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5. Jürgen Grimm: Super Nannys. Ein TV-Format und sein Publikum

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Page 1: 5. Jürgen Grimm: Super Nannys. Ein TV-Format und sein Publikum

444 Rezensionen

einen umfangreichen Serviceteil, in dem sich eineentlang von Stichworten gegliederte Liste von In-ternetadressen findet; auch die typographische Ge-staltung des Bandes trägt zum großen Gebrauchs-wert bei. Am Ende jedes Kapitels findet sich aus-gewählte Literatur, anschauliche und witzige Illu-strationen lockern den Text erfrischend auf.

Grimm, Super Nanny. In zahlreichen aktuellenStatements zur Familien- und Elternbildung wirdmehr oder weniger kritisch auf die mediale Insze-nierung der Beratung von Eltern eingegangen undes ist auch vor dem Hintergrund einer Soziologieder Professionen und Semi-Professionen verständ-lich, dass die Super-Nanny von vielen Erziehungs-berater(inne)n und Familienbildner(inne)n eherargwöhnisch beäugt wird. Nicht zuletzt vor dieserFolie ist es zu begrüßen, dass der Wiener Profes-sor für Kommunikationswissenschaft Jürgen GRIMMdas TV-Format „Super Nanny“ in einem For-schungsprojekt untersucht hat. Durchgeführt wur-den Inhaltsanalysen von „Super Nanny“-Sendun-gen in Großbritannien, Deutschland und Öster-reich sowie eine Online-Befragung von 1600 Per-sonen in Deutschland und Österreich. Ergänzendkamen Tiefeninterviews und Gruppendiskussionenmit Fernseh-Nannys, Erziehungsprofis, Durch-schnittszuschauern und Teilnehmerfamilien hinzu.Die sorgfältige Untersuchung entfaltet das zumeistin kulturpessimistischen Klagen übersehene Po-tenzial dieses Sendungsformats, verabsäumt esgleichwohl nicht, die kritischen Momente dieserForm von Familienbildung zu benennen.

In den „trinationalen“ Inhaltsanalysen wurdenSendungen der ersten und zweiten Staffel ausGroßbritannien (Channel 4), Deutschland (RTL)und Österreich (ATV) systematisch verglichen.Als zentrale Variable der Auswertung fungiertendie von den Eltern praktizierten bzw. die von denNannys empfohlenen Erziehungsstile, die in dievier Typen autokratisch/autoritär, demokratisch/egalitär, permissiv/laissez-faire und negierend zu-sammengefasst wurden. Aus den Analysen gehthervor, dass der von den Eltern in den Sendungenpraktizierte Erziehungsstil – im Gegensatz zu demder Nannys – überwiegend „autoritär“ geprägt ist.Aktionen im Rahmen eines „demokratischen“ El-ternhandelns kommen sehr viel seltener vor alspunktuelle Strafaktionen oder Maßnahmen wie„mit dem Kind herumschreien“ oder „das Kindeinschüchtern“. Gestresste Mütter und Väter prak-

tizieren letztere im Sinne des Gewohnten in er-heblichem Umfang und in der Regel, bevor diejeweilige Super Nanny das Haus betrat. Im An-schluss daran nahmen die autoritären Handlungender Eltern zumeist ab. Als Kehrseite autoritärerPraktiken agieren die Eltern im „Vorberatungszu-stand“ in manchen Situationen „permissiv“ und„negierend“. Mit anderen Worten, sie verhieltensich tendenziell passiv oder desinteressiert gegen-über dem Kind. Dieses Syndrom widersprichtebenfalls markant dem Erziehungsstil der Nannys.

Der von den Nannys propagierte Erziehungsstilist insgesamt – und das steht im Kontrast zum öf-fentlichen Diskurs über die medialen Erziehungs-beraterinnen – eher „demokratisch“. Sie rekurrie-ren auf das Aushandeln unter starker Berücksich-tigung der Kinderperspektive. Einerseits proble-matisieren die Nannys sowohl laissez-faire alsauch Interesse- und Lieblosigkeit dem Kind ge-genüber; andererseits stärken sie durchsetzungs-schwachen Eltern den Rücken. Dabei lehnen alleTV-Nannys grundsätzlich Erziehungsgewalt abund sie vertreten gleichzeitig demokratische Er-ziehungswerte weit mehr, als es der Elternpraxisentspricht. Zusammengefasst lautet der extrapo-lierte Schluss aus den inhaltsanalytischen Befun-den, dass die wahrscheinlichste Wirkungsrichtungder Super Nanny-Sendungen in Sachen Erziehungin einer Stärkung demokratischer Grundüberzeu-gungen besteht.

Neben diesen übernationalen Gemeinsamkeitenfinden sich hervorhebenswerte Unterschiede. Soergibt sich bei der Befürwortung autoritärer Maß-nahmen eine absteigende Rangfolge von der briti-schen Nanny über die deutschen Nannys hin zuden österreichischen Fernseherzieherinnen. GRIMMsieht in den schwankenden Ausprägungsgradeneines „autoritären“ Erziehungsstils einerseits einenReflex auf die Permissivität des elterlichen Han-delns, das bei den Müttern und Vätern im briti-schen Format am häufigsten vorkommt, gefolgtvon deutschen und österreichischen TV-Eltern.Andererseits spiegeln sich darin grundsätzlicheTraditionsunterschiede zwischen den Ländern. Dieenglische Erziehungskultur figuriert durch dieseBrille gesehen als die relativ „autoritärste“, dieösterreichische als die am meisten „demokrati-sche“ Erziehungskultur. Deutschland nimmt eineZwischenposition ein.

Die Onlinebefragung liefert einen ergänzendenund vertiefenden Einblick in die Attraktivität und

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Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 10. Jahrgang, Heft 3/2007, S. 439-445 445

die Gratifikationen des Medienformats aus Sichtder Nutzerinnen und Nutzer. Deutlich schält sichheraus, dass die alltagsbezogene Nützlichkeit denHauptbewertungsfaktor für die Nanny-Rezeptiondarstellt. Spannend und die generellen Diskussio-nen über Familienbildung um den Faktor Emotio-nalität anreichernd ist ferner die herausgearbeiteteAmbivalenz des „Rührungspotenzials“: Einerseitsfördert die emotionale Betroffenheit die Reso-nanzfähigkeit der Ratschläge in der Lebenswelt;andererseits aber wird allzu starke emotionale In-volviertheit von den Befragten abgelehnt, weildiese zu sehr vom alltäglichen Geschäft des Erzie-hens entfernt scheint.

Aus der qualitativen Exploration in Form vonGruppendiskussionen mit in der Erziehungsbera-tung tätigen Personen sowie mit Familien ist vorallem festzuhalten, dass professionelle Erzie-hungsberatung und das „Erziehungsfernsehen“nicht als antagonistische, nicht miteinander inEinklang zu bringende Gegenspieler zu verstehensind, sondern sich ergänzen können.

Vor dem Hintergrund eines in vielen aktuellenPublikationen vertretenen Plädoyers für niedrig-schwellige Angebote der Familienbildung ist fest-zuhalten: Der ausgeprägte Zuspruch einkommens-schwacher Gruppen mit nur geringen schulischenQualifikationen, sei als Erfolg in medienökonomi-scher Sicht, vor allem aber auch als Beitrag zu ei-ner demokratischen Fernsehkultur zu bewerten,denn Nanny-TV errichte keine sozialen und bil-dungsbezogenen Barrieren. Damit entspreche esdem gesellschaftlichen Bedarf nach Erziehungsbe-ratung, der unabhängig von Herkunft und Ein-kommen in allen Bevölkerungsschichten bestehe.Schlagwörter wie „Prol-TV“ und „Dummen-Fernsehen“ müssen in diesem Zusammenhang

nach GRIMM als politisch inakzeptable Polemikder Bildungseliten zurückgewiesen werden.

Insgesamt gesehen machen die Ergebnisse derStudie aus Sicht GRIMMs also deutlich, dass dasNanny-TV mehr Chancen als Gefahren in sichbirgt. Das gilt aber nur, solange die professionelleQualität der Beratungen sowie die Jugendschutz-kriterien gewahrt bleiben. Damit ist vor allem ge-meint, dass die Darstellung der zu erziehendenKinder in den Einzelepisoden nicht sensationalis-tisch-spektakulär erfolgen soll.

Literatur:

HEITKÖTTER, M./THIESSEN, B. (in Vorb.): Famili-enbildung. In: MACHA, H. (Hrsg.): Handbuchder Erziehungswissenschaften. Grundlagen-band Familie – Kindheit – Jugend – Gender,wird 2007 erscheinen.

LÜDERS, C. (1994): Elternratgeber oder: DieSchwierigkeit, unter pluralistischen Bedingun-gen einen Rat zu geben. In: HEYTING,F./TENORTH, H.-E. (Hrsg.): Pädagogik und Plu-ralismus. Deutsche und niederländische Erfah-rungen im Umgang mit Pluralität in Erziehungund Erziehungswissenschaft. – Weinheim, S.149-158.

Anschrift der Rezensenten: Prof. Dr. Andreas Lan-ge, Deutsches Jugendinstitut München, AbteilungFamilie und Familienpolitik, Nockherstraße 2,81541 München, E-Mail: [email protected]; Dipl.-Soz.Margret Xyländer, Promotionsstipendiatin amZentralinstitut für Ehe und Familie in der Gesell-schaft (ZFG) der Katholischen Universität Eich-stätt, E-Mail: [email protected]