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5. Unternehmensführung und das weite Feld des Strategischen ................ 2 5.1 Strategische Führung und das „Zielsystem“ der Unternehmung ......................... 2 Das „Zielsystem der Unternehmung“ .................................................................. 3 Unternehmensziele in organisationstheoretischer Sicht ...................................... 5 Von der Zielforschung zur Theorie der strategischen Führung ........................... 9 5.2 Strategien und strategische Manöver.................................................................. 10 Begriffliche Vorbereitungen .............................................................................. 10 Ein einfacher Bezugsrahmen ............................................................................. 11 Performance, Erfolgsmaßstäbe, Zielerreichung................................................. 13 Die Erweiterung des Bezugsrahmens ................................................................ 15 5.3 Prozesse und Inhalte ........................................................................................... 17 Prozessforschung und Inhaltsforschung ............................................................ 17 Prozesse und Policy Making .............................................................................. 19 Die Bedeutung der Lebensweltanalyse .............................................................. 22 Ideen und Interessen .......................................................................................... 24 Prozesse und ihre Entfaltung ............................................................................. 26 5.4 Strategien und Strategieformulierungen ............................................................. 29 5.5 Prozesse und strategische Agendabildung ......................................................... 32 5.6 Strategien und Strukturen ................................................................................... 34 5.7 Strategische Führung und strategische Gemengelage ........................................ 40

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5.1 Strategische Führung und das „Zielsystem“ der Unternehmung ......................... 2 Das „Zielsystem der Unternehmung“ .................................................................. 3 Unternehmensziele in organisationstheoretischer Sicht ...................................... 5 Von der Zielforschung zur Theorie der strategischen Führung........................... 9

5.2 Strategien und strategische Manöver.................................................................. 10 Begriffliche Vorbereitungen .............................................................................. 10 Ein einfacher Bezugsrahmen ............................................................................. 11 Performance, Erfolgsmaßstäbe, Zielerreichung................................................. 13 Die Erweiterung des Bezugsrahmens ................................................................ 15

5.3 Prozesse und Inhalte ........................................................................................... 17 Prozessforschung und Inhaltsforschung ............................................................ 17 Prozesse und Policy Making.............................................................................. 19 Die Bedeutung der Lebensweltanalyse.............................................................. 22 Ideen und Interessen .......................................................................................... 24 Prozesse und ihre Entfaltung ............................................................................. 26

5.4 Strategien und Strategieformulierungen............................................................. 29

5.5 Prozesse und strategische Agendabildung ......................................................... 32

5.6 Strategien und Strukturen ................................................................................... 34

5.7 Strategische Führung und strategische Gemengelage ........................................ 40

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5. Unternehmensführung und das weite Feld des Strategischen

Dieses Kapitel befasst sich mit der Unternehmenspolitik und darüber hinaus mit den hiermit eng verbundenen Fragen der strategischen Führung von Unternehmen. Und damit begeben wir uns auf ein weites theoretisches Feld, über das wir nur einen groben und in vielem relativ abstrakten Überblick vermitteln können. Schon in allen bisherigen Kapiteln haben wir Aspekte der Unternehmenspolitik und der Strategie in der einen oder anderen Weise thematisiert. Im Zusammenhang mit unseren theoretischen Annäherungen an die Führung von Unternehmen haben wir die politische Dimension der Unternehmen bzw. deren Führung herausgestellt und in einem ersten Zugriff erläutert, was wir unter einer strategischen Führung verstehen. Die Ansatzpunkte einer Professionalisierung der Unternehmensführung konzen-trierten sich auf „Tools“, die im Zusammenhang mit der Planung und Kontrolle von Strategien von besonderer Bedeutung sind und die politische Dimension des Unternehmensgeschehens bildete natürlich wiederum den Hintergrund der Dis-kussion dieser Tools. Die Auseinandersetzung mit den individuellen und kollek-tiven Entscheidungsprozessen stellte die politischen Entscheidungen in den Vorder-grund.

Alle diese Aspekte tauchen nun in diesem Hauptkapitel erneut auf: Im Mittelpunkt steht hier eine deskriptive theoretische Auseinandersetzung mit dem „Policy Making“ und der strategischen Führung, bei der die in den früheren Kapiteln angesprochenen Aspekte relevant sind, aber vor dem Hintergrund weiterführender theoretischer Bemühungen auch relativiert werden. In der Betriebswirtschaftslehre hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der „Politik in und von Unternehmen“ erst so richtig begonnen, als man sich mit der Frage befasste, welche Ziele Unternehmen eigentlich tatsächlich verfolgen und wie diese Ziele entstehen bzw. verändert werden. Die auch empirischen Ansätze der Klärung des „Ziel-systems der Unternehmung“ eröffneten gleichzeitig eine erweiterte Perspektive der organisationstheoretischen Betrachtung der Führung von Unternehmen, die sich im Laufe der Zeit in Ansätzen einer Theorie der strategischen Führung verdichteten. Die hier nur angedeutete Entwicklung wollen wir an den Anfang der weiteren Erörterungen dieses Kapitels stellen.

5.1 Strategische Führung und das „Zielsystem“ der Unternehmung

Führung sei – so wird häufig gesagt – „zielorientierte“ Beeinflussung eines sozialen Zusammenhangs. Strategische Führung ist in dieser Sicht die Festlegung von Zielen und die Verwirklichung jener Mittel, die zur Erreichung dieser Ziele geeignet sind. Was immer in dieser Sicht strategische Führung ist, am Anfang stehen immer die Unternehmensziele. Grundsätzlich wird dabei von der empirischen Hypothese aus-

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gegangen, dass Unternehmen nicht nur ein Ziel, sondern in aller Regel mehrere Ziele verfolgen. Dies ist der Hintergrund für die Rede vom so genannten „Ziel-system der Unternehmung“.

Das „Zielsystem der Unternehmung“ Ziele bringen angestrebte zukünftige Zustände zum Ausdruck. Sie können nach verschiedenen Gesichtspunkten beschrieben werden. In Abb. 5-1 sind einige Kate-gorien zur Beschreibung von Zielen zusammengefasst. Die Zielinhalte, die in privaten und öffentlichen Unternehmen im Zusammenhang mit Zielen thematisiert werden, sind höchst vielfältig, und es kommen immer wieder neue Themen hinzu, während alte verschwinden. Ein Zielsystem besteht aus einer Menge von Zielen, zwischen denen eine Vielfalt von Beziehungen besteht. Die Vielfalt der möglichen Relationsaussagen, die mehrere Ziele zueinander in Beziehung setzen, lässt sich auf verschiedene Grundtypen zurückführen. Wir unterscheiden (1) Interdependenzrela-tionen, (2) Präferenz- oder Dringlichkeitsrelationen und (3) Instrumentalrelationen zwischen Zielen:

(1) Die Interdependenzrelation gibt an, inwieweit die Erreichung zweier Ziele kor-reliert ist. Dabei ist zwischen Konkurrenz, Komplementarität und Neutralität zu unterscheiden. Inwieweit eine Konkurrenz oder Komplementarität von Zielen vor-liegt, kann nur beantwortet werden, wenn die Ausprägungen der betrachteten Ziele im Sinne einer Präferenzrelation geordnet sind. Konkurrenz liegt vor, wenn die Erreichung einer höher bewerteten Ausprägung des einen Zieles (d. h. eine Erhö-hung der Zielerreichung) mit der Erreichung einer niedriger bewerteten Ausprägung des anderen Zieles korreliert. Komplementarität ist demgegenüber gegeben, wenn eine Erhöhung der Erreichung des einen Zieles gleichzeitig zu einer Erhöhung der Erreichung des anderen Zieles führt. Bei Neutralität schließlich besteht keine Korre-lation zwischen den Zielerreichungsgraden. Zwei Ziele sind kompatibel, wenn sie gleichzeitig erreichbar sind. Konkurrierende Ziele können durchaus kompatibel sein. Dies ist dann der Fall, wenn alle betrachteten konkurrierenden Ziele begrenzt formuliert sind. Unbegrenzt formulierte konkurrierende Ziele sind demgegenüber stets inkompatibel: Man kann nicht zwei konkurrierende Ziele gleichzeitig maximal erfüllen. Man muss Prioritäten setzen und damit seine Präferenzen zum Ausdruck bringen.

(2) Die Präferenz- bzw. Dringlichkeitsrelation gibt an, ob und inwieweit ein Ent-scheider die Erreichung eines Zieles der Erreichung eines anderen Zieles vorzieht und insofern als dringlicher erachtet. Diese Präferenzrelation kann bedingt oder un-bedingt formuliert sein. Sie ist bedingt formuliert, wenn die Formulierung Hinweise darauf enthält, unter welchen Bedingungen die angegebene Dringlichkeit gelten soll („in Krisenzeiten ist die Liquiditätssicherung dringlicher als die Erwirtschaftung einer Dividende“).

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(3) Die Instrumentalbeziehung zwischen zwei Zielen A und B besagt, dass die Er-reichung des Zieles A Mittel zum Zweck der Erreichung des Zieles B ist. Damit wird implizit zum Ausdruck gebracht, dass man auch dem Ziel B näher kommt, wenn man sich bei seinen Entscheidungen darauf konzentriert, das Ziel A zu errei-chen. Ziel A kann Ziel B in konkreten Entscheidungen und unter bestimmten Be-dingungen als Entscheidungsprämisse ersetzen. Dennoch wird es eine Konsequenz der Realisierung dieser Entscheidungen sein, dass auch das Ziel B erreicht wird. Eine Postulierung der Instrumentalbeziehung impliziert meist eine gewisse Kom-plementarität zwischen diesen Zielen. Dennoch sind Instrumentalrelationen und Komplementärrelationen nicht identisch. Dies wird deutlich, wenn man berücksich-tigt, dass vielfach auch eine „Mittel-Zweck-Beziehung“ zwischen Zielen angenom-men wird, wenn zwischen den Zielerreichungsgraden eine partielle Konkurrenz be-steht. Dennoch glaubt man, dass mit einer Erreichung des Zieles A auch eine be-friedigende Erreichung des Zieles B verbunden ist. Man konzentriert sich bei den Entscheidungen auf das Ziel A, weil sich die Entscheidungsüberlegungen erheblich einfacher gestalten, und nimmt dabei in Kauf, das eigentliche Ziel B nur in einem begrenzten Umfang zu erreichen. Ziel A wird zum Ersatzkriterium für das Ziel B. Diese Überlegungen machen darüber hinaus deutlich, dass man die Erreichung des Zieles B derjenigen des Zieles A vorzieht und das Ziel A sofort fallen lässt, wenn sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass es zu Ziel B in einer derart starken Konkur-renz steht, dass die Instrumentalbeziehung nicht mehr angenommen werden kann.

Die Beurteilung der Frage, welche der genannten Beziehungen zwischen Zielen vorliegen, setzt streng genommen eine Vergleichbarkeit der Zielformulierungen voraus. Diese ist nicht gegeben, wenn die Zielformulierungen den Kontexten unter-schiedlicher, inkommensurabler Lebens-, Sprach- und Wissensformen entstammen. Bei der Betrachtung von Zielsystemen ist also auch die Beziehung der Kommen-surabilität zu berücksichtigen. Dies ist freilich in der bisherigen Zielforschung eine kaum beachtete Zielbeziehung.

Die skizzierte Analyse von Zielen und deren möglichen Beziehungen klärt zwar, inwieweit von einem Zielsystem gesprochen werden kann. Sie lässt aber völlig offen, welche Ziele als Ziele der Unternehmung anzusehen sind. Wenn ein am politischen Prozess beteiligter Akteur vor dem Hintergrund seiner höchst indivi-duellen Ziele, die sich inhaltlich auf das Unternehmen beziehen, entscheidet, dann kann man diese Ziele offensichtlich nicht so ohne weiteres als Ziele der Unter-nehmung bezeichnen. Und das gilt auch, wenn es sich bei diesem Akteur um den Unternehmer höchstpersönlich handelt. Was kann also als Ziele der Unternehmung gelten und wie kommen diese zustande? Dieser Frage nach den Zielen der Unternehmung wollen wir im Folgenden nachgehen. Wir werden dabei zu dem Ergebnis gelangen, dass es auch eine Unternehmenspolitik ohne Ziele der Unter-nehmung geben kann und dass diese Konstellation keineswegs unwahrscheinlich ist.

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Abb. (5-1): Merkmale von Zielformulierungen

Unternehmensziele in organisationstheoretischer Sicht Die folgende Argumentation beruht zunächst auf der begrifflichen Festlegung, dass ein Unternehmensziel (nicht schon ein „Ziel der Unternehmung“!) zunächst vom Inhalt der Zielformulierung her zu charakterisieren ist: Danach beinhaltet ein Unternehmensziel die Beschreibung eines angestrebten zukünftigen Zustandes der Organisation, eines ihrer Teile oder eines bestimmten Ausschnittes ihres sozio-ökonomischen Feldes. Ein solches „Unternehmensziel“ kann nun ein ganz persönliches Individualziel (mit inhaltlichem Bezug auf die Unternehmung), eine Zielforderung und insofern ein Ziel für die Unternehmung oder schließlich ein im Rahmen eines politischen Prozesses autorisiertes Ziel und insofern ein Ziel der Unternehmung sein. Diese Zieltypen, die einen ersten Zugang zu einer später noch zu verfeinernden Analyse des Policy Making liefern, sollen im Folgenden näher erläutert werden.

Jede Zielformulierung kann nach zwei Dimensionen beschrieben werden, die als Sachdimension und Zeitdimension bezeichnet werden. Die Sachdimension gibt jene Kriterien wieder, nach denen die vom Ziel geforderten Zustände beschrieben werden. Beispiele dafür sind: Gewinn, Marktanteil, Kosten usw. Jeder dieser Begriffe umreißt eine ganze Klasse von Zuständen; sie repräsentieren folglich Variablen, die als „Zielvariablen“ bezeichnet werden. Die Zeitdimension gibt die Zeitpunkte oder Zeiträume an, auf die sich die Forderung nach der Erreichung des zukünftigen Zustandes bezieht. Auch die Zeitdimension beschreibt eine Variable, die als „Zeitvariable“ bezeichnet wird. Eine vollständige Zielaussage enthält auch Hinweise, wie die Ausprägungen von Zeit- und Zielvariablen im Sinne einer Präferenzskala geordnet sind. Im Falle der Zeitvariablen fehlt vielfach ein diesbezüglicher Hinweis. Implizit wird dann unterstellt, dass eine frühere Zielerreichung einer späteren vorgezogen wird. Auch im Falle der Zielvariablen istdie zu Grunde liegende Ordnungsrelation vielfach nur indirekt zu entnehmen. Die Forderung etwa, dass der Gewinn zu „maximieren“ sei, impliziert, dass die einzelnen Gewinnzahlen in der Weise geordnet sind, dass höhere Gewinnzahlen niedereren vorgezogen werden. Neben dem Hinweis auf die Ordnung der Zielvariablen enthält eine vollständige Zielaussage vor allem eine Festlegung, welche Ausprägungen der Ziel- und Zeitvariablen anzustreben sind. Die Zielaussage kann (1) einen ganz bestimmten Zeitpunkt fixieren, zu dem der angestrebte Zustand erreicht werden soll. Sie kann jedoch auch (2) einen Zeitraum nennen, in dem dies geschehen soll. Dieser Zeitraum kann (2a) absolut oder (2b) relativ bzw. komparativ („schneller als beim Konkurrenten“) sein. Schließlich kann (3) auf eine absolute oder komparative Fixierung der Zeit der Zielerreichung verzichtet und lediglich gefordert werden, dass der durch die Sachdimension definierte Zustand „so schnell wie möglich“ zu realisieren ist. Hierbei kann zum einen eine ganz bestimmte Ausprägung der Zielvariablen gefordert sein („Marktanteil von genau 10 %“). Zum Zweiten kann eine Teilmenge der Ausprägungen vorgeschrieben sein. Werden die Ausprägungen der Zielvariablen durch Kardinalzahlen repräsentiert, so kann dies durch Angabe von Ober-und/oder Untergrenzen geschehen. In den übrigen Fällen muss eine Aufzählung der Elemente dieser Teilmenge erfolgen. Die bisher genannten Fälle charakterisieren das, was auch als begrenztes Ausmaß der Zielerreichung bezeichnet wird. Hinsichtlich des angestrebten Ausmaßes der Zielerreichung kann eine absolute („Gewinn von mindestens 1 Million“) oder eine komparative Formulierung („mindestens 10 % mehr Gewinn als im Vorjahr“) vorliegen. Dem begrenzten Ausmaß der Zielerreichung steht die unbegrenzte Formulierung des geforderten Ausmaßes gegenüber („Maximiere den Gewinn!“).

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Akteure verfügen zunächst über persönliche Zielvorstellungen, die sie u.U. zum Teil mit einer Teilnahme an der Unternehmung bzw. Einflussnahme auf die Unternehmung verwirklichen wollen. Ein Akteur fordert Ziele für die Un-ternehmung, wenn er sich mit Forderungen an die Organe der Unternehmung am politischen Prozess beteiligt und diese Forderungen zukünftige Zustände der Unter-nehmung oder ihrer Umwelt zum Gegenstand haben, die durch die Maßnahmen der organisatorischen Entscheidungsträger erreicht werden sollen. Individuelle Ziele für die Unternehmung sind jedoch noch keine Ziele der Unternehmung. Damit eine Zielformulierung für die Unternehmung zu einem Ziel der Unternehmung wird, ist es erforderlich, dass diese Zielformulierung autorisiert wird. Die Zielformulierung muss von den durch die Verfassung hierzu legitimierten Organen „beschlossen“ und als für die Organisation verbindlich erklärt werden. Ziele der Unternehmung sind somit (zumindest in dieser Sicht) die durch die Kernorgane autorisierten Ziel-formulierungen.

Eine verfeinerte Betrachtung führt allerdings dazu – wie wir noch erläutern werden –, dass das Erfordernis der Autorisierung auch dadurch ersetzt werden kann, dass einer Zielvorstellung ein politischer Wille attribuiert wird, ohne dass eine explizite Autorisierung erfolgt. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn alle Hauptleistungsträger des Unternehmens davon ausgehen, dass das Unternehmensziel autorisiert würde, falls es tatsächlich auf die Agenda des politischen Systems gelangen würde. Da aber alle dies wissen, erübrigt es sich in dieser Unternehmung dann auch, das Unter-nehmensziel tatsächlich zum expliziten Gegenstand eines auf die Autorisierung gerichteten politischen Entscheidungsprozesses zu machen.

Zunächst ist mit unserer begrifflichen Differenzierung die Festlegung verbunden, dass Ziele für die Unternehmung und vor allem Ziele der Unternehmung explizit formulierte Ziele sind. Die Ziele der Unternehmung sind darüber hinaus offizielle Zielaussagen. In Bezug auf die Individualziele bleibt es dagegen dahingestellt, ob diese explizit formuliert werden. In der politischen Auseinandersetzung ist es nun keineswegs unüblich, die hinter den Forderungen stehenden Individualziele zu ver-bergen. Das Individualziel mag beispielsweise in dem Streben nach persönlichem Prestige bestehen. Das diesem Individualziel entspringende Ziel für die Unter-nehmung kann dagegen eine Ausweitung des Marktanteils für einen bestimmten Absatzsektor zum Inhalt haben.

Die Zielforderungen bzw. die Ziele für die Unternehmung dürfen nicht dahingehend einengend interpretiert werden, dass sie sich lediglich auf solche Forderungen beziehen, die ausdrücklich verlangen, dass diese geforderten Zielformulierungen autorisiert werden. Wenn ein Akteur fordert, dass die vom Kernorgan zu autorisierenden Strategien oder Einzelmaßnahmen bestimmten Kriterien genügen müssen, so liegt ebenfalls ein Ziel für die Unternehmung vor, obgleich dieser Akteur nicht gleichzeitig fordert, dass diese Zielformulierung selbst als verbindlich erklärt wird. Es genügt ihm, wenn seine Forderungen bei der Autorisierung der Einzelmaßnahmen oder Strategien hinreichende Berücksichtigung finden.

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Die begriffliche Trennung zwischen Individualzielen, Zielforderungen bzw. Zielen für die Unternehmung und autorisierten Zielen bzw. Zielen der Unternehmung gilt auch, wenn man die Ziele der Mitglieder der Organe (z. B. Vorstand) betrachtet. Auch diese Mitglieder des politischen Systems formulieren Forderungen und versuchen, diese im politischen Prozess durchzusetzen: Sie formulieren Ziele für die Unternehmung. Als Mitglieder des Kernorgans haben sie jedoch meist die Möglich-keit, bei der der Autorisierung vorausgehenden Entscheidungen über die Ziele der Unternehmung auch ihre Individualziele als Entscheidungsprämissen zum Tragen zu bringen, ohne dass sie zu einem öffentlichen „Commitment“ gezwungen sind.

Es ist keineswegs selbstverständlich, dass es in der Unternehmung im Zuge der un-ternehmenspolitischen Auseinandersetzungen zu einem Zielentscheidungsprozess kommt und demzufolge ein autorisiertes Zielsystem der Unternehmung existiert. Dann gibt es eine Unternehmenspolitik (d. h. „Policy Making“) ohne Ziele der Un-ternehmung. Empirische Forschungen auf diesem Gebiet legen den Schluss nahe, dass Zielartikulationen und Mittelentscheidungsprozesse eng miteinander ver-bunden sind. Man kann sogar sagen, dass die Ziele eher den Mittelentscheidungen nachfolgen als umgekehrt. Dies gilt vor allem, wenn die zur Diskussion stehenden Mittelentscheidungen Rückwirkungen auf die Machtverteilung im Unternehmen besitzen. Dies lässt sich am Beispiel von Finanzierungsentscheidungen, d. h. der Entscheidungen über die Kapitalstruktur der Unternehmung, besonders gut ver-deutlichen. Die Machtverteilung im politischen System der Unternehmung wird nicht zuletzt von der Art und Weise determiniert, wie das erforderliche Kapital der Unternehmung aufgebracht wird. Die Machtverteilung hängt also von der Kapital-struktur der Unternehmung ab. Die Art und Weise, wie das Beteiligungskapital aufgebracht wird, beeinflusst nicht nur die Machtverteilung innerhalb der Gruppe der Gesellschafter bzw. der Aktionäre, sondern auch das Machtverhältnis zwischen Gesellschaftern und Management. Die Aufnahme von Fremdkapital bedeutet in der Regel eine Machteinbuße von Management und Unternehmungseigentümern, denn die Fremdkapitalgeber lassen sich oft Mitspracherechte hinsichtlich der Kapital-disposition einräumen. Eine erhöhte Selbstfinanzierung stärkt schließlich das Management – vor allem dann, wenn es sich um stille Reserven handelt.

Die Rückwirkungen der Mittelentscheidungen auf die Machtverteilung im politi-schen System und die damit verbundenen Konsequenzen für die Geltung des Ziel-systems können von den am politischen System Beteiligten ohne Schwierigkeit an-tizipiert werden. Sie werden es daher vorziehen, direkt über die zu treffende Mittel-entscheidung zu verhandeln, ohne zuerst eine Einigung über „gemeinsame“ Ziele der Unternehmung herbeizuführen. Jeder, der schon an einem politischen Verhand-lungsprozess teilgenommen hat, wird bestätigen können, dass es vielfach geradezu eine unkluge Verhandlungsstrategie wäre, die Verhandlungspartner auf gemeinsame Ziele festlegen zu wollen.

Ziele der Unternehmung werden allenfalls festgelegt, nachdem bereits eine Eini-gung über eine konkrete Maßnahme oder Strategie herbeigeführt ist. Die dann mög-licherweise vereinbarten Ziele der Unternehmung haben die Aufgabe, das Ergebnis

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des Mittelentscheidungsprozesses gegenüber Außenstehenden zu erklären und zu rechtfertigen sowie sicherzustellen, dass die nachfolgenden Detail- und Vollzugs-entscheidungen im Sinne des Verhandlungsergebnisses getroffen werden. Doch häufig kommt es nicht einmal dazu. Man „wurstelt“ sich von Maßnahme zu Maßnahme durch, ohne sich explizit mit der Unternehmenspolitik, d. h. mit den die vielfältigen Maßnahmen steuernden Zielen (und darüber hinaus Strategien) aus-einander zu setzen.

Doch auch dieses Bild bedarf weiterer Korrekturen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich im Zuge der Auseinandersetzungen mit der Serie bedeutsamer Maß-nahmen doch Ziele formieren. Gleichsam als Begleiterscheinung der politischen Prozesse über Mittelentscheidungen bzw. bedeutsame operative Maßnahmen ent-wickeln sich „in den Hinterköpfen“ der beteiligten Hauptleistungsträger der Unter-nehmen „Muster“, die als formierte Ziele die nachfolgenden Entscheidungen beein-flussen.

Schließlich muss bei der Betrachtung der Unternehmenspolitik auch noch Folgen-des beachtet werden: Eine ganze Reihe von Zielen sind gleichsam „vorgängig“ vorhanden. Hierüber bedarf es keiner Entscheidungsprozesse. Man denke daran, dass Unternehmen das Thema „Gewinnerzielung“ als selbstverständlich unter-stellen, diesem Ziel also ein politischer Wille a priori attribuiert wird. Gestritten wird jedoch darüber, was ein angemessenes Ausmaß des anzustrebenden Gewinns ist, wenn man berücksichtigt, dass es auch Forderungen von Interessenten gibt, deren Berücksichtigung in den politischen Entscheidungen zu erheblichen Kosten und damit zu Gewinnminderungen führen. Andere Themen, die als Ziele selbst-verständlich sind, betreffen die in allen Unternehmungen zu findenden Bemü-hungen, die Produktivität zu steigern, die Wettbewerbsfähigkeit in den einzelnen Märkten auszubauen und die Erhaltung einer ausreichenden Liquidität zu sichern. Unternehmenspolitisch umstritten sind diese Themen nur, wenn wiederum spezifi-sche Forderungen von Interessenten in die Betrachtung einzubeziehen sind. Und dies ist natürlich der Regelfall. Wenn jedoch die Produktivitätssteigerung mit Ent-lassungen von Arbeitskräften verbunden ist, dann wird man sich unter dem Druck etwa der Arbeitnehmervertreter mit einer geringeren Produktivität zufrieden geben, auch wenn man natürlich hierin langfristig eine Gefährdung der Wettbewerbsfähig-keit sieht. Denn zu hohe Kosten sind sehr schnell ein Handikap im Wettbewerb, wenn Wettbewerber mit höherer Produktivität in den Markt eindringen. Und auch das Thema „Aufrechterhaltung des finanziellen Gleichgewichts“ wird zu einem „heißen unternehmenspolitischen Eisen“, wenn man im Zuge von Expansionsstrate-gien Fremdkapital aufnehmen muss, hierdurch die Eigenkapitalquote verschlechtert und mit damit verbundenen zusätzlichen Zinsbelastungen einen liquiditätswirksa-men Kostenfaktor schafft. Bei einer problematischer werdenden Ertragslage trägt dieser Kostenfaktor später unter Umständen mit dazu beiträgt, dass Liquiditätseng-pässe auftreten: Man kann unter Umständen die Zinsen nicht mehr bezahlen. Es gibt also „Ziele“ bzw. „Zielthemen“, die vorgängig in jeder unternehmenspolitischen Auseinandersetzung relevant werden. Unsere Überlegungen zur Formierung von Zielen betreffen hier eher das jeweils angestrebte Ausmaß der als selbstverständlich

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unterstellten Ziele und jene Grundsätze, denen man möglicherweise bei der Handhabung von Konflikten zwischen diesen Zielen folgt.

Von der Zielforschung zur Theorie der strategischen Führung Die theoretischen Annäherungen an die Zielbildung in Unternehmungen haben Hinweise gegeben, dass das für die klassische Betrachtung der Unternehmen typische Mittel-Zweck-Denken empirisch mit Fragezeichen zu versehen ist. Dieser Dominanz des Mittel-Zweck-Denkens in der theoretischen Diskussion entspricht auch eine gleichsam nachgeordnete Betrachtung von Strategien als Mittel zur Erreichung von Zielen. Wir charakterisieren Strategien als (die Fähigkeiten signifikant betreffende) Orientierungsmuster. Solche Orientierungsmuster schließen auch Ziele ein. Bei näherer Betrachtung solcher Orientierungsmuster können Ziele dann auch Mittel im Zusammenhang mit der Verwirklichung von Strategien sein. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Ein Unternehmen verfolge eine spezifische Internationalisierungsstrategie, die auch die Möglichkeit der Akquisition eines US-amerikanischen Unternehmens vorsieht. Um eine solche Akquisition über einen Aktientausch zu ermöglichen, sieht die Strategie unter anderem auch vor, das Unternehmen an der New Yorker Börse zu listen und eine entsprechende Kurs-pflege zu betreiben. Ein Mittel hierzu wird nun darin gesehen, dem von US-amerikanischen Investoren besonders geschätzten „Shareholder Value“ als Erfolgs-maßstab herauszustellen und darüber hinaus deutlich zu machen, dass man die Steigerung des Shareholder Value tatsächlich als Ziel verfolgt.

Diese Überlegungen sind der Grund, weshalb wir den Begriff der Strategie als Oberbegriff verwenden und die Möglichkeit berücksichtigen, dass strategische Orientierungsmuster auch Zielvorstellungen umfassen. Natürlich ist es auch unbenommen, eventuelle Ziele im Theoriezusammenhang besonders heraus-zustellen und Strategien (dann in einem engeren Sinne) als Mittel zur Erreichung dieser Ziele zu betrachten. Wogegen wir allerdings argumentieren ist, dass die theoretische Auseinandersetzung mit Fragen der strategischen Führung in den meisten Fällen mit der Grundannahme verbunden wird, dass man sich in den Unternehmen zunächst auf die Ziele einigt, um dann nach jenen Strategien zu suchen, die als Mittel zur Erreichung dieser Ziele sinnvoll erscheinen. Die politischen Prozesse laufen meistens anders ab. Die Beteiligten versuchen sich vor dem Hintergrund ihrer eigenen persönlichen Interessen und Zielvorstellungen auf Strategien zu einigen. Und erst wenn dies gelungen ist, formuliert man u.U. zusätzlich „gemeinsame“ Ziele, die jedoch in erster Linie dazu dienen, die Strategien gegenüber anderen Akteuren und Betroffenen zu begründen. Bisweilen nimmt man diese Unternehmensziele gar nicht so ernst, zumindest zunächst nicht. Inwieweit diese Ziele dann dennoch später Bestandteile der strategischen Orientierungsmuster und damit wirksam werden, bleibt ein erklärungsbedürftiges Phänomen.

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Akzeptiert man die beispielhaft erläuterte „Umdrehung“ des Begriffsverhältnisses von Zielen und Strategien und betrachtet man Ziele als (natürlich sehr bedeutsame) Bestandteile strategischer Orientierungsmuster, dann ist es nahe liegend, die klas-sische Zielforschung in einer sehr viel weiter gefassten wissenschaftlichen Aus-einandersetzung mit Strategien gleichsam „aufgehen“ zu lassen. Im deutsch-sprachigen Raum zeigt sich dies unter anderem darin, dass man im Rahmen der Zielforschung auch der Frage nach der Planung von Zielen nachgeht. Damit gerät aber sehr schnell auch das größere Spektrum einer strategischen Planung in den Blickpunkt. Und hier wiederum werden Ziele und Strategien letztlich im umfas-senden Kontext der Planung einer konzeptionellen Gesamtsicht der Unternehmens-politik betrachtet und die Idee einer geplanten Evolution aufgegriffen, die wir bereits kennen gelernt haben.

5.2 Strategien und strategische Manöver

Theorien basieren auf grundlegenden Unterscheidungen. Die von uns angestrebte Theorie ist unter anderem durch die Unterscheidung zwischen „Strategien“ und „strategischen Manövern“ gekennzeichnet.

Begriffliche Vorbereitungen Einen sozialen Zusammenhang und damit auch eine Organisation kann man – wie im ersten Kapitel des Skripts bereits erläutert – sowohl aus einer Außenperspektive als auch aus einer Binnenperspektive betrachten. Diese Unterscheidung steht in einem engen Zusammenhang mit der methodologischen Unterscheidung von Erklären und Verstehen. Das Erklären eines sozialen Zusammenhanges kann sich auf die Außenperspektive beschränken. Das Verstehen setzt dagegen die Einnahme einer Binnenperspektive voraus. Unsere Sichtweise ist dadurch gekennzeichnet, dass wir beide Perspektiven als relevant ansehen. Hieran knüpft u.a. die Unter-scheidung von strategischen Manövern und Strategien an. Strategische Manöver sind – wie wir noch eingehend erläutern werden – aus der Außenperspektive beo-bachtbare Verhaltensweisen bzw. Entwicklungsmuster von Unternehmen. Strate-gien sind nur aus der Binnenperspektive zu verstehen bzw. zu rekonstruieren. Bei der Betrachtung strategischer Manöver muss dahingestellt bleiben, ob diese Manö-ver Ausfluss von hierauf gerichteten Strategien sind. Sie können auch eine Art „Resultante“ des Zusammenwirkens von Akteuren sein, die ihrerseits sich keines-wegs an irgendwelchen Strategien orientieren. Wesentlich ist nun, dass Strategien auch strategischen Manövern gleichsam „nachfolgen können“. Die Beobachtung von strategischen Manövern, die mit einem Erfolg verbunden sind, mag Anlass dafür sein, in Zukunft sich an entsprechenden Strategien zu orientieren. Dies ist eine der Grundaussagen des einfachen Bezugsrahmens, den wir im Folgenden erläutern wollen.

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Strategien

strategischeManöver

Strategische Konzepte

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Ein einfacher Bezugsrahmen Abb. 5-2 gibt einen ersten Bezugsrahmen wieder. Die Kreise kennzeichnen zentrale Tatbestände, die in der wissenschaftlichen Diskussion der Strategischen Führung auftreten. Neben den Strategien und den Manövern sind weitere Tatbestände erfasst, auf die wir im weiteren Verlauf eingehen werden. Die Pfeilverbindungen bringen Zusammenhänge zwischen diesen Tatbeständen zum Ausdruck, wobei die Pfeil-richtungen vermutete Kausalrichtungen repräsentieren.

Abb. 5-2: Bezugsrahmen zur Systematisierung des Forschungsfeldes „Strategische Führung“

Betrachten wir zunächst die Pfeile (5) und (6). Pfeil (5) bringt die bereits mehrfach problematisierte Frage zum Ausdruck, inwieweit strategische Manöver bzw. strategische Entwicklungsmuster tatsächlich Ausfluss von Strategien sind. In umgekehrter Richtung wird das Verhältnis von Pfeil (6) thematisiert. Die Frage ist dann, ob die verschiedenen strategischen Manöver sich zu Strategien „verdichten“ können. Dies ist etwa der Fall, wenn im Unternehmen selbst die zunächst anders entstandenen strategischen Manöver beobachtet und beschrieben werden und diese Beschreibungen anschließend das Selbstverständnis der Strategien prägen. Dies muss natürlich nicht bedeuten, dass die beobachteten Manöver gleichsam un-korrigiert zu Strategien werden. Dennoch kann die Genese der Strategien in starkem Maße durch die Beobachtungen und Beschreibungen zunächst anderweitig generierter strategischer Entwicklungsmuster zu erklären sein. Sowohl Unter-

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nehmensmitglieder als auch Außenstehende kommen als Urheber solcher Beo-bachtungen in Frage. Und natürlich können sich solche Beobachtungen auch auf Kollektive von Unternehmen, etwa auf eine Branche beziehen. Im Bezugsrahmen der Abb. 5-2 sind neben den Strategien und den strategischen Manövern zusätzlich „strategische Konzepte“ angesprochen. Hierbei handelt es sich insbesondere um Konzepte, die sich in Tools, d.h. in Methoden und Managementsystemen nieder-schlagen. Strategische Konzepte sind aber auch umfassende Führungsphilosophien, wie etwa die Konzeption der geplanten Evolution. Schließlich gibt es auch eine Vielfalt strategisch relevanter Ideen, wie etwa die mit dem Begriff der Kern-kompetenz verbundenen Konzepte. Letztlich kennzeichnen wir mit den „strate-gischen Konzepten“ alle möglichen Ansatzpunkte einer Professionalisierung.

Durch die Einbeziehung der strategisch relevanten Konzepte erweitern sich die möglichen Zusammenhänge um die Pfeile (7) bis (10). Pfeil (7) erfasst einen bis-lang kaum erforschten Zusammenhang. Die beobachtbaren strategischen Entwick-lungsmuster bzw. Manöver erklären in diesem Falle die „Gestalt“ der Systeme und Führungsphilosophien, die in einem konkreten Unternehmen vorzufinden sind. Man denke etwa an den Fall, dass ein Unternehmen sich im Laufe seiner Entwicklung immer mehr diversifiziert hat, ohne dass dies Ausfluss explizit hierauf gerichteter Strategien gewesen wäre. Die so entstandene diversifizierte Struktur erklärt dann aber die Etablierung von (strategischen) Planungs- und Kontrollsystemen, aber auch Anreizsystemen und entsprechenden Führungsphilosophien, die für die Steuerung hoch diversifizierter Unternehmen als besonders geeignet wahrgenommen werden. Auch die durch Pfeil (8) implizierte Frage, ob und inwieweit sich Systeme und Methoden bzw. das Aufgreifen strategisch relevanter Ideen auf beobachtbare strategische Manöver auswirken, ist bislang überraschend wenig untersucht worden. So sollte man etwa annehmen, dass die Einführung der Portfolio-Methode zu einer signifikanten Veränderung der beobachtbaren strategischen Entwicklungsmuster bzw. Manöver von Unternehmen führt.

Eine ähnliche theoretische und empirische Fragestellung wird durch Pfeil (9) zum Ausdruck gebracht. In der Betriebswirtschaftslehre geht man zwar wie selbstver-ständlich davon aus, dass die Etablierung entsprechender Systeme und Methoden bzw. das Aufgreifen strategisch relevanter Ideen zu Strategieformulierungen führt, denen sich Umsetzungsaktivitäten mit entsprechenden Auswirkungen auf die beob-achtbaren strategischen Manöver anschließen. Es bleibt aber ein bislang nicht hin-reichend untersuchtes Problem, ob die mit Hilfe von Systemen und Methoden erar-beiteten Strategieformulierungen in Konkurrenz zu möglicherweise vorhandenen, sich aus der Tradition der Unternehmen heraus formierten Strategien treten und Letztere vielleicht nur begrenzt zu „verdrängen“ vermögen. Das heißt, die formierten Strategien, die dem Handeln der unternehmerischen Aktionszentren zu Grunde liegen, könnten möglicherweise hierdurch kaum beeinflusst werden. Pfeil (10) gibt den gegenläufigen Zusammenhang wieder. Die Existenz formierter (oder ohne Hilfe entsprechender Systeme und Methoden generierter) Strategien mag die Etablierung und auch stärkere Verankerung entsprechender Systeme und Methoden bzw. strategisch relevanter Ideen fördern, die dann u. U. ihrerseits die existierenden

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Strategien eher verstärken. Bislang gibt es beispielsweise kaum empirische Ant-worten auf die Fragen, inwieweit die (Produkt-/Markt-)Strategien die Ausgestaltung von Systemen beeinflussen, ob im Zusammenhang mit solchen Strategien bestimmte Methoden anderen eher vorgezogen werden und ob diese Strategien in spezifischer Weise die „Führungsphilosophie“ bzw. das „Denken“ prägen.

Die hier angedeuteten möglichen Zusammenhänge werden sicherlich durch jeweils existierende Feldbedingungen mit beeinflusst. Die Doppelpfeile (14) bringen jedoch auch zum Ausdruck, dass die weiter oben erläuterten Zusammenhänge auch die Feldbedingungen selbst wiederum verändern. Bringen z.B. die beobachteten strate-gischen Manöver eine zunehmende Internationalisierung zum Ausdruck und ist damit das betrachtete Unternehmen auch in ausländische Märkte eingetreten, dann verändert dieses Unternehmen unter anderem die Wettbewerbssituation in diesen Märkten. Aber auch dann schon, wenn Konkurrenten Anhaltspunkte für die Existenz einer (noch gar nicht unmittelbar umgesetzten) Internationalisierungs-strategie wahrnehmen, werden sie u.U. Abwehrmaßnahmen ergreifen und Eintritts-barrieren aufbauen, was ebenfalls die Feldbedingungen verändert.

So weit die möglichen Zusammenhänge zwischen Strategien, strategischen Manö-vern und strategischen Konzepten und deren Bezug zu den jeweils herrschenden Feldbedingungen. Bevor wir den vorgestellten Bezugsrahmen noch erweitern, müssen wir einige Zwischenbemerkungen zu der mit der Performance verbundenen Begriffsfamilie machen.

Performance, Erfolgsmaßstäbe, Zielerreichung Die klassische betriebswirtschaftliche Zielforschung, auf die wir im letzten Teilkapitel bereits einen kurzen Blick geworfen haben, ist durch einige begriffliche Engführungen charakterisiert. So liegt ihr keine klare Unterscheidung zwischen Zielen und Werten zugrunde. Ziele bringen als angestrebte Zustände der Welt „ge-sollte“ Tatbestände zum Ausdruck. Werte dagegen Präferenzen, also Vorstellungen darüber, was man vorzieht. Im Lichte von Werten können Zielalternativen beurteilt werden. Verzichtet man auf eine Unterscheidung zwischen Zielen und Werten, dann setzt die Beurteilung von Zielalternativen bereits Ziele höherer Ordnung voraus, und wenn es um alternative Ziele höherer Ordnung geht, dann muss man Ziele noch höherer Ordnung unterstellen. Dies führt letztlich zu einem regress ad infinitum. Letztlich ist diese Engführung Ausdruck einer Dominanz des Mittel-Zweck-Denkens.

Eine weitere (mit der Differenzierung von Zielen und Werten verbundene) Engführung sehen wir darin, dass nicht zwischen Zielen und Erfolgsmaßstäben unterschieden wird. Man kann zunächst unschwer sehen, dass ein Ziel immer auch ein Erfolgsmaßstab ist. Wenn ein Unternehmen als Ziel eine Gewinnsteigerung von 10% gegenüber dem Vorjahr anstrebt und dieses Ziel erreicht, dann ist dies ein Erfolg, und das Ziel der Maßstab für diesen Erfolg. Das Unternehmen mag aber das

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Ziel nicht erreichen; der Gewinnzuwachs mag nur 5 % sein. Dennoch wird das Management dieses Unternehmens möglicherweise gegenüber seinem Aufsichtsrat argumentieren, dass man es als „Erfolg“ ansehen müsste, dass man angesichts der unvorhergesehenen Konjunkturverschlechterung und einigen Sondereinflüssen in der Branche „immerhin noch“ einen Gewinnzuwachs von 5% erreicht habe. Der Er-folgsmaßstab wird ex post neu definiert. Man kann aber nicht sagen, dass auch das Ziel ex post ein anderes geworden sei. Die Rede über Erfolg oder Misserfolg und die damit verbundenen Maßstäbe haben zwar etwas mit Zielen zu tun, sind aber nicht immer ex definitione mit diesen gleichzusetzen.

Dies wird noch deutlicher, wenn man sich klar macht, dass mit einem Ziel ein ange-strebter zukünftiger Zustand gemeint ist. Dieser Zielbegriff impliziert, dass man ex ante diesen Zustand tatsächlich anstrebt. Nicht jeder Wissenschaftler hat z.B. realistischerweise das Ziel verfolgt, den Nobelpreis zu bekommen. Dennoch hätte er es natürlich als Erfolg angesehen, wenn dies zufällig passiert wäre. Dies hängt natürlich auch damit zusammen, dass in der wissenschaftlichen Welt der Erfolgs-maßstab „Nobelpreis“ eine große Rolle spielt. Es gibt also viele Erfolgsmaßstäbe, die bei der Beurteilung von Erfolgen aufgegriffen werden. Aber empirische Rele-vanz eines Erfolgsmaßstabes bedeutet nicht automatisch, dass dieser Erfolgsmaß-stab auch als Ziel bewusst verfolgt wird. Man kann auch nicht empirisch behaupten, dass solche Erfolgsmaßstäbe insgeheim doch als Ziele wirksam werden. „Geheime Wünsche“ und Erfolg im Hinblick auf spezifische Erfolgsmaßstäbe sind nicht automatisch Ziele im Sinne angestrebter zukünftiger Zustände der Welt. Dies ist in den Sozialwissenschaften keine neue Erkenntnis. Wenn man etwa zwischen Werten als Beschreibung einer präferierten Welt und Zielen als Beschreibung einer angestrebten und insofern „gesollten“ Welt unterscheidet, dann impliziert dies natürlich auch, dass nicht jeder Wert automatisch zum Ziel wird. Freilich: Wenn man sich bewusst für ein Ziel entscheidet, dann spielen natürlich bei dieser Entscheidung Werte und Präferenzen eine Rolle, aber auch Einschätzungen der Chancen, ein in Erwägung gezogenes Ziel tatsächlich erreichen zu können.

Bisher haben wir den Begriff der „Performance“ noch nicht verwendet. In der wissenschaftlichen Diskussion werden damit Erfolgsmaßstäbe zum Ausdruck gebracht, an denen der jeweilige Forscher als wissenschaftlicher Beobachter interessiert ist, unabhängig davon, ob das beobachtete Unternehmen entsprechende Ziele verfolgt oder nicht. Gleichwohl findet man in der Literatur Performance-Kriterien bzw. Erfolgsmaßstäbe wie „Gewinn“, „Unternehmenswert“, „Kurs-Gewinn-Verhältnis“, aber auch Merkmale wie „Fluktuationsrate des Personals“, „Eigenkapitalquote“ und einiges mehr, die auch als Inhalte von Unternehmenszielen relevant sein können.

Bisher haben wir dargelegt, dass als Performance-Kriterien jene Erfolgsmaßstäbe Verwendung finden, an denen der Forscher (etwa im Rahmen einer Theorie der strategischen Führung) interessiert ist. Für die von uns angestrebte Theorie ist jedoch eine erweiterte Sichtweise relevant: Es gibt in und um die Unternehmen herum eine Vielfalt von Beobachtern, die aufgrund ihrer Betrachtungen den Erfolg

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oder die Performance der Unternehmen beurteilen. Sie nehmen dabei auf Erfolgsmaßstäbe Bezug, die sich nicht ex definitione aus den von den Unternehmen verfolgten Zielen ergeben. Wenn z.B. Analysten und/oder Investmentfonds die Börsenkapitalisierung eines Unternehmens als Kriterium für die Beurteilung der Performance heranziehen, so muss sich dieser Erfolgsmaßstab nicht unmittelbar in den Unternehmenszielen widerspiegeln. Freilich mögen jedoch hieraus Prozesse in Gang kommen, die dann dazu führen, dass das Unternehmen seine Aufmerksamkeit in zunehmendem Maße auch diesem Erfolgsmaßstab widmet, weil Kapitalgeber aufgrund der Beobachtungen bzw. Empfehlungen der Analysten handeln und dies sich wiederum auf das Unternehmen auswirkt. Die strategischen Orientierungs-muster im Unternehmen mögen hierdurch dann auch beeinflusst werden. Im Übrigen gilt dies nicht nur für externe Beobachter. Auch Akteure des Unternehmens selbst werden – zunächst ebenfalls unabhängig von den verfolgten Zielen – die Performance aufgrund anderer Erfolgsmaßstäbe beurteilen und aufgrund dieser Beurteilung mit Auswirkungen auf das betrachtete Unternehmen agieren.

Soweit unsere Zwischenbemerkungen zu der mit der Performance verbundenen Begriffsfamilie. Die dabei skizzierten möglichen Zusammenhänge verweisen natürlich auf eine erheblich differenziertere Theoriekonstruktion, als dies der bislang eingeführte einfache Bezugsrahmen zum Ausdruck bringen kann.

Die Erweiterung des Bezugsrahmens Der erweiterte Bezugsrahmen der Abb. 5-3 unterscheidet sich von jenem der Abb. 5-2 nur dadurch, dass zusätzlich die Performance aufgenommen und mit den übrigen Tatbeständen in Verbindung gebracht wird. Die Pfeile (11) bis (13) thematisieren die möglichen Auswirkungen auf die „Performance“. Die Pfeile deuten aber auch in die entgegengesetzte Richtung. Die (zunächst wie auch immer zu erklärende) gute Performance eines Unternehmens determiniert (wenigstens z.T.) die verfolgten Strategien, die beobachtbaren strategischen Manöver und die etablierten Systeme und Methoden. Die sprichwörtliche „Kriegskasse“ (als Ergebnis einer guten Performance) führt zur Verfolgung von Diversifikations- bzw. Akquisitionsstrategien und ist dafür verantwortlich, dass man sich ein relativ aufwendiges strategisches Planungssystem leistet. Eine gute Performance führt in der Regel auch zu einem „Organizational Slack“, der seinerseits einen operativen „Wildwuchs“ ermöglicht, den ein externer Beobachter als strategisch relevantes Manöver beobachten kann.

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Strategien

P

strategischeManöver

14

14

14

13

1211

10

1

23

8

7

6 95

4

Strategische Konzepte

Abb. 5-3: Erweiterter Bezugsrahmen zur Systematisierung des Forschungsfeldes strategische Führung

Die durch die Einbeziehung der Performance abgerundete Betrachtung kann nur als eine Art Vorstufe angesehen werden, kompliziertere Interaktionen innerhalb dieses Bezugsrahmens zu analysieren. So geht es z.B. immer auch um die wechselseitige Verstärkung, aber auch Konterkarierung von Kausalbeziehungen zwischen den Variablen (1-4). Ein denkbarer, aber immer noch relativ einfacher Zusammenhang wird durch folgendes Szenario beispielhaft erfasst: Die (zunächst nicht weiter erklärten) operativen Systeme prägen bestimmte beobachtbare strategische Manöver bzw. Entwicklungsmuster (Pfeil 8), die wiederum über entsprechende Selbst-beobachtungen und -beschreibungen in der Unternehmung die Genese spezifischer Strategien erklären (Pfeil 6), und die ihrerseits unter Umständen die beobachteten strategischen Manöver „bestätigen“ und verstärken (Pfeil 5). Dies wiederum mag zur Etablierung von entsprechend gestalteten strategischen Planungssystemen führen (Pfeil 7 und 10), in denen unter Verwendung spezifischer Methoden eine kritische Reflexion der Strategien und eine strategische Kehrtwendung initiiert wird (Pfeil 9), welche eine erhebliche Auswirkung auf die Performance zeitigt (Pfeil 13).

Dies ist natürlich nur ein beispielhaftes Szenario. Dem Leser sei empfohlen, sich selbst unter Nutzung der Kategorien und Zusammenhänge des Bezugsrahmens andere Szenarien zu vergegenwärtigen. Dabei wird der Leser sehr schnell auf

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weitergehende Fragen stoßen, die den Kontext des einfachen Bezugsrahmens der Abb. (5-2 und 5-3) sprengen.

5.3 Prozesse und Inhalte

Die von uns angestrebte Theoriekonstruktion unterscheidet sich in einigen wesent-lichen Punkten von jenen Ansätzen, die bislang in der wissenschaftlichen Gemein-schaft „Strategische Führung“ vorgeschlagen werden. Dies soll in einem ersten Zugriff durch die folgenden Darlegungen verdeutlicht werden. Wir knüpfen dabei zunächst an der in der wissenschaftlichen Gemeinschaft „Strategische Führung“ häufig verwendeten Unterscheidung zwischen Prozessforschung und Inhalts-forschung an.

Prozessforschung und Inhaltsforschung Der Stand der Forschung auf dem Gebiet der strategischen Führung ist inzwischen relativ unübersichtlich (für einen Überblick vgl. zu Knyphausen-Aufseß 1995). Eine sehr grobe und die Vielfalt natürlich nicht adäquat wiedergebende Systematik unterscheidet zwischen Prozessforschung und Inhaltsforschung. Unsere Dar-legungen zur Theorie der strategischen Führung und zur Philosophie des strate-gischen Managements konzentrieren sich dabei auf Aspekte der Prozessforschung. Abbildung 5-4 gibt typische Fragestellungen der Inhalts- und Prozessforschung wie-der.

Unser prozessorientierter Zugang ist so konzipiert, dass „Inhalte“ bzw. „Konzepte der Inhaltsforschung“ systematisch Berücksichtigung finden können. Dabei geht es jedoch nicht nur um Konzepte, die die Inhalte von Strategien beschreiben, sondern auch um Konzepte für die Charakterisierung bzw. der Gestaltung der Prozesse selbst. Die Berücksichtigung möglicher „Inhalte“ bzw. möglicher Ergebnisse der Inhaltsforschung im Rahmen eines prozessorientierten Zugangs führt zu einer Theoriekonzeption, deren Merkmale von jenen der bekannten Ansätze der Prozess-forschung abweichen. Dies haben wir in einem ersten Zugriff anhand des in Abbildung 5-2 symbolisierten Bezugsrahmens zu verdeutlichen versucht. Er sollte den Leser auch für die Vielfalt der Erscheinungsformen der Strategieforschung sensibilisieren. Weitere Überlegungen des vorliegenden Hauptkapitels werden offensichtlich werden lassen, dass dieser Bezugsrahmen nur bedingt geeignet ist, die angestrebte Theorie adäquat zu beschreiben. Dies wird schon dadurch verdeutlicht, dass in diesem Bezugsrahmen nicht von Prozessen explizit die Rede ist, obwohl wir einen prozessorientierten Zugang vorschlagen.

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! Unter welchen Bedingungen ist eine Diversifikation erfolgreich?- Hängt dies vom Verwandtschaftsgrad der

Geschäfte ab?- Hängt dies vom Branchenumfeld ab?- ...

! Welche Wettbewerbsvorteile bietet eineInternationalisierungsstrategie?

! Unter welchen Bedingungen sollte manstrategische Allianzen eingehen?

! Welche Organisationsstruktur sichert gleich-zeitig Innovationsfähigkeit und Effizienz?

! Welche Merkmale sollte die Unternehmens-kultur und das Wertesystem aufweisen?

! ...

! Was sind Strategien, und wie entstehensie in der Unternehmenspraxis?

! Welche Rolle spielen dabei bewußteEntscheidungsprozesse?

! Wie laufen strategische Entscheidungs-prozesse in der Realität ab, und wiesollten sie ablaufen?

! Mit welchen Widerständen ist bei derUmsetzung von Strategien zu rechnen?

! Ist die Organisation mit einem zufälligevolvierenden Feld konfrontiert, oderkann es diese Entwicklungen steuern?

! Ist die Unternehmenskultur und dasWertesystem beliebig veränderbar?

! ...

INHALTS-FORSCHUNG: PROZESS-FORSCHUNG:

Abb. 5-4: Typische Fragestellungen der Prozess- und der Inhaltsforschung

In den vorangegangenen Kapiteln haben wir bereits eine Reihe von Gesichts-punkten angesprochen, die auch im Zusammenhang mit der Frage nach der Ent-stehung und Wirksamkeit von Strategien von Bedeutung sind. Im Vordergrund stehen hier natürlich die vielfältigen politischen Prozesse, auf die wir bereits einge-gangen sind. Dem Leser sei insbesondere auch die Betrachtung der Entscheidungs-prozesse in Erinnerung gerufen, die wir als Episoden im laufenden Geschehen der Unternehmung dargestellt haben. Dabei haben uns insbesondere die vielfältigen Aktivitäten und Interaktionen interessiert, die mit Macht, Konsens und Erkenntnis (bzw. Wissen) zu tun haben. Und im Rahmen der Betrachtung der Professionali-sierung der Führung haben wir eine Schichtenbetrachtung vorgeschlagen, bei der zwischen der Basisorganisation und den gleichsam „überlagernden“ Schichten eventueller Managementsysteme unterschieden wird. Vor diesem Hintergrund kann dann auch zwischen Basisprozessen einerseits und eventuellen Managementpro-zessen unterschieden werden.

Dies alles wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels wieder aufzugreifen sein. Beginnen wollen wir mit einem ersten Blick auf die politischen Prozesse bzw. auf jene Prozesse, die das Policy Making im Unternehmen prägen.

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Prozesse und Policy Making Die „Systemanalyse des politischen Lebens“ vermittelt das Bild eines sehr dynamischen Geschehens. Jeder autorisierte Beschluss und dessen Umsetzung, aber auch die vielfältigen flankierenden Maßnahmen können eine Veränderung der Unterstützung induzieren und neue Forderungen hervorrufen. Die Veränderung der Unterstützung zeigt sich besonders in den Bemühungen um eine diffuse Unter-stützung. Im Gegensatz zur spezifischen Unterstützung, die sich jeweils auf einen ganz konkreten Output (oder auch Input) des Systems bezieht, ist die diffuse Unterstützung von den konkreten Entscheidungen weitgehend unabhängig und geht nur dann spürbar zurück, wenn das politischen System wiederholt Erwartungen enttäuscht. Jeder Output des politischen Systems kann also eine Veränderung der Unterstützung induzieren und neue Forderungen hervorrufen, weil durch diese Entscheidung die latenten Interessen irgendeiner Person oder Gruppe innerhalb oder außerhalb der Organisation berührt werden. Daraus leiten sich die oft unüberwind-lichen Schwierigkeiten ab, politische Entscheidungen auf einer umfassenden Planung zu gründen.

Dies wird deutlich, wenn man die in Abb. 5-5 schematisch und natürlich sehr vereinfachend dargestellten Möglichkeiten des „Schicksals“ von Forderungen im Prozess des Policy Making betrachtet.

Abb. 5-5: Mögliche Schicksale von Forderungen im politischen System (entnommen aus: Easton 1965)

Diese Darstellung des möglichen Schicksals von Forderungen lässt offen, wer For-derungen stellt. Natürlich ist der besonders realistische Fall nicht ausgeschlossen,

Erwartungen

Meinungen

Motivationen

Ideologien

Interessen

Präferenzen

Wünsche

Randschwelle Das politische System

Rückkopplung

D1

D2

D3

D4

D5

D6

D7

D8

D9

S

T

U

V

WR

R

I

I

Oa

Ob

Oc

On

{

{ {

{

Umwelt

Umwelt

Outputs

Inputs

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dass es insbesondere auch jene Akteure sind, die selbst in unterschiedlichen Funkti-onen in den Prozess der Handhabung der Forderungen involviert sind. Und viele hierbei sich ergebenden Forderungen entstehen aus der Auseinandersetzung mit Forderungen anderer Akteure, vor allem solchen, die selbst als Unterstützer besonders relevant sind. Schließlich können die Strukturen der „Polity“ derart sein, dass Forderungen Externer abgewimmelt werden, andererseits die unmittelbar am politischen Prozess Beteiligten ihre Forderung unter Berücksichtigung an-genommener Wünsche der relevanten „Unterstützer“ in den Prozess einbringen und im Zuge „flankierender Maßnahmen“ den Betroffenen entsprechend „verkaufen“.

Die Abbildung 5-5 bringt im Wesentlichen die Kernprozesse des Policy Making zum Ausdruck, das heißt das Stellen von Forderungen und deren Transformation in Beschlüsse. Eine vertiefende Betrachtung des Policy Making muss auch die peripheren und die flankierenden Prozesse einbeziehen. Die peripheren Prozesse betreffen zunächst die Prozesse im Vorfeld im Zusammenhang mit der Entstehung von Forderungen, die natürlich auch Reaktionen Betroffener auf die Beschlüsse und die sich darin äußernde Art der Behandlung von Forderungen einschließen. Periphere Prozesse sind auch Prozesse im Nachlauf der Beschlüsse, die sich in der Art und Weise äußern, wie diese Beschlüsse „umgesetzt“ werden, was natürlich auch z.B. das Sabotieren von Beschlüssen einschließt. Flankierende Prozesse um-fassen alle Handlungen im Zusammenhang mit der Sicherung und Mobilisierung von Unterstützung spezifischer, aber auch diffuser Natur. Hierzu sei erneut auf die Erörterungen im ersten Hauptkapitel zurückverwiesen.

Das sich im umrissenen prozessualen Spektrum des Geschehens vollziehende Policy Making ist – um einen Begriff von Lindblohm zu verwenden – grundsätzlich durch einen „Disjointed Incrementalism“, d h. durch eine Folge relativ unzusam-menhängender überschaubarer Schritte charakterisiert. Die relativ zusammenhang-lose Betrachtung einzelner Forderungen, die in der Abb. 5-5 verdeutlicht wurden, ist letztlich auf die beschränkte Informationsverarbeitungskapazität der Beteiligten zurückzuführen, die nicht zu einer synoptischen, d. h. alle Interdependenzen und Zusammenhänge beachtenden Betrachtungsweise in der Lage und motiviert sind. Mit anderen Worten: Die Akteure des Policy Making treffen ihre Entscheidungen nicht selten, ohne den Versuch zu unternehmen, die Forderungen und Handlungen der betroffenen Interessenten zu antizipieren. Es ist auch äußerst selten, dass die Forderungen im Rahmen eines umfassenden „Plans“ vorgelegt und auch diskutiert werden. Die Organe sehen sich in der Regel einer mehr oder weniger unzusammen-hängenden Menge von Forderungen gegenüber, die unterschiedlich präzise artiku-liert und „entscheidungsreif“ sind. Sie wenden sich diesen Forderungen in sequen-tieller Weise einzeln oder in kleinen „Bündeln“ zu und reagieren auf diese Forder-ungen, ohne ihre Beziehungen zu anderen Forderungen oder latenten Interessen, die wiederum zu Forderungen werden können, systematisch in Erwägung zu ziehen. Die Kapazität des politischen Systems, Informationen aufzunehmen und zu verar-beiten, ist zu beschränkt, als dass mehr als nur einige wenige Konsequenzen der Reaktion auf diese Forderungen antizipiert werden können. Man handelt, ohne auch nur eine annähernd „vollständige“ Analyse durchzuführen, und lässt die möglicher-

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weise ausgelösten Nachfolgeprobleme auf sich zukommen, die sich etwa in dem Sichtbarwerden einer Verminderung der Unterstützung oder in neuen Forderungen manifestieren. Man „wurstelt“ sich also meist in unzusammenhängender Weise von Problem zu Problem durch.

Dabei geht man zudem „inkremental“, d.h. in überschaubaren Schritten, vor. Forderungen, die eine vergleichsweise revolutionäre Änderung vorsehen, werden in aller Regel negiert, gar nicht erst ernsthaft diskutiert oder so modifiziert (man sagt: „verwässert“), dass sie in die allgemeine Vorgehensweise des Inkrementalismus passen. Die Gründe für den Inkrementalismus sind darin zu erblicken, dass die politischen Instanzen lediglich fragmentarische Informationen über die mut-maßlichen Konsequenzen „großer“ Änderungen zur Verfügung haben und Ent-scheidungen unter extremer Unsicherheit aus dem Wege gehen. Man realisiert Maßnahmen, die „in der Nähe“ des Status quo liegen, weil man sich nur bei überschaubaren Änderungen vorzustellen vermag, welche Auswirkungen zu erwarten sind. Darüber hinaus sind solche inkrementalen Änderungen in nach-folgenden Schritten notfalls leichter zu korrigieren.

Ein derartiger Inkrementalismus, verbunden mit einer letztlich ungenügenden Handhabung der Vielfalt von Forderungen, führt aber auch nicht selten zu einem „Stau“, der im Vorfeld von Entscheidungsepisoden „Gärprozesse“ auslöst, die sich unter Umständen dann in sehr massiven Forderungen entladen können. Das System sieht sich überraschend mit einer Problemlage konfrontiert, die nicht mehr in in-krementaler Weise angegangen werden kann. Versucht man den „Befreiungsschlag“ in einem großen Schritt nach „vorn“, dann wird man sicherlich mit einer ganzen Reihe von unvorhersehbaren Nachfolgeproblemen konfrontiert, deren Abarbeitung kaum gelingt. In solchen Fällen entwickeln sich häufig Prozesse, die außer Kontrolle geraten. Sofern Entscheidungsepisoden initiiert werden, besitzen sie möglicherweise lediglich symbolischen Charakter: Es geht dann darum, unkontrol-liert entstandene neue Situationen als „letztlich doch gewollt“ ex post zu autorisieren bzw. zu rationalisieren. Die Entscheidungsträger ähneln dann eher Reitern, die sich mühsam im Sattel eines in Panik geratenen Pferdes halten und dann die unkontrolliert eingeschlagene Richtung ihres Rittes zum Ziel erklären.

Die Überlegungen zum Inkrementalismus sind sicherlich überzeichnet. Sie beachten zu wenig, dass mit dem Aufkommen von Managementsystemen und mit dem Auf-greifen wissenschaftlicher bzw. sozialphilosophischer Ideen durch die Organisa-tionen Prozesse auftreten, die so konzipiert sind, dass ein extremer Inkrementalis-mus unzusammenhängender kleiner Schritte teilweise überwunden werden kann. Der Leser sei an die Idee einer durch eine konzeptionelle Gesamtsicht mitgeprägten „geplanten Evolution“ erinnert.

Bisher haben wir offen gelassen, worauf sich die Forderungen bzw. die autorisierten Beschlüsse beziehen. Im weiteren Verlauf geht es um die Frage, ob und wie sich in diesem Prozess Strategien entwickeln und auch „umgesetzt“ werden. Hierauf werden wir später näher eingehen. Zunächst wollen wir die Prozessbetrachtung

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weiter vertiefen und die Bedeutung der Lebensweltanalyse und den von uns angestrebten prozessorientierten Zugang zur Theorie der strategischen Führung erläutern.

Die Bedeutung der Lebensweltanalyse Zunächst: Prozesse können aus der Binnenperspektive und aus der Außen-perspektive betrachtet werden. Im ersten Falle werden sie als „Ströme“ von aneinander anschließenden Handlungen betrachtet, mit denen die Akteure einen Sinn verbinden und die grundsätzlich zu verstehen sind. Im zweiten Falle stellen sich die Prozesse als reine Verhaltensströme dar. Der Betrachter mag in diesen Verhaltensströmen zwar Regelmäßigkeiten bzw. Muster erkennen, die u.a. als strategische Manöver aufzufassen sind, der Sinn dieser erschließt sich ihm jedoch nicht. Solche Regelmäßigkeiten bzw. Muster bringen Oberflächenstrukturen der Verhaltensströme zum Ausdruck. Beobachtungen und deren Kommunikation solcher Manöver sind natürlich selbst wieder (Teil-)Prozesse im Unternehmen. Im Falle einer Prozessbetrachtung aus der Binnenperspektive geht es demgegenüber um die Tiefenstrukturen, wie wir sie (im ersten Hauptkapitel) im Lichte der Lebensweltbetrachtung eingeführt und erläutert haben. Die Tiefenstrukturen prägen das Handeln der Akteure und werden ihrerseits im Zuge des Handelns reproduziert und auch weiterentwickelt.

Eine theoretische Analyse muss nicht ausschließlich auf die Betrachtung der einzelnen aneinander anschließenden Einzelhandlungen der Akteure fokussiert werden. Die Prozesse können in etwas abstrakterer Weise betrachtet werden. Dann interessieren eher generelle Merkmale dieser Prozesse, insbesondere solche Merk-male, die auf die lebensweltlichen Gegebenheiten Bezug nehmen. Untersucht man etwa das Entstehen einer Programmatik, d.h. im vorliegenden Rahmen z.B. die Genese von Strategien, dann können z.B. folgende Fragen nach generellen Merkmalen des Entstehungsprozesses relevant werden: Welche spezifische Institutionen sind hier besonders prägend, nicht zuletzt deshalb, weil sie spezifische Akteure in eine dominante Position bringen? Welche Deutungs- und Bewertungs-schemata dominieren die Sichtweisen und Handlungen der Hauptakteure? Wie wirken sich die Biographien und damit spezifische Persönlichkeitsstrukturen dieser Hauptakteure aus? Solche und ähnliche Fragen betreffen etwa die Entstehung von Strategien. Geht man von der Abb. 5-6 aus, so liegt gleichsam ein Denken „von unten nach oben“ vor.

Umgekehrt denkt man „von oben nach unten“, wenn es um die Wirksamkeit von Strategien geht: Welche neuen Institutionen entstehen aufgrund der Strategien? Wie verändern sich die Rollen- und Normengefüge, die die Handlungen bzw. Entscheidungen der betroffenen Akteure beeinflussen? Wie breit diffundieren die Deutungs- und Bewertungsschemata im Unternehmen, die sich in den Inhalten der Strategie niederschlagen? Inwieweit verändern sich aufgrund der Strategien

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Aspekte der Persönlichkeitsstrukturen der Akteure, u.U. auch aufgrund von Fluktuationen bzw. bewussten Personalentscheidungen im Unternehmen?

Abb. 5-6: Lebensweltanalyse und die Genese und Wirksamkeit von Strategien

Wir haben zunächst am Beispiel der Programmatik im Sinne von Strategien argumentiert. Wenn wir allgemein von der Programmatik sprechen, dann ist damit mehr gemeint. So kann sich eine Programmatik auch auf die Absicht beziehen, in Verhaltensströmen nach Mustern strategischer Manöver zu suchen und sich bei diesen Beobachtungen spezifischer Tools mit ihren arteigenen Deutungs- und Bewertungsschemata zu bedienen. Dies kann natürlich dann vor dem Hintergrund des dargelegten Bezugsrahmens wiederum Auswirkungen auf die Genese von Strategien haben.

Von besonderer Bedeutung für eine Theorie der strategischen Führung ist jene Programmatik, die im Zusammenhang mit der Betrachtung der „Themen- und Agendabildung“ in den Blick gerät. Wenn wir von „Themen“ sprechen, so verstehen wir dies in einem engeren Sinne. In einem weiteren Sinne tauchen in den (Kommunikations-)Prozessen „Themen“ auf, wenn „etwas thematisiert“, d.h. „angesprochen“ wird. Dies kann mehr oder weniger beiläufig geschehen. In einem engeren Sinne wird etwas im Unternehmen „zum Thema“, wenn bei einigen oder gar allen Akteuren ein Commitment entsteht, sich mit diesem „Thema“ nachhaltig auseinander zu setzen. Man kann dann auch sagen, dieses „Thema“ sei auf der Agenda dieses Unternehmens. Themen beziehen sich häufig auf die Forderung, sich mit „Inhalten“ auseinanderzusetzen, die direkt oder indirekt auch Inhalte der Inhaltsforschung sind. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Agenda-bildung stellt insofern auch einen wichtigen Hintergrund für die mehr generelle Betrachtung der theoretischen Frage dar, wie das Wissen über Inhalte die

InstitutionelleOrdnung

Kultur Kultur

Strategie

Genese Wirksamkeit

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Formierung und Wirksamkeit von Strategien prägen. Hierzu werden wir im Folgenden einige Überlegungen anstellen.

Ideen und Interessen Ein berühmtes Zitat des bedeutenden Sozialwissenschaftlers Max Weber lautet:

„Interessen (...) nicht Ideen beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die 'Weltbilder', welche durch 'Ideen' geschaffen werden, haben sehr oft als Wei-chensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“ (Weber 1963: 252)

Wenn wir im Folgenden hieran anknüpfend von Ideen sprechen, so beziehen wir uns in erster Linie auf jene grundlegenden Ideen, in denen sich Deutungsschemata im Sinne unserer Betrachtung der Kultur manifestieren und die nicht zuletzt die Wissenskontexte prägen. Es geht also im Folgenden nicht so sehr um das Aufgrei-fen spezifischen Wissens, sondern um grundlegende Ideen. Dies bedeutet im Um-kehrschluss, dass es „einfacher“ ist, spezifisches Wissen aufzugreifen, wenn dieses mit jenen grundlegenden Ideen (Deutungsschemata, Wissenskontexten) vereinbar ist, die bereits die Kultur des Unternehmens zentral prägen. Auch hier müssen wir uns auf einige stichwortartige Hinweise beschränken:

(1) Zunächst bedarf – bezogen auf die einzelne Unternehmung – der kulturelle Vor-lauf, in dem sich Ideen entwickeln, einer näheren Betrachtung. Die Frage, ob und inwieweit Ideen des kulturellen Vorlaufs für die jeweilige Unternehmung zugäng-lich sind, ist also letztlich in den größeren Zusammenhang einer Theorie der organi-satorischen Wissensbasis bzw. des organisatorischen Lernens zu stellen.

(2) Ideen gehen in die Kultur eines einzelnen Unternehmens häufig dadurch ein, dass „handlungsentlastete“ Interaktionszusammenhänge auftreten, in denen auch „neuartige“ Ideen diskutiert werden. Man denke dabei etwa an die berühmten „Gespräche am Kamin“ am Rande von Arbeitstagungen. Aus solchen und ähnlichen Diskussionen, die nicht unter einem unmittelbaren Handlungs- bzw. Problemdruck stehen, mögen sich Subkulturen im Unternehmen entwickeln, die gleichsam zu „Brückenköpfen“ für die Diffusion von neuen Ideen werden.

(3) Handlungsentlastete Interaktionszusammenhänge entstehen freilich nicht auto-matisch. Es bedarf häufig Handlungen einer Führung, solche zu etablieren und sie auch für neue Ideen zu öffnen. Betriebliche Bildungseinrichtungen können die Funktion einer „Frühaufklärung“ neuer Ideen leiten.

(4) Ideen verbünden sich mit „Interessen“ unter Umständen nur, wenn das Unter-nehmen in eine Krise gerät und Akteure aufgrund ihrer Interessenlage nach Ideen suchen, die aus der Krise führen könnten.

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(5) Der Krisenbegriff ist nicht unproblematisch. Krisen liegen – so könnte man sagen – vor, wenn die Handlungsfähigkeit schwerwiegend gefährdet ist und/oder nur unter Verletzung zentraler Werte bzw. Normen gewahrt bleiben kann. Eine Krise kann insofern akut sein, als sie von den Beteiligten wahrgenommen wird. Latent ist die Krise, wenn ein solches Krisenbewusstsein fehlt. Dies schließt nicht aus, dass einzelne Akteure oder Gruppierungen von Akteuren im sozioökonomisch-en Feld des Unternehmens eine Krise wahrnehmen bzw. antizipieren. Führung zeigt sich häufig darin, dass es der Führungspersönlichkeit gelingt, die Möglichkeit einer zukünftigen Krise in der Wahrnehmung der Beteiligten virulent werden zu lassen. In der Regel geht dieses antizipierende Krisenbewusstsein Hand in Hand mit dem Aufgreifen neuer Ideen, in deren Kontext Krisenszenarien an Plausibilität gewinnen.

(6) Bezieht man die Möglichkeit eines antizipierenden Krisenbewusstseins im ange-deuteten Sinne in die Betrachtung mit ein, dann ergibt sich für die Theorie des strategischen Wandels von Organisationen eine bemerkenswerte Konsequenz: Akute Krisen und Organizational Slack können in einem gewissen Sinne funktional äquivalent sein. Organizational Slack liegt vor, wenn die Unternehmung über mehr Ressourcen verfügt, als für die aktuellen operativen Aufgaben unbedingt erforder-lich sind. Das Auftreten handlungsentlasteter Interaktionszusammenhänge ist eng mit der Existenz eines Organizational Slack verbunden. Denn ein Organizational Slack mag eine Offenheit für neue Ideen schaffen, in deren Kontext ein antizi-pierendes Krisenbewusstsein entstehen mag. Und dieses antizipierende Krisen-bewusstsein mag – in einer gewissen Äquivalenz zu akuten Krisen – eine geeignete Basis dafür liefern, dass sich neue Ideen tatsächlich mit Interessen verbünden, die diesen Ideen zu einer institutionellen und motivationalen Verankerung in der Praxis verhelfen.

(7) Bei der theoretischen Analyse der Genese von Krisen wird man zu beachten ha-ben, dass auch die jeweils existierenden Machtkonfigurationen im Unternehmen in sich den Keim für Instabilitäten besitzen: Schon bei relativ „kleinen“ Anstößen von außen können Transformationen in Richtung relativ turbulenter politischer Arenen entstehen, die ihrerseits durch die zu bewältigenden Problemlagen des Unterneh-mens aufgrund der Intensität und Reichweite der Konflikte überfordert werden kön-nen. Krisen können in diesem Sinne auch gleichsam „selbst gemacht“ sein. Es wäre also verfehlt, Steuerungskrisen jeweils nur als exogen durch relativ tief greifende Veränderungen des Feldes verursacht anzusehen.

(8) In mehrfacher Hinsicht haben wir in den vorangegangenen Thesen die Führung im Sinne eines „Leadership“ erwähnt. Von „Leadership“ im Sinne einer Minimal-definition sprechen wir, wenn innerhalb einer (kollektiven) überlagernden Hand-lungsstruktur (im Sinne eines Controlling Overlayer) ein relativ großer Teil der Va-rianz des Verhaltens dieser (kollektiven) Führungsstruktur auf das Handeln eines individuellen Akteurs zurückgeführt werden kann. Geht man der Bedeutung eines „Leadership“ für den organisatorischen strategischen Wandel genauer nach, dann

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wird man wohl auf Zusammenhänge stoßen, die wir durch die Überlegungen dieses Abschnittes zumindest angedeutet haben.

Unsere skizzenhaften Darlegungen beschreiben mögliche Zusammenhänge, die sich – zum Teil über längere Zeit – im laufenden Geschehen eines Unternehmens voll-ziehen und nicht in erster Linie konkrete Entscheidungsepisoden berühren. Diese sind freilich dann von besonderer Bedeutung, wenn es um die Bewältigung akuter Krisen geht. Die Frage, wie sich vor dem Hintergrund solcher zum Teil lang-wieriger Prozesse Strategien herausbilden, ist damit noch nicht unmittelbar im Blick.

Im Folgenden wollen wir unsere Betrachtung des prozessorientierten Zugangs in eine andere Richtung ergänzen und auf die Rolle von Managementsystemen, insbesondere auch von strategischen Planungs- und Kontrollsystemen eingehen. Dies soll vor dem Hintergrund der generellen These Geschehen, dass die Genese und das Wirksamwerden von Strategien in einem Zusammenhang mit Prozess-merkmalen stehen, die wir mit der „Entfaltung“ (und darüber hinaus mit der „Erweiterung“) der Prozesse in Verbindung bringen.

Prozesse und ihre Entfaltung Wesentlich für unsere prozessorientierte Betrachtung ist, dass wir nicht nur strategische Planungssysteme und Entscheidungsepisoden, in denen Entscheidungen über Strategien getroffen werden, betrachten dürfen. In unseren einleitenden An-merkungen zur Zielbildung, die unschwer auf die Entstehung von Strategien verallgemeinert werden können, haben wir bereits Hinweise gegeben, dass sich die Entscheidungsepisoden eher auf ganz konkrete Maßnahmen beziehen, während sich Ziele bzw. Strategien häufig eher als Begleiterscheinung formieren, die sich in hohem Maße auch außerhalb der einzelnen Entscheidungsepisoden vollziehen. Wir halten es deshalb für sinnvoll, die theoretische Analyse der Strategieformierung bei der Betrachtung des laufenden Geschehens in der Basisorganisation, das heißt der Basisprozesse anzusetzen. Abb. 5-7 soll helfen, unserer Argumentation zu folgen. Dabei greifen wir zum Teil auf Gesichtspunkte vor, die wir erst im nachfolgenden Teilkapitel vertiefen werden.

In der Abb. 5-7 wird zwischen einem Basisprozess, der entfaltet und erweitert werden kann, einerseits und eventuell auftauchenden Episoden politischer Entschei-dungsprozesse andererseits unterschieden. Ergänzend können sich Management-systeme (z. B. Strategieplanungssysteme) etablieren, die den Basisprozess des Un-ternehmens und die Episoden politischer Entscheidungsprozesse unterstützen oder auf diese Prozesse sogar prägenden Einfluss nehmen.

Betrachten wir zunächst den Basisprozess. Dieser ist durch die Vielfalt von Aktivi-täten und Interaktionen im laufenden Geschehen in und um das Unternehmen herum gekennzeichnet. Die Akteure folgen dabei den Regeln bzw. Handlungsorientierun-

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gen der organisatorischen Lebenswelt. Indem sie diesen Regeln bzw. Handlungsori-entierungen folgen, reproduzieren sie diese gleichzeitig, was immer auch mit deren Fortentwicklung verbunden ist.

Abb. 5-7: Der Prozess der Strategieformierung

Wir sprechen von einer Entfaltung des Basisprozesses, wenn bei den Aktivitäten und Interaktionen Reflexionen darüber auftauchen, ob und inwieweit hinter den lebensweltlichen Regeln bzw. Handlungsorientierungen „generalisierende“ Prinzi-pien bzw. übergreifende „Orientierungsmuster“ stehen. Sofern diese Reflexionen sich wiederholen und eine gewisse Nachhaltigkeit aufweisen, werden diese Orientierungsmuster selbst Bestandteil der Lebenswelt. Der entfaltete Basisprozess erfährt eine zusätzliche Erweiterung, wenn in den lebensweltlichen Reflexionen implizit oder explizit Fähigkeiten – also das, was das typisch Strategische ausmacht – thematisiert werden. Schlagen sich in der Folge in der organisatorischen Lebens-welt Orientierungsmuster nieder, die die Fähigkeiten signifikant betreffen, kann man von der Formierung von Strategien sprechen. Natürlich spielen dabei Re-flexionen über wahrgenommene strategische Manöver und der damit verbundenen Performance, aber insbesondere auch sonstige Konzepte und Ideen im Sinne der Inhaltsforschung eine Rolle. Und je mehr eine Kultur der Professionalisierung im Unternehmen existiert, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert, was wir mit Entfaltung und Erweiterung angesprochen haben.

Die Reproduktion von Prinzipien bzw. Orientierungsmustern und insbesondere die damit verbundene Thematisierung von Fähigkeiten werden durch das Geschehen der immer wieder auftauchenden Episoden politischer Entscheidungsprozesse be-

Entscheidungsepisoden

Managementsysteme

Entfaltung Erweiterung

Basisprozess der Strategieformierung

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einflusst. Die Formierung von Strategien mag dann u.U. eine „Begleiterscheinung“ dieser politischen Prozesse sein, die sich selbst überhaupt nicht auf die Formulierung von (autorisierten) Strategien der Unternehmung, sondern auf kon-krete Maßnahmen beziehen. Die durch flankierende Maßnahmen aktivierten Kom-munikationen der Ergebnispromotion tragen ebenfalls zur Formierung und zum operativen Wirksamwerden solcher Strategien bei. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden wir auf die Bedeutung autorisierter Beschlüsse über Strategien noch genauer eingehen. Dies setzt eine strikte begriffliche Trennung zwischen Strategien und Strategieformulierungen voraus. Vor diesem Hintergrund ist dann zu zeigen, dass auch solche Episoden für die Formierung von Strategien der Unter-nehmung relevant sind, die selbst zu autorisierten Strategieformulierungen führen. Es entspricht ja unserer Grundthese, dass auch explizite und autorisierte Strategie-formulierungen als Tatbestände angesehen werden, die den Formierungsprozess beeinflussen. Bei der Betrachtung der Episoden politischer Entscheidungsprozesse ist dabei zwischen der Stärke des Einflusses und seiner spezifischen Art zu unter-scheiden. So mag sich eine politische Entscheidungsepisode explizit auf die Autori-sierung von Strategieformulierungen der Unternehmung konzentrieren, und dies wiederum mag einen starken Einfluss auf den (entfalteten und erweiterten) Basis-prozess ausüben. Die aus diesem Basisprozess jedoch resultierenden formierten Strategien der Unternehmung mögen recht wenig mit den autorisierten Strategie-formulierungen zu tun haben, die eher in den Schubladen verschwinden.

Dies gilt auch für explizite, mit der Unterstützung strategischer Management-systeme geplante Strategieformulierungen, wie sie insbesondere natürlich auch im Rahmen von Strategieberatungsprojekten erarbeitet werden. Die Bedeutung der Managementsysteme ist freilich nicht nur im Zusammenhang mit der Unterstützung von Episoden politischer Entscheidungsprozesse zu sehen. Managementsysteme bzw. Strategieplanungssysteme können auch unmittelbar den Basisprozess „alimentieren“. Die Prozesse und die Outputs der Managementsysteme liefern dann Impulse für Reflexionen bzw. Kommunikationen außerhalb solcher Episoden. Und dies gilt auch für andere Managementsysteme bzw. Managementprozesse, etwa für operative Planungs- und Kontrollsysteme oder auch für Weiterbildungssysteme.

Die Pfeile in Abbildung 5-7 zwischen dem Basisprozess, den Episoden politischer Entscheidungsprozesse und den Managementsystemen bringen also zum einen die Ergänzung des Basisprozesses zum Ausdruck. Zum anderen ist natürlich auch die Gegenwirkung relevant. Im Zuge des Basisprozesses, seiner Entfaltung und Erwei-terung mögen Reflexionen auftauchen, die sich in Forderungen verdichten, die ih-rerseits politische Prozesse initiieren bzw. diese beeinflussen. Analoges gilt für die Etablierung von Managementsystemen oder das Aufgreifen von spezifischen Issues innerhalb von Managementsystemen, die dann Episoden eventuell expliziter bera-terunterstützter Strategieplanungen auslösen. Die hierbei formulierten Strategie-pläne mögen die Formierung von Strategien im Rahmen des Basisprozesses we-sentlich beeinflussen.

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Wir müssen unsere skizzenhaften Überlegungen hier abbrechen. Sie mögen deutlich gemacht haben, dass die von uns in den vorhergegangenen Kapiteln vorbereitete Prozessbetrachtung es nahe legt, die Formierung von Strategien in den Vordergrund zu stellen und dabei das Interesse in besonderem Maße auf die Basisprozesse zu lenken. Dies bedeutet eine Umorientierung der Argumentationsrichtung in den üblichen Theorieansätzen, die dann auch die Bedeutung der Professionalisierung der Bemühungen um Strategiepläne in wesentlich differenzierter Form zu disku-tieren erlaubt. Vor diesem Hintergrund sind nochmals auch die bereits in den vor-hergegangenen Abschnitten dargelegten Aspekte unseres prozessorientierten theoretischen Zugangs zu ergänzen und zu vertiefen.

5.4 Strategien und Strategieformulierungen

Unter Strategien verstehen wir kognitive Orientierungsmuster in den „Hinter-köpfen“ von Akteuren. Bereits im ersten Hauptkapitel haben wir dargelegt, dass sich hierin „Road Maps“ in eine offene Zukunft manifestieren, die Zielvor-stellungen, Strategien im engeren Sinne und auch Grundsätze umfassen können. Diese strategischen Orientierungsmuster sind impliziter Natur. Ihnen stehen expli-zite Beschreibungen von Strategien gegenüber. Solche Strategiebeschreibungen bzw. Strategieformulierungen sind z. B. explizit formulierte Strategiepläne, die sich erst noch in strategischen Orientierungsmustern von Akteuren niederschlagen müs-sen. Strategiebeschreibungen können aber auch Rekonstruktionen von bereits ver-folgten Strategien oder auch Formulierungen möglicher Strategien sein. Strategie-formulierungen sind Gegenstand von schriftlichen und/oder mündlichen Kommuni-kationen, die im laufenden Prozess der aneinander anschließenden Kommunikatio-nen immer wieder auftauchen können. Dabei darf nicht nur an mehr oder weniger umfassende Strategieformulierungen gedacht werden, die u.U. professionellen Formaten entsprechen. Auch nur bruchstückhafte strategische Vorstellungen können und werden beschrieben und kommuniziert.

Die Unterscheidung zwischen strategischen Orientierungsmustern und Strategiebe-schreibungen legt es nahe, für die organisationstheoretische Analyse zwischen der Sphäre der Strategien und der Sphäre der Strategiebeschreibungen zu unterscheiden und der Frage nachzugehen, wie sich diese Sphären im laufenden Geschehen der Organisation wechselseitig beeinflussen. Taucht eine Strategiebeschreibung – etwa in Form einer Forderung - auf, dann muss dahinter ein strategisches Orientierungs-muster des beschreibenden Kommunikators stehen, das er mit seinen Kommunika-tionen zum Ausdruck bringt. Die kommunizierte Strategiebeschreibung – wenn sie denn wahrgenommen wird – mag ihrerseits bei den Adressaten der Kommunikation zu Reflexionen führen, die sich in entsprechenden strategischen Orientierungsmus-tern niederschlagen. Man kann die beiden Sphären auch als die Sphäre der Kommu-nikationen und die Sphäre der Reflexionen bezeichnen.

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Natürlich ist zu berücksichtigen, dass die vielfältigen Kommunikationen nicht nur Strategiebeschreibungen zum Ausdruck bringen und die Akteure nicht nur über strategische Orientierungsmuster reflektieren. Wir müssen sogar davon ausgehen, dass das Auftauchen von kommunizierten Strategiebeschreibungen und entspre-chenden Strategiereflexionen nicht selbstverständlich sind. Deshalb sprachen wir weiter oben ja auch davon, dass die laufenden Prozesse sich mehr oder weniger „entfaltet“ und darüber hinaus „erweitert“ darbieten können: Sie „entfalten“ sich, wenn in zunehmendem Maße Orientierungsmuster kommuniziert bzw. reflektiert werden. Und in dem Maße, wie es in diesen Kommunikationen bzw. Reflexionen zusätzlich in signifikanter Weise um Fähigkeiten geht, liegt auch eine Art „Er-weiterung“ der entfalteten Prozesse vor.

Die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Sphären der Kommunikationen und der Reflexionen und die sich hierin unter anderem zeigende Entfaltung und Erweite-rung der Prozesse bedürfen natürlich vertiefende Betrachtungen. Hinsichtlich der Sphäre der Strategiebeschreibungen ist zu berücksichtigen, dass im Kommunika-tionsstrom auch Strategieformulierungen auftauchen können und werden, die in-sofern „auf Dauer gestellt“ sind, als auf sie immer wieder in anderen Kommuni-kationen bzw. Reflexionen Bezug genommen wird. Nachhaltig vertretene Forder-ungen nach spezifischen Strategien sind Beispiele solcher Strategiebeschreibungen, und natürlich insbesondere auch im Zuge des Policy Making sich ergebende autorisierte Strategiepläne. Wir müssen aber auch berücksichtigen, dass auch andere, nicht autorisierte Strategieformulierungen eine nicht unbeträchtliche Rolle bei der Entstehung von Strategien spielen können, etwa wenn ein besonders mächti-ger Akteur die von den Hauptleistungsträgern des Unternehmens in einer gewissen Koorientierung verfolgten Strategien (etwa auf der Managementtagung des Unter-nehmen) hypothetisch rekonstruiert und damit gleichsam „auf den Punkt bringt“; diese Rekonstruktion mag dann im weiteren Verlauf der Kommunikationen und Reflexionen der Akteure immer wieder in Erinnerung gebracht werden. Und dies kann sogar bewirken, dass die zunächst von diesem „wichtigen“ Akteur irrtümlich vermutete strategische Koorientierung ex post tatsächlich entsteht oder zumindest angenähert wird.

Bezüglich der Strategien als Orientierungsmuster ist zu berücksichtigen, dass natür-lich aufgrund von Reflexionen eines Akteurs auch völlig neue strategische Orientie-rungsmuster entstehen können, die eher indirekt durch Kommunikation von Wissen – etwa über strategisch relevante Konzepte und Ideen – beeinflusst sind. Es geht also nicht nur um Kommunikationen von Strategiebeschreibungen. Es entspricht ferner der begrifflichen Vorstellung von Orientierungsmustern, dass diese nicht automatisch wirksam werden, sondern im Zuge bewusster Reflexionen, die ins-besondere das Orientierungsmuster mit den Gegebenheiten der konkreten Situation in Verbindung bringen. Und solche Reflexionen sind ihrerseits mit der Reproduk-tion und Fortentwicklung des jeweiligen Orientierungsmusters verbunden.

Mit diesen Überlegungen haben wir bereits auch die Frage nach der Wirksamkeit von Strategien angesprochen. Wenn wir von der Wirksamkeit einer Strategie spre-

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chen, dann meinen wir damit, dass sich der Akteur an einem Orientierungsmuster tatsächlich orientiert. Das bedeutet gleichzeitig: Wenn ein Akteur eine Strategie verfolgt, dann ist diese Strategie ex definitione auch wirksam. Freilich kann diese Wirksamkeit unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Um ein triviales Beispiel aus dem privaten Alltag zu nehmen, kann man sich unschwer vorstellen, dass jemand die persönliche Strategie „abnehmen“ verfolgt. Immer dann, wenn sich das Thema „Essen und/oder Trinken“ aufdrängt, lässt sich der Mensch, der diese Strategie dennoch ernsthaft verfolgt, bisweilen zu Handlungen verführen, die nicht im Einklang mit seinem eigentlichen strategischen Orientierungsmuster stehen. Es tauchen aber immer wieder auch Situationen auf, wo das Orientierungsmuster Berücksichtigung findet. Je häufiger letzteres der Fall ist, desto wirksamer ist die Strategie als Orientierungsmuster.

Wenn man den Begriff der Strategie an Orientierungsmuster „in den Hinterköpfen“ der Akteure festmacht und deren Entstehung im Kontext von Reflexionen und Kommunikationen dieser Akteure sieht, dann erscheint eine weitere begriffliche Festlegung sinnvoll: Wir sprechen davon, dass sich Strategien („in den Hinter-köpfen“ der Akteure) formieren. Und die Wahl der grammatischen Form bringt dabei zum Ausdruck, dass die zur Entstehung und Modifikation von Strategien führenden Reflexionen vielen Einflüssen unterliegen, die den Strategien „emer-gente“ Züge verleihen. Auch wenn es sich „nur“ um eine Interpretation einer (eventuell sogar offiziell geplanten) Strategieformulierung handelt, wird diese Interpretation stets durch situative, nicht unter der Kontrolle der Akteure stehenden Einflüsse geprägt. Und eine spätere erneute Reflexion dieses Strategieplanes wird zu einer Fortentwicklung der formierten Strategie führen, die unter anderen Ein-flüssen steht.

Die Unterscheidung zwischen (sich formierenden) Strategien und Strategiebe-schreibungen bzw. Strategieformulierungen ist in dem einfachen Bezugsrahmen der Abbildung 5-2 nicht explizit angesprochen. Dies bedeutet dann natürlich auch, dass die durch die Pfeilverbindungen angesprochenen Prozesse nicht das ganze Spektrum möglicher Zusammenhänge zu erfassen vermögen. Dies setzt sich darin fort, dass auch hinsichtlich der strategischen Manöver in einer entsprechend erweiterten und modifizierten Theorie zwischen den expliziten Beschreibungen einerseits und den (durch diese Beschreibungen mitgeprägten) Wahrnehmungen bzw. Reflexionen solcher Manöver andererseits zu unterscheiden ist. Diese Unterscheidung ist dann auch hinsichtlich der „strategischen Konzepte“ von Bedeutung: Diese existieren ja unter anderem zunächst als Beschreibungen (etwa in wissenschaftlichen Monographien zur strategischen Führung). Die Beantwortung der Frage, wie diese Wissensbeschreibungen dann zu Wissen von Akteuren wird und deren Handeln insbesondere auch im Prozess der sich formierenden Strategien prägt, bedarf einer sehr viel differenzierteren Prozessbetrachtung.

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5.5 Prozesse und strategische Agendabildung

Wer sich für die Genese und auch für die Wirksamkeit von Strategien interessiert, muss insbesondere der Frage nachgehen, wie Ideen, Fragestellungen, das heißt irgendwelche „Inhalte“ im Unternehmen „zum Thema“ werden oder (anders ausgedrückt) auf die „Agenda des Unternehmen“ gelangen und dort auch nachhaltig gehalten werden. Es geht also um das, was man auch als das Agenda-Setting bezeichnet. Man kann wohl feststellen, dass dieser Topos in der theoretischen Diskussion zur strategischen Führung nahezu vernachlässigt wird.

In der wenigen Literatur, die man zu diesem Themenkomplex findet, geht man normalerweise von einem „stereotypen“ Normalfall aus, der etwa wie folgt dargestellt wird. Es gelangen Inhalte auf die Agenda, über die nachhaltig kommuni-ziert bzw. verhandelt wird. Hieraus kristallisieren sich Vorstellungen hinsichtlich von Strategien heraus, die man als Antworten auf die mit dem Thema verbundenen Fragestellungen sehen kann. Diese Vorstellungen von Strategien konkretisieren sich schließlich in der einen oder anderen Form im Zuge der Verhandlungen zu tatsächlich anschließend wirksam werdenden Strategien, das heißt zu Orientierungs-muster für nachfolgende Entscheidungen. Man könnte dies auch auf die Formel bringen: „Vom Agenda-Setting zur (effektiven) Strategie“.

Im Folgenden wollen wir in zwei Hauptschritten vorgehen: In einem ersten Schritt wollen wir vor dem Hintergrund dieser Formel einige zusätzliche Stichworte bzw. skizzenhafte Erörterungen anstellen, die die damit verbundenen Überlegungen mit den Darlegungen der übrigen Teilkapitel dieses Kapitels in Verbindung bringen. In einem zweiten Schritt wollen wir einige Hinweise geben, die deutlich machen, dass diese oben wiedergegebene Formel u.U. sehr verkürzend ist.

Zunächst zum ersten Schritt. Natürlich müssen wir uns in diesem Zusammenhang mit dem Begriff der Agenda auseinandersetzen. Aus unseren bisherigen Darlegun-gen kann bereits entnommen werden, dass Agenden etwas mit Kommunikations-zusammenhängen zu tun haben, in denen über Themen kommuniziert bzw. verhandelt wird. Stellt man in einem zweiten Schritt die Frage, wie man denn im Rahmen einer theoretischen Diskussion solche Kommunikationszusammenhänge abgrenzen kann, dann führt dies zu dem Begriff der Institutionen. Die regelmäßige Vorstandssitzung stellt einen immer wiederkehrenden Kommunikationszusammen-hang dar, der letztlich Ausfluss der Institution „Vorstand bzw. Vorstandssitzungen“ ist. Natürlich ist eine Organisation durch eine Vielfalt von Institutionen und damit auch mehr oder weniger regelmäßig auftauchender Kommunikationszusammen-hänge gekennzeichnet. Etwas auf die Agenda bringen hat dann damit zu tun, das man Institutionen nutzt, um die jeweiligen Inhalte im Rahmen der hieraus resultierenden Kommunikationszusammenhänge behandeln zu lassen.

Im Kontext unserer Theoriekonstruktion liegt es nahe, das Agenda-Setting mit den Institutionen der Polity und damit den Modellvorstellungen des Policy Making bzw. der damit verbundenen politischen Prozesse in Verbindung zu bringen. In diesem

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Zusammenhang ist es dann sinnvoll, zwischen folgenden Aspekten zu unterscheiden: (1) Im Vorfeld des Policy Making kristallisieren sich über entsprechende Institutionen bzw. Kommunikationszusammenhänge irgendwelche „individuellen und über die Kommunikationen kollektivierte“ Themen heraus. (2) Im Zuge dieser Themenbildung mögen sich dann Forderungen an das politische System ergeben, sich mit bestimmten Inhalten existenziell und nachhaltig auseinanderzusetzen. Wenn man so will, handelt es sich um Themen für die Unternehmung. Schließlich ist es (3a) denkbar und möglich, dass sich im Zuge der Auseinandersetzung mit diesen Forderungen ein autorisiertes Thema heraus-kristallisiert, das nun in der Folgezeit (wiederum unter Nutzung entsprechender Institutionen, zu denen dann z. B. dann auch Planungs- und Kontrollsysteme zu rechnen sind) abgearbeitet werden mit der Hoffnung, das sich hieraus effektive Strategien bzw. Strategiebeschreibungen ergeben. Natürlich kann es (3b) auch sein, dass zwar Themen für die Organisation gefordert werden, dass sich aber im Zuge der Auseinandersetzung mit den Themen im politischen Prozess Strategien heraus kristallisieren und am Ende autorisierte Strategiebeschreibungen stehen.

Die Unterscheidung dieser drei Aspekte (1) bis (3) wirft natürlich eine Reihe von Fragestellungen auf, die wir im vorliegenden Rahmen nicht eingehend behandeln können. Es dürfte aber z.B. nahe liegend sein, dass man die Darlegungen zum Schicksal von Forderungen im politischen Prozess insbesondere auch auf Themen anwendet. Unterschiedliche Themenforderungen werden dann u.U. zu einem Thema zusammengeführt. Bei dieser Gelegenheit versiegen auch einige Forderungen und bleiben somit unmittelbar nicht mehr auf der Agenda. Es kann natürlich aber auch sein, dass Forderungen abgewimmelt werden und das Agenda-Setting letztlich in dieser Phase des Geschehens scheitert.

In dem Falle, wo sich die Organe des politischen Systems (wie auch immer) durchringen, unter dem Einfluss gewisser Forderungen ein autorisiertes Thema zu formulieren, kann es durchaus sein, dass damit auch das Thema von der Agenda verschwindet. Trotz einer Befassung im politischen System misslingt auch hier das Agenda-Setting. Da dies keineswegs selten ist, neigen Organe des politischen Systems häufig dazu, ein solches autorisiertes Thema gleichzeitig mit dem Beschluss zu verbinden, einen Berater zu engagieren, der in professioneller und systematischer Weise dieses Thema bearbeitet, um auf diese Weise zu Vorschlägen entsprechender Strategie zu gelangen. Berater sind dann Instrumente des Agenda-Setting und dahinter stehen dann natürlich insbesondere solche Persönlichkeiten im politischen Prozess, die ein besonderes Interesse haben, das Thema auf der Agenda zu halten. Auch wenn der Berater damit ein Instrument ist, so kann es durchaus sein, dass das Thema anschließend „ergebnisoffen“ behandelt wird. Wir sind uns natürlich bewusst, dass dann die Akteure, die in besonderem Maße an spezifischen Antworten auf die Fragestellungen des Themas interessiert sind, im nachfolgenden Prozess auch entsprechende Aktivitäten entfalten, den Beratungsprozess in die von ihnen gewünschte Richtung zu lenken. Im Folgenden wollen wir in einem zweiten Schritt einige Ergänzungen behandeln.

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Die oben angesprochene Standardformel „beendet“ das Agenda-Setting mit der Entstehung einer Strategie. Dies ist eine Verkürzung. Dies wird deutlich, wenn man Folgendes in Erwägung zieht: Die politischen Prozesse mögen zur Autorisierung einer Strategieformulierung (u.U. sogar im Sinne einer umfassenderen Story im Sinne einer konzeptionellen Gesamtsicht) führen. Damit die mit dieser Strategie-beschreibung zu verfolgende Strategie auch im Unternehmen mit den vielfältigen Akteuren wirksam werden kann, ist es notwendig, diese Strategieformulierung auf die Agenda zu bringen und dort zu halten. Institutionen wie Managementtagungen und hieraus resultierende entsprechend forcierte Kommunikationszusammenhänge machen dies deutlich. Nur wenn sich die vielfältigen Akteure im Unternehmen mit der Strategiebeschreibung befassen (d. h. die Strategiebeschreibung auf der Agenda ist und bleibt) entstehen daraus jene Orientierungsmuster, die dann für die einzelnen Akteure und deren Verantwortungsbereiche als Ausfluss der insgesamt verfolgten Strategie wirksam werden. Als z.B. beim Unternehmen Dachser 1990/91 ein umfassendes Rahmenkonzept erarbeitet und dies auch auf der jährlichen Managementtagung vorgestellt und schriftlich zur Verfügung gestellt wurde, wurde gleichzeitig ein weiterer Prozess in Gang gesetzt: Die einzelnen (z.T. neu geschaffenen und modifizierten) „Bereiche“ des Headquarters und auch die einzelnen Niederlassungen wurden genötigt, ihrerseits Rahmenkonzepte für diese Verantwortungsbereiche zu erarbeiten, die die Konsequenzen des Unternehmens-rahmenkonzepts für ihre Verantwortungsbereiche zum Ausdruck bringen. Es wurde auf diese Weise ein zweites Dokument erstellt. Der Zweck war natürlich, das Hauptrahmenkonzept nicht nur auf die Agenda zu bringen, sondern entsprechend auf der Agenda zu halten, mit der Hoffnung, dass sich hieraus die vielfältigen bereichsbezogenen Orientierungsmuster entwickeln, die für das Effektivwerden des gesamten Rahmenkonzepts erforderlich sind. Dieses Beispiel sollte auch verdeutlichen, dass Strategien selbst zum Thema werden können. Eine Diskussion des Agenda-Setting muss also berücksichtigen, dass die Inhalte, die zum Thema werden können, ein breites Spektrum umfassen können. Themen stehen begrifflich deshalb unter anderem nicht Strategien gegenüber.

5.6 Strategien und Strukturen

Eine schon klassische Fragestellung der Organisationstheorie ist, ob die Struktur der Strategie folgt oder umgekehrt (vgl. Chandler 1962, Gaitanides 1985). Es sind eine Vielzahl von empirischen Untersuchungen erschienen, die die ursprüngliche These, dass die Struktur des Unternehmens über kurz oder lang an dessen (Grund-) Strategie angepaßt wird, teilweise bestätigt, teilweise verworfen bzw. umgedreht (Die Strategie folgt der Struktur!) und teilweise in einer erheblich modifizierten Weise reformuliert haben (vgl. z.B. Miller 1986). Daraus wird man den Schluss ziehen können, daß eine einseitige Betrachtung des Verhältnisses von Strategie und Struktur sicherlich unangemessen ist und eine differenziertere Sichtweise entwickelt werden muss. Beginnen wollen wir mit einigen begrifflichen Vorbemerkungen zum

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Thema. Dabei sollen insbesondere Gesichtspunkte angesprochen werden, die in der „üblichen“ Betrachtungsweise zum Teil in den Hintergrund treten.

Wenn von „Strategie und Struktur“ gesprochen wird, dann bezieht sich der Begriff der Strategie bei dieser Diskussion weitgehend auf die Produkt-/Markt-Strategie des Unternehmens, also etwa auf die Frage, mit welchen Produktkonzepten das Unter-nehmen auf welchen Märkten in welcher Weise konkurrieren möchte. In den mehr technologisch orientierten Ansätzen zur Gestaltung einer politischen Planung stellt sich dieses Thema sicherlich eher in der Frage, wie eine gewisse Parallelität von Produkt-/Markt-Strategie und Entwicklungskonzeption für die Organisations-struktur und die Führungssysteme hergestellt werden kann. Freilich muss auch konstatiert werden, daß die klassischen Ansätze zur Strategischen Planung den Eindruck erwecken, als seien zuerst die Strategien zu planen und darauf aufbauend die richtigen Organisationsstrukturen zu entwickeln.

Schreyögg (1984) hat vor dem Hintergrund der Literatur die in Abbildung 5-8 wiedergegebenen „Elemente und Schrittfolgen der Strategischen Planung“ rekon-struiert, wie sie in den klassischen Ansätzen vorgeschlagen werden.

Abb. 5-8: Elemente und Schrittfolge der strategischen Planung (aus: Schreyögg 1984: 85)

Das Schema baut prinzipiell auf der Schrittfolge „Ziele - Strategie – Struktur“ auf, wenngleich Rückkoppelungen vorgesehen sind. Gleichzeitig wird unterstellt, daß die Werte und Ziele der obersten Ebene „irgendwie“ vorgegeben sind, wenngleich sie durch die „Rahmenbedingungen der Wirtschaftsordnung“ und vor allem durch „Plankontrollen“ beeinflusst werden können. Schließlich ist hervorzuheben, daß die

Bestimmung der langfristigen

Unter-nehmensziele

Strategische Analyse: Strategie-

identifikation, Umwelt- und Ressourcen-

analyse, Lückenanalyse

Strategische Wahl:

Alternativen-suche, -

bewertung, Auswahl der Strategie(n)

Einrichtung eines strategie-

gerechtenOrganisations-und Führungs-

systems

Mittelfristige Programm-

planung für die Funktions-bereiche

Kurzfristige Aktionsplanung

und Budgetierung

Plankontrolle, Strategische

Kontrolle

Rahmenbedingungen der Wirtschaftsordnung

Werte und Ziele der obersten Ebene

Gesellschaftliche Verantwortung

PRÄMISSENSTRATEGISCHE

IMPLEMENTATIONENSTRATEGISCHE

FORMULIERUNGEN

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Rekonstruktion Schreyöggs auch deutlich macht, daß die politische Dimension der Strategischen Planung weitgehend unbeachtet bleibt. Man hat fast den Eindruck, als ob mit der „Klärung“ der „Ziele der obersten Ebene“ der politische Prozess abge-schlossen und die nachfolgende Planung der Produkt-/Markt-Strategien und der darauf aufbauenden Organisations- und Führungssysteme ein weitgehend admini-stratives Problem sei.

Versuchen wir im Folgenden, noch etwas mehr Klarheit über die Verwendung der Begriffe „Strategie“ und „Struktur“ herzustellen. Den Begriff der Strategie verstehen wir im Folgenden in einem zweifachen Sinne. Zum einen geht es um die strategischen Programme, die für einzelne Organisationseinheiten bzw. Betätigungsfelder erarbeitet werden. Diese strategischen Programme schließen die Ziele und strategischen Stoßrichtungen, deren Aufgliederung in Unterziele, Unterstrategien und Maßnahmen sowie die Festlegung der ersten robusten Schritte mit ein. Das Rahmenkonzept bezieht sich dagegen im Wesentlichen auf die Fest-schreibung der grundlegenden Maximen, die für das Unternehmen als ganzes oder für einzelne Teilbereiche (Organisationseinheiten und/oder Betätigungsfelder) gelten sollen. Dabei haben sowohl die strategischen Programme als auch das Rahmenkonzept normalerweise mehr zum Gegenstand, als dies beispielsweise bei Chandler unterstellt wurde: Es geht nicht nur um die Ausrichtung des Produkt-/Markt-Bereichs (Primärbereich), sondern auch um die Beantwortung von Fragen im Zusammenhang mit der Ressourcenbeschaffung (Sekundärbereich), mit der Gestaltung der „Systems and Procedures“ (Tertiärbereich) sowie der Bestim-mung des „Standortes“ des Unternehmens – im wörtlichen und im übertragenen Sinne (Quartärbereich). Freilich ist die Gewichtung etwas unterschiedlich. Je mehr man in Richtung Quartärbereich kommt, desto weniger wird es möglich oder sinnvoll sein, relativ detaillierte strategische Programme zu entwerfen; hier kann letztlich doch wohl nur die Ausarbeitung eines „Rahmenkonzeptes“ angestrebt werden.

Auch im Zusammenhang mit dem Strukturbegriff sind zunächst zwei Aspekte zu unterscheiden. Zum einen kann „Struktur“ als eine Art Platzhalter für „Implementie-rung“ begriffen werden: Die Strategien müssen in möglichst effizienter Weise in die operativen Handlungen der Organisationsmitglieder „eingebaut“ werden. Ein be-sonders wichtiges Mittel, um dies zu erreichen, ist natürlich die Führungs-organisation; sie stellt den zweiten Aspekt dar, der mit dem Strukturbegriff verbunden ist. Mit der Führungsorganisation sind wiederum zwei Teilaspekte ange-sprochen. Einerseits muss eine strategieadäquate Aufbauorganisation geschaffen, müssen – mit einer Formulierung von Hedberg et al. (1976) – „Paläste“ gebaut werden, die relativ dauerhaft die Aufgaben und Kompetenzen der Mitarbeiter regeln. Andererseits wird es aber auch immer wieder „Zelte“ geben, Regelungen oder Kompetenzzuweisungen also, die von vornherein unter der Prämisse institutionalisiert werden, dass sie möglicherweise nur vorübergehende Geltung besitzen. Statt von Primärorganisation kann man an dieser Stelle auch von Sekundärorganisation sprechen. (Allerdings werden wir noch sehen, daß sich ein Grundsatz „Zelte statt Paläste“ auch auf die Primärorganisation anwenden lässt.)

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Die Beziehungen, die zwischen Strategie und Struktur bestehen, sind zunächst da-durch bestimmt, daß die Struktur unmittelbarer Gegenstand von strategischen Pro-grammen, insbesondere aber von Rahmenkonzepten sein kann: Die Gestaltung der Führungsorganisation ist ein Beispiel für die Möglichkeit, auch den Tertiärbereich der „Systems and Procedures“ mit in die strategischen Überlegungen mit ein-zubeziehen. Aber auch die Berührungspunkte zum Quartärbereich sind offensicht-lich. So hat beispielsweise die Umwandlung einer Familiengesellschaft in eine Akti-engesellschaft und die damit einhergehende Einsetzung der durch das Aktiengesetz verlangten Organe natürlich auch Implikationen für die Art und Weise, wie sich das Unternehmen in der Gesellschaft „verortet“.

Mehr auf den Implementierungsaspekt abgestellt ist die Vorstellung, daß aus einem Rahmenkonzept bzw. den strategischen Programmen im Allgemeinen Aufgaben er-wachsen, die von einzelnen Organisationseinheiten erfüllt werden müssen. Diese Aufgaben werden freilich nicht immer so wohl-definiert sein, daß sie unmittelbar operativ wirksam werden können. Zumindest die „strategischen“ Aufgaben werden in komplexeren Strukturen abgearbeitet werden müssen, die mehrere Organisati-onseinheiten umfassen und jeder einzelnen Organisationseinheit Gestaltungsspiel-räume überlassen. In besonderer Weise sind hier wohl die Schwerpunktprogramme zu nennen, die einen Beitrag für die „Übersetzung“ der Strategien in die Struktur leisten.

Unter begriffsstrategischen Aspekten gilt es zuletzt darauf hinzuweisen, dass das Begriffspaar „Strategie und Struktur“ den doch etwas schiefen Eindruck erweckt, es ginge um die Frage der Umsetzung einer einmal festgelegten Strategie in die Struk-tur des Unternehmens. In dem Maße, in dem man die Entwicklung eines Unterneh-mens im Kontext eines Konzepts der „geplanten Evolution“ begreift, ist freilich klar, daß eine andere Frage viel interessantere Perspektiven eröffnet – die Frage nämlich, wie die Auseinandersetzung mit der Unternehmensentwicklung dauerhaft im Unternehmen verankert werden kann. In einer anderen Terminologie formuliert geht es statt um „Strategie und Struktur“ eigentlich eher um „Strategisches Manage-ment und Institutionalisierung der damit verbundenen Ideen im Sinne einer Unter-nehmensentwicklung“.

Mit dem solchermaßen erweiterten Sprachspiel können wir nun darangehen, den Zusammenhang zwischen Strategie und Struktur etwas genauer zu erörtern.

Der Topus „Strategie und Struktur“ weist vor dem Hintergrund der durch den Tetraeder (der Lebensweltanalyse) angedeuteten theoretischen Zusammenhänge eine Vielfalt von Facetten auf, die im vorliegenden Rahmen zwar nicht umfassend betrachtet werden können – zumindest aber eine Facette wollen wir etwas genauer erörtern: Es geht um die Wirksamkeit von individuellen bzw. persönlichen Strategien von Akteuren, und zwar jenseits ihrer Funktion als Basis von Forderungen, die im Prozess des Policy Making u.U. zu autorisierten Strategie-beschreibungen führen, die wiederum ihrerseits sich in hieraus abzuleitenden, gleichsam „offiziellen“ Orientierungsmuster der mit der Umsetzung befassten

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Akteure niederschlagen. „Strukturen“, d. h. die existierende institutionelle Ordnung „definieren“ die Positionen von Akteuren und damit auch deren Möglichkeiten und Grenzen der direkten (und indirekten) Einflussnahme auf das operative Geschehen. Natürlich besteht dabei die Erwartung, dass diese Akteure sich bei ihren „opera-tiven“ Handlungen bzw. Einflussnahmen an den autorisierten Strategien (bzw. aus den hieraus für sie abzuleitenden Teilstrategien) orientieren. Dies schließt aber nicht aus, dass auch die persönlichen Strategien weiterhin ebenfalls als Orientierungs-muster wirksam bleiben. Und dies geht in vielen Fällen über die Möglichkeit hinaus, die offiziellen Strategiebeschreibungen im Lichte der eigenen Interessen zu interpretieren. Mit anderen Worten: Die „Strukturen“ ermöglichen und begrenzen eine (zusätzliche) Orientierung der Positionsinhaber an ihren persönlichen Strategien. Und diese Möglichkeiten sind natürlich dann insbesondere auch wiederum durch jene (professionellen) Institutionen beeinflusst, die im weitesten Sinne eine „strategische Kontrolle“ ermöglichen.

Eine Vertiefung dieser Zusammenhänge muss auch Folgendes einbeziehen: Die durch die herrschende institutionelle Ordnung definierten Positionen von Akteuren eröffnen vielfach zwar die mehr oder weniger begrenzte Möglichkeit, (zusätzlich) auch persönliche Strategien wirksam werden zu lassen, nicht aber die Möglichkeit (und/oder Motivation), mit realistischen Aussichten auf Erfolg mit Forderungen und entsprechenden Aktivitäten Einfluss auf das Policy Making selbst zu nehmen. Die institutionelle Ordnung kann insgesamt so ausgeprägt sein, dass auf der einen Seite ein Policy Making mit einer (in Top-Position tätigen) kleinen Teilmengen von Akteuren stattfindet, auf der anderen Seite aber eine (größere) Teilmenge von Akteuren existiert, die zwar nicht am Policy Making sich beteiligen (können), die aber dennoch in Positionen tätig sind, die ihnen auch eine gewisse Verfolgung ihrer persönlichen Strategien ermöglichen. Dies kann so weit gehen, dass sich das eigentliche Policy Making relativ losgelöst und mit begrenzter Wirksamkeit im Gesamtunternehmen vollzieht, während ein großer Teil der operativen Aktivitäten an (Teil-)Strategien orientiert werden, in denen die offiziellen Strategien (als Outcome des Policy Making) nur begrenzt wirksam sind. Das Policy Making vollzieht sich in nicht seltenen Fällen ohne „Bodenhaftung“. Und es fällt schwer, hier dann so ohne weiteres von der Existenz einer (wirksamen) strategischen Führung zu sprechen.

Zwei Ergänzungen sind jedoch zu machen, die das hier gezeichnete Bild verfeinern und auch ein wenig relativieren.

(1) Die in Topposition tätigen Akteure, die auch das Policy Making selbst entscheidend prägen, sind in der Regel natürlich auch sonstige „Handelnde“. Wesentliche Aspekte der autorisierten Strategien werden von diesen Akteuren selbst umgesetzt. Und insofern sind die im Zusammenhang mit dem Policy Making entstehenden autorisierten Strategien, die ja in besonderem Maße von vornherein auf durch die auf persönlichen Strategien der Akteure beruhenden Forderungen beruhen, durchaus wirksam. Eine offizielle Expansionsstrategie führt etwa zu der Akquisition eines anderen Unternehmens und/oder zum Verkauf von

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Unternehmensteilen. Hier handeln die Topmanager unmittelbar und sie orientieren sich dabei dann natürlich durchaus an den im Policy Making entstandenen Strategien. Und die übrigen Akteure des Unternehmens bleibt auch gar nichts anderes übrig, als sich auf die so geschaffenen „vollendeten Tatsachen“ in ihrem eigenen Handeln einzustellen. Wenn so Teile der autorisierten Strategie tatsächlich wirksam werden, so ist dies dann aber wiederum nicht der Garant, dass die übrigen Aktivitäten trotz Berücksichtigung dieser „vollendeten Tatsachen“ uneingeschränkt die übrigen Aspekte der damit verfolgten offiziellen Strategie stets und ausschließlich als Orientierungsmuster ihres Handelns zugrunde legen. Was wir zur weiterhin vorhandenen Wirksamkeit der individuellen bzw. persönlichen Strategien dargelegt haben, bleibt auch in diesem Falle letztlich relevant.

(2) Wir müssen davon ausgehen, dass man im Unternehmen selten Akteure vorfindet, die aufgrund ihrer spezifischen Persönlichkeitsstrukturen über persönliche Strategien nach dem Motto „Freizeitorientierte Schonhaltung und Frühpensionierung“ verfügen. Die Sozialisationsmuster der effektiv in Unter-nehmen vorzufindenden Führungskräfte führen (trotz aller Unterschiedlichkeiten) zu Persönlichkeitsstrukturen, die ihre persönlichen Interessen mit Ideen hinsichtlich möglicher persönlicher Strategien verbünden, die diesen Strategien einen sehr engen Bezug zur Entwicklung des jeweiligen Unternehmens vermitteln. Ein kreativer und sich mit seiner Profession stark identifizierender Entwicklungs-ingenieur wird dann über persönliche Strategien verfügen, die die Zukunft des Unternehmens mit jenen Innovationen verknüpft, zu denen sich dieser Ingenieur als besonders befähigt betrachtet und über deren Verwirklichung er auch seine persönlichen Lebenspläne reflektiert. In dem Maße, wie sich dieser Entwicklungs-ingenieur insbesondere auch an seinen persönlichen (inhaltlich sehr stark mit der Entwicklung des Unternehmens verbundenen) Strategie im Rahmen der Möglich-keiten seiner Position orientiert, schafft er (zunächst möglicherweise fast „illegal“) Potenziale, für die man sich später im Unternehmen u.U. noch recht dankbar erweisen muss. Hierzu ein Beispiel: Aus unserer Beratungspraxis ist uns ein Fall bekannt, wo die strategische Wettbewerbsanalyse das beratene Unternehmen mit der für die Geschäftsführung völlig überraschenden Erkenntnis konfrontierte, dass der Hauptwettbewerber nahe daran ist, mit einer Innovation auf den Markt zu kommen, die das eigene Kerngeschäft existentiell bedroht. Und zur großen Über-raschung des Topmanagements offenbarte in dieser Krisensituation dann ein Ent-wicklungsingenieur, dass er „heimlich“ und mit vom offiziellen Budget abge-zweigten Ressourcen (zusammen mit einigen ihm besonders verbundenen Mitar-beitern) nebenbei schon seit einiger Zeit eine Innovation vorangetrieben hatte, die sich nunmehr als grundsätzlich geeignet erweist, die Bedrohung durch den Wett-bewerber abzuwehren.

Ein weiteres Beispiel (ebenfalls aus der erlebten Praxis): Ein Bereichsleiter eines größeren deutschen Unternehmens verfügt über das private Hobby, sich in besonderem Maße für die Geschichte Indiens zu interessieren, und seine privaten Urlaubsreisen zum Studium dieser Geschichte zu nutzen. Relativ frühzeitig gelangte er dabei zu der Überzeugung, dass Indien „im kommen“ ist. Nun verbindet er seine

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persönliche Strategie mit der Vorstellung, dass sich das Unternehmen aktiv in Indien engagieren sollte. Der Bereichsleiter verbindet dies natürlich mit dem Hintergedanken, dass er automatisch dann der Experte für Indien ist und damit auch einen Karrieresprung tun kann. In seiner Position ist nun aber aufgrund der existierenden institutionellen Ordnung dieser Bereichsleiter jetzt schon in der Lage, viele Aktivitäten an seiner persönlichen Strategie zu orientieren und entsprechend voranzutreiben – wohl wissend, das bei der herrschenden Konstellation in der Geschäftsführung das Thema „Indien“ noch keine reale Chance hat, auf die Agenda nachhaltig zu gelangen. Als dann später dieses Thema – vielleicht sogar als Modethema – dann doch virulent wurde, hatte dieser Bereichsleiter bereits für sein Unternehmen eine Basis geschaffen, die eine nun offizielle „Indien-Strategie“ kurzfristig machbar erscheinen ließe.

5.7 Strategische Führung und strategische Gemengelage

Im einleitenden Teilkapitel haben wir mit der Formel „von der Zielforschung zur Theorie der strategischen Führung“ die Entwicklung der wissenschaftlichen Diskus-sion im deutschsprachigen Raum zum Strategischen charakterisiert. Richtet man die Aufmerksamkeit auf die „Objekte“ dieser Bemühungen, d.h. auf die Ziele bzw. Strategien selbst, so kann man die von uns skizzierten Annäherungen an die Theorie der strategischen Führung durch folgende Formel kennzeichnen: „Vom Zielsystem der Unternehmung zur strategischen Gemengelage polyzentrischer Konstella-tionen“. Im Folgenden wollen wir diese Entwicklung kurz nachzeichnen. Dabei soll deutlich werden, weshalb wir den umgangssprachlichen Begriff der „Gemengelage“ verwenden. Wir assoziieren damit die Vorstellung einer relativ unübersichtlichen, heterogenen und ungeordneten Vielfalt.

(1) Die Vorstellung einer Gemengelage wurde – ohne dass dieses Wort verwendet worden wäre – bereits bei der Betrachtung des Zielsystems der Unternehmung bzw. in der Unternehmung angekündigt. Der Leser sei noch einmal an die Erörterungen zum Prozess der Zielbildung, zur empirischen Unwahrscheinlichkeit offiziell autori-sierter Zielformulierungen der Unternehmung und zur Betrachtung der Formierung von Zielen gleichsam als Nebeneffekt der politischen Auseinandersetzungen um konkrete Maßnahmen erinnert. Bereits dies signalisierte eine Abkehr von der Vor-stellung, Unternehmen seien normalerweise durch ein wohl geordnetes System von Zielen der Unternehmung charakterisiert. Dieses Bild einer Gemengelage wird noch deutlicher, wenn man die Überlegungen zur Zielbildung auf die Betrachtung von Grundsätzen und Strategien (im engeren Sinne) erweitert.

(2) Auch wenn wir den Begriff der Strategie an Handlungsorientierungen „in den Hinterköpfen“ der Akteure festmachen, so muss eine realistische Betrachtung des Strategischen die vielfältigen Strategieformulierungen berücksichtigen, die sich in relativ „flüchtigen“ Kommunikationen, aber natürlich auch in schriftlich festgehal-tenen und nachhaltig kommunizierten Strategieplänen manifestieren können. Solche

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Strategieformulierungen können auch (jenseits einer Planung) Rekonstruktionen von bereits existierenden formierten Strategien sein, die dann aber durch ihre mehr oder weniger nachhaltige Kommunikation in Unternehmen zur Verfestigung dieser Strategien, aber auch zu ihrer weiteren Verbreitung in Unternehmen führen können. Und auch außenperspektivische Beobachtungen von strategischen Manövern kön-nen diesen Effekt erzielen: Man orientiert sich in der Zukunft an erfolgreichen Ma-növern, denen zunächst keine hierauf gerichtete Strategie zu Grunde gelegt ist. Schließlich müssen aber zur strategischen Gemengelage auch konkrete strategische Maßnahmen gerechnet werden, die zwar zunächst nur eine ganz konkrete Situation betreffen, aber jederzeit als Präzedenzfälle wirken können, aus denen sich Generali-sierungen formieren, die dann für weitere Fälle zu strategieartigen Handlungsorien-tierungen werden.

(3) Weiterführende Überlegungen müssen schließlich die Aspekte der Themen- und Agendabildung in Unternehmen einbeziehen. „Themen“, die mehr oder weniger nachhaltig auf der Agenda des Unternehmens sind und kontrovers verhandelt wer-den, sind zunächst bei vordergründiger Betrachtung noch keine Strategien. Bei ge-nauerer Betrachtung zeigt sich dann häufig, dass sich hierin schon vorläufige strate-gische Weichenstellungen niederschlagen, an denen man sich bereits orientiert, obwohl in den Verhandlungen immer noch der Eindruck erweckt wird, es handle sich um „Nur-Themen“. Man denke etwa an folgendes Beispiel: In einem Unternehmen wird die Kundenorientierung zum Thema. Während noch diskutiert wird, welche für dieses Unternehmen hinter diesem Thema stehenden effektiven Strategien sich verbergen, bilden vorläufige Interpretationen der „Kunden-orientierung“ bereits strategische Orientierungen, an denen sich einzelne Akteure im alltäglichen Geschäft orientieren. Analoges kann auftreten, wenn eine (eventuell fremde) außenperspektivische Beobachtung eines strategischen Manövers im Unternehmen zum „Thema“ wird. Ab wann wird eine „Nur-Beobachtung“ zu einer Handlungsorientierung, die als Strategie charakterisiert werden kann?

(4) Eine weitere Ergänzung knüpft an der im einleitenden Teilkapitel eingeführten Unterscheidung zwischen Zielen und Erfolgsmaßstäben an. Erfolgsmaßstäbe wer-den auch unabhängig von angestrebten Zielen relevant, wenn es darum geht, ex post die tatsächlichen Ergebnisse als „Erfolg“ zu deklarieren. Natürlich können die zunächst ex post verwendeten Erfolgsdefinitionen bzw. Erfolgsmaßstäbe immer auch später zu Ex-ante-Zielen werden. Erfolgsmaßstäbe spielen auch bei außenper-spektivischen Beobachtungen strategischer Manöver im Sinne des FME-Schemas (Feld-Manöver-Erfolg) eine Rolle. Dabei mag es sich zunächst um Erfolgsmaßstäbe externer Beobachter handeln, die dann aber u.U. via eines eventuellen Aufgreifens solcher Beobachtungen durch Akteure im Unternehmen auch innerhalb des Unter-nehmens virulent werden können. Wir müssen also die vielfältigen Erfolgsmaßstäbe in die jeweilige strategische Gemengelage einbeziehen.

(5) Die Gemengelage von Zielen, Erfolgsmaßstäben, Strategien, Grundsätzen, stra-tegischen Themen, Beobachtungen strategischer Manöver, strategischer Maßnah-men als potentieller Präzedenzfälle usw. wird noch vielfältiger und entsprechend

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unübersichtlicher, wenn man die Betrachtung auf die inzwischen allgegenwärtigen Unternehmensverbindungen (von konzernartigen Strukturen bis hin zu Allianzen) und auf die damit verbundenen polyzentrischen Strukturen systematisch ausdehnt.

Der Begriff der Gemengelage ist – wie erwähnt – ein umgangssprachlicher Begriff, der in der gegenwärtigen theoretischen Diskussion noch nicht zu finden und inso-fern auch „unbelastet“ ist. Er kann für weiterführende theoretische Überlegungen entsprechend interpretiert und präzisiert werden. Zunächst soll dieser Begriff vor allem eine verfremdende Wirkung ausüben und dazu anregen, über das Strategische von Unternehmen bzw. Unternehmensverbindungen anders als üblich zu denken. Der Begriff der Gemengelage wird zwar in der scientific community „Strategische Führung“ und auch in der Organisationstheorie bislang nicht verwendet. Man findet ihn jedoch im Zusammenhang mit der Flurbereinigung. Mit „Gemengelage“ wird die Ausgangssituation der Flure bezeichnet, deren Zustand und Konstellation eine „Flurbereinigung“ notwendig macht. Wenn wir also im Folgenden den Begriff der Gemengelage verwenden, so ist dies metaphorisch gemeint. Wir haben es auch im Falle der Betrachtung des Strategischen mit Gemengelagen und mit ständigen Be-mühungen um „Flurbereinigungen“, d. h. mit Ordnungsversuchen dieser Gemenge-lagen zu tun. Dass dann solche Flurbereinigungen nach einiger Zeit zu der Erkennt-nis führen mögen, dass nunmehr eine andere „Gemengelage“ vorliegt, die erneute Flurbereinigungen nach anderen Gesichtspunkten wünschenswert erscheinen lässt, ist eine durchaus gewünschte Implikation dieser Metapher. Man kann also einiges aus der Flurbereinigung lernen.

Die strategische Gemengelage wird in aller Regel von beteiligten Akteuren be-obachtet, und es gibt immer wieder Bemühungen, eine Ordnung und damit eine „Richtung“ in diese Gemengelage zu bringen. Vor allem in professionell geführten Unternehmen werden mehr oder weniger umfassende und in sich konsistente Stra-tegiepläne erarbeitet und kommuniziert, um dem jeweiligen Unternehmen zu einer einheitlichen strategischen Richtung zu verhelfen. Und wie im Bereich der Flurbe-reinigung sind auch Ordnungsversuche der strategischen Gemengelage nicht ohne Erfolg. Doch man sollte auch hier illusionslos bleiben, auch wenn wir uns ange-sichts des Standes der theoretischen und empirischen Forschung bislang schwer tun, die Implikationen der angedeuteten Sichtweise präziser auszuarbeiten. Auch hier muss zunächst ein Bild anderer Art genügen: Der Leser stelle sich auf einer ebenen Fläche eine Menge mehr oder weniger ungeordneter Eisenspäne vor, die zunächst in unterschiedliche Richtungen weisen. Man kann nun einen Magneten verwenden, um diesen Eisenspänen eine einheitliche Richtung zu geben. Aber wenn die Grundflä-che der Ebene Reibungen verursacht und der Magnet darüber hinaus relativ schwach ist, dann ergibt sich zwar eine gewisse Neuausrichtung der Eisenspäne, aber doch nicht so, dass diese nun alle in die gleiche Richtung zeigen. Noch realisti-scher wird dieses Bild u.U., wenn mehrere Magnete an unterschiedlichen Stellen wirksam werden, wie dies nicht unwahrscheinlich ist, wenn im politischen Prozess mehrere „mächtige“ Akteure unterschiedliche Richtungen vorantreiben.

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So weit unsere sehr vorläufigen Überlegungen, die wir mit der Verwendung des Begriffes der strategischen Gemengelage und der Metapher der „Eisenspäne“ verbinden. Der Leser, der sich mit den heute üblichen Lehrbüchern und Monogra-phien zu Fragen der strategischen Führung näher befasst, wird wohl Folgendes fest-stellen: Die dort verwendeten Kategorien und Konzepte passen in erster Linie auf die Bemühungen um „Flurbereinigungen“ und sind vor allem im Zusammenhang mit einer professionellen strategischen Führung sicherlich hilfreich.

Aber man findet selten Hinweise auf jene Konstellationen des Strategischen, die wir durch den Begriff der strategischen Gemengelage erfassen und die den illusionslos zu betrachtenden Hintergrund der Bemühungen einer strategischen Führung um „Flurbereinigungen“ bilden.