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5. Vorlesung: Theorie des kommunikativen Handelns Meine Damen und Herren! Am Ende der letzten Vorlesung habe ich Ihnen die Gebrauchstheorie der Bedeutung vorgestellt: "Das Sprechen der Sprache (ist) ein Teil einer Tätigkeit.." Wittgenstein nahm damit die Sprechakttheorie vorweg, die der englische Linguist John Austin in seinem Buch How to do Things with Words (1962, deutsch 1972) begründet hat. In der Sprechakttheorie geht es um den Handlungszusammenhang sprachlicher Äußerungen: Wir handeln durch unsere Worte, wenn wir Sagen, wie etwas ist Andere veranlassen, etwas zu tun Versprechen, selber etwas zu tun Unsere Gedanken, Gefühle, Erfahrungen mitteilen Durch Worte die Realität verändern. Sprachliche Äußerungen sind in einen sozialen Kontext eingebettet: Behauptungen, Wünsche, Befehle und Fragen haben nicht nur eine Bedeutung, sondern sie haben über ihren semantischen Inhalt hinaus Verpflichtungen zwischen Sprecher und Hörer zur Folge. So bindet mich etwa die Äußerung "Ich komme heute Abend vorbei" daran, mein Versprechen auch zu halten. Wenn ich es nicht tue, muß ich mich rechtfertigen - oder ich verliere meine soziale Glaubwürdigkeit. Handeln durch Sprechen bezieht sich aber nicht nur auf elementare Äußerungen: Einen Witz, eine Geschichte erzählen, sich entschuldigen, ein Streitgespräch führen, flirten, jemandem einen Heiratsantrag machen, ein Interview führen oder interpretieren - all das sind Beispiele für komplexe Sprechhandlungen, die sich aus elementaren Sprechakten - und den damit verbundenen nichtsprachlichen Handlungskomponenten - zusammensetzen. Auf diesen sprachphilosophischen und linguistischen Grundlagen aufbauend formulierte der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas (geb. 1929) eine umfassende Kommunikationstheorie, die uns als nächstes beschäftigen soll. 1. Kommunikations- und Gesellschaftstheorie Habermas steht in der Tradition der Kritischen Theorie der "Frankfurter Schule" (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Erich Fromm und andere). In seiner "Theorie des kommunikativen Handelns" legt er (1981a, 1981b) eine Gesellschaftstheorie vor, die sowohl das Lebenswelt-Konzept wie die Sprechakttheorie, als auch psychoanalytische Erkenntnisse über verzerrte Kommunikation integriert. Diese Theorie verbindet den lebensweltlichen mit einem systemtheoretischen Zugang zum Alltag und erlaubt damit die Berücksichtigung objektiver Lebensbedingungen in ihren Auswirkungen auf den Alltag. Ich halte Habermas' Theorie für den derzeit umfassendsten Rahmen für eine verstehende Diagnostik. Ich möchte Ihnen, bevor ich auf diese recht abstrakte Theorie eingehe, einen Eindruck von Habermas' Vision eines "herrschaftsfreien Diskurses" vermitteln, d.h. einer Kommunikation, in der nicht Machtverhältnisse "das Sagen haben", sondern in der es um Verständigung auf der Basis von Freiwilligkeit und Gleichberechtigung der

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5. Vorlesung:Theorie des kommunikativen Handelns

Meine Damen und Herren!

Am Ende der letzten Vorlesung habe ich Ihnen die Gebrauchstheorie der Bedeutung vorgestellt:"Das Sprechen der Sprache (ist) ein Teil einer Tätigkeit.." Wittgenstein nahm damit dieSprechakttheorie vorweg, die der englische Linguist John Austin in seinem Buch How to doThings with Words (1962, deutsch 1972) begründet hat. In der Sprechakttheorie geht es um denHandlungszusammenhang sprachlicher Äußerungen: Wir handeln durch unsere Worte, wenn wir

• Sagen, wie etwas ist

• Andere veranlassen, etwas zu tun

• Versprechen, selber etwas zu tun

• Unsere Gedanken, Gefühle, Erfahrungen mitteilen

• Durch Worte die Realität verändern.

Sprachliche Äußerungen sind in einen sozialen Kontext eingebettet: Behauptungen, Wünsche,Befehle und Fragen haben nicht nur eine Bedeutung, sondern sie haben über ihren semantischenInhalt hinaus Verpflichtungen zwischen Sprecher und Hörer zur Folge. So bindet mich etwa dieÄußerung "Ich komme heute Abend vorbei" daran, mein Versprechen auch zu halten. Wenn iches nicht tue, muß ich mich rechtfertigen - oder ich verliere meine soziale Glaubwürdigkeit.

Handeln durch Sprechen bezieht sich aber nicht nur auf elementare Äußerungen: Einen Witz,eine Geschichte erzählen, sich entschuldigen, ein Streitgespräch führen, flirten, jemandem einenHeiratsantrag machen, ein Interview führen oder interpretieren - all das sind Beispiele fürkomplexe Sprechhandlungen, die sich aus elementaren Sprechakten - und den damitverbundenen nichtsprachlichen Handlungskomponenten - zusammensetzen.

Auf diesen sprachphilosophischen und linguistischen Grundlagen aufbauend formulierte derSoziologe und Philosoph Jürgen Habermas (geb. 1929) eine umfassendeKommunikationstheorie, die uns als nächstes beschäftigen soll.

1. Kommunikations- und Gesellschaftstheorie

Habermas steht in der Tradition der Kritischen Theorie der "Frankfurter Schule"(Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Erich Fromm und andere). In seiner "Theorie deskommunikativen Handelns" legt er (1981a, 1981b) eine Gesellschaftstheorie vor, diesowohl das Lebenswelt-Konzept wie die Sprechakttheorie, als auch psychoanalytischeErkenntnisse über verzerrte Kommunikation integriert. Diese Theorie verbindet denlebensweltlichen mit einem systemtheoretischen Zugang zum Alltag und erlaubt damitdie Berücksichtigung objektiver Lebensbedingungen in ihren Auswirkungen auf denAlltag.

Ich halte Habermas' Theorie für den derzeit umfassendsten Rahmen für eine verstehendeDiagnostik. Ich möchte Ihnen, bevor ich auf diese recht abstrakte Theorie eingehe, einenEindruck von Habermas' Vision eines "herrschaftsfreien Diskurses" vermitteln, d.h. einerKommunikation, in der nicht Machtverhältnisse "das Sagen haben", sondern in der es umVerständigung auf der Basis von Freiwilligkeit und Gleichberechtigung der

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Teilnehmenden geht.

Ich zitiere aus einem Interview (aus Ästhetik und Kommunikation 45/46, 1981), in demHabermas von seiner grundlegenden Intuition spricht:

"Die Intuition stammt aus dem Bereich des Umgangs mit anderen; sie zielt aufErfahrungen einer unversehrten Intersubjektivität, fragiler als alles, was bisher dieGeschichte an Kommunikationsstrukturen aus sich hervorgetrieben hat - ein Netz vonintersubjektiven Beziehungen, das gleichwohl ein Verhältnis zwischen Freiheit undAbhängigkeit ermöglicht, wie man es sich immer nur unter interaktiven Modellenvorstellen kann. Es sind Vorstellungen von geglückter Interaktion. Gegenseitigkeiten undDistanz, Entfernungen und gelingender, nicht verfehlter Nähe, Verletzbarkeiten undkomplementäre Behutsamkeiten - all diese Bilder von Schutz, Exponiertheit und Mitleid,von Hingabe und Widerstand steigen aus einem Erfahrungshorizont des, um es mitBrecht zu sagen, freundlichen Zusammenlebens auf. Diese Freundlichkeit schließt nichtetwa den Konflikt aus, sondern was sie meint, sind die humanen Formen, in denen manKonflikte überleben kann."

2. HandlungstypenHabermas (Theorie des kommunikativen Handelns. 1981, Bd. 1) geht aus von dersoziologischen Grundfrage, wie soziales Zusammenleben von Menschen möglich ist.Seine Handlungstheorie teilt mit dem dialektischen Materialismus die Auffassung, daßder handelnde Mensch sowohl Produkt als auch Schöpfer seiner sozialen Umwelt ist.Habermas unterscheidet gegenstandsbezogenes oder instrumentelles Handeln (z.B. einHaus bauen) und soziales Handeln (z.B. die Abstimmung der Bauleute beim Hausbau).

Innerhalb des sozialen Handelns unterscheidet er strategisches (erfolgsorientiertes) undverständigungsorientiertes Handeln. Der strategisch Handelnde versucht, seine Zieleunabhängig vom Einverständnis der Mithandelnden zu erreichen, z.B. durch Zwang oderBelohnung (offenes strategisches Handeln) oder indem er scheinbarverständigungsorientiert handelt (verdeckt strategisches Handeln).Verständigungsorientiertes Handeln heißt demgegenüber, dem Gesprächspartner ohneTricks und Hintergedanken zu begegnen, so daß dieser sich aus freien Stückenentscheiden kann.

Im letzteren Fall kann die Täuschung dem Handelnden bewußt sein (der Fall derbeabsichtigten Manipulation) oder sich für ihn selber unbewußt einstellen (der Fall derdurch Selbsttäuschung verzerrten Kommunikation, z.B. wenn jemand seinen Partner inscheinbar "bester Absicht" manipuliert, ohne es selber zu bemerken). Dasverständigungsorientierte oder kommunikative Handeln dient demgegenüber dereinvernehmlichen Abstimmung der Kommunikationsteilnehmer ("Überzeugen"). DieUnterscheidung zwischen verständigungsorientiertem Handeln, bewußter und unbewußterTäuschung ergibt auch eine erste Orientierung für die Interpretation und Validierungdiagnostischer Kommunikationsakte.

Innerhalb des sozialen Handelns unterscheidet er strategisches (erfolgsorientiertes) undverständigungsorientiertes Handeln. Der strategisch Handelnde versucht, seine Zieleunabhängig vom Einverständnis der Mithandelnden zu erreichen, z.B. durch Zwang oderBelohnung (offenes strategisches Handeln) oder indem er scheinbarverständigungsorientiert handelt (verdeckt strategisches Handeln).Verständigungsorientiertes Handeln heißt demgegenüber, dem Gesprächspartner ohne

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Tricks und Hintergedanken zu begegnen, so daß dieser sich aus freien Stückenentscheiden kann.

Handlungstypen nach Habermas (1981)

3. Lebenswelt und KommunikationAus der Perspektive handelnder Subjekte ist der Ort des sozialen Handelns die alltäglicheLebenswelt. Den Begriff der Lebenswelt übernimmt Habermas aus der Tradition derPhänomenologie (Alfred Schütz). Das phänomenologische Lebensweltkonzept erhält allerdingsbei Habermas eine kommunikationstheoretische Wendung. Der Zugang zur Lebensweltkonkreter Menschen erschließt sich nicht über die phänomenologische Wesensschau (die führthöchstens zur Lebenswelt des Phänomenologen!), sondern nur über die gelebte Teilnahme ansozialen Interaktionen. Habermas formuliert hier sozusagen eine Grundregel verstehenderDiagnostik (1981 I, S. 164-165):

"Sinnverstehen ist .. eine solipsistisch undurchführbare, weil kommunikative Erfahrung. DasVerstehen einer symbolischen Äußerung erfordert grundsätzlich die Teilnahme an einem Prozeßder Verständigung. Bedeutungen, ob sie nun in Handlungen, Institutionen, Arbeitsprodukten,Worten, Kooperationszusammenhängen oder Dokumenten verkörpert sind, können nur voninnen erschlossen werden. Die symbolisch vorstrukturierte Wirklichkeit bildet ein Universum,das gegenüber den Blicken eines kommunikationsunfähigen Beobachters hermetischverschlossen, eben unverständlich bleiben müßte. Die Lebenswelt öffnet sich nur einem Subjekt,das von seiner Sprach- und Handlungskompetenz Gebrauch macht. Es verschafft sich dadurchZugang, daß es an den Kommunikationen der Angehörigen mindestens virtuell teilnimmt und soselber zu einem mindestens potentiellen Angehörigen wird."

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Diese Grundregel gilt ebenso für das heranwachsende Kind, das erstmals in eine Lebenswelthineinwächst, wie für jemand, der eine fremde Menschengruppe kennenlernt, wie auch für denSozialwissenschaftler oder Diagnostiker, der die Lebenswelt eines Menschen oder einer Gruppevon Menschen erforschen möchte.

Habermas orientiert sich hier an der Tradition "dialogischer Philosophie" im Gegensatz zurmonologischen Bewußtseinsphilosophie (Descartes, Kant, Husserl, Schütz). ("Ich spreche mitDir - also bin ich" im Gegensatz zu "Ich denke, also bin ich".) Die "Ich-Du-Beziehung" ist etwafür Martin Buber (1878-1965) grundlegend für die menschliche Existenz und nicht weiterableitbar. Buber schreibt in Übereinstimmung mit den Ergebnissen derEntwicklungspsychologie: "Nicht durch ein Verhältnis zu seinem Selbst, sondern nur durch einVerhältnis zu einem anderen Selbst kann der Mensch selbst werden" (Buber 1979).

Habermas' Lebenswelt-Begriff ist komplex. Er unterscheidet

• die materielle Grundlage der Lebenswelt (unbelebte und belebte Natur und vomMenschen gestaltete Umwelt),

• die symbolischen Komponenten der Lebenswelt, die durch die Teilnahme der Menschenam "Netz kommunikativer Alltagspraxis" erhalten und von Generation zu Generationweitergegeben werden. Diese symbolischen Komponenten sind

1. Kultur: unser gesellschaftlicher Wissensvorrat an Deutungsmustern (im Sinne vonSchütz) - als symbolische Grundlage jeder Verständigung

2. Gesellschaft: das "soziale Band", d.h. die konkreten sozialen Beziehungen, Solidaritätenund Einbindungen des einzelnen

3. Persönlichkeit: die durch Sozialisation entwickelte kommunikative Kompetenz deseinzelnen

4. Grundvoraussetzungen für Verständigung

Kommunikatives Handeln erfolgt in sozialen Situationen (s. Folie), in denen aufgrund einesProblems oder Konfliktes ein Verständigungsbedarf entsteht. Die soziale Situation ist einAusschnitt aus der Lebenswelt der Beteiligten, der aufgrund von Interessen und Handlungszielenvon mindestens einem Beteiligten zum Thema gemacht wird. Weitere Bestimmungsstücke dersozialen Situation sind der Ort, Zeit, die sozialen Beziehungen der Beteiligten und die für dasThema relevanten objektiven und subjektiven Rahmenbedingungen. (Für gegenstandsbezogenesHandeln gelten entsprechend modifizierte Bestimmungsstücke der Handlungssituation.) DenHintergrund kommunikativer Äußerungen ("Sprechakte") bilden die lebensweltlichenSituationsdefinitionen der Beteiligten, die sich genügend überlappen müssen, wenn dieVerständigung gelingen soll. Andernfalls muß versucht werden, zunächst im Prozeß derVerständigung eine gemeinsame Situationsdefinition auszuhandeln. Indem sich dieKommunikationsteilnehmer miteinander über ihre Situation verständigen, benutzen und erneuernsie ihre kulturellen Wissensbestände, bekräftigen sie ihre sozialen Beziehungen undGruppenzugehörigkeiten und entwickeln sie - besonders als Heranwachsende - ihrekommunikative Handlungsfähigkeit und Identität. Der Erhalt und die Erneuerung der Lebenswelteiner sozialen Gruppe wie auch eines jeden Mitglieds ist also gebunden an die Teilnahme am"Netz kommunikativer Alltagspraxis". Soziale Situationen im oben beschriebenen Sinn stellendie kleinsten sinnvollen Analyseeinheiten für eine verstehende Diagnostik dar.

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Beispiel einer sozialen Situation mit Verständigungsbedarf (nach Schulz von Thun 1981)

Nehmen wir zur Veranschaulichung ein Beispiel aus dem Buch "Miteinander reden" (Schulz vonThun 1981): Ein Paar in einem Auto. Thema ist hier das Autofahren. HypothetischeHandlungsziele: Schneller vorankommen aber auch Besserwisserei. Zeitliche, räumliche , sozialeRandbedingungen: Kreuzung, Ampel, Eile, Paarbeziehung. Situationsdefinition des Mannes: "Dupaßt nicht auf!" Situationsdefinition der Frau: "Du sollst mir nicht ´reinreden". Es liegt also einKonflikt vor, möglicherweise auch ein Verständigungsbedarf. (Es kann aber auch sein, daß dieserWortwechsel zwischen den beiden zu einem "Ritual" erstarrt ist, über das eine Verständigungnicht mehr möglich ist oder nicht mehr gewünscht wird!)

Wenden wir uns vor diesem Hintergrund dem Vorgang der Verständigung zu. Habermas stellt inAnlehnung an Kant die grundsätzliche Frage nach der "Bedingung der Möglichkeit vonVerständigung" (in Kants Kritik der reinen Vernunft ging es um die Bedingung der Möglichkeitvon Erkenntnis). Diese Bedingung ist nach Habermas erfüllt, wenn Sprecher und Hörer sich andie folgenden vier Grundregeln oder Geltungsansprüche der Verständigung halten:

1) verständlich zu sprechen

2) in bezug auf die Welt der Tatsachen bei der Wahrheit zu bleiben

3) in bezug auf die Welt der sozialen Beziehungen angemessen zu kommunizieren

4) in bezug auf die innere Welt der eigenen Absichten und Gefühle aufrichtig zu sein.

Die vier Geltungsansprüche der Verständigung leiten sich ab aus vier Weltbezügenkommunikativer Äußerungen. Diese Welten, auf die sich Kommunikation bezieht, sind

1) die formale Welt der Sprache (Verständlichkeit)

2) die objektive Welt der Tatsachen und der "äußeren Natur" (z.B. "Ich bin in Berlin geboren")

3) die soziale Welt der interpersonalen Beziehungen (z.B. "Meine Vorstrafen gehen Sie nichtsan!")

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4) die subjektive Welt der Gefühle, Wünsche, Absichten und Gedanken, der "inneren Natur"(z.B. "Mein sehnlichster Wunsch war es, einen Freund zu finden")

In der folgenden Tabelle sind die Geltungsansprüche, ihre Weltbezüge und die zu ihrer Klärungentwickelten wissenschaftlichen Diskurssysteme zusammengefaßt:

WELTBEZÜGE GELTUNGSANSPRÜCHE KLÄRUNGSMÖGLICHKEITEN"WELT DER SPRACHE" Verständlichkeit Philosophischer Diskurs

OBJEKTIVE WELT Wahrheit theoretischer Diskurs

SOZIALE WELT Richtigkeit ethischer Diskurs

SUBJEKTIVE WELT Aufrichtigkeit/Autentizität therapeutische/ästhetische Kritik

Die hier getrennt dargestellten Bezüge kommunikativer Handlungen sind gewöhnlich bei ein undder selben sprachlichen Äußerung gemeinsam gegeben, d.h. jeder kommunikative Akt beziehtsich gleichzeitig auf die formale, objektive, soziale und subjektive Welt. Wenn ich spreche, sageich zugleich etwas über meine objektive Welt, über meine Beziehung zum Gesprächspartner undüber mich selbst (Inhalts-, Beziehungs- und Selbstdarstellungsaspekt). (Schulz von Thun (1981)in diesem Zusammenhang von den vier Seiten einer Botschaft, wobei er neben demBeziehungsaspekt noch den Appellcharakter der Botschaft hervorhebt.)

Praktisch sind die Geltungsansprüche des verständigungsorientierten Handelns allerdings seltenvollständig erfüllt. Habermas schreibt dazu:

"Typisch sind Zustände in der Grauzone zwischen Unverständnis und Mißverständnis,beabsichtigter und unfreiwilliger Unwahrhaftigkeit, verschleierter und offener Nicht-Übereinstimmung einerseits, Vorverständigtsein und Verständigung andererseits; in dieser Zonemuß Einverständnis aktiv herbeigeführt werden. Verständigung ist also ein Prozeß, derUnverständnis und Mißverständnis, Unwahrhaftigkeit sich und anderen gegenüber, schließlichNicht-Übereinstimmungen auf der gemeinsamen Basis von Geltungsansprüchen zu überwindensucht" (Habermas 1984, S. 253).

Während beabsichtigte Unwahrhaftigkeit in Interessen- und Machtkonflikten, in derUngleichheit, Unterdrückung und Vorteilssuche begründet ist, findet die unfreiwilligeUnwahrhaftigkeit ihren Nährboden in den Selbsttäuschungen, Lebenslügen und neurotischenKonflikten der Kommunikationsteilnehmer.

Man könnte fragen, welche Bedeutung die Geltungsansprüche haben, wenn sie gewöhnlich dochnicht erfüllt werden. Die Antwort lautet:

• Sie dienen in unserer Alltagskommunikation als wechselseitiger Vertrauensvorschuß derZurechnungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit, wobei geringfügige, das jeweiligeVerständigungsziel nicht beeinträchtigende Verletzungen toleriert werden. Gewöhnlichakzeptieren wir solche Verletzungen nach der "Et-cetera - Regel", die besagt, daß sich dieUnstimmigkeiten entweder später aufklären oder als für das aktuelle Handlungsziel nichtwesentlich erweisen werden.

• Die Geltungsansprüche werden nach Habermas bei verständigungsorientierterKommunikation stillschweigend vorausgesetzt. Wenn der Hörer annehmen muß, daß siein grober Weise verletzt werden, hat er die Möglichkeit, ihre Beachtung durch den

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Sprecher einzufordern, d.h. das Gesagte mit guten Gründen" zu kritisieren, und zwar

1) mit sprachlichen Argumenten ("Du drückst Dich unklar aus")

2) mit empirischen Argumenten ("Das entspricht nicht den Tatsachen")

3. 3) mit normativen Argumenten ("Das gehört jetzt nicht hierher") und

4. 4) mit psychologischen Argumenten ("Du machst mir was vor").

5. Die Grenzen des Verstehens

Habermas stellt die Verständigungsfähigkeit kommunikativ vernünftiger Subjekte in denMittelpunkt seiner Gesellschaftstheorie. Seine Rahmentheorie kann als Grundlage dienen für dieverstehende Diagnostik. Wir werden später sehen, wie aus der Konzeption derGeltungsansprüche "Gütekriterien" für die Qualitätskontrolle von Interviews und anderenkommunikativen Methoden abgeleitet werden können.

Habermas betont aber auch die Grenzen des Verstehens: Die biologischen, psychischen undgesellschaftlichen Bedingungen des Handelns sind den Handelnden immer nur zum Teildurchschaubar. Die Handelnden sind "in Geschichten verstrickt", d.h. sie sind nicht nurHandelnde, sondern immer auch Erleidende, die ihren Lebenssituationen oft mehr oder wenigerhilflos ausgeliefert sind. In der Lebensbewältigung stellen sich Probleme der "äußeren" ebensowie der "inneren Not". Die Menschen beherrschen und durchschauen ihre objektiv gegebeneLebenssituation, ihre inneren Konflikte und ihre Verständigungsmöglichkeiten nur zu einemkleinen Teil.

Dreifacher Zugang zum Gegenstand der Psychologie

Eine sich im lebensweltlichen Verstehen der Gesellschaftsmitglieder erschöpfendeSozialwissenschaft oder Psychologie greift deshalb zu kurz, weil sie von der Fiktion autonomhandelnder und selbstaufgeklärter Subjekte ausgeht, weil sie die kulturellenSelbstverständlichkeiten als letzten Verstehenshorizont nicht in Frage stellen kann und weil sie

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annehmen muß, daß die Gesellschaftsmitglieder sich über alles verständigen können. Aus diesenÜberlegungen ergibt sich die Notwendigkeit eines dreifachen Zugangs zur alltäglichenLebenswelt und zum Gegenstand der Psychologie:

• Die Analyse der "äußeren Not" erfordert eine objektivierende Beobachterperspektive, inder sich das menschliche Handeln und Erleiden als Teilaspekt eines größerenSystemzusammenhangs darstellt. Die Lebensweltanalyse muß deshalb durch eine(biologische und gesellschaftliche) Systemanalyse ergänzt werden.

• Die Sicht des Subjekts erschließt sich dagegen nur durch Methoden des Verstehens, d.h.durch die Teilnahme an Kommunikationsprozessen.

• Die Analyse der "inneren Not" erfordert ein besonderes Verfahren des Verstehens, das dieSicht des Subjekts überschreitet und seine Selbsttäuschung und verzerrte Kommunikationzu entwirren erlaubt. Hier macht sich die Theorie des kommunikativen Handelns dieMethoden und Erkenntnisse einer um Selbstaufklärung des Verdrängten bemühtenPsychoanalyse nutzbar (Habermas, 1973).

6. Anregungen für die Diskussion

• Welche Typen sozialen Handelns werden nach Habermas unterschieden?

• Diskutieren Sie Habermas´ Kritik am phänomenologischen Lebenswelt-Konzept undseine kommunikationstheoretische Erweiterung. Komponenten der Lebenswelt?

• Diskutieren Sie die soziale Situation und ihre Bestimmungsstücke als Analyseeinheit fürsoziales Handeln.

• Was versteht man unter Weltbezügen und Geltungsansprüchen kommunikativerÄußerungen? Diskutieren Sie in diesem Zusammenhang die 4 Seiten einer Botschaft(Schulz von Thun).

• Was versteht man unter der Et-cetera - Regel? Wieso ist sie wichtig für dieKommunikation?

• Begründen Sie die Grenzen des Verstehens und leiten Sie daraus die unterschiedlichenZugangsweisen der Psychodiagnostik ab.

7. Literatur

Austin, J.:

How to do Things with Words. Oxford 1962

(deutsch: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 1972

Buber, M.:

Ich und Du. Lambert Schneider: Heidelberg (1979)

Habermas, J.:

Erkenntnis und Interesse. Suhrkamp: Frankfurt (1973)

Habermas, J.:

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Theorie des kommunikativen Handelns. (Bd. 1 und 2) Suhrkamp: Frankfurt (1981)

Habermas, J.:

Vorstudien und Ergänzungen zur Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns.

Suhrkamp: Frankfurt (1984)

Schulz von Thun, F.:

Miteinander reden: Störungen und Klärungen. Rowohlt: Reinbek (1981)

Schulz von Thun, F.:

Miteinander reden Bd. 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. DifferentiellePsychologie der Kommunikation. Rowohlt: Reinbek (1989)