "Es ist auf einer

Party im Eden passiert." Er war Aushilfe beim Housekeeping gewesen, sagte er. Eva hatte

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schwarz als Zimmermädchen gearbeitet. Dann hatte der Empfangschef ihr erzählt, dass sie

bei einer Party servieren könne, für ein paar nette ältere Herren. "Diese Schweine haben sie

betrunken gemacht und dann..." Sepp brach ab.

"Namen?"

Er schüttelte den Kopf.

"Ihre Autos? Ein BMW, ein Rolls Royce, ein Ferrari?"

Er nickte. "Was soll denn jetzt werden?"

Ich sagte: "Evas Vater … "

Eva schrie auf. "Er ist nicht mein Vater." Sie drückte das Kind an sich, und dann erzählte sie,

dass Gabriels Auftraggeber ihr Stiefvater war. Ihr wirklicher Vater war vor sieben Jahren

gestorben. "Er war sehr reich", sagte sie und erzählte von Firmen und dem Vermögen einer

alten Familie. In seinem Testament hatte er alles seiner Frau und Eva vererbt. Dann hatte ihre

Mutter vor zwei Jahren wieder geheiratet, der Stiefvater hatte Eva ins Internat geschickt. "Er

hat Mutter getötet", sagte Eva. "Ich weiß es. Meine Kinderfrau hat es mir erzählt, als sie mir die

Nachricht brachte. Da bin ich weggelaufen." Sie hatte Angst, dass ihr Stiefvater sie auch

umbringen wollte.

"Weil du die Erbin deiner Mutter bist?", fragte ich.

Sie nickte. Vor zwei Tagen, sagte sie, hatte jemand zum Hotel Eden und nach ihr gefragt. "Er

nennt sich Gabriel und arbeitet für meinen Stiefvater. Man sagt er ist ein...", sie suchte nach

dem richtigen Wort, "ein Todesengel." Daraufhin war sie weggelaufen und im Stadthafen

untergekrochen. Erst als dann heute die Wehen einsetzten, war sie aus ihrem Versteck

gekommen.

* * *

Im Aufenthaltsraum war nur noch Endrulat. Ich schnappte mir mein Telefon und rief Joe an,

um mir von ihm eine Nummer geben zu lassen. Die wählte ich dann sagte dem Ferrarifahrer

ein paar Takte über die Bombe, die er mit seinen Gorillas am Nachmittag bei Joe abgeladen

hatte, und dass wir jetzt gleich ein Geschäft machen würden. Er musste mir noch die

Nummern des BMW-Fahrers und des Rolls Royce-Fahrers geben. Den einen erwischte ich,

bevor er zur Mitternachtsmesse ging, der andere hatte schon geschlafen. Zum Schluss rief ich

ihm Altenheim an und ließ mir Paulus geben.

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"Gleich kommt ein Taxi und holt dich ab", sagte ich. "Bring dein Notarsiegel mit."

* * *

Es ging auf halb zwei, als ich alle zusammenhatte: Gerold Casper, unser Baudezernent und

BMW-Fahrer, Friedhelm Morr, Immobilien-Investor und Giovanni Benedetto, Inhaber von

diversen Kneipen, Clubs und Bars, und alle drei zusammen Teilhaber der

CBM-Immobilienverwaltung. In einer leeren Zelle machte ich ihnen klar, was passieren würde,

wenn Joe oder ich der Polizei etwas von der Bombe, von dem Hotel Eden, einem

fünfzehnjährigen Mädchen und gewissen Parties erzählten.

Die Herren baten, sich kurz beraten zu dürfen. Nach zehn Minuten erschienen sie dann im

Aufenthaltsraum. Paulus thronte schon hinter Endrulats Computer und blinzelte ihnen vergnügt

entgegen. "Nun, meine Herren?"

"Die Herren möchte etwas für die junge Familie tun", half ich aus. "Eigentumswohnung für

Mutter, Kind?"

Der Rolls Royce-Fahrer nickte.

Paulus tippte die Schenkungsurkunde und ließ sie ausdrucken. "Hier unterschreiben". Der

Immobilientyp setzte seinen Krakel auf Papier.

"Berufsausbildung für die beiden, monatliche Unterstützung angepasst am

Lebenshaltungskostenindex?" Der Ferrarifahrer nickte knapp, wartete bis Paulus alles getippt

hatte und unterschrieb.

"Und der dritte Herr?" Paulus sah gespannt zu unserem Baudezernenten.

Ich sagte: "Er wird sich bei der Stadtverwaltung dafür einsetzen, dass Eva mit dem Kind diskret

in einer guten Pflegefamilie untergebracht wird."

Paulus zwinkerte dem Baudezernenten zu. "Oder sollen wir uns mal über die

Grundstücksgeschäfte der Oberbürgermeisterin unterhalten?"

Danach ging ich zu Eva. Sepp war bei ihr und hielt das Kind auf dem Arm. Das Baby verzog

das Gesicht, zu etwas, was durchaus ein Lächeln sein konnte.

Ich hielt ihm die drei Urkunden der drei Herren hin, und es grapschte mit seiner kleinen Hand

danach. "Pass gut drauf auf", sagte ich zu Sepp.

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* * *

Es war kalt, als ich aus der Wache kam. Die Schneeflocken tanzten über dem Asphalt. Auf

dem Parkplatz kreuzten sich die Reifenspuren von vier Wagen. Dem BMW, dem Rolls Royce,

dem Ferrari und dem Taxi, mit dem Angela Paulus zurückgebracht hatte.

Ich stieg in meinen Wagen. Das Handy lag auf dem Beifahrersitz, Gabriels Karte steckte in

meinem Notizbuch. Ich drückte die Nummer. "Hatten Sie Erfolg?", fragte er.

Ich holte tief Luft. "Leider nicht", sagte ich. "Ich gebe den Auftrag zurück."

*** E N D E ***

 

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Impressum

Texte: © Copyright by Gonzo

Alle Rechte vorbehalten.

Tag der Veröffentlichung: 15.03.2011

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Kurztext

Eigentlich wollte es Mary Amos, Privatdetektiv in Essen, an Heiligabend ruhig angehen lassen.Letzte Geschenke kaufen und ihren Vater besuchen. Aber dann schneit ihr Herr Gabriel mitseinem Erzengellächeln ins Büro und beauftragt sie mit der Suche nach Eva, einer 15jährigenAusreißerin. Damit beginnt eine Geschichte, an deren Ende man fast wieder an Engel glaubenkann.

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