20

,#510 · ,#510 *+%-'. &+' 6;4#00'+ &'5 9#%*567/5 9 7 9 ! Aus dem Englischen von Karsten Petersen und omas Pfei er

  • Upload
    others

  • View
    7

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: ,#510 · ,#510 *+%-'. &+' 6;4#00'+ &'5 9#%*567/5 9 7 9 ! Aus dem Englischen von Karsten Petersen und omas Pfei er

JASON HICKEL

DIETYRANNEI DESWACHSTUMS

Wie globale Ungleichheit

die Welt spaltet und was dagegen zu

tun ist

Aus dem Englischenvon Karsten Petersen und Thomas Pfeiffer

Ausfuumlhrliche Informationen uumlberunsere Autoren und Buumlcher

wwwdtvde

Dieses Buch ist auch als eBook erhaumlltlich

dtv Verlagsgesellschaft mbH amp Co KG Muumlnchencopy 2017 Jason Hickel

Titel der englischen OriginalausgabersaquoThe Divide A Brief Guide to Inequality and its Solutionslsaquo

(William Heinemann London 2017)copy 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

dtv Verlagsgesellschaft mbH amp Co KG MuumlnchenDas Werk ist urheberrechtlich geschuumltzt

Saumlmtliche auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehaltenFuumlr Inhalte von Webseiten Dritter auf die in diesem Werk verwiesenwird ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlichwir uumlbernehmen dafuumlr keine Gewaumlhr Rechtswidrige Inhalte waren

zum Zeitpunkt der Verlinkungen nicht erkennbarGesetzt aus der Minion

Satz Fotosatz Amann MemmingenDruck und Bindung Druckerei CHBeck NoumlrdlingenGedruckt auf saumlurefreiem chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany ISBN 978-3-423-28163-8

FUumlR DIE VERDAMMTEN DIESER ERDE

INHALT

Vorwort Anfaumlnge 9

Erster Teil DIE KLUFT

1 Der Entwicklungswahn 17

2 Die Abschaffung der Armut hellip wurde aufgeschoben 52

Zweiter Teil UumlBER GEWALT

3 Woher kommt die Armut

Eine Schoumlpfungsgeschichte 91

4 Vom Kolonialismus zum Staatsstreich 140

Dritter Teil DER NEUE KOLONIALISMUS

5 Schulden und die Oumlkonomie einer

geplanten Verelendung 191

6 Freihandel und der Aufstieg des virtuellen Senats 240

7 Pluumlnderung im 21 Jahrhundert 286

Vierter Teil DIE KLUFT SCHLIESSEN

8 Von Wohltaumltigkeit zu Gerechtigkeit 329

9 Die unerlaumlssliche Verruumlcktheit der Fantasie 357

Danksagung 393

Anmerkungen 397

9

VORWORT ANFAumlNGE

Ich bin in Swasiland aufgewachsen ndash ein kleines Binnenland naheder suumldafrikanischen Ostkuumlste das an Suumldafrika und Mosambikgrenzt Es war in vielerlei Hinsicht eine gluumlckliche Kindheit Alskleiner Junge rannte ich mit meinen Freunden barfuszlig durch dassandige Grasland ungehindert von Zaumlunen oder Mauern Wennder Monsunregen einsetzte lieszligen wir kleine Rindenschiffchendie Dongas ndash Erosionsrinnen ndash hinabtreiben und freuten uns uumlberdas viele Wasser Wir kletterten auf Baumlume und pfluumlckten Mangosund Litschis und Guaven wann immer uns der Hunger uumlberfielAn langen Nachmittagen wanderte ich manchmal den Huumlgel hin-ter unserem Bungalow hinauf und folgte dem Feldweg bis zu derKlinik in der meine Eltern als Aumlrzte arbeiteten Ich kann michnoch gut an die Kuumlhle der spiegelblanken Betonboumlden und denwindigen Schatten des Innenhofes erinnern Vor allem aber erin-nere ich mich an die Schlange ndash die lange Schlange der Patientendie sich aus dem Eingang der Klinik hinauswand an die Men-schen manche auf Holzbaumlnken andere auf Grasmatten auf demBoden sitzend die darauf warteten aufgerufen zu werden Mirschien es damals so als wuumlrde diese Schlange niemals enden

Als ich etwas aumllter wurde lernte ich Begriffe wie Tuberkuloseund Malaria Typhus und Bilharziose Unterernaumlhrung und Kwa-shiorkor kennen ndash unheimliche Worte die dennoch vertraut undin unserer Familie haumlufig zu houmlren waren Noch spaumlter erfuhr ich

10

Vorwort Anfaumlnge

dass um uns herum die schlimmste HIVAids-Epidemie auf derganzen Welt tobte Die Menschen litten und starben an Krank-heiten die in wohlhabenderen Laumlndern leicht geheilt verhuumltetoder behandelt werden konnten ndash eine Tatsache die mich sprach-los machte vor Entsetzen Und ich lernte die Armut kennen Vielemeiner Freunde kamen aus Familien die als Kleinbauern auf einpaar Aumlckern ihren mageren Lebensunterhalt zusammenkratztenund in staumlndiger Angst vor der naumlchsten Duumlrre lebten oder die innotduumlrftigen Huumltten in den Slums rund um Manzini lebten diegroumlszligte Stadt des Landes und immer auf der Suche nach Arbeitwaren

Sie waren ndash und sind ndash nicht die Einzigen Heute leben rund43 Milliarden Menschen ndash uumlber 60 Prozent der Weltbevoumllkerung ndashin auszehrender Armut und kaumlmpfen darum mit weniger als demGegenwert von fuumlnf US-Dollar pro Tag zu uumlberleben Die Zahl derin absoluter Armut lebenden Menschen ist in den vergangenenJahrzehnten bestaumlndig gestiegen ndash waumlhrend zugleich SuperreicheVermoumlgen auf einem historisch beispiellosen Niveau anhaumlufen Zudem Zeitpunkt da ich diese Zeilen schreibe hat die Meldung dieRunde gemacht dass die acht reichsten Menschen auf der Welt zu-sammengenommen ebenso viel Vermoumlgen besitzen wie die aumlrmsteHaumllfte der Weltbevoumllkerung

Der Blick auf die unterschiedliche Einkommens- und Vermouml-gensverteilung macht das ganze Ausmaszlig der globalen Ungleich-heit deutlich Einen noch genaueren Blick aber erhalten wir wennwir die Kluft zwischen den einzelnen Regionen der Welt betrach-ten Im Jahr 2000 lag das Durchschnittseinkommen eines US-Buumlr-gers rund neunmal houmlher als das der Menschen in Lateinamerika21-mal houmlher als das der Bewohner des Nahen Ostens und Nord-afrikas 52-mal uumlber dem in Afrika suumldlich der Sahara und volle73-mal uumlber dem der Suumldasiaten Und auch hier sind die Zahlenimmer schlimmer geworden Der Abstand zwischen dem realen

11

Vorwort Anfaumlnge

Pro-Kopf-Einkommen im globalen Norden und dem im globalenSuumlden hat sich seit 1960 ungefaumlhr verdreifacht

Man koumlnnte leicht den Eindruck gewinnen die Kluft zwischenReich und Arm habe schon immer existiert dass sie sozusageneine natuumlrliche Eigenschaft der Welt ist Allein schon das Bild vonder Kluft koumlnnte uns unabsichtlich zu der Annahme verfuumlhrendass es einen Bruch ndash eine fundamentale Diskontinuitaumlt ndash zwi-schen der reichen Welt und der armen Welt gibt so als waumlren sievoneinander getrennte oumlkonomische Inseln Falls man wie vieleWissenschaftler das getan haben von dieser Annahme ausgehterklaumlren sich die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen armenund reichen Laumlndern schlicht aus ihren jeweiligen inneren Eigen-schaften

Und auf ebendieser Annahme fuszligt die Geschichte uumlber dieglobale Ungleichheit die uns uumlblicherweise erzaumlhlt wird Entwick-lungshilfebehoumlrden NGOs und die maumlchtigsten Regierungen be-haupten unisono verantwortlich fuumlr das Los der armen Laumlnder seiein technisches Problem ndash ein Problem das geloumlst werden kannwenn sie funktionierende Institutionen aufbauen die richtigeWirtschaftspolitik verfolgen hart arbeiten und sich ein bisschenunter die Arme greifen lassen Wuumlrden die armen Laumlnder nur demRat der Experten von Institutionen wie der Weltbank folgen koumlnn-ten sie Schritt fuumlr Schritt die Armut zuruumlckdraumlngen und die Kluftzwischen Arm und Reich uumlberwinden Die Story ist wohlbekanntund sie ist bequem Wir alle haben zu dem einen oder anderenZeitpunkt an sie geglaubt und nach ihr gehandelt Sie erhaumllt einemilliardenschwere Industrie und eine Armada an NGOs Wohl-taumltigkeitsorganisationen und Stiftungen am Leben die die Armutdurch Entwicklungshilfe und Wohltaumltigkeit auszumerzen ver-sprechen

Doch diese Story ist falsch Die Vorstellung einer natuumlrlichenKluft zwischen armen und reichen Laumlndern fuumlhrt uns von Anfang

12

Vorwort Anfaumlnge

an in die Irre Um 1500 herum bestand kein nennenswerter Unter-schied in den Einkommen und im Lebensstandard zwischenEuropa und dem Rest der Welt In der Tat ging es wie wir heutewissen den Menschen in einigen Regionen des globalen Suumldensdamals deutlich besser als ihren Zeitgenossen in Europa Dennochhaben sich ihre Lebensstandards in den folgenden Jahrhundertendramatisch auseinanderentwickelt ndash und das nicht aus sich selbstheraus sondern wegen der jeweils anderen

Wenn wir die Sache von dieser Warte aus betrachten geht esweniger um die Frage nach den unterschiedlichen Eigenschaftenvon reichen und armen Laumlndern ndash obwohl das natuumlrlich mit da-zugehoumlrt ndash sondern vielmehr um die Beziehungen die zwischenihnen bestehen Die Kluft zwischen reichen und armen Laumlndernist weder naturgegeben noch unausweichlich Sie ist von Men-schen erschaffen worden Was hat dazu gefuumlhrt dass ein Teil derWelt aufgestiegen und der andere abgestuumlrzt ist Wie konnte dieDynamik des Wachstums hier und des Niedergangs dort uumlbermehr als ein halbes Jahrtausend hinweg aufrechterhalten werdenWarum nimmt die globale Ungleichheit zu statt weniger zu wer-den Und warum wissen wir nichts davon

Von Zeit zu Zeit denke ich zuruumlck an die endlose Schlange vonMenschen vor der Klinik meiner Eltern Das Bild ist mir noch solebendig in Erinnerung als waumlre es erst gestern gewesen Wannimmer ich das tue werde ich daran erinnert dass die Geschichteder globalen Ungleichheit nicht von Zahlen und historischen Er-eignissen handelt Sondern vom echten Leben von echten Men-schen Von den Bestrebungen und Hoffnungen von Gemeinschaf-ten und Nationen und sozialen Bewegungen uumlber Generationenja uumlber Jahrhunderte hinweg Von dem ndash zweifelsohne von Zeit zuZeit erschuumltterten ansonsten aber festen ndash Glauben daran dasseine andere Welt moumlglich ist

In einer der erschreckendsten Phasen der Geschichte in einer

Vorwort Anfaumlnge

Zeit in der die globale Ungleichheit ein Rekordniveau erreicht hatDemagogen an die Macht draumlngen und das Klima unseres Plane-ten beginnt sich gegen die industrielle Zivilisation zu wenden be-duumlrfen wir mehr denn je der Hoffnung Nur wenn wir verstehenwarum die Welt ist wie sie ist ndash indem wir die Ursachen dafuumlruntersuchen ndash wird es uns gelingen echte wirksame Loumlsungen zufinden und einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu erdenkenEins steht auf jeden Fall fest Wollen wir die groszligen Probleme derglobalen Armut und Ungleichheit der Hungersnoumlte und kollabie-renden Oumlkosysteme loumlsen dann muss die Welt der Zukunft ganzanders aussehen als die Welt wie wir sie heute kennen

Der Bogen der Geschichte neigt sich wie Martin Luther King jreinmal sagte der Gerechtigkeit zu Das mag sein aber er wird dasnicht von alleine tun

Erster Teil

DIE KLUFT

17

1DER ENTWICKLUNGSWAHN

Es begann als eine PR-Masche Harry S Truman war gerade fuumlreine zweite Amtszeit zum Praumlsidenten der Vereinigten Staatengewaumlhlt worden und bereitete sich darauf vor am 20 Januar 1949seine Antrittsrede zu halten Seine Redenschreiber waren voumllligaufgeloumlst Sie mussten sich etwas Uumlberzeugendes ausdenken wasder Praumlsident sagen konnte ndash eine kuumlhne und mitreiszligende Ankuumln-digung Sie hatten drei Ideen auf ihrer Liste Unterstuumltzung fuumlr dieneu gegruumlndeten Vereinten Nationen Widerstand gegen die sow-jetische Bedrohung und die Selbstverpflichtung den Marshallplanfortzufuumlhren Aber keiner dieser Punkte konnte wirklich begeis-tern ndash eigentlich waren sie sogar ziemlich langweilig und dieMedien wuumlrden die Rede wahrscheinlich als raquoSchnee von gesternlaquoabtun und ignorieren Sie brauchten etwas anderes was den Zeit-geist aufgreifen wuumlrde ndash etwas das die Nation begeistern konnte

Die Antwort kam aus einer unerwarteten Ecke Benjamin Hardywar ein junger Beamter auf der mittleren Fuumlhrungsebene desUS-Auszligenministeriums doch als ehemaliger Reporter des AtlantaJournal hatte er ein Gespuumlr fuumlr eine gute Schlagzeile Als ihm einMemo zwischen die Finger kam in dem haumlnderingend nach neuenIdeen fuumlr Trumans Antrittsrede gesucht wurde entschloss er sichseinem Chef einen verruumlckten Einfall zu praumlsentieren raquoEntwick-lunglaquo Warum sollte Truman nicht verkuumlnden dass seine Regie-rung den Laumlndern der Dritten Welt finanzielle Hilfen gewaumlhren

18

Erster Teil Die Kluft

wuumlrde um ihre Entwicklung zu foumlrdern und so dem Leid der vonbitterer Armut geplagten Menschen ein Ende zu setzen Hardy hieltdas fuumlr einen sicheren Sieg ndash ein einfacher Weg so schrieb er in sei-nem Konzept raquodie groumlszligte emotionale Wirkunglaquo auf die US-Buumlrgerzu erzielen und sich raquodie allgemeine Sehnsucht nach einer besserenWelt zunutze zu machen und in geordnete Bahnen zu lenkenlaquo

Aber Hardys Chef hielt nichts davon Es sei eine riskante Ideeaus heiterem Himmel die womoumlglich zu neuartig sei um die Leutezu uumlberzeugen sie sei es nicht wert damit bei einem so wichtigenAnlass zu experimentieren Doch Hardy war entschlossen dieseChance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen Es gelang ihm un-ter einem Vorwand im Weiszligen Haus vorgelassen zu werden wo erTrumans Beratern mit gluumlhenden Worten seine Idee anpries Erkonnte einige von ihnen uumlberzeugen sodass sein Plan ndash mithilfegewisser diplomatischer Manoumlver von Insidern ndash als eine Artnachtraumlglicher Einfall in Trumans Redemanuskript aufgenommenwurde als raquoPoint Fourlaquo Truman war einverstanden

Es war die erste Antrittsrede eines US-Praumlsidenten die live imFernsehen uumlbertragen wurde Zehn Millionen Zuschauer verfolgtensie an jenem kalten Januarnachmittag vor den Bildschirmen ndash nochnie hatte ein einzelnes Ereignis ein groumlszligeres Publikum gefundenBei Trumans Antrittsrede sahen mehr Menschen zu als bei saumlmt-lichen Antrittsreden aller seiner Vorgaumlnger zusammengenommenUnd sie waren begeistert von dem was er zu sagen hatte raquoUumlber dieHaumllfte der Weltbevoumllkerung lebt unter so erbaumlrmlichen Bedingun-gen dass man sie geradezu als Elend bezeichnen koumlnntelaquo verkuumln-dete er raquoSie haben nicht genug zu essen Sie werden von Krankhei-ten geplagt In wirtschaftlicher Hinsicht ist ihr Leben primitiv undes ist keine Besserung in Sichtlaquo Aber so Truman es bestehe Hoff-nung raquoZum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit habenwir das Wissen und die Faumlhigkeiten das Leid dieser Menschen zulindern In der industriellen und wissenschaftlichen Entwicklung

19

1 Der Entwicklungswahn

nehmen die Vereinigten Staaten einen ganz besonderen Platz unterden Laumlndern der Erde ein hellip unsere unschaumltzbaren Ressourcen destechnischen Wissens werden staumlndig erweitert und sie sind un-erschoumlpflichlaquo Und dann spielte er seine Trumpfkarte aus raquoWirmuumlssen ein kuumlhnes neues Programm ins Leben rufen um denunterentwickelten Regionen der Welt den Nutzen aus unserenwissenschaftlichen Erkenntnissen und aus unserem industriellenFortschritt zur Verfuumlgung zu stellen sodass sie sich wirtschaftlichentwickeln und wachsen koumlnnen hellip Die ganze Welt muss sich an-strengen um Frieden Uumlberfluss und Freiheit zu erreichenlaquo

Natuumlrlich gab es keinerlei konkrete Plaumlne fuumlr ein solches Pro-gramm ndash nicht einmal ein einziges Dokument Es wurde aus-schlieszliglich als PR-Masche in Trumans Rede aufgenommen ndash undes funktionierte Die Medien uumlberschlugen sich vor Begeisterung ndashsaumlmtliche Zeitungen von der Washington Post bis hin zur New YorkTimes brachten gluumlhende Berichte uumlber Point Four und der Restder Rede war schnell vergessen1

Warum konnte Point Four eine so groszlige Faszination auf dieamerikanische Oumlffentlichkeit ausuumlben Weil Truman den Buumlrgern

eine neue und machtvolle Perspektive auf die sich abzeichnendeWeltordnung eroumlffnet hatte Nach den Verheerungen des ZweitenWeltkriegs glaumltteten sich die Wogen der europaumlische Imperialis-mus brach zusammen und die Welt begann sich als Gemeinschaftvon gleichberechtigten und unabhaumlngigen Staaten zusammenzu-finden Das Problem war nur dass sie eigentlich uumlberhaupt nichtgleichberechtigt waren Es gab riesige Unterschiede zwischenihnen wenn es um Macht und Wohlstand ging Die privilegierten

Um den Lesefluss nicht zu stoumlren wird in diesem Buch der Einfachheithalber bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen stetsdie maumlnnliche Form verwendet Selbstverstaumlndlich ist dabei die weib-liche Form gleichrangig mit einbezogen

20

Erster Teil Die Kluft

Laumlnder des Globalen Nordens erfreuten sich einer sehr hohen Le-bensqualitaumlt waumlhrend die benachteiligten Laumlnder des GlobalenSuumldens ndash die Mehrheit der Weltbevoumllkerung ndash in laumlhmender Armutversanken Wenn die Amerikaner uumlber ihre Grenzen hinausblick-ten und die brutale Tatsache der globalen Ungleichheit erkanntenbrauchten sie dafuumlr eine Erklaumlrung

Point Four bot ihnen eine uumlberzeugende Perspektive an Die rei-chen Laumlnder Europas und Nordamerikas seien raquoentwickeltlaquo siehaumltten einen Vorsprung auf dem groszligen Pfad des FortschrittsIhnen gehe es besser weil sie besser seien ndash intelligenter innovati-ver und fleiszligiger Sie haumltten bessere Werte bessere Institutionenund bessere Technologien Dagegen seien die armen Laumlnder desGlobalen Suumldens aumlrmer weil sie noch nicht die richtigen Werteund politischen Ziele gefunden haumltten sie seien zuruumlckgebliebenraquounterentwickeltlaquo und darum bemuumlht aufzuholen

Aufgrund dieser Geschichte konnten sich die Amerikaner zu-tiefst bestaumltigt fuumlhlen sie vermittelte ihnen ein positives Selbst-gefuumlhl sie machte sie stolz auf das Erreichte und ihren Platz in derWelt Aber noch wichtiger war vielleicht dass sie sich auf dieseWeise auch nobel fuumlhlen konnten ndash diese neue Perspektive eroumlff-nete ihnen den Zugang zu einer houmlheren beinahe kosmologischenMission Die entwickelten Laumlnder konnten sich als Leuchtfeuerder Hoffnung zeigen als Retter der Beduumlrftigen Sie wuumlrden ihnendie helfende Hand reichen sie groszligzuumlgig an ihren Reichtuumlmernteilhaben lassen und so den raquoprimitivenlaquo Laumlndern des GlobalenSuumldens dazu verhelfen ihnen auf dem Weg zum Erfolg zu folgenSie wuumlrden zu Helden werden die die Welt zu noch nie dagewese-nem Frieden und Wohlstand fuumlhren

Mit anderen Worten Point Four konnte nicht nur die globaleUngleichheit erklaumlren sondern auch eine Loumlsung anbieten wie siein einem befreienden Rundumschlag zu beheben sei Und so dau-erte es nicht lange bis diese Idee auch von den Regierungen in

Page 2: ,#510 · ,#510 *+%-'. &+' 6;4#00'+ &'5 9#%*567/5 9 7 9 ! Aus dem Englischen von Karsten Petersen und omas Pfei er

Ausfuumlhrliche Informationen uumlberunsere Autoren und Buumlcher

wwwdtvde

Dieses Buch ist auch als eBook erhaumlltlich

dtv Verlagsgesellschaft mbH amp Co KG Muumlnchencopy 2017 Jason Hickel

Titel der englischen OriginalausgabersaquoThe Divide A Brief Guide to Inequality and its Solutionslsaquo

(William Heinemann London 2017)copy 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

dtv Verlagsgesellschaft mbH amp Co KG MuumlnchenDas Werk ist urheberrechtlich geschuumltzt

Saumlmtliche auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehaltenFuumlr Inhalte von Webseiten Dritter auf die in diesem Werk verwiesenwird ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlichwir uumlbernehmen dafuumlr keine Gewaumlhr Rechtswidrige Inhalte waren

zum Zeitpunkt der Verlinkungen nicht erkennbarGesetzt aus der Minion

Satz Fotosatz Amann MemmingenDruck und Bindung Druckerei CHBeck NoumlrdlingenGedruckt auf saumlurefreiem chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany ISBN 978-3-423-28163-8

FUumlR DIE VERDAMMTEN DIESER ERDE

INHALT

Vorwort Anfaumlnge 9

Erster Teil DIE KLUFT

1 Der Entwicklungswahn 17

2 Die Abschaffung der Armut hellip wurde aufgeschoben 52

Zweiter Teil UumlBER GEWALT

3 Woher kommt die Armut

Eine Schoumlpfungsgeschichte 91

4 Vom Kolonialismus zum Staatsstreich 140

Dritter Teil DER NEUE KOLONIALISMUS

5 Schulden und die Oumlkonomie einer

geplanten Verelendung 191

6 Freihandel und der Aufstieg des virtuellen Senats 240

7 Pluumlnderung im 21 Jahrhundert 286

Vierter Teil DIE KLUFT SCHLIESSEN

8 Von Wohltaumltigkeit zu Gerechtigkeit 329

9 Die unerlaumlssliche Verruumlcktheit der Fantasie 357

Danksagung 393

Anmerkungen 397

9

VORWORT ANFAumlNGE

Ich bin in Swasiland aufgewachsen ndash ein kleines Binnenland naheder suumldafrikanischen Ostkuumlste das an Suumldafrika und Mosambikgrenzt Es war in vielerlei Hinsicht eine gluumlckliche Kindheit Alskleiner Junge rannte ich mit meinen Freunden barfuszlig durch dassandige Grasland ungehindert von Zaumlunen oder Mauern Wennder Monsunregen einsetzte lieszligen wir kleine Rindenschiffchendie Dongas ndash Erosionsrinnen ndash hinabtreiben und freuten uns uumlberdas viele Wasser Wir kletterten auf Baumlume und pfluumlckten Mangosund Litschis und Guaven wann immer uns der Hunger uumlberfielAn langen Nachmittagen wanderte ich manchmal den Huumlgel hin-ter unserem Bungalow hinauf und folgte dem Feldweg bis zu derKlinik in der meine Eltern als Aumlrzte arbeiteten Ich kann michnoch gut an die Kuumlhle der spiegelblanken Betonboumlden und denwindigen Schatten des Innenhofes erinnern Vor allem aber erin-nere ich mich an die Schlange ndash die lange Schlange der Patientendie sich aus dem Eingang der Klinik hinauswand an die Men-schen manche auf Holzbaumlnken andere auf Grasmatten auf demBoden sitzend die darauf warteten aufgerufen zu werden Mirschien es damals so als wuumlrde diese Schlange niemals enden

Als ich etwas aumllter wurde lernte ich Begriffe wie Tuberkuloseund Malaria Typhus und Bilharziose Unterernaumlhrung und Kwa-shiorkor kennen ndash unheimliche Worte die dennoch vertraut undin unserer Familie haumlufig zu houmlren waren Noch spaumlter erfuhr ich

10

Vorwort Anfaumlnge

dass um uns herum die schlimmste HIVAids-Epidemie auf derganzen Welt tobte Die Menschen litten und starben an Krank-heiten die in wohlhabenderen Laumlndern leicht geheilt verhuumltetoder behandelt werden konnten ndash eine Tatsache die mich sprach-los machte vor Entsetzen Und ich lernte die Armut kennen Vielemeiner Freunde kamen aus Familien die als Kleinbauern auf einpaar Aumlckern ihren mageren Lebensunterhalt zusammenkratztenund in staumlndiger Angst vor der naumlchsten Duumlrre lebten oder die innotduumlrftigen Huumltten in den Slums rund um Manzini lebten diegroumlszligte Stadt des Landes und immer auf der Suche nach Arbeitwaren

Sie waren ndash und sind ndash nicht die Einzigen Heute leben rund43 Milliarden Menschen ndash uumlber 60 Prozent der Weltbevoumllkerung ndashin auszehrender Armut und kaumlmpfen darum mit weniger als demGegenwert von fuumlnf US-Dollar pro Tag zu uumlberleben Die Zahl derin absoluter Armut lebenden Menschen ist in den vergangenenJahrzehnten bestaumlndig gestiegen ndash waumlhrend zugleich SuperreicheVermoumlgen auf einem historisch beispiellosen Niveau anhaumlufen Zudem Zeitpunkt da ich diese Zeilen schreibe hat die Meldung dieRunde gemacht dass die acht reichsten Menschen auf der Welt zu-sammengenommen ebenso viel Vermoumlgen besitzen wie die aumlrmsteHaumllfte der Weltbevoumllkerung

Der Blick auf die unterschiedliche Einkommens- und Vermouml-gensverteilung macht das ganze Ausmaszlig der globalen Ungleich-heit deutlich Einen noch genaueren Blick aber erhalten wir wennwir die Kluft zwischen den einzelnen Regionen der Welt betrach-ten Im Jahr 2000 lag das Durchschnittseinkommen eines US-Buumlr-gers rund neunmal houmlher als das der Menschen in Lateinamerika21-mal houmlher als das der Bewohner des Nahen Ostens und Nord-afrikas 52-mal uumlber dem in Afrika suumldlich der Sahara und volle73-mal uumlber dem der Suumldasiaten Und auch hier sind die Zahlenimmer schlimmer geworden Der Abstand zwischen dem realen

11

Vorwort Anfaumlnge

Pro-Kopf-Einkommen im globalen Norden und dem im globalenSuumlden hat sich seit 1960 ungefaumlhr verdreifacht

Man koumlnnte leicht den Eindruck gewinnen die Kluft zwischenReich und Arm habe schon immer existiert dass sie sozusageneine natuumlrliche Eigenschaft der Welt ist Allein schon das Bild vonder Kluft koumlnnte uns unabsichtlich zu der Annahme verfuumlhrendass es einen Bruch ndash eine fundamentale Diskontinuitaumlt ndash zwi-schen der reichen Welt und der armen Welt gibt so als waumlren sievoneinander getrennte oumlkonomische Inseln Falls man wie vieleWissenschaftler das getan haben von dieser Annahme ausgehterklaumlren sich die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen armenund reichen Laumlndern schlicht aus ihren jeweiligen inneren Eigen-schaften

Und auf ebendieser Annahme fuszligt die Geschichte uumlber dieglobale Ungleichheit die uns uumlblicherweise erzaumlhlt wird Entwick-lungshilfebehoumlrden NGOs und die maumlchtigsten Regierungen be-haupten unisono verantwortlich fuumlr das Los der armen Laumlnder seiein technisches Problem ndash ein Problem das geloumlst werden kannwenn sie funktionierende Institutionen aufbauen die richtigeWirtschaftspolitik verfolgen hart arbeiten und sich ein bisschenunter die Arme greifen lassen Wuumlrden die armen Laumlnder nur demRat der Experten von Institutionen wie der Weltbank folgen koumlnn-ten sie Schritt fuumlr Schritt die Armut zuruumlckdraumlngen und die Kluftzwischen Arm und Reich uumlberwinden Die Story ist wohlbekanntund sie ist bequem Wir alle haben zu dem einen oder anderenZeitpunkt an sie geglaubt und nach ihr gehandelt Sie erhaumllt einemilliardenschwere Industrie und eine Armada an NGOs Wohl-taumltigkeitsorganisationen und Stiftungen am Leben die die Armutdurch Entwicklungshilfe und Wohltaumltigkeit auszumerzen ver-sprechen

Doch diese Story ist falsch Die Vorstellung einer natuumlrlichenKluft zwischen armen und reichen Laumlndern fuumlhrt uns von Anfang

12

Vorwort Anfaumlnge

an in die Irre Um 1500 herum bestand kein nennenswerter Unter-schied in den Einkommen und im Lebensstandard zwischenEuropa und dem Rest der Welt In der Tat ging es wie wir heutewissen den Menschen in einigen Regionen des globalen Suumldensdamals deutlich besser als ihren Zeitgenossen in Europa Dennochhaben sich ihre Lebensstandards in den folgenden Jahrhundertendramatisch auseinanderentwickelt ndash und das nicht aus sich selbstheraus sondern wegen der jeweils anderen

Wenn wir die Sache von dieser Warte aus betrachten geht esweniger um die Frage nach den unterschiedlichen Eigenschaftenvon reichen und armen Laumlndern ndash obwohl das natuumlrlich mit da-zugehoumlrt ndash sondern vielmehr um die Beziehungen die zwischenihnen bestehen Die Kluft zwischen reichen und armen Laumlndernist weder naturgegeben noch unausweichlich Sie ist von Men-schen erschaffen worden Was hat dazu gefuumlhrt dass ein Teil derWelt aufgestiegen und der andere abgestuumlrzt ist Wie konnte dieDynamik des Wachstums hier und des Niedergangs dort uumlbermehr als ein halbes Jahrtausend hinweg aufrechterhalten werdenWarum nimmt die globale Ungleichheit zu statt weniger zu wer-den Und warum wissen wir nichts davon

Von Zeit zu Zeit denke ich zuruumlck an die endlose Schlange vonMenschen vor der Klinik meiner Eltern Das Bild ist mir noch solebendig in Erinnerung als waumlre es erst gestern gewesen Wannimmer ich das tue werde ich daran erinnert dass die Geschichteder globalen Ungleichheit nicht von Zahlen und historischen Er-eignissen handelt Sondern vom echten Leben von echten Men-schen Von den Bestrebungen und Hoffnungen von Gemeinschaf-ten und Nationen und sozialen Bewegungen uumlber Generationenja uumlber Jahrhunderte hinweg Von dem ndash zweifelsohne von Zeit zuZeit erschuumltterten ansonsten aber festen ndash Glauben daran dasseine andere Welt moumlglich ist

In einer der erschreckendsten Phasen der Geschichte in einer

Vorwort Anfaumlnge

Zeit in der die globale Ungleichheit ein Rekordniveau erreicht hatDemagogen an die Macht draumlngen und das Klima unseres Plane-ten beginnt sich gegen die industrielle Zivilisation zu wenden be-duumlrfen wir mehr denn je der Hoffnung Nur wenn wir verstehenwarum die Welt ist wie sie ist ndash indem wir die Ursachen dafuumlruntersuchen ndash wird es uns gelingen echte wirksame Loumlsungen zufinden und einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu erdenkenEins steht auf jeden Fall fest Wollen wir die groszligen Probleme derglobalen Armut und Ungleichheit der Hungersnoumlte und kollabie-renden Oumlkosysteme loumlsen dann muss die Welt der Zukunft ganzanders aussehen als die Welt wie wir sie heute kennen

Der Bogen der Geschichte neigt sich wie Martin Luther King jreinmal sagte der Gerechtigkeit zu Das mag sein aber er wird dasnicht von alleine tun

Erster Teil

DIE KLUFT

17

1DER ENTWICKLUNGSWAHN

Es begann als eine PR-Masche Harry S Truman war gerade fuumlreine zweite Amtszeit zum Praumlsidenten der Vereinigten Staatengewaumlhlt worden und bereitete sich darauf vor am 20 Januar 1949seine Antrittsrede zu halten Seine Redenschreiber waren voumllligaufgeloumlst Sie mussten sich etwas Uumlberzeugendes ausdenken wasder Praumlsident sagen konnte ndash eine kuumlhne und mitreiszligende Ankuumln-digung Sie hatten drei Ideen auf ihrer Liste Unterstuumltzung fuumlr dieneu gegruumlndeten Vereinten Nationen Widerstand gegen die sow-jetische Bedrohung und die Selbstverpflichtung den Marshallplanfortzufuumlhren Aber keiner dieser Punkte konnte wirklich begeis-tern ndash eigentlich waren sie sogar ziemlich langweilig und dieMedien wuumlrden die Rede wahrscheinlich als raquoSchnee von gesternlaquoabtun und ignorieren Sie brauchten etwas anderes was den Zeit-geist aufgreifen wuumlrde ndash etwas das die Nation begeistern konnte

Die Antwort kam aus einer unerwarteten Ecke Benjamin Hardywar ein junger Beamter auf der mittleren Fuumlhrungsebene desUS-Auszligenministeriums doch als ehemaliger Reporter des AtlantaJournal hatte er ein Gespuumlr fuumlr eine gute Schlagzeile Als ihm einMemo zwischen die Finger kam in dem haumlnderingend nach neuenIdeen fuumlr Trumans Antrittsrede gesucht wurde entschloss er sichseinem Chef einen verruumlckten Einfall zu praumlsentieren raquoEntwick-lunglaquo Warum sollte Truman nicht verkuumlnden dass seine Regie-rung den Laumlndern der Dritten Welt finanzielle Hilfen gewaumlhren

18

Erster Teil Die Kluft

wuumlrde um ihre Entwicklung zu foumlrdern und so dem Leid der vonbitterer Armut geplagten Menschen ein Ende zu setzen Hardy hieltdas fuumlr einen sicheren Sieg ndash ein einfacher Weg so schrieb er in sei-nem Konzept raquodie groumlszligte emotionale Wirkunglaquo auf die US-Buumlrgerzu erzielen und sich raquodie allgemeine Sehnsucht nach einer besserenWelt zunutze zu machen und in geordnete Bahnen zu lenkenlaquo

Aber Hardys Chef hielt nichts davon Es sei eine riskante Ideeaus heiterem Himmel die womoumlglich zu neuartig sei um die Leutezu uumlberzeugen sie sei es nicht wert damit bei einem so wichtigenAnlass zu experimentieren Doch Hardy war entschlossen dieseChance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen Es gelang ihm un-ter einem Vorwand im Weiszligen Haus vorgelassen zu werden wo erTrumans Beratern mit gluumlhenden Worten seine Idee anpries Erkonnte einige von ihnen uumlberzeugen sodass sein Plan ndash mithilfegewisser diplomatischer Manoumlver von Insidern ndash als eine Artnachtraumlglicher Einfall in Trumans Redemanuskript aufgenommenwurde als raquoPoint Fourlaquo Truman war einverstanden

Es war die erste Antrittsrede eines US-Praumlsidenten die live imFernsehen uumlbertragen wurde Zehn Millionen Zuschauer verfolgtensie an jenem kalten Januarnachmittag vor den Bildschirmen ndash nochnie hatte ein einzelnes Ereignis ein groumlszligeres Publikum gefundenBei Trumans Antrittsrede sahen mehr Menschen zu als bei saumlmt-lichen Antrittsreden aller seiner Vorgaumlnger zusammengenommenUnd sie waren begeistert von dem was er zu sagen hatte raquoUumlber dieHaumllfte der Weltbevoumllkerung lebt unter so erbaumlrmlichen Bedingun-gen dass man sie geradezu als Elend bezeichnen koumlnntelaquo verkuumln-dete er raquoSie haben nicht genug zu essen Sie werden von Krankhei-ten geplagt In wirtschaftlicher Hinsicht ist ihr Leben primitiv undes ist keine Besserung in Sichtlaquo Aber so Truman es bestehe Hoff-nung raquoZum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit habenwir das Wissen und die Faumlhigkeiten das Leid dieser Menschen zulindern In der industriellen und wissenschaftlichen Entwicklung

19

1 Der Entwicklungswahn

nehmen die Vereinigten Staaten einen ganz besonderen Platz unterden Laumlndern der Erde ein hellip unsere unschaumltzbaren Ressourcen destechnischen Wissens werden staumlndig erweitert und sie sind un-erschoumlpflichlaquo Und dann spielte er seine Trumpfkarte aus raquoWirmuumlssen ein kuumlhnes neues Programm ins Leben rufen um denunterentwickelten Regionen der Welt den Nutzen aus unserenwissenschaftlichen Erkenntnissen und aus unserem industriellenFortschritt zur Verfuumlgung zu stellen sodass sie sich wirtschaftlichentwickeln und wachsen koumlnnen hellip Die ganze Welt muss sich an-strengen um Frieden Uumlberfluss und Freiheit zu erreichenlaquo

Natuumlrlich gab es keinerlei konkrete Plaumlne fuumlr ein solches Pro-gramm ndash nicht einmal ein einziges Dokument Es wurde aus-schlieszliglich als PR-Masche in Trumans Rede aufgenommen ndash undes funktionierte Die Medien uumlberschlugen sich vor Begeisterung ndashsaumlmtliche Zeitungen von der Washington Post bis hin zur New YorkTimes brachten gluumlhende Berichte uumlber Point Four und der Restder Rede war schnell vergessen1

Warum konnte Point Four eine so groszlige Faszination auf dieamerikanische Oumlffentlichkeit ausuumlben Weil Truman den Buumlrgern

eine neue und machtvolle Perspektive auf die sich abzeichnendeWeltordnung eroumlffnet hatte Nach den Verheerungen des ZweitenWeltkriegs glaumltteten sich die Wogen der europaumlische Imperialis-mus brach zusammen und die Welt begann sich als Gemeinschaftvon gleichberechtigten und unabhaumlngigen Staaten zusammenzu-finden Das Problem war nur dass sie eigentlich uumlberhaupt nichtgleichberechtigt waren Es gab riesige Unterschiede zwischenihnen wenn es um Macht und Wohlstand ging Die privilegierten

Um den Lesefluss nicht zu stoumlren wird in diesem Buch der Einfachheithalber bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen stetsdie maumlnnliche Form verwendet Selbstverstaumlndlich ist dabei die weib-liche Form gleichrangig mit einbezogen

20

Erster Teil Die Kluft

Laumlnder des Globalen Nordens erfreuten sich einer sehr hohen Le-bensqualitaumlt waumlhrend die benachteiligten Laumlnder des GlobalenSuumldens ndash die Mehrheit der Weltbevoumllkerung ndash in laumlhmender Armutversanken Wenn die Amerikaner uumlber ihre Grenzen hinausblick-ten und die brutale Tatsache der globalen Ungleichheit erkanntenbrauchten sie dafuumlr eine Erklaumlrung

Point Four bot ihnen eine uumlberzeugende Perspektive an Die rei-chen Laumlnder Europas und Nordamerikas seien raquoentwickeltlaquo siehaumltten einen Vorsprung auf dem groszligen Pfad des FortschrittsIhnen gehe es besser weil sie besser seien ndash intelligenter innovati-ver und fleiszligiger Sie haumltten bessere Werte bessere Institutionenund bessere Technologien Dagegen seien die armen Laumlnder desGlobalen Suumldens aumlrmer weil sie noch nicht die richtigen Werteund politischen Ziele gefunden haumltten sie seien zuruumlckgebliebenraquounterentwickeltlaquo und darum bemuumlht aufzuholen

Aufgrund dieser Geschichte konnten sich die Amerikaner zu-tiefst bestaumltigt fuumlhlen sie vermittelte ihnen ein positives Selbst-gefuumlhl sie machte sie stolz auf das Erreichte und ihren Platz in derWelt Aber noch wichtiger war vielleicht dass sie sich auf dieseWeise auch nobel fuumlhlen konnten ndash diese neue Perspektive eroumlff-nete ihnen den Zugang zu einer houmlheren beinahe kosmologischenMission Die entwickelten Laumlnder konnten sich als Leuchtfeuerder Hoffnung zeigen als Retter der Beduumlrftigen Sie wuumlrden ihnendie helfende Hand reichen sie groszligzuumlgig an ihren Reichtuumlmernteilhaben lassen und so den raquoprimitivenlaquo Laumlndern des GlobalenSuumldens dazu verhelfen ihnen auf dem Weg zum Erfolg zu folgenSie wuumlrden zu Helden werden die die Welt zu noch nie dagewese-nem Frieden und Wohlstand fuumlhren

Mit anderen Worten Point Four konnte nicht nur die globaleUngleichheit erklaumlren sondern auch eine Loumlsung anbieten wie siein einem befreienden Rundumschlag zu beheben sei Und so dau-erte es nicht lange bis diese Idee auch von den Regierungen in

Page 3: ,#510 · ,#510 *+%-'. &+' 6;4#00'+ &'5 9#%*567/5 9 7 9 ! Aus dem Englischen von Karsten Petersen und omas Pfei er

FUumlR DIE VERDAMMTEN DIESER ERDE

INHALT

Vorwort Anfaumlnge 9

Erster Teil DIE KLUFT

1 Der Entwicklungswahn 17

2 Die Abschaffung der Armut hellip wurde aufgeschoben 52

Zweiter Teil UumlBER GEWALT

3 Woher kommt die Armut

Eine Schoumlpfungsgeschichte 91

4 Vom Kolonialismus zum Staatsstreich 140

Dritter Teil DER NEUE KOLONIALISMUS

5 Schulden und die Oumlkonomie einer

geplanten Verelendung 191

6 Freihandel und der Aufstieg des virtuellen Senats 240

7 Pluumlnderung im 21 Jahrhundert 286

Vierter Teil DIE KLUFT SCHLIESSEN

8 Von Wohltaumltigkeit zu Gerechtigkeit 329

9 Die unerlaumlssliche Verruumlcktheit der Fantasie 357

Danksagung 393

Anmerkungen 397

9

VORWORT ANFAumlNGE

Ich bin in Swasiland aufgewachsen ndash ein kleines Binnenland naheder suumldafrikanischen Ostkuumlste das an Suumldafrika und Mosambikgrenzt Es war in vielerlei Hinsicht eine gluumlckliche Kindheit Alskleiner Junge rannte ich mit meinen Freunden barfuszlig durch dassandige Grasland ungehindert von Zaumlunen oder Mauern Wennder Monsunregen einsetzte lieszligen wir kleine Rindenschiffchendie Dongas ndash Erosionsrinnen ndash hinabtreiben und freuten uns uumlberdas viele Wasser Wir kletterten auf Baumlume und pfluumlckten Mangosund Litschis und Guaven wann immer uns der Hunger uumlberfielAn langen Nachmittagen wanderte ich manchmal den Huumlgel hin-ter unserem Bungalow hinauf und folgte dem Feldweg bis zu derKlinik in der meine Eltern als Aumlrzte arbeiteten Ich kann michnoch gut an die Kuumlhle der spiegelblanken Betonboumlden und denwindigen Schatten des Innenhofes erinnern Vor allem aber erin-nere ich mich an die Schlange ndash die lange Schlange der Patientendie sich aus dem Eingang der Klinik hinauswand an die Men-schen manche auf Holzbaumlnken andere auf Grasmatten auf demBoden sitzend die darauf warteten aufgerufen zu werden Mirschien es damals so als wuumlrde diese Schlange niemals enden

Als ich etwas aumllter wurde lernte ich Begriffe wie Tuberkuloseund Malaria Typhus und Bilharziose Unterernaumlhrung und Kwa-shiorkor kennen ndash unheimliche Worte die dennoch vertraut undin unserer Familie haumlufig zu houmlren waren Noch spaumlter erfuhr ich

10

Vorwort Anfaumlnge

dass um uns herum die schlimmste HIVAids-Epidemie auf derganzen Welt tobte Die Menschen litten und starben an Krank-heiten die in wohlhabenderen Laumlndern leicht geheilt verhuumltetoder behandelt werden konnten ndash eine Tatsache die mich sprach-los machte vor Entsetzen Und ich lernte die Armut kennen Vielemeiner Freunde kamen aus Familien die als Kleinbauern auf einpaar Aumlckern ihren mageren Lebensunterhalt zusammenkratztenund in staumlndiger Angst vor der naumlchsten Duumlrre lebten oder die innotduumlrftigen Huumltten in den Slums rund um Manzini lebten diegroumlszligte Stadt des Landes und immer auf der Suche nach Arbeitwaren

Sie waren ndash und sind ndash nicht die Einzigen Heute leben rund43 Milliarden Menschen ndash uumlber 60 Prozent der Weltbevoumllkerung ndashin auszehrender Armut und kaumlmpfen darum mit weniger als demGegenwert von fuumlnf US-Dollar pro Tag zu uumlberleben Die Zahl derin absoluter Armut lebenden Menschen ist in den vergangenenJahrzehnten bestaumlndig gestiegen ndash waumlhrend zugleich SuperreicheVermoumlgen auf einem historisch beispiellosen Niveau anhaumlufen Zudem Zeitpunkt da ich diese Zeilen schreibe hat die Meldung dieRunde gemacht dass die acht reichsten Menschen auf der Welt zu-sammengenommen ebenso viel Vermoumlgen besitzen wie die aumlrmsteHaumllfte der Weltbevoumllkerung

Der Blick auf die unterschiedliche Einkommens- und Vermouml-gensverteilung macht das ganze Ausmaszlig der globalen Ungleich-heit deutlich Einen noch genaueren Blick aber erhalten wir wennwir die Kluft zwischen den einzelnen Regionen der Welt betrach-ten Im Jahr 2000 lag das Durchschnittseinkommen eines US-Buumlr-gers rund neunmal houmlher als das der Menschen in Lateinamerika21-mal houmlher als das der Bewohner des Nahen Ostens und Nord-afrikas 52-mal uumlber dem in Afrika suumldlich der Sahara und volle73-mal uumlber dem der Suumldasiaten Und auch hier sind die Zahlenimmer schlimmer geworden Der Abstand zwischen dem realen

11

Vorwort Anfaumlnge

Pro-Kopf-Einkommen im globalen Norden und dem im globalenSuumlden hat sich seit 1960 ungefaumlhr verdreifacht

Man koumlnnte leicht den Eindruck gewinnen die Kluft zwischenReich und Arm habe schon immer existiert dass sie sozusageneine natuumlrliche Eigenschaft der Welt ist Allein schon das Bild vonder Kluft koumlnnte uns unabsichtlich zu der Annahme verfuumlhrendass es einen Bruch ndash eine fundamentale Diskontinuitaumlt ndash zwi-schen der reichen Welt und der armen Welt gibt so als waumlren sievoneinander getrennte oumlkonomische Inseln Falls man wie vieleWissenschaftler das getan haben von dieser Annahme ausgehterklaumlren sich die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen armenund reichen Laumlndern schlicht aus ihren jeweiligen inneren Eigen-schaften

Und auf ebendieser Annahme fuszligt die Geschichte uumlber dieglobale Ungleichheit die uns uumlblicherweise erzaumlhlt wird Entwick-lungshilfebehoumlrden NGOs und die maumlchtigsten Regierungen be-haupten unisono verantwortlich fuumlr das Los der armen Laumlnder seiein technisches Problem ndash ein Problem das geloumlst werden kannwenn sie funktionierende Institutionen aufbauen die richtigeWirtschaftspolitik verfolgen hart arbeiten und sich ein bisschenunter die Arme greifen lassen Wuumlrden die armen Laumlnder nur demRat der Experten von Institutionen wie der Weltbank folgen koumlnn-ten sie Schritt fuumlr Schritt die Armut zuruumlckdraumlngen und die Kluftzwischen Arm und Reich uumlberwinden Die Story ist wohlbekanntund sie ist bequem Wir alle haben zu dem einen oder anderenZeitpunkt an sie geglaubt und nach ihr gehandelt Sie erhaumllt einemilliardenschwere Industrie und eine Armada an NGOs Wohl-taumltigkeitsorganisationen und Stiftungen am Leben die die Armutdurch Entwicklungshilfe und Wohltaumltigkeit auszumerzen ver-sprechen

Doch diese Story ist falsch Die Vorstellung einer natuumlrlichenKluft zwischen armen und reichen Laumlndern fuumlhrt uns von Anfang

12

Vorwort Anfaumlnge

an in die Irre Um 1500 herum bestand kein nennenswerter Unter-schied in den Einkommen und im Lebensstandard zwischenEuropa und dem Rest der Welt In der Tat ging es wie wir heutewissen den Menschen in einigen Regionen des globalen Suumldensdamals deutlich besser als ihren Zeitgenossen in Europa Dennochhaben sich ihre Lebensstandards in den folgenden Jahrhundertendramatisch auseinanderentwickelt ndash und das nicht aus sich selbstheraus sondern wegen der jeweils anderen

Wenn wir die Sache von dieser Warte aus betrachten geht esweniger um die Frage nach den unterschiedlichen Eigenschaftenvon reichen und armen Laumlndern ndash obwohl das natuumlrlich mit da-zugehoumlrt ndash sondern vielmehr um die Beziehungen die zwischenihnen bestehen Die Kluft zwischen reichen und armen Laumlndernist weder naturgegeben noch unausweichlich Sie ist von Men-schen erschaffen worden Was hat dazu gefuumlhrt dass ein Teil derWelt aufgestiegen und der andere abgestuumlrzt ist Wie konnte dieDynamik des Wachstums hier und des Niedergangs dort uumlbermehr als ein halbes Jahrtausend hinweg aufrechterhalten werdenWarum nimmt die globale Ungleichheit zu statt weniger zu wer-den Und warum wissen wir nichts davon

Von Zeit zu Zeit denke ich zuruumlck an die endlose Schlange vonMenschen vor der Klinik meiner Eltern Das Bild ist mir noch solebendig in Erinnerung als waumlre es erst gestern gewesen Wannimmer ich das tue werde ich daran erinnert dass die Geschichteder globalen Ungleichheit nicht von Zahlen und historischen Er-eignissen handelt Sondern vom echten Leben von echten Men-schen Von den Bestrebungen und Hoffnungen von Gemeinschaf-ten und Nationen und sozialen Bewegungen uumlber Generationenja uumlber Jahrhunderte hinweg Von dem ndash zweifelsohne von Zeit zuZeit erschuumltterten ansonsten aber festen ndash Glauben daran dasseine andere Welt moumlglich ist

In einer der erschreckendsten Phasen der Geschichte in einer

Vorwort Anfaumlnge

Zeit in der die globale Ungleichheit ein Rekordniveau erreicht hatDemagogen an die Macht draumlngen und das Klima unseres Plane-ten beginnt sich gegen die industrielle Zivilisation zu wenden be-duumlrfen wir mehr denn je der Hoffnung Nur wenn wir verstehenwarum die Welt ist wie sie ist ndash indem wir die Ursachen dafuumlruntersuchen ndash wird es uns gelingen echte wirksame Loumlsungen zufinden und einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu erdenkenEins steht auf jeden Fall fest Wollen wir die groszligen Probleme derglobalen Armut und Ungleichheit der Hungersnoumlte und kollabie-renden Oumlkosysteme loumlsen dann muss die Welt der Zukunft ganzanders aussehen als die Welt wie wir sie heute kennen

Der Bogen der Geschichte neigt sich wie Martin Luther King jreinmal sagte der Gerechtigkeit zu Das mag sein aber er wird dasnicht von alleine tun

Erster Teil

DIE KLUFT

17

1DER ENTWICKLUNGSWAHN

Es begann als eine PR-Masche Harry S Truman war gerade fuumlreine zweite Amtszeit zum Praumlsidenten der Vereinigten Staatengewaumlhlt worden und bereitete sich darauf vor am 20 Januar 1949seine Antrittsrede zu halten Seine Redenschreiber waren voumllligaufgeloumlst Sie mussten sich etwas Uumlberzeugendes ausdenken wasder Praumlsident sagen konnte ndash eine kuumlhne und mitreiszligende Ankuumln-digung Sie hatten drei Ideen auf ihrer Liste Unterstuumltzung fuumlr dieneu gegruumlndeten Vereinten Nationen Widerstand gegen die sow-jetische Bedrohung und die Selbstverpflichtung den Marshallplanfortzufuumlhren Aber keiner dieser Punkte konnte wirklich begeis-tern ndash eigentlich waren sie sogar ziemlich langweilig und dieMedien wuumlrden die Rede wahrscheinlich als raquoSchnee von gesternlaquoabtun und ignorieren Sie brauchten etwas anderes was den Zeit-geist aufgreifen wuumlrde ndash etwas das die Nation begeistern konnte

Die Antwort kam aus einer unerwarteten Ecke Benjamin Hardywar ein junger Beamter auf der mittleren Fuumlhrungsebene desUS-Auszligenministeriums doch als ehemaliger Reporter des AtlantaJournal hatte er ein Gespuumlr fuumlr eine gute Schlagzeile Als ihm einMemo zwischen die Finger kam in dem haumlnderingend nach neuenIdeen fuumlr Trumans Antrittsrede gesucht wurde entschloss er sichseinem Chef einen verruumlckten Einfall zu praumlsentieren raquoEntwick-lunglaquo Warum sollte Truman nicht verkuumlnden dass seine Regie-rung den Laumlndern der Dritten Welt finanzielle Hilfen gewaumlhren

18

Erster Teil Die Kluft

wuumlrde um ihre Entwicklung zu foumlrdern und so dem Leid der vonbitterer Armut geplagten Menschen ein Ende zu setzen Hardy hieltdas fuumlr einen sicheren Sieg ndash ein einfacher Weg so schrieb er in sei-nem Konzept raquodie groumlszligte emotionale Wirkunglaquo auf die US-Buumlrgerzu erzielen und sich raquodie allgemeine Sehnsucht nach einer besserenWelt zunutze zu machen und in geordnete Bahnen zu lenkenlaquo

Aber Hardys Chef hielt nichts davon Es sei eine riskante Ideeaus heiterem Himmel die womoumlglich zu neuartig sei um die Leutezu uumlberzeugen sie sei es nicht wert damit bei einem so wichtigenAnlass zu experimentieren Doch Hardy war entschlossen dieseChance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen Es gelang ihm un-ter einem Vorwand im Weiszligen Haus vorgelassen zu werden wo erTrumans Beratern mit gluumlhenden Worten seine Idee anpries Erkonnte einige von ihnen uumlberzeugen sodass sein Plan ndash mithilfegewisser diplomatischer Manoumlver von Insidern ndash als eine Artnachtraumlglicher Einfall in Trumans Redemanuskript aufgenommenwurde als raquoPoint Fourlaquo Truman war einverstanden

Es war die erste Antrittsrede eines US-Praumlsidenten die live imFernsehen uumlbertragen wurde Zehn Millionen Zuschauer verfolgtensie an jenem kalten Januarnachmittag vor den Bildschirmen ndash nochnie hatte ein einzelnes Ereignis ein groumlszligeres Publikum gefundenBei Trumans Antrittsrede sahen mehr Menschen zu als bei saumlmt-lichen Antrittsreden aller seiner Vorgaumlnger zusammengenommenUnd sie waren begeistert von dem was er zu sagen hatte raquoUumlber dieHaumllfte der Weltbevoumllkerung lebt unter so erbaumlrmlichen Bedingun-gen dass man sie geradezu als Elend bezeichnen koumlnntelaquo verkuumln-dete er raquoSie haben nicht genug zu essen Sie werden von Krankhei-ten geplagt In wirtschaftlicher Hinsicht ist ihr Leben primitiv undes ist keine Besserung in Sichtlaquo Aber so Truman es bestehe Hoff-nung raquoZum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit habenwir das Wissen und die Faumlhigkeiten das Leid dieser Menschen zulindern In der industriellen und wissenschaftlichen Entwicklung

19

1 Der Entwicklungswahn

nehmen die Vereinigten Staaten einen ganz besonderen Platz unterden Laumlndern der Erde ein hellip unsere unschaumltzbaren Ressourcen destechnischen Wissens werden staumlndig erweitert und sie sind un-erschoumlpflichlaquo Und dann spielte er seine Trumpfkarte aus raquoWirmuumlssen ein kuumlhnes neues Programm ins Leben rufen um denunterentwickelten Regionen der Welt den Nutzen aus unserenwissenschaftlichen Erkenntnissen und aus unserem industriellenFortschritt zur Verfuumlgung zu stellen sodass sie sich wirtschaftlichentwickeln und wachsen koumlnnen hellip Die ganze Welt muss sich an-strengen um Frieden Uumlberfluss und Freiheit zu erreichenlaquo

Natuumlrlich gab es keinerlei konkrete Plaumlne fuumlr ein solches Pro-gramm ndash nicht einmal ein einziges Dokument Es wurde aus-schlieszliglich als PR-Masche in Trumans Rede aufgenommen ndash undes funktionierte Die Medien uumlberschlugen sich vor Begeisterung ndashsaumlmtliche Zeitungen von der Washington Post bis hin zur New YorkTimes brachten gluumlhende Berichte uumlber Point Four und der Restder Rede war schnell vergessen1

Warum konnte Point Four eine so groszlige Faszination auf dieamerikanische Oumlffentlichkeit ausuumlben Weil Truman den Buumlrgern

eine neue und machtvolle Perspektive auf die sich abzeichnendeWeltordnung eroumlffnet hatte Nach den Verheerungen des ZweitenWeltkriegs glaumltteten sich die Wogen der europaumlische Imperialis-mus brach zusammen und die Welt begann sich als Gemeinschaftvon gleichberechtigten und unabhaumlngigen Staaten zusammenzu-finden Das Problem war nur dass sie eigentlich uumlberhaupt nichtgleichberechtigt waren Es gab riesige Unterschiede zwischenihnen wenn es um Macht und Wohlstand ging Die privilegierten

Um den Lesefluss nicht zu stoumlren wird in diesem Buch der Einfachheithalber bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen stetsdie maumlnnliche Form verwendet Selbstverstaumlndlich ist dabei die weib-liche Form gleichrangig mit einbezogen

20

Erster Teil Die Kluft

Laumlnder des Globalen Nordens erfreuten sich einer sehr hohen Le-bensqualitaumlt waumlhrend die benachteiligten Laumlnder des GlobalenSuumldens ndash die Mehrheit der Weltbevoumllkerung ndash in laumlhmender Armutversanken Wenn die Amerikaner uumlber ihre Grenzen hinausblick-ten und die brutale Tatsache der globalen Ungleichheit erkanntenbrauchten sie dafuumlr eine Erklaumlrung

Point Four bot ihnen eine uumlberzeugende Perspektive an Die rei-chen Laumlnder Europas und Nordamerikas seien raquoentwickeltlaquo siehaumltten einen Vorsprung auf dem groszligen Pfad des FortschrittsIhnen gehe es besser weil sie besser seien ndash intelligenter innovati-ver und fleiszligiger Sie haumltten bessere Werte bessere Institutionenund bessere Technologien Dagegen seien die armen Laumlnder desGlobalen Suumldens aumlrmer weil sie noch nicht die richtigen Werteund politischen Ziele gefunden haumltten sie seien zuruumlckgebliebenraquounterentwickeltlaquo und darum bemuumlht aufzuholen

Aufgrund dieser Geschichte konnten sich die Amerikaner zu-tiefst bestaumltigt fuumlhlen sie vermittelte ihnen ein positives Selbst-gefuumlhl sie machte sie stolz auf das Erreichte und ihren Platz in derWelt Aber noch wichtiger war vielleicht dass sie sich auf dieseWeise auch nobel fuumlhlen konnten ndash diese neue Perspektive eroumlff-nete ihnen den Zugang zu einer houmlheren beinahe kosmologischenMission Die entwickelten Laumlnder konnten sich als Leuchtfeuerder Hoffnung zeigen als Retter der Beduumlrftigen Sie wuumlrden ihnendie helfende Hand reichen sie groszligzuumlgig an ihren Reichtuumlmernteilhaben lassen und so den raquoprimitivenlaquo Laumlndern des GlobalenSuumldens dazu verhelfen ihnen auf dem Weg zum Erfolg zu folgenSie wuumlrden zu Helden werden die die Welt zu noch nie dagewese-nem Frieden und Wohlstand fuumlhren

Mit anderen Worten Point Four konnte nicht nur die globaleUngleichheit erklaumlren sondern auch eine Loumlsung anbieten wie siein einem befreienden Rundumschlag zu beheben sei Und so dau-erte es nicht lange bis diese Idee auch von den Regierungen in

Page 4: ,#510 · ,#510 *+%-'. &+' 6;4#00'+ &'5 9#%*567/5 9 7 9 ! Aus dem Englischen von Karsten Petersen und omas Pfei er

INHALT

Vorwort Anfaumlnge 9

Erster Teil DIE KLUFT

1 Der Entwicklungswahn 17

2 Die Abschaffung der Armut hellip wurde aufgeschoben 52

Zweiter Teil UumlBER GEWALT

3 Woher kommt die Armut

Eine Schoumlpfungsgeschichte 91

4 Vom Kolonialismus zum Staatsstreich 140

Dritter Teil DER NEUE KOLONIALISMUS

5 Schulden und die Oumlkonomie einer

geplanten Verelendung 191

6 Freihandel und der Aufstieg des virtuellen Senats 240

7 Pluumlnderung im 21 Jahrhundert 286

Vierter Teil DIE KLUFT SCHLIESSEN

8 Von Wohltaumltigkeit zu Gerechtigkeit 329

9 Die unerlaumlssliche Verruumlcktheit der Fantasie 357

Danksagung 393

Anmerkungen 397

9

VORWORT ANFAumlNGE

Ich bin in Swasiland aufgewachsen ndash ein kleines Binnenland naheder suumldafrikanischen Ostkuumlste das an Suumldafrika und Mosambikgrenzt Es war in vielerlei Hinsicht eine gluumlckliche Kindheit Alskleiner Junge rannte ich mit meinen Freunden barfuszlig durch dassandige Grasland ungehindert von Zaumlunen oder Mauern Wennder Monsunregen einsetzte lieszligen wir kleine Rindenschiffchendie Dongas ndash Erosionsrinnen ndash hinabtreiben und freuten uns uumlberdas viele Wasser Wir kletterten auf Baumlume und pfluumlckten Mangosund Litschis und Guaven wann immer uns der Hunger uumlberfielAn langen Nachmittagen wanderte ich manchmal den Huumlgel hin-ter unserem Bungalow hinauf und folgte dem Feldweg bis zu derKlinik in der meine Eltern als Aumlrzte arbeiteten Ich kann michnoch gut an die Kuumlhle der spiegelblanken Betonboumlden und denwindigen Schatten des Innenhofes erinnern Vor allem aber erin-nere ich mich an die Schlange ndash die lange Schlange der Patientendie sich aus dem Eingang der Klinik hinauswand an die Men-schen manche auf Holzbaumlnken andere auf Grasmatten auf demBoden sitzend die darauf warteten aufgerufen zu werden Mirschien es damals so als wuumlrde diese Schlange niemals enden

Als ich etwas aumllter wurde lernte ich Begriffe wie Tuberkuloseund Malaria Typhus und Bilharziose Unterernaumlhrung und Kwa-shiorkor kennen ndash unheimliche Worte die dennoch vertraut undin unserer Familie haumlufig zu houmlren waren Noch spaumlter erfuhr ich

10

Vorwort Anfaumlnge

dass um uns herum die schlimmste HIVAids-Epidemie auf derganzen Welt tobte Die Menschen litten und starben an Krank-heiten die in wohlhabenderen Laumlndern leicht geheilt verhuumltetoder behandelt werden konnten ndash eine Tatsache die mich sprach-los machte vor Entsetzen Und ich lernte die Armut kennen Vielemeiner Freunde kamen aus Familien die als Kleinbauern auf einpaar Aumlckern ihren mageren Lebensunterhalt zusammenkratztenund in staumlndiger Angst vor der naumlchsten Duumlrre lebten oder die innotduumlrftigen Huumltten in den Slums rund um Manzini lebten diegroumlszligte Stadt des Landes und immer auf der Suche nach Arbeitwaren

Sie waren ndash und sind ndash nicht die Einzigen Heute leben rund43 Milliarden Menschen ndash uumlber 60 Prozent der Weltbevoumllkerung ndashin auszehrender Armut und kaumlmpfen darum mit weniger als demGegenwert von fuumlnf US-Dollar pro Tag zu uumlberleben Die Zahl derin absoluter Armut lebenden Menschen ist in den vergangenenJahrzehnten bestaumlndig gestiegen ndash waumlhrend zugleich SuperreicheVermoumlgen auf einem historisch beispiellosen Niveau anhaumlufen Zudem Zeitpunkt da ich diese Zeilen schreibe hat die Meldung dieRunde gemacht dass die acht reichsten Menschen auf der Welt zu-sammengenommen ebenso viel Vermoumlgen besitzen wie die aumlrmsteHaumllfte der Weltbevoumllkerung

Der Blick auf die unterschiedliche Einkommens- und Vermouml-gensverteilung macht das ganze Ausmaszlig der globalen Ungleich-heit deutlich Einen noch genaueren Blick aber erhalten wir wennwir die Kluft zwischen den einzelnen Regionen der Welt betrach-ten Im Jahr 2000 lag das Durchschnittseinkommen eines US-Buumlr-gers rund neunmal houmlher als das der Menschen in Lateinamerika21-mal houmlher als das der Bewohner des Nahen Ostens und Nord-afrikas 52-mal uumlber dem in Afrika suumldlich der Sahara und volle73-mal uumlber dem der Suumldasiaten Und auch hier sind die Zahlenimmer schlimmer geworden Der Abstand zwischen dem realen

11

Vorwort Anfaumlnge

Pro-Kopf-Einkommen im globalen Norden und dem im globalenSuumlden hat sich seit 1960 ungefaumlhr verdreifacht

Man koumlnnte leicht den Eindruck gewinnen die Kluft zwischenReich und Arm habe schon immer existiert dass sie sozusageneine natuumlrliche Eigenschaft der Welt ist Allein schon das Bild vonder Kluft koumlnnte uns unabsichtlich zu der Annahme verfuumlhrendass es einen Bruch ndash eine fundamentale Diskontinuitaumlt ndash zwi-schen der reichen Welt und der armen Welt gibt so als waumlren sievoneinander getrennte oumlkonomische Inseln Falls man wie vieleWissenschaftler das getan haben von dieser Annahme ausgehterklaumlren sich die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen armenund reichen Laumlndern schlicht aus ihren jeweiligen inneren Eigen-schaften

Und auf ebendieser Annahme fuszligt die Geschichte uumlber dieglobale Ungleichheit die uns uumlblicherweise erzaumlhlt wird Entwick-lungshilfebehoumlrden NGOs und die maumlchtigsten Regierungen be-haupten unisono verantwortlich fuumlr das Los der armen Laumlnder seiein technisches Problem ndash ein Problem das geloumlst werden kannwenn sie funktionierende Institutionen aufbauen die richtigeWirtschaftspolitik verfolgen hart arbeiten und sich ein bisschenunter die Arme greifen lassen Wuumlrden die armen Laumlnder nur demRat der Experten von Institutionen wie der Weltbank folgen koumlnn-ten sie Schritt fuumlr Schritt die Armut zuruumlckdraumlngen und die Kluftzwischen Arm und Reich uumlberwinden Die Story ist wohlbekanntund sie ist bequem Wir alle haben zu dem einen oder anderenZeitpunkt an sie geglaubt und nach ihr gehandelt Sie erhaumllt einemilliardenschwere Industrie und eine Armada an NGOs Wohl-taumltigkeitsorganisationen und Stiftungen am Leben die die Armutdurch Entwicklungshilfe und Wohltaumltigkeit auszumerzen ver-sprechen

Doch diese Story ist falsch Die Vorstellung einer natuumlrlichenKluft zwischen armen und reichen Laumlndern fuumlhrt uns von Anfang

12

Vorwort Anfaumlnge

an in die Irre Um 1500 herum bestand kein nennenswerter Unter-schied in den Einkommen und im Lebensstandard zwischenEuropa und dem Rest der Welt In der Tat ging es wie wir heutewissen den Menschen in einigen Regionen des globalen Suumldensdamals deutlich besser als ihren Zeitgenossen in Europa Dennochhaben sich ihre Lebensstandards in den folgenden Jahrhundertendramatisch auseinanderentwickelt ndash und das nicht aus sich selbstheraus sondern wegen der jeweils anderen

Wenn wir die Sache von dieser Warte aus betrachten geht esweniger um die Frage nach den unterschiedlichen Eigenschaftenvon reichen und armen Laumlndern ndash obwohl das natuumlrlich mit da-zugehoumlrt ndash sondern vielmehr um die Beziehungen die zwischenihnen bestehen Die Kluft zwischen reichen und armen Laumlndernist weder naturgegeben noch unausweichlich Sie ist von Men-schen erschaffen worden Was hat dazu gefuumlhrt dass ein Teil derWelt aufgestiegen und der andere abgestuumlrzt ist Wie konnte dieDynamik des Wachstums hier und des Niedergangs dort uumlbermehr als ein halbes Jahrtausend hinweg aufrechterhalten werdenWarum nimmt die globale Ungleichheit zu statt weniger zu wer-den Und warum wissen wir nichts davon

Von Zeit zu Zeit denke ich zuruumlck an die endlose Schlange vonMenschen vor der Klinik meiner Eltern Das Bild ist mir noch solebendig in Erinnerung als waumlre es erst gestern gewesen Wannimmer ich das tue werde ich daran erinnert dass die Geschichteder globalen Ungleichheit nicht von Zahlen und historischen Er-eignissen handelt Sondern vom echten Leben von echten Men-schen Von den Bestrebungen und Hoffnungen von Gemeinschaf-ten und Nationen und sozialen Bewegungen uumlber Generationenja uumlber Jahrhunderte hinweg Von dem ndash zweifelsohne von Zeit zuZeit erschuumltterten ansonsten aber festen ndash Glauben daran dasseine andere Welt moumlglich ist

In einer der erschreckendsten Phasen der Geschichte in einer

Vorwort Anfaumlnge

Zeit in der die globale Ungleichheit ein Rekordniveau erreicht hatDemagogen an die Macht draumlngen und das Klima unseres Plane-ten beginnt sich gegen die industrielle Zivilisation zu wenden be-duumlrfen wir mehr denn je der Hoffnung Nur wenn wir verstehenwarum die Welt ist wie sie ist ndash indem wir die Ursachen dafuumlruntersuchen ndash wird es uns gelingen echte wirksame Loumlsungen zufinden und einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu erdenkenEins steht auf jeden Fall fest Wollen wir die groszligen Probleme derglobalen Armut und Ungleichheit der Hungersnoumlte und kollabie-renden Oumlkosysteme loumlsen dann muss die Welt der Zukunft ganzanders aussehen als die Welt wie wir sie heute kennen

Der Bogen der Geschichte neigt sich wie Martin Luther King jreinmal sagte der Gerechtigkeit zu Das mag sein aber er wird dasnicht von alleine tun

Erster Teil

DIE KLUFT

17

1DER ENTWICKLUNGSWAHN

Es begann als eine PR-Masche Harry S Truman war gerade fuumlreine zweite Amtszeit zum Praumlsidenten der Vereinigten Staatengewaumlhlt worden und bereitete sich darauf vor am 20 Januar 1949seine Antrittsrede zu halten Seine Redenschreiber waren voumllligaufgeloumlst Sie mussten sich etwas Uumlberzeugendes ausdenken wasder Praumlsident sagen konnte ndash eine kuumlhne und mitreiszligende Ankuumln-digung Sie hatten drei Ideen auf ihrer Liste Unterstuumltzung fuumlr dieneu gegruumlndeten Vereinten Nationen Widerstand gegen die sow-jetische Bedrohung und die Selbstverpflichtung den Marshallplanfortzufuumlhren Aber keiner dieser Punkte konnte wirklich begeis-tern ndash eigentlich waren sie sogar ziemlich langweilig und dieMedien wuumlrden die Rede wahrscheinlich als raquoSchnee von gesternlaquoabtun und ignorieren Sie brauchten etwas anderes was den Zeit-geist aufgreifen wuumlrde ndash etwas das die Nation begeistern konnte

Die Antwort kam aus einer unerwarteten Ecke Benjamin Hardywar ein junger Beamter auf der mittleren Fuumlhrungsebene desUS-Auszligenministeriums doch als ehemaliger Reporter des AtlantaJournal hatte er ein Gespuumlr fuumlr eine gute Schlagzeile Als ihm einMemo zwischen die Finger kam in dem haumlnderingend nach neuenIdeen fuumlr Trumans Antrittsrede gesucht wurde entschloss er sichseinem Chef einen verruumlckten Einfall zu praumlsentieren raquoEntwick-lunglaquo Warum sollte Truman nicht verkuumlnden dass seine Regie-rung den Laumlndern der Dritten Welt finanzielle Hilfen gewaumlhren

18

Erster Teil Die Kluft

wuumlrde um ihre Entwicklung zu foumlrdern und so dem Leid der vonbitterer Armut geplagten Menschen ein Ende zu setzen Hardy hieltdas fuumlr einen sicheren Sieg ndash ein einfacher Weg so schrieb er in sei-nem Konzept raquodie groumlszligte emotionale Wirkunglaquo auf die US-Buumlrgerzu erzielen und sich raquodie allgemeine Sehnsucht nach einer besserenWelt zunutze zu machen und in geordnete Bahnen zu lenkenlaquo

Aber Hardys Chef hielt nichts davon Es sei eine riskante Ideeaus heiterem Himmel die womoumlglich zu neuartig sei um die Leutezu uumlberzeugen sie sei es nicht wert damit bei einem so wichtigenAnlass zu experimentieren Doch Hardy war entschlossen dieseChance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen Es gelang ihm un-ter einem Vorwand im Weiszligen Haus vorgelassen zu werden wo erTrumans Beratern mit gluumlhenden Worten seine Idee anpries Erkonnte einige von ihnen uumlberzeugen sodass sein Plan ndash mithilfegewisser diplomatischer Manoumlver von Insidern ndash als eine Artnachtraumlglicher Einfall in Trumans Redemanuskript aufgenommenwurde als raquoPoint Fourlaquo Truman war einverstanden

Es war die erste Antrittsrede eines US-Praumlsidenten die live imFernsehen uumlbertragen wurde Zehn Millionen Zuschauer verfolgtensie an jenem kalten Januarnachmittag vor den Bildschirmen ndash nochnie hatte ein einzelnes Ereignis ein groumlszligeres Publikum gefundenBei Trumans Antrittsrede sahen mehr Menschen zu als bei saumlmt-lichen Antrittsreden aller seiner Vorgaumlnger zusammengenommenUnd sie waren begeistert von dem was er zu sagen hatte raquoUumlber dieHaumllfte der Weltbevoumllkerung lebt unter so erbaumlrmlichen Bedingun-gen dass man sie geradezu als Elend bezeichnen koumlnntelaquo verkuumln-dete er raquoSie haben nicht genug zu essen Sie werden von Krankhei-ten geplagt In wirtschaftlicher Hinsicht ist ihr Leben primitiv undes ist keine Besserung in Sichtlaquo Aber so Truman es bestehe Hoff-nung raquoZum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit habenwir das Wissen und die Faumlhigkeiten das Leid dieser Menschen zulindern In der industriellen und wissenschaftlichen Entwicklung

19

1 Der Entwicklungswahn

nehmen die Vereinigten Staaten einen ganz besonderen Platz unterden Laumlndern der Erde ein hellip unsere unschaumltzbaren Ressourcen destechnischen Wissens werden staumlndig erweitert und sie sind un-erschoumlpflichlaquo Und dann spielte er seine Trumpfkarte aus raquoWirmuumlssen ein kuumlhnes neues Programm ins Leben rufen um denunterentwickelten Regionen der Welt den Nutzen aus unserenwissenschaftlichen Erkenntnissen und aus unserem industriellenFortschritt zur Verfuumlgung zu stellen sodass sie sich wirtschaftlichentwickeln und wachsen koumlnnen hellip Die ganze Welt muss sich an-strengen um Frieden Uumlberfluss und Freiheit zu erreichenlaquo

Natuumlrlich gab es keinerlei konkrete Plaumlne fuumlr ein solches Pro-gramm ndash nicht einmal ein einziges Dokument Es wurde aus-schlieszliglich als PR-Masche in Trumans Rede aufgenommen ndash undes funktionierte Die Medien uumlberschlugen sich vor Begeisterung ndashsaumlmtliche Zeitungen von der Washington Post bis hin zur New YorkTimes brachten gluumlhende Berichte uumlber Point Four und der Restder Rede war schnell vergessen1

Warum konnte Point Four eine so groszlige Faszination auf dieamerikanische Oumlffentlichkeit ausuumlben Weil Truman den Buumlrgern

eine neue und machtvolle Perspektive auf die sich abzeichnendeWeltordnung eroumlffnet hatte Nach den Verheerungen des ZweitenWeltkriegs glaumltteten sich die Wogen der europaumlische Imperialis-mus brach zusammen und die Welt begann sich als Gemeinschaftvon gleichberechtigten und unabhaumlngigen Staaten zusammenzu-finden Das Problem war nur dass sie eigentlich uumlberhaupt nichtgleichberechtigt waren Es gab riesige Unterschiede zwischenihnen wenn es um Macht und Wohlstand ging Die privilegierten

Um den Lesefluss nicht zu stoumlren wird in diesem Buch der Einfachheithalber bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen stetsdie maumlnnliche Form verwendet Selbstverstaumlndlich ist dabei die weib-liche Form gleichrangig mit einbezogen

20

Erster Teil Die Kluft

Laumlnder des Globalen Nordens erfreuten sich einer sehr hohen Le-bensqualitaumlt waumlhrend die benachteiligten Laumlnder des GlobalenSuumldens ndash die Mehrheit der Weltbevoumllkerung ndash in laumlhmender Armutversanken Wenn die Amerikaner uumlber ihre Grenzen hinausblick-ten und die brutale Tatsache der globalen Ungleichheit erkanntenbrauchten sie dafuumlr eine Erklaumlrung

Point Four bot ihnen eine uumlberzeugende Perspektive an Die rei-chen Laumlnder Europas und Nordamerikas seien raquoentwickeltlaquo siehaumltten einen Vorsprung auf dem groszligen Pfad des FortschrittsIhnen gehe es besser weil sie besser seien ndash intelligenter innovati-ver und fleiszligiger Sie haumltten bessere Werte bessere Institutionenund bessere Technologien Dagegen seien die armen Laumlnder desGlobalen Suumldens aumlrmer weil sie noch nicht die richtigen Werteund politischen Ziele gefunden haumltten sie seien zuruumlckgebliebenraquounterentwickeltlaquo und darum bemuumlht aufzuholen

Aufgrund dieser Geschichte konnten sich die Amerikaner zu-tiefst bestaumltigt fuumlhlen sie vermittelte ihnen ein positives Selbst-gefuumlhl sie machte sie stolz auf das Erreichte und ihren Platz in derWelt Aber noch wichtiger war vielleicht dass sie sich auf dieseWeise auch nobel fuumlhlen konnten ndash diese neue Perspektive eroumlff-nete ihnen den Zugang zu einer houmlheren beinahe kosmologischenMission Die entwickelten Laumlnder konnten sich als Leuchtfeuerder Hoffnung zeigen als Retter der Beduumlrftigen Sie wuumlrden ihnendie helfende Hand reichen sie groszligzuumlgig an ihren Reichtuumlmernteilhaben lassen und so den raquoprimitivenlaquo Laumlndern des GlobalenSuumldens dazu verhelfen ihnen auf dem Weg zum Erfolg zu folgenSie wuumlrden zu Helden werden die die Welt zu noch nie dagewese-nem Frieden und Wohlstand fuumlhren

Mit anderen Worten Point Four konnte nicht nur die globaleUngleichheit erklaumlren sondern auch eine Loumlsung anbieten wie siein einem befreienden Rundumschlag zu beheben sei Und so dau-erte es nicht lange bis diese Idee auch von den Regierungen in

Page 5: ,#510 · ,#510 *+%-'. &+' 6;4#00'+ &'5 9#%*567/5 9 7 9 ! Aus dem Englischen von Karsten Petersen und omas Pfei er

9

VORWORT ANFAumlNGE

Ich bin in Swasiland aufgewachsen ndash ein kleines Binnenland naheder suumldafrikanischen Ostkuumlste das an Suumldafrika und Mosambikgrenzt Es war in vielerlei Hinsicht eine gluumlckliche Kindheit Alskleiner Junge rannte ich mit meinen Freunden barfuszlig durch dassandige Grasland ungehindert von Zaumlunen oder Mauern Wennder Monsunregen einsetzte lieszligen wir kleine Rindenschiffchendie Dongas ndash Erosionsrinnen ndash hinabtreiben und freuten uns uumlberdas viele Wasser Wir kletterten auf Baumlume und pfluumlckten Mangosund Litschis und Guaven wann immer uns der Hunger uumlberfielAn langen Nachmittagen wanderte ich manchmal den Huumlgel hin-ter unserem Bungalow hinauf und folgte dem Feldweg bis zu derKlinik in der meine Eltern als Aumlrzte arbeiteten Ich kann michnoch gut an die Kuumlhle der spiegelblanken Betonboumlden und denwindigen Schatten des Innenhofes erinnern Vor allem aber erin-nere ich mich an die Schlange ndash die lange Schlange der Patientendie sich aus dem Eingang der Klinik hinauswand an die Men-schen manche auf Holzbaumlnken andere auf Grasmatten auf demBoden sitzend die darauf warteten aufgerufen zu werden Mirschien es damals so als wuumlrde diese Schlange niemals enden

Als ich etwas aumllter wurde lernte ich Begriffe wie Tuberkuloseund Malaria Typhus und Bilharziose Unterernaumlhrung und Kwa-shiorkor kennen ndash unheimliche Worte die dennoch vertraut undin unserer Familie haumlufig zu houmlren waren Noch spaumlter erfuhr ich

10

Vorwort Anfaumlnge

dass um uns herum die schlimmste HIVAids-Epidemie auf derganzen Welt tobte Die Menschen litten und starben an Krank-heiten die in wohlhabenderen Laumlndern leicht geheilt verhuumltetoder behandelt werden konnten ndash eine Tatsache die mich sprach-los machte vor Entsetzen Und ich lernte die Armut kennen Vielemeiner Freunde kamen aus Familien die als Kleinbauern auf einpaar Aumlckern ihren mageren Lebensunterhalt zusammenkratztenund in staumlndiger Angst vor der naumlchsten Duumlrre lebten oder die innotduumlrftigen Huumltten in den Slums rund um Manzini lebten diegroumlszligte Stadt des Landes und immer auf der Suche nach Arbeitwaren

Sie waren ndash und sind ndash nicht die Einzigen Heute leben rund43 Milliarden Menschen ndash uumlber 60 Prozent der Weltbevoumllkerung ndashin auszehrender Armut und kaumlmpfen darum mit weniger als demGegenwert von fuumlnf US-Dollar pro Tag zu uumlberleben Die Zahl derin absoluter Armut lebenden Menschen ist in den vergangenenJahrzehnten bestaumlndig gestiegen ndash waumlhrend zugleich SuperreicheVermoumlgen auf einem historisch beispiellosen Niveau anhaumlufen Zudem Zeitpunkt da ich diese Zeilen schreibe hat die Meldung dieRunde gemacht dass die acht reichsten Menschen auf der Welt zu-sammengenommen ebenso viel Vermoumlgen besitzen wie die aumlrmsteHaumllfte der Weltbevoumllkerung

Der Blick auf die unterschiedliche Einkommens- und Vermouml-gensverteilung macht das ganze Ausmaszlig der globalen Ungleich-heit deutlich Einen noch genaueren Blick aber erhalten wir wennwir die Kluft zwischen den einzelnen Regionen der Welt betrach-ten Im Jahr 2000 lag das Durchschnittseinkommen eines US-Buumlr-gers rund neunmal houmlher als das der Menschen in Lateinamerika21-mal houmlher als das der Bewohner des Nahen Ostens und Nord-afrikas 52-mal uumlber dem in Afrika suumldlich der Sahara und volle73-mal uumlber dem der Suumldasiaten Und auch hier sind die Zahlenimmer schlimmer geworden Der Abstand zwischen dem realen

11

Vorwort Anfaumlnge

Pro-Kopf-Einkommen im globalen Norden und dem im globalenSuumlden hat sich seit 1960 ungefaumlhr verdreifacht

Man koumlnnte leicht den Eindruck gewinnen die Kluft zwischenReich und Arm habe schon immer existiert dass sie sozusageneine natuumlrliche Eigenschaft der Welt ist Allein schon das Bild vonder Kluft koumlnnte uns unabsichtlich zu der Annahme verfuumlhrendass es einen Bruch ndash eine fundamentale Diskontinuitaumlt ndash zwi-schen der reichen Welt und der armen Welt gibt so als waumlren sievoneinander getrennte oumlkonomische Inseln Falls man wie vieleWissenschaftler das getan haben von dieser Annahme ausgehterklaumlren sich die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen armenund reichen Laumlndern schlicht aus ihren jeweiligen inneren Eigen-schaften

Und auf ebendieser Annahme fuszligt die Geschichte uumlber dieglobale Ungleichheit die uns uumlblicherweise erzaumlhlt wird Entwick-lungshilfebehoumlrden NGOs und die maumlchtigsten Regierungen be-haupten unisono verantwortlich fuumlr das Los der armen Laumlnder seiein technisches Problem ndash ein Problem das geloumlst werden kannwenn sie funktionierende Institutionen aufbauen die richtigeWirtschaftspolitik verfolgen hart arbeiten und sich ein bisschenunter die Arme greifen lassen Wuumlrden die armen Laumlnder nur demRat der Experten von Institutionen wie der Weltbank folgen koumlnn-ten sie Schritt fuumlr Schritt die Armut zuruumlckdraumlngen und die Kluftzwischen Arm und Reich uumlberwinden Die Story ist wohlbekanntund sie ist bequem Wir alle haben zu dem einen oder anderenZeitpunkt an sie geglaubt und nach ihr gehandelt Sie erhaumllt einemilliardenschwere Industrie und eine Armada an NGOs Wohl-taumltigkeitsorganisationen und Stiftungen am Leben die die Armutdurch Entwicklungshilfe und Wohltaumltigkeit auszumerzen ver-sprechen

Doch diese Story ist falsch Die Vorstellung einer natuumlrlichenKluft zwischen armen und reichen Laumlndern fuumlhrt uns von Anfang

12

Vorwort Anfaumlnge

an in die Irre Um 1500 herum bestand kein nennenswerter Unter-schied in den Einkommen und im Lebensstandard zwischenEuropa und dem Rest der Welt In der Tat ging es wie wir heutewissen den Menschen in einigen Regionen des globalen Suumldensdamals deutlich besser als ihren Zeitgenossen in Europa Dennochhaben sich ihre Lebensstandards in den folgenden Jahrhundertendramatisch auseinanderentwickelt ndash und das nicht aus sich selbstheraus sondern wegen der jeweils anderen

Wenn wir die Sache von dieser Warte aus betrachten geht esweniger um die Frage nach den unterschiedlichen Eigenschaftenvon reichen und armen Laumlndern ndash obwohl das natuumlrlich mit da-zugehoumlrt ndash sondern vielmehr um die Beziehungen die zwischenihnen bestehen Die Kluft zwischen reichen und armen Laumlndernist weder naturgegeben noch unausweichlich Sie ist von Men-schen erschaffen worden Was hat dazu gefuumlhrt dass ein Teil derWelt aufgestiegen und der andere abgestuumlrzt ist Wie konnte dieDynamik des Wachstums hier und des Niedergangs dort uumlbermehr als ein halbes Jahrtausend hinweg aufrechterhalten werdenWarum nimmt die globale Ungleichheit zu statt weniger zu wer-den Und warum wissen wir nichts davon

Von Zeit zu Zeit denke ich zuruumlck an die endlose Schlange vonMenschen vor der Klinik meiner Eltern Das Bild ist mir noch solebendig in Erinnerung als waumlre es erst gestern gewesen Wannimmer ich das tue werde ich daran erinnert dass die Geschichteder globalen Ungleichheit nicht von Zahlen und historischen Er-eignissen handelt Sondern vom echten Leben von echten Men-schen Von den Bestrebungen und Hoffnungen von Gemeinschaf-ten und Nationen und sozialen Bewegungen uumlber Generationenja uumlber Jahrhunderte hinweg Von dem ndash zweifelsohne von Zeit zuZeit erschuumltterten ansonsten aber festen ndash Glauben daran dasseine andere Welt moumlglich ist

In einer der erschreckendsten Phasen der Geschichte in einer

Vorwort Anfaumlnge

Zeit in der die globale Ungleichheit ein Rekordniveau erreicht hatDemagogen an die Macht draumlngen und das Klima unseres Plane-ten beginnt sich gegen die industrielle Zivilisation zu wenden be-duumlrfen wir mehr denn je der Hoffnung Nur wenn wir verstehenwarum die Welt ist wie sie ist ndash indem wir die Ursachen dafuumlruntersuchen ndash wird es uns gelingen echte wirksame Loumlsungen zufinden und einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu erdenkenEins steht auf jeden Fall fest Wollen wir die groszligen Probleme derglobalen Armut und Ungleichheit der Hungersnoumlte und kollabie-renden Oumlkosysteme loumlsen dann muss die Welt der Zukunft ganzanders aussehen als die Welt wie wir sie heute kennen

Der Bogen der Geschichte neigt sich wie Martin Luther King jreinmal sagte der Gerechtigkeit zu Das mag sein aber er wird dasnicht von alleine tun

Erster Teil

DIE KLUFT

17

1DER ENTWICKLUNGSWAHN

Es begann als eine PR-Masche Harry S Truman war gerade fuumlreine zweite Amtszeit zum Praumlsidenten der Vereinigten Staatengewaumlhlt worden und bereitete sich darauf vor am 20 Januar 1949seine Antrittsrede zu halten Seine Redenschreiber waren voumllligaufgeloumlst Sie mussten sich etwas Uumlberzeugendes ausdenken wasder Praumlsident sagen konnte ndash eine kuumlhne und mitreiszligende Ankuumln-digung Sie hatten drei Ideen auf ihrer Liste Unterstuumltzung fuumlr dieneu gegruumlndeten Vereinten Nationen Widerstand gegen die sow-jetische Bedrohung und die Selbstverpflichtung den Marshallplanfortzufuumlhren Aber keiner dieser Punkte konnte wirklich begeis-tern ndash eigentlich waren sie sogar ziemlich langweilig und dieMedien wuumlrden die Rede wahrscheinlich als raquoSchnee von gesternlaquoabtun und ignorieren Sie brauchten etwas anderes was den Zeit-geist aufgreifen wuumlrde ndash etwas das die Nation begeistern konnte

Die Antwort kam aus einer unerwarteten Ecke Benjamin Hardywar ein junger Beamter auf der mittleren Fuumlhrungsebene desUS-Auszligenministeriums doch als ehemaliger Reporter des AtlantaJournal hatte er ein Gespuumlr fuumlr eine gute Schlagzeile Als ihm einMemo zwischen die Finger kam in dem haumlnderingend nach neuenIdeen fuumlr Trumans Antrittsrede gesucht wurde entschloss er sichseinem Chef einen verruumlckten Einfall zu praumlsentieren raquoEntwick-lunglaquo Warum sollte Truman nicht verkuumlnden dass seine Regie-rung den Laumlndern der Dritten Welt finanzielle Hilfen gewaumlhren

18

Erster Teil Die Kluft

wuumlrde um ihre Entwicklung zu foumlrdern und so dem Leid der vonbitterer Armut geplagten Menschen ein Ende zu setzen Hardy hieltdas fuumlr einen sicheren Sieg ndash ein einfacher Weg so schrieb er in sei-nem Konzept raquodie groumlszligte emotionale Wirkunglaquo auf die US-Buumlrgerzu erzielen und sich raquodie allgemeine Sehnsucht nach einer besserenWelt zunutze zu machen und in geordnete Bahnen zu lenkenlaquo

Aber Hardys Chef hielt nichts davon Es sei eine riskante Ideeaus heiterem Himmel die womoumlglich zu neuartig sei um die Leutezu uumlberzeugen sie sei es nicht wert damit bei einem so wichtigenAnlass zu experimentieren Doch Hardy war entschlossen dieseChance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen Es gelang ihm un-ter einem Vorwand im Weiszligen Haus vorgelassen zu werden wo erTrumans Beratern mit gluumlhenden Worten seine Idee anpries Erkonnte einige von ihnen uumlberzeugen sodass sein Plan ndash mithilfegewisser diplomatischer Manoumlver von Insidern ndash als eine Artnachtraumlglicher Einfall in Trumans Redemanuskript aufgenommenwurde als raquoPoint Fourlaquo Truman war einverstanden

Es war die erste Antrittsrede eines US-Praumlsidenten die live imFernsehen uumlbertragen wurde Zehn Millionen Zuschauer verfolgtensie an jenem kalten Januarnachmittag vor den Bildschirmen ndash nochnie hatte ein einzelnes Ereignis ein groumlszligeres Publikum gefundenBei Trumans Antrittsrede sahen mehr Menschen zu als bei saumlmt-lichen Antrittsreden aller seiner Vorgaumlnger zusammengenommenUnd sie waren begeistert von dem was er zu sagen hatte raquoUumlber dieHaumllfte der Weltbevoumllkerung lebt unter so erbaumlrmlichen Bedingun-gen dass man sie geradezu als Elend bezeichnen koumlnntelaquo verkuumln-dete er raquoSie haben nicht genug zu essen Sie werden von Krankhei-ten geplagt In wirtschaftlicher Hinsicht ist ihr Leben primitiv undes ist keine Besserung in Sichtlaquo Aber so Truman es bestehe Hoff-nung raquoZum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit habenwir das Wissen und die Faumlhigkeiten das Leid dieser Menschen zulindern In der industriellen und wissenschaftlichen Entwicklung

19

1 Der Entwicklungswahn

nehmen die Vereinigten Staaten einen ganz besonderen Platz unterden Laumlndern der Erde ein hellip unsere unschaumltzbaren Ressourcen destechnischen Wissens werden staumlndig erweitert und sie sind un-erschoumlpflichlaquo Und dann spielte er seine Trumpfkarte aus raquoWirmuumlssen ein kuumlhnes neues Programm ins Leben rufen um denunterentwickelten Regionen der Welt den Nutzen aus unserenwissenschaftlichen Erkenntnissen und aus unserem industriellenFortschritt zur Verfuumlgung zu stellen sodass sie sich wirtschaftlichentwickeln und wachsen koumlnnen hellip Die ganze Welt muss sich an-strengen um Frieden Uumlberfluss und Freiheit zu erreichenlaquo

Natuumlrlich gab es keinerlei konkrete Plaumlne fuumlr ein solches Pro-gramm ndash nicht einmal ein einziges Dokument Es wurde aus-schlieszliglich als PR-Masche in Trumans Rede aufgenommen ndash undes funktionierte Die Medien uumlberschlugen sich vor Begeisterung ndashsaumlmtliche Zeitungen von der Washington Post bis hin zur New YorkTimes brachten gluumlhende Berichte uumlber Point Four und der Restder Rede war schnell vergessen1

Warum konnte Point Four eine so groszlige Faszination auf dieamerikanische Oumlffentlichkeit ausuumlben Weil Truman den Buumlrgern

eine neue und machtvolle Perspektive auf die sich abzeichnendeWeltordnung eroumlffnet hatte Nach den Verheerungen des ZweitenWeltkriegs glaumltteten sich die Wogen der europaumlische Imperialis-mus brach zusammen und die Welt begann sich als Gemeinschaftvon gleichberechtigten und unabhaumlngigen Staaten zusammenzu-finden Das Problem war nur dass sie eigentlich uumlberhaupt nichtgleichberechtigt waren Es gab riesige Unterschiede zwischenihnen wenn es um Macht und Wohlstand ging Die privilegierten

Um den Lesefluss nicht zu stoumlren wird in diesem Buch der Einfachheithalber bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen stetsdie maumlnnliche Form verwendet Selbstverstaumlndlich ist dabei die weib-liche Form gleichrangig mit einbezogen

20

Erster Teil Die Kluft

Laumlnder des Globalen Nordens erfreuten sich einer sehr hohen Le-bensqualitaumlt waumlhrend die benachteiligten Laumlnder des GlobalenSuumldens ndash die Mehrheit der Weltbevoumllkerung ndash in laumlhmender Armutversanken Wenn die Amerikaner uumlber ihre Grenzen hinausblick-ten und die brutale Tatsache der globalen Ungleichheit erkanntenbrauchten sie dafuumlr eine Erklaumlrung

Point Four bot ihnen eine uumlberzeugende Perspektive an Die rei-chen Laumlnder Europas und Nordamerikas seien raquoentwickeltlaquo siehaumltten einen Vorsprung auf dem groszligen Pfad des FortschrittsIhnen gehe es besser weil sie besser seien ndash intelligenter innovati-ver und fleiszligiger Sie haumltten bessere Werte bessere Institutionenund bessere Technologien Dagegen seien die armen Laumlnder desGlobalen Suumldens aumlrmer weil sie noch nicht die richtigen Werteund politischen Ziele gefunden haumltten sie seien zuruumlckgebliebenraquounterentwickeltlaquo und darum bemuumlht aufzuholen

Aufgrund dieser Geschichte konnten sich die Amerikaner zu-tiefst bestaumltigt fuumlhlen sie vermittelte ihnen ein positives Selbst-gefuumlhl sie machte sie stolz auf das Erreichte und ihren Platz in derWelt Aber noch wichtiger war vielleicht dass sie sich auf dieseWeise auch nobel fuumlhlen konnten ndash diese neue Perspektive eroumlff-nete ihnen den Zugang zu einer houmlheren beinahe kosmologischenMission Die entwickelten Laumlnder konnten sich als Leuchtfeuerder Hoffnung zeigen als Retter der Beduumlrftigen Sie wuumlrden ihnendie helfende Hand reichen sie groszligzuumlgig an ihren Reichtuumlmernteilhaben lassen und so den raquoprimitivenlaquo Laumlndern des GlobalenSuumldens dazu verhelfen ihnen auf dem Weg zum Erfolg zu folgenSie wuumlrden zu Helden werden die die Welt zu noch nie dagewese-nem Frieden und Wohlstand fuumlhren

Mit anderen Worten Point Four konnte nicht nur die globaleUngleichheit erklaumlren sondern auch eine Loumlsung anbieten wie siein einem befreienden Rundumschlag zu beheben sei Und so dau-erte es nicht lange bis diese Idee auch von den Regierungen in

Page 6: ,#510 · ,#510 *+%-'. &+' 6;4#00'+ &'5 9#%*567/5 9 7 9 ! Aus dem Englischen von Karsten Petersen und omas Pfei er

10

Vorwort Anfaumlnge

dass um uns herum die schlimmste HIVAids-Epidemie auf derganzen Welt tobte Die Menschen litten und starben an Krank-heiten die in wohlhabenderen Laumlndern leicht geheilt verhuumltetoder behandelt werden konnten ndash eine Tatsache die mich sprach-los machte vor Entsetzen Und ich lernte die Armut kennen Vielemeiner Freunde kamen aus Familien die als Kleinbauern auf einpaar Aumlckern ihren mageren Lebensunterhalt zusammenkratztenund in staumlndiger Angst vor der naumlchsten Duumlrre lebten oder die innotduumlrftigen Huumltten in den Slums rund um Manzini lebten diegroumlszligte Stadt des Landes und immer auf der Suche nach Arbeitwaren

Sie waren ndash und sind ndash nicht die Einzigen Heute leben rund43 Milliarden Menschen ndash uumlber 60 Prozent der Weltbevoumllkerung ndashin auszehrender Armut und kaumlmpfen darum mit weniger als demGegenwert von fuumlnf US-Dollar pro Tag zu uumlberleben Die Zahl derin absoluter Armut lebenden Menschen ist in den vergangenenJahrzehnten bestaumlndig gestiegen ndash waumlhrend zugleich SuperreicheVermoumlgen auf einem historisch beispiellosen Niveau anhaumlufen Zudem Zeitpunkt da ich diese Zeilen schreibe hat die Meldung dieRunde gemacht dass die acht reichsten Menschen auf der Welt zu-sammengenommen ebenso viel Vermoumlgen besitzen wie die aumlrmsteHaumllfte der Weltbevoumllkerung

Der Blick auf die unterschiedliche Einkommens- und Vermouml-gensverteilung macht das ganze Ausmaszlig der globalen Ungleich-heit deutlich Einen noch genaueren Blick aber erhalten wir wennwir die Kluft zwischen den einzelnen Regionen der Welt betrach-ten Im Jahr 2000 lag das Durchschnittseinkommen eines US-Buumlr-gers rund neunmal houmlher als das der Menschen in Lateinamerika21-mal houmlher als das der Bewohner des Nahen Ostens und Nord-afrikas 52-mal uumlber dem in Afrika suumldlich der Sahara und volle73-mal uumlber dem der Suumldasiaten Und auch hier sind die Zahlenimmer schlimmer geworden Der Abstand zwischen dem realen

11

Vorwort Anfaumlnge

Pro-Kopf-Einkommen im globalen Norden und dem im globalenSuumlden hat sich seit 1960 ungefaumlhr verdreifacht

Man koumlnnte leicht den Eindruck gewinnen die Kluft zwischenReich und Arm habe schon immer existiert dass sie sozusageneine natuumlrliche Eigenschaft der Welt ist Allein schon das Bild vonder Kluft koumlnnte uns unabsichtlich zu der Annahme verfuumlhrendass es einen Bruch ndash eine fundamentale Diskontinuitaumlt ndash zwi-schen der reichen Welt und der armen Welt gibt so als waumlren sievoneinander getrennte oumlkonomische Inseln Falls man wie vieleWissenschaftler das getan haben von dieser Annahme ausgehterklaumlren sich die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen armenund reichen Laumlndern schlicht aus ihren jeweiligen inneren Eigen-schaften

Und auf ebendieser Annahme fuszligt die Geschichte uumlber dieglobale Ungleichheit die uns uumlblicherweise erzaumlhlt wird Entwick-lungshilfebehoumlrden NGOs und die maumlchtigsten Regierungen be-haupten unisono verantwortlich fuumlr das Los der armen Laumlnder seiein technisches Problem ndash ein Problem das geloumlst werden kannwenn sie funktionierende Institutionen aufbauen die richtigeWirtschaftspolitik verfolgen hart arbeiten und sich ein bisschenunter die Arme greifen lassen Wuumlrden die armen Laumlnder nur demRat der Experten von Institutionen wie der Weltbank folgen koumlnn-ten sie Schritt fuumlr Schritt die Armut zuruumlckdraumlngen und die Kluftzwischen Arm und Reich uumlberwinden Die Story ist wohlbekanntund sie ist bequem Wir alle haben zu dem einen oder anderenZeitpunkt an sie geglaubt und nach ihr gehandelt Sie erhaumllt einemilliardenschwere Industrie und eine Armada an NGOs Wohl-taumltigkeitsorganisationen und Stiftungen am Leben die die Armutdurch Entwicklungshilfe und Wohltaumltigkeit auszumerzen ver-sprechen

Doch diese Story ist falsch Die Vorstellung einer natuumlrlichenKluft zwischen armen und reichen Laumlndern fuumlhrt uns von Anfang

12

Vorwort Anfaumlnge

an in die Irre Um 1500 herum bestand kein nennenswerter Unter-schied in den Einkommen und im Lebensstandard zwischenEuropa und dem Rest der Welt In der Tat ging es wie wir heutewissen den Menschen in einigen Regionen des globalen Suumldensdamals deutlich besser als ihren Zeitgenossen in Europa Dennochhaben sich ihre Lebensstandards in den folgenden Jahrhundertendramatisch auseinanderentwickelt ndash und das nicht aus sich selbstheraus sondern wegen der jeweils anderen

Wenn wir die Sache von dieser Warte aus betrachten geht esweniger um die Frage nach den unterschiedlichen Eigenschaftenvon reichen und armen Laumlndern ndash obwohl das natuumlrlich mit da-zugehoumlrt ndash sondern vielmehr um die Beziehungen die zwischenihnen bestehen Die Kluft zwischen reichen und armen Laumlndernist weder naturgegeben noch unausweichlich Sie ist von Men-schen erschaffen worden Was hat dazu gefuumlhrt dass ein Teil derWelt aufgestiegen und der andere abgestuumlrzt ist Wie konnte dieDynamik des Wachstums hier und des Niedergangs dort uumlbermehr als ein halbes Jahrtausend hinweg aufrechterhalten werdenWarum nimmt die globale Ungleichheit zu statt weniger zu wer-den Und warum wissen wir nichts davon

Von Zeit zu Zeit denke ich zuruumlck an die endlose Schlange vonMenschen vor der Klinik meiner Eltern Das Bild ist mir noch solebendig in Erinnerung als waumlre es erst gestern gewesen Wannimmer ich das tue werde ich daran erinnert dass die Geschichteder globalen Ungleichheit nicht von Zahlen und historischen Er-eignissen handelt Sondern vom echten Leben von echten Men-schen Von den Bestrebungen und Hoffnungen von Gemeinschaf-ten und Nationen und sozialen Bewegungen uumlber Generationenja uumlber Jahrhunderte hinweg Von dem ndash zweifelsohne von Zeit zuZeit erschuumltterten ansonsten aber festen ndash Glauben daran dasseine andere Welt moumlglich ist

In einer der erschreckendsten Phasen der Geschichte in einer

Vorwort Anfaumlnge

Zeit in der die globale Ungleichheit ein Rekordniveau erreicht hatDemagogen an die Macht draumlngen und das Klima unseres Plane-ten beginnt sich gegen die industrielle Zivilisation zu wenden be-duumlrfen wir mehr denn je der Hoffnung Nur wenn wir verstehenwarum die Welt ist wie sie ist ndash indem wir die Ursachen dafuumlruntersuchen ndash wird es uns gelingen echte wirksame Loumlsungen zufinden und einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu erdenkenEins steht auf jeden Fall fest Wollen wir die groszligen Probleme derglobalen Armut und Ungleichheit der Hungersnoumlte und kollabie-renden Oumlkosysteme loumlsen dann muss die Welt der Zukunft ganzanders aussehen als die Welt wie wir sie heute kennen

Der Bogen der Geschichte neigt sich wie Martin Luther King jreinmal sagte der Gerechtigkeit zu Das mag sein aber er wird dasnicht von alleine tun

Erster Teil

DIE KLUFT

17

1DER ENTWICKLUNGSWAHN

Es begann als eine PR-Masche Harry S Truman war gerade fuumlreine zweite Amtszeit zum Praumlsidenten der Vereinigten Staatengewaumlhlt worden und bereitete sich darauf vor am 20 Januar 1949seine Antrittsrede zu halten Seine Redenschreiber waren voumllligaufgeloumlst Sie mussten sich etwas Uumlberzeugendes ausdenken wasder Praumlsident sagen konnte ndash eine kuumlhne und mitreiszligende Ankuumln-digung Sie hatten drei Ideen auf ihrer Liste Unterstuumltzung fuumlr dieneu gegruumlndeten Vereinten Nationen Widerstand gegen die sow-jetische Bedrohung und die Selbstverpflichtung den Marshallplanfortzufuumlhren Aber keiner dieser Punkte konnte wirklich begeis-tern ndash eigentlich waren sie sogar ziemlich langweilig und dieMedien wuumlrden die Rede wahrscheinlich als raquoSchnee von gesternlaquoabtun und ignorieren Sie brauchten etwas anderes was den Zeit-geist aufgreifen wuumlrde ndash etwas das die Nation begeistern konnte

Die Antwort kam aus einer unerwarteten Ecke Benjamin Hardywar ein junger Beamter auf der mittleren Fuumlhrungsebene desUS-Auszligenministeriums doch als ehemaliger Reporter des AtlantaJournal hatte er ein Gespuumlr fuumlr eine gute Schlagzeile Als ihm einMemo zwischen die Finger kam in dem haumlnderingend nach neuenIdeen fuumlr Trumans Antrittsrede gesucht wurde entschloss er sichseinem Chef einen verruumlckten Einfall zu praumlsentieren raquoEntwick-lunglaquo Warum sollte Truman nicht verkuumlnden dass seine Regie-rung den Laumlndern der Dritten Welt finanzielle Hilfen gewaumlhren

18

Erster Teil Die Kluft

wuumlrde um ihre Entwicklung zu foumlrdern und so dem Leid der vonbitterer Armut geplagten Menschen ein Ende zu setzen Hardy hieltdas fuumlr einen sicheren Sieg ndash ein einfacher Weg so schrieb er in sei-nem Konzept raquodie groumlszligte emotionale Wirkunglaquo auf die US-Buumlrgerzu erzielen und sich raquodie allgemeine Sehnsucht nach einer besserenWelt zunutze zu machen und in geordnete Bahnen zu lenkenlaquo

Aber Hardys Chef hielt nichts davon Es sei eine riskante Ideeaus heiterem Himmel die womoumlglich zu neuartig sei um die Leutezu uumlberzeugen sie sei es nicht wert damit bei einem so wichtigenAnlass zu experimentieren Doch Hardy war entschlossen dieseChance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen Es gelang ihm un-ter einem Vorwand im Weiszligen Haus vorgelassen zu werden wo erTrumans Beratern mit gluumlhenden Worten seine Idee anpries Erkonnte einige von ihnen uumlberzeugen sodass sein Plan ndash mithilfegewisser diplomatischer Manoumlver von Insidern ndash als eine Artnachtraumlglicher Einfall in Trumans Redemanuskript aufgenommenwurde als raquoPoint Fourlaquo Truman war einverstanden

Es war die erste Antrittsrede eines US-Praumlsidenten die live imFernsehen uumlbertragen wurde Zehn Millionen Zuschauer verfolgtensie an jenem kalten Januarnachmittag vor den Bildschirmen ndash nochnie hatte ein einzelnes Ereignis ein groumlszligeres Publikum gefundenBei Trumans Antrittsrede sahen mehr Menschen zu als bei saumlmt-lichen Antrittsreden aller seiner Vorgaumlnger zusammengenommenUnd sie waren begeistert von dem was er zu sagen hatte raquoUumlber dieHaumllfte der Weltbevoumllkerung lebt unter so erbaumlrmlichen Bedingun-gen dass man sie geradezu als Elend bezeichnen koumlnntelaquo verkuumln-dete er raquoSie haben nicht genug zu essen Sie werden von Krankhei-ten geplagt In wirtschaftlicher Hinsicht ist ihr Leben primitiv undes ist keine Besserung in Sichtlaquo Aber so Truman es bestehe Hoff-nung raquoZum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit habenwir das Wissen und die Faumlhigkeiten das Leid dieser Menschen zulindern In der industriellen und wissenschaftlichen Entwicklung

19

1 Der Entwicklungswahn

nehmen die Vereinigten Staaten einen ganz besonderen Platz unterden Laumlndern der Erde ein hellip unsere unschaumltzbaren Ressourcen destechnischen Wissens werden staumlndig erweitert und sie sind un-erschoumlpflichlaquo Und dann spielte er seine Trumpfkarte aus raquoWirmuumlssen ein kuumlhnes neues Programm ins Leben rufen um denunterentwickelten Regionen der Welt den Nutzen aus unserenwissenschaftlichen Erkenntnissen und aus unserem industriellenFortschritt zur Verfuumlgung zu stellen sodass sie sich wirtschaftlichentwickeln und wachsen koumlnnen hellip Die ganze Welt muss sich an-strengen um Frieden Uumlberfluss und Freiheit zu erreichenlaquo

Natuumlrlich gab es keinerlei konkrete Plaumlne fuumlr ein solches Pro-gramm ndash nicht einmal ein einziges Dokument Es wurde aus-schlieszliglich als PR-Masche in Trumans Rede aufgenommen ndash undes funktionierte Die Medien uumlberschlugen sich vor Begeisterung ndashsaumlmtliche Zeitungen von der Washington Post bis hin zur New YorkTimes brachten gluumlhende Berichte uumlber Point Four und der Restder Rede war schnell vergessen1

Warum konnte Point Four eine so groszlige Faszination auf dieamerikanische Oumlffentlichkeit ausuumlben Weil Truman den Buumlrgern

eine neue und machtvolle Perspektive auf die sich abzeichnendeWeltordnung eroumlffnet hatte Nach den Verheerungen des ZweitenWeltkriegs glaumltteten sich die Wogen der europaumlische Imperialis-mus brach zusammen und die Welt begann sich als Gemeinschaftvon gleichberechtigten und unabhaumlngigen Staaten zusammenzu-finden Das Problem war nur dass sie eigentlich uumlberhaupt nichtgleichberechtigt waren Es gab riesige Unterschiede zwischenihnen wenn es um Macht und Wohlstand ging Die privilegierten

Um den Lesefluss nicht zu stoumlren wird in diesem Buch der Einfachheithalber bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen stetsdie maumlnnliche Form verwendet Selbstverstaumlndlich ist dabei die weib-liche Form gleichrangig mit einbezogen

20

Erster Teil Die Kluft

Laumlnder des Globalen Nordens erfreuten sich einer sehr hohen Le-bensqualitaumlt waumlhrend die benachteiligten Laumlnder des GlobalenSuumldens ndash die Mehrheit der Weltbevoumllkerung ndash in laumlhmender Armutversanken Wenn die Amerikaner uumlber ihre Grenzen hinausblick-ten und die brutale Tatsache der globalen Ungleichheit erkanntenbrauchten sie dafuumlr eine Erklaumlrung

Point Four bot ihnen eine uumlberzeugende Perspektive an Die rei-chen Laumlnder Europas und Nordamerikas seien raquoentwickeltlaquo siehaumltten einen Vorsprung auf dem groszligen Pfad des FortschrittsIhnen gehe es besser weil sie besser seien ndash intelligenter innovati-ver und fleiszligiger Sie haumltten bessere Werte bessere Institutionenund bessere Technologien Dagegen seien die armen Laumlnder desGlobalen Suumldens aumlrmer weil sie noch nicht die richtigen Werteund politischen Ziele gefunden haumltten sie seien zuruumlckgebliebenraquounterentwickeltlaquo und darum bemuumlht aufzuholen

Aufgrund dieser Geschichte konnten sich die Amerikaner zu-tiefst bestaumltigt fuumlhlen sie vermittelte ihnen ein positives Selbst-gefuumlhl sie machte sie stolz auf das Erreichte und ihren Platz in derWelt Aber noch wichtiger war vielleicht dass sie sich auf dieseWeise auch nobel fuumlhlen konnten ndash diese neue Perspektive eroumlff-nete ihnen den Zugang zu einer houmlheren beinahe kosmologischenMission Die entwickelten Laumlnder konnten sich als Leuchtfeuerder Hoffnung zeigen als Retter der Beduumlrftigen Sie wuumlrden ihnendie helfende Hand reichen sie groszligzuumlgig an ihren Reichtuumlmernteilhaben lassen und so den raquoprimitivenlaquo Laumlndern des GlobalenSuumldens dazu verhelfen ihnen auf dem Weg zum Erfolg zu folgenSie wuumlrden zu Helden werden die die Welt zu noch nie dagewese-nem Frieden und Wohlstand fuumlhren

Mit anderen Worten Point Four konnte nicht nur die globaleUngleichheit erklaumlren sondern auch eine Loumlsung anbieten wie siein einem befreienden Rundumschlag zu beheben sei Und so dau-erte es nicht lange bis diese Idee auch von den Regierungen in

Page 7: ,#510 · ,#510 *+%-'. &+' 6;4#00'+ &'5 9#%*567/5 9 7 9 ! Aus dem Englischen von Karsten Petersen und omas Pfei er

11

Vorwort Anfaumlnge

Pro-Kopf-Einkommen im globalen Norden und dem im globalenSuumlden hat sich seit 1960 ungefaumlhr verdreifacht

Man koumlnnte leicht den Eindruck gewinnen die Kluft zwischenReich und Arm habe schon immer existiert dass sie sozusageneine natuumlrliche Eigenschaft der Welt ist Allein schon das Bild vonder Kluft koumlnnte uns unabsichtlich zu der Annahme verfuumlhrendass es einen Bruch ndash eine fundamentale Diskontinuitaumlt ndash zwi-schen der reichen Welt und der armen Welt gibt so als waumlren sievoneinander getrennte oumlkonomische Inseln Falls man wie vieleWissenschaftler das getan haben von dieser Annahme ausgehterklaumlren sich die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen armenund reichen Laumlndern schlicht aus ihren jeweiligen inneren Eigen-schaften

Und auf ebendieser Annahme fuszligt die Geschichte uumlber dieglobale Ungleichheit die uns uumlblicherweise erzaumlhlt wird Entwick-lungshilfebehoumlrden NGOs und die maumlchtigsten Regierungen be-haupten unisono verantwortlich fuumlr das Los der armen Laumlnder seiein technisches Problem ndash ein Problem das geloumlst werden kannwenn sie funktionierende Institutionen aufbauen die richtigeWirtschaftspolitik verfolgen hart arbeiten und sich ein bisschenunter die Arme greifen lassen Wuumlrden die armen Laumlnder nur demRat der Experten von Institutionen wie der Weltbank folgen koumlnn-ten sie Schritt fuumlr Schritt die Armut zuruumlckdraumlngen und die Kluftzwischen Arm und Reich uumlberwinden Die Story ist wohlbekanntund sie ist bequem Wir alle haben zu dem einen oder anderenZeitpunkt an sie geglaubt und nach ihr gehandelt Sie erhaumllt einemilliardenschwere Industrie und eine Armada an NGOs Wohl-taumltigkeitsorganisationen und Stiftungen am Leben die die Armutdurch Entwicklungshilfe und Wohltaumltigkeit auszumerzen ver-sprechen

Doch diese Story ist falsch Die Vorstellung einer natuumlrlichenKluft zwischen armen und reichen Laumlndern fuumlhrt uns von Anfang

12

Vorwort Anfaumlnge

an in die Irre Um 1500 herum bestand kein nennenswerter Unter-schied in den Einkommen und im Lebensstandard zwischenEuropa und dem Rest der Welt In der Tat ging es wie wir heutewissen den Menschen in einigen Regionen des globalen Suumldensdamals deutlich besser als ihren Zeitgenossen in Europa Dennochhaben sich ihre Lebensstandards in den folgenden Jahrhundertendramatisch auseinanderentwickelt ndash und das nicht aus sich selbstheraus sondern wegen der jeweils anderen

Wenn wir die Sache von dieser Warte aus betrachten geht esweniger um die Frage nach den unterschiedlichen Eigenschaftenvon reichen und armen Laumlndern ndash obwohl das natuumlrlich mit da-zugehoumlrt ndash sondern vielmehr um die Beziehungen die zwischenihnen bestehen Die Kluft zwischen reichen und armen Laumlndernist weder naturgegeben noch unausweichlich Sie ist von Men-schen erschaffen worden Was hat dazu gefuumlhrt dass ein Teil derWelt aufgestiegen und der andere abgestuumlrzt ist Wie konnte dieDynamik des Wachstums hier und des Niedergangs dort uumlbermehr als ein halbes Jahrtausend hinweg aufrechterhalten werdenWarum nimmt die globale Ungleichheit zu statt weniger zu wer-den Und warum wissen wir nichts davon

Von Zeit zu Zeit denke ich zuruumlck an die endlose Schlange vonMenschen vor der Klinik meiner Eltern Das Bild ist mir noch solebendig in Erinnerung als waumlre es erst gestern gewesen Wannimmer ich das tue werde ich daran erinnert dass die Geschichteder globalen Ungleichheit nicht von Zahlen und historischen Er-eignissen handelt Sondern vom echten Leben von echten Men-schen Von den Bestrebungen und Hoffnungen von Gemeinschaf-ten und Nationen und sozialen Bewegungen uumlber Generationenja uumlber Jahrhunderte hinweg Von dem ndash zweifelsohne von Zeit zuZeit erschuumltterten ansonsten aber festen ndash Glauben daran dasseine andere Welt moumlglich ist

In einer der erschreckendsten Phasen der Geschichte in einer

Vorwort Anfaumlnge

Zeit in der die globale Ungleichheit ein Rekordniveau erreicht hatDemagogen an die Macht draumlngen und das Klima unseres Plane-ten beginnt sich gegen die industrielle Zivilisation zu wenden be-duumlrfen wir mehr denn je der Hoffnung Nur wenn wir verstehenwarum die Welt ist wie sie ist ndash indem wir die Ursachen dafuumlruntersuchen ndash wird es uns gelingen echte wirksame Loumlsungen zufinden und einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu erdenkenEins steht auf jeden Fall fest Wollen wir die groszligen Probleme derglobalen Armut und Ungleichheit der Hungersnoumlte und kollabie-renden Oumlkosysteme loumlsen dann muss die Welt der Zukunft ganzanders aussehen als die Welt wie wir sie heute kennen

Der Bogen der Geschichte neigt sich wie Martin Luther King jreinmal sagte der Gerechtigkeit zu Das mag sein aber er wird dasnicht von alleine tun

Erster Teil

DIE KLUFT

17

1DER ENTWICKLUNGSWAHN

Es begann als eine PR-Masche Harry S Truman war gerade fuumlreine zweite Amtszeit zum Praumlsidenten der Vereinigten Staatengewaumlhlt worden und bereitete sich darauf vor am 20 Januar 1949seine Antrittsrede zu halten Seine Redenschreiber waren voumllligaufgeloumlst Sie mussten sich etwas Uumlberzeugendes ausdenken wasder Praumlsident sagen konnte ndash eine kuumlhne und mitreiszligende Ankuumln-digung Sie hatten drei Ideen auf ihrer Liste Unterstuumltzung fuumlr dieneu gegruumlndeten Vereinten Nationen Widerstand gegen die sow-jetische Bedrohung und die Selbstverpflichtung den Marshallplanfortzufuumlhren Aber keiner dieser Punkte konnte wirklich begeis-tern ndash eigentlich waren sie sogar ziemlich langweilig und dieMedien wuumlrden die Rede wahrscheinlich als raquoSchnee von gesternlaquoabtun und ignorieren Sie brauchten etwas anderes was den Zeit-geist aufgreifen wuumlrde ndash etwas das die Nation begeistern konnte

Die Antwort kam aus einer unerwarteten Ecke Benjamin Hardywar ein junger Beamter auf der mittleren Fuumlhrungsebene desUS-Auszligenministeriums doch als ehemaliger Reporter des AtlantaJournal hatte er ein Gespuumlr fuumlr eine gute Schlagzeile Als ihm einMemo zwischen die Finger kam in dem haumlnderingend nach neuenIdeen fuumlr Trumans Antrittsrede gesucht wurde entschloss er sichseinem Chef einen verruumlckten Einfall zu praumlsentieren raquoEntwick-lunglaquo Warum sollte Truman nicht verkuumlnden dass seine Regie-rung den Laumlndern der Dritten Welt finanzielle Hilfen gewaumlhren

18

Erster Teil Die Kluft

wuumlrde um ihre Entwicklung zu foumlrdern und so dem Leid der vonbitterer Armut geplagten Menschen ein Ende zu setzen Hardy hieltdas fuumlr einen sicheren Sieg ndash ein einfacher Weg so schrieb er in sei-nem Konzept raquodie groumlszligte emotionale Wirkunglaquo auf die US-Buumlrgerzu erzielen und sich raquodie allgemeine Sehnsucht nach einer besserenWelt zunutze zu machen und in geordnete Bahnen zu lenkenlaquo

Aber Hardys Chef hielt nichts davon Es sei eine riskante Ideeaus heiterem Himmel die womoumlglich zu neuartig sei um die Leutezu uumlberzeugen sie sei es nicht wert damit bei einem so wichtigenAnlass zu experimentieren Doch Hardy war entschlossen dieseChance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen Es gelang ihm un-ter einem Vorwand im Weiszligen Haus vorgelassen zu werden wo erTrumans Beratern mit gluumlhenden Worten seine Idee anpries Erkonnte einige von ihnen uumlberzeugen sodass sein Plan ndash mithilfegewisser diplomatischer Manoumlver von Insidern ndash als eine Artnachtraumlglicher Einfall in Trumans Redemanuskript aufgenommenwurde als raquoPoint Fourlaquo Truman war einverstanden

Es war die erste Antrittsrede eines US-Praumlsidenten die live imFernsehen uumlbertragen wurde Zehn Millionen Zuschauer verfolgtensie an jenem kalten Januarnachmittag vor den Bildschirmen ndash nochnie hatte ein einzelnes Ereignis ein groumlszligeres Publikum gefundenBei Trumans Antrittsrede sahen mehr Menschen zu als bei saumlmt-lichen Antrittsreden aller seiner Vorgaumlnger zusammengenommenUnd sie waren begeistert von dem was er zu sagen hatte raquoUumlber dieHaumllfte der Weltbevoumllkerung lebt unter so erbaumlrmlichen Bedingun-gen dass man sie geradezu als Elend bezeichnen koumlnntelaquo verkuumln-dete er raquoSie haben nicht genug zu essen Sie werden von Krankhei-ten geplagt In wirtschaftlicher Hinsicht ist ihr Leben primitiv undes ist keine Besserung in Sichtlaquo Aber so Truman es bestehe Hoff-nung raquoZum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit habenwir das Wissen und die Faumlhigkeiten das Leid dieser Menschen zulindern In der industriellen und wissenschaftlichen Entwicklung

19

1 Der Entwicklungswahn

nehmen die Vereinigten Staaten einen ganz besonderen Platz unterden Laumlndern der Erde ein hellip unsere unschaumltzbaren Ressourcen destechnischen Wissens werden staumlndig erweitert und sie sind un-erschoumlpflichlaquo Und dann spielte er seine Trumpfkarte aus raquoWirmuumlssen ein kuumlhnes neues Programm ins Leben rufen um denunterentwickelten Regionen der Welt den Nutzen aus unserenwissenschaftlichen Erkenntnissen und aus unserem industriellenFortschritt zur Verfuumlgung zu stellen sodass sie sich wirtschaftlichentwickeln und wachsen koumlnnen hellip Die ganze Welt muss sich an-strengen um Frieden Uumlberfluss und Freiheit zu erreichenlaquo

Natuumlrlich gab es keinerlei konkrete Plaumlne fuumlr ein solches Pro-gramm ndash nicht einmal ein einziges Dokument Es wurde aus-schlieszliglich als PR-Masche in Trumans Rede aufgenommen ndash undes funktionierte Die Medien uumlberschlugen sich vor Begeisterung ndashsaumlmtliche Zeitungen von der Washington Post bis hin zur New YorkTimes brachten gluumlhende Berichte uumlber Point Four und der Restder Rede war schnell vergessen1

Warum konnte Point Four eine so groszlige Faszination auf dieamerikanische Oumlffentlichkeit ausuumlben Weil Truman den Buumlrgern

eine neue und machtvolle Perspektive auf die sich abzeichnendeWeltordnung eroumlffnet hatte Nach den Verheerungen des ZweitenWeltkriegs glaumltteten sich die Wogen der europaumlische Imperialis-mus brach zusammen und die Welt begann sich als Gemeinschaftvon gleichberechtigten und unabhaumlngigen Staaten zusammenzu-finden Das Problem war nur dass sie eigentlich uumlberhaupt nichtgleichberechtigt waren Es gab riesige Unterschiede zwischenihnen wenn es um Macht und Wohlstand ging Die privilegierten

Um den Lesefluss nicht zu stoumlren wird in diesem Buch der Einfachheithalber bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen stetsdie maumlnnliche Form verwendet Selbstverstaumlndlich ist dabei die weib-liche Form gleichrangig mit einbezogen

20

Erster Teil Die Kluft

Laumlnder des Globalen Nordens erfreuten sich einer sehr hohen Le-bensqualitaumlt waumlhrend die benachteiligten Laumlnder des GlobalenSuumldens ndash die Mehrheit der Weltbevoumllkerung ndash in laumlhmender Armutversanken Wenn die Amerikaner uumlber ihre Grenzen hinausblick-ten und die brutale Tatsache der globalen Ungleichheit erkanntenbrauchten sie dafuumlr eine Erklaumlrung

Point Four bot ihnen eine uumlberzeugende Perspektive an Die rei-chen Laumlnder Europas und Nordamerikas seien raquoentwickeltlaquo siehaumltten einen Vorsprung auf dem groszligen Pfad des FortschrittsIhnen gehe es besser weil sie besser seien ndash intelligenter innovati-ver und fleiszligiger Sie haumltten bessere Werte bessere Institutionenund bessere Technologien Dagegen seien die armen Laumlnder desGlobalen Suumldens aumlrmer weil sie noch nicht die richtigen Werteund politischen Ziele gefunden haumltten sie seien zuruumlckgebliebenraquounterentwickeltlaquo und darum bemuumlht aufzuholen

Aufgrund dieser Geschichte konnten sich die Amerikaner zu-tiefst bestaumltigt fuumlhlen sie vermittelte ihnen ein positives Selbst-gefuumlhl sie machte sie stolz auf das Erreichte und ihren Platz in derWelt Aber noch wichtiger war vielleicht dass sie sich auf dieseWeise auch nobel fuumlhlen konnten ndash diese neue Perspektive eroumlff-nete ihnen den Zugang zu einer houmlheren beinahe kosmologischenMission Die entwickelten Laumlnder konnten sich als Leuchtfeuerder Hoffnung zeigen als Retter der Beduumlrftigen Sie wuumlrden ihnendie helfende Hand reichen sie groszligzuumlgig an ihren Reichtuumlmernteilhaben lassen und so den raquoprimitivenlaquo Laumlndern des GlobalenSuumldens dazu verhelfen ihnen auf dem Weg zum Erfolg zu folgenSie wuumlrden zu Helden werden die die Welt zu noch nie dagewese-nem Frieden und Wohlstand fuumlhren

Mit anderen Worten Point Four konnte nicht nur die globaleUngleichheit erklaumlren sondern auch eine Loumlsung anbieten wie siein einem befreienden Rundumschlag zu beheben sei Und so dau-erte es nicht lange bis diese Idee auch von den Regierungen in

Page 8: ,#510 · ,#510 *+%-'. &+' 6;4#00'+ &'5 9#%*567/5 9 7 9 ! Aus dem Englischen von Karsten Petersen und omas Pfei er

12

Vorwort Anfaumlnge

an in die Irre Um 1500 herum bestand kein nennenswerter Unter-schied in den Einkommen und im Lebensstandard zwischenEuropa und dem Rest der Welt In der Tat ging es wie wir heutewissen den Menschen in einigen Regionen des globalen Suumldensdamals deutlich besser als ihren Zeitgenossen in Europa Dennochhaben sich ihre Lebensstandards in den folgenden Jahrhundertendramatisch auseinanderentwickelt ndash und das nicht aus sich selbstheraus sondern wegen der jeweils anderen

Wenn wir die Sache von dieser Warte aus betrachten geht esweniger um die Frage nach den unterschiedlichen Eigenschaftenvon reichen und armen Laumlndern ndash obwohl das natuumlrlich mit da-zugehoumlrt ndash sondern vielmehr um die Beziehungen die zwischenihnen bestehen Die Kluft zwischen reichen und armen Laumlndernist weder naturgegeben noch unausweichlich Sie ist von Men-schen erschaffen worden Was hat dazu gefuumlhrt dass ein Teil derWelt aufgestiegen und der andere abgestuumlrzt ist Wie konnte dieDynamik des Wachstums hier und des Niedergangs dort uumlbermehr als ein halbes Jahrtausend hinweg aufrechterhalten werdenWarum nimmt die globale Ungleichheit zu statt weniger zu wer-den Und warum wissen wir nichts davon

Von Zeit zu Zeit denke ich zuruumlck an die endlose Schlange vonMenschen vor der Klinik meiner Eltern Das Bild ist mir noch solebendig in Erinnerung als waumlre es erst gestern gewesen Wannimmer ich das tue werde ich daran erinnert dass die Geschichteder globalen Ungleichheit nicht von Zahlen und historischen Er-eignissen handelt Sondern vom echten Leben von echten Men-schen Von den Bestrebungen und Hoffnungen von Gemeinschaf-ten und Nationen und sozialen Bewegungen uumlber Generationenja uumlber Jahrhunderte hinweg Von dem ndash zweifelsohne von Zeit zuZeit erschuumltterten ansonsten aber festen ndash Glauben daran dasseine andere Welt moumlglich ist

In einer der erschreckendsten Phasen der Geschichte in einer

Vorwort Anfaumlnge

Zeit in der die globale Ungleichheit ein Rekordniveau erreicht hatDemagogen an die Macht draumlngen und das Klima unseres Plane-ten beginnt sich gegen die industrielle Zivilisation zu wenden be-duumlrfen wir mehr denn je der Hoffnung Nur wenn wir verstehenwarum die Welt ist wie sie ist ndash indem wir die Ursachen dafuumlruntersuchen ndash wird es uns gelingen echte wirksame Loumlsungen zufinden und einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu erdenkenEins steht auf jeden Fall fest Wollen wir die groszligen Probleme derglobalen Armut und Ungleichheit der Hungersnoumlte und kollabie-renden Oumlkosysteme loumlsen dann muss die Welt der Zukunft ganzanders aussehen als die Welt wie wir sie heute kennen

Der Bogen der Geschichte neigt sich wie Martin Luther King jreinmal sagte der Gerechtigkeit zu Das mag sein aber er wird dasnicht von alleine tun

Erster Teil

DIE KLUFT

17

1DER ENTWICKLUNGSWAHN

Es begann als eine PR-Masche Harry S Truman war gerade fuumlreine zweite Amtszeit zum Praumlsidenten der Vereinigten Staatengewaumlhlt worden und bereitete sich darauf vor am 20 Januar 1949seine Antrittsrede zu halten Seine Redenschreiber waren voumllligaufgeloumlst Sie mussten sich etwas Uumlberzeugendes ausdenken wasder Praumlsident sagen konnte ndash eine kuumlhne und mitreiszligende Ankuumln-digung Sie hatten drei Ideen auf ihrer Liste Unterstuumltzung fuumlr dieneu gegruumlndeten Vereinten Nationen Widerstand gegen die sow-jetische Bedrohung und die Selbstverpflichtung den Marshallplanfortzufuumlhren Aber keiner dieser Punkte konnte wirklich begeis-tern ndash eigentlich waren sie sogar ziemlich langweilig und dieMedien wuumlrden die Rede wahrscheinlich als raquoSchnee von gesternlaquoabtun und ignorieren Sie brauchten etwas anderes was den Zeit-geist aufgreifen wuumlrde ndash etwas das die Nation begeistern konnte

Die Antwort kam aus einer unerwarteten Ecke Benjamin Hardywar ein junger Beamter auf der mittleren Fuumlhrungsebene desUS-Auszligenministeriums doch als ehemaliger Reporter des AtlantaJournal hatte er ein Gespuumlr fuumlr eine gute Schlagzeile Als ihm einMemo zwischen die Finger kam in dem haumlnderingend nach neuenIdeen fuumlr Trumans Antrittsrede gesucht wurde entschloss er sichseinem Chef einen verruumlckten Einfall zu praumlsentieren raquoEntwick-lunglaquo Warum sollte Truman nicht verkuumlnden dass seine Regie-rung den Laumlndern der Dritten Welt finanzielle Hilfen gewaumlhren

18

Erster Teil Die Kluft

wuumlrde um ihre Entwicklung zu foumlrdern und so dem Leid der vonbitterer Armut geplagten Menschen ein Ende zu setzen Hardy hieltdas fuumlr einen sicheren Sieg ndash ein einfacher Weg so schrieb er in sei-nem Konzept raquodie groumlszligte emotionale Wirkunglaquo auf die US-Buumlrgerzu erzielen und sich raquodie allgemeine Sehnsucht nach einer besserenWelt zunutze zu machen und in geordnete Bahnen zu lenkenlaquo

Aber Hardys Chef hielt nichts davon Es sei eine riskante Ideeaus heiterem Himmel die womoumlglich zu neuartig sei um die Leutezu uumlberzeugen sie sei es nicht wert damit bei einem so wichtigenAnlass zu experimentieren Doch Hardy war entschlossen dieseChance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen Es gelang ihm un-ter einem Vorwand im Weiszligen Haus vorgelassen zu werden wo erTrumans Beratern mit gluumlhenden Worten seine Idee anpries Erkonnte einige von ihnen uumlberzeugen sodass sein Plan ndash mithilfegewisser diplomatischer Manoumlver von Insidern ndash als eine Artnachtraumlglicher Einfall in Trumans Redemanuskript aufgenommenwurde als raquoPoint Fourlaquo Truman war einverstanden

Es war die erste Antrittsrede eines US-Praumlsidenten die live imFernsehen uumlbertragen wurde Zehn Millionen Zuschauer verfolgtensie an jenem kalten Januarnachmittag vor den Bildschirmen ndash nochnie hatte ein einzelnes Ereignis ein groumlszligeres Publikum gefundenBei Trumans Antrittsrede sahen mehr Menschen zu als bei saumlmt-lichen Antrittsreden aller seiner Vorgaumlnger zusammengenommenUnd sie waren begeistert von dem was er zu sagen hatte raquoUumlber dieHaumllfte der Weltbevoumllkerung lebt unter so erbaumlrmlichen Bedingun-gen dass man sie geradezu als Elend bezeichnen koumlnntelaquo verkuumln-dete er raquoSie haben nicht genug zu essen Sie werden von Krankhei-ten geplagt In wirtschaftlicher Hinsicht ist ihr Leben primitiv undes ist keine Besserung in Sichtlaquo Aber so Truman es bestehe Hoff-nung raquoZum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit habenwir das Wissen und die Faumlhigkeiten das Leid dieser Menschen zulindern In der industriellen und wissenschaftlichen Entwicklung

19

1 Der Entwicklungswahn

nehmen die Vereinigten Staaten einen ganz besonderen Platz unterden Laumlndern der Erde ein hellip unsere unschaumltzbaren Ressourcen destechnischen Wissens werden staumlndig erweitert und sie sind un-erschoumlpflichlaquo Und dann spielte er seine Trumpfkarte aus raquoWirmuumlssen ein kuumlhnes neues Programm ins Leben rufen um denunterentwickelten Regionen der Welt den Nutzen aus unserenwissenschaftlichen Erkenntnissen und aus unserem industriellenFortschritt zur Verfuumlgung zu stellen sodass sie sich wirtschaftlichentwickeln und wachsen koumlnnen hellip Die ganze Welt muss sich an-strengen um Frieden Uumlberfluss und Freiheit zu erreichenlaquo

Natuumlrlich gab es keinerlei konkrete Plaumlne fuumlr ein solches Pro-gramm ndash nicht einmal ein einziges Dokument Es wurde aus-schlieszliglich als PR-Masche in Trumans Rede aufgenommen ndash undes funktionierte Die Medien uumlberschlugen sich vor Begeisterung ndashsaumlmtliche Zeitungen von der Washington Post bis hin zur New YorkTimes brachten gluumlhende Berichte uumlber Point Four und der Restder Rede war schnell vergessen1

Warum konnte Point Four eine so groszlige Faszination auf dieamerikanische Oumlffentlichkeit ausuumlben Weil Truman den Buumlrgern

eine neue und machtvolle Perspektive auf die sich abzeichnendeWeltordnung eroumlffnet hatte Nach den Verheerungen des ZweitenWeltkriegs glaumltteten sich die Wogen der europaumlische Imperialis-mus brach zusammen und die Welt begann sich als Gemeinschaftvon gleichberechtigten und unabhaumlngigen Staaten zusammenzu-finden Das Problem war nur dass sie eigentlich uumlberhaupt nichtgleichberechtigt waren Es gab riesige Unterschiede zwischenihnen wenn es um Macht und Wohlstand ging Die privilegierten

Um den Lesefluss nicht zu stoumlren wird in diesem Buch der Einfachheithalber bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen stetsdie maumlnnliche Form verwendet Selbstverstaumlndlich ist dabei die weib-liche Form gleichrangig mit einbezogen

20

Erster Teil Die Kluft

Laumlnder des Globalen Nordens erfreuten sich einer sehr hohen Le-bensqualitaumlt waumlhrend die benachteiligten Laumlnder des GlobalenSuumldens ndash die Mehrheit der Weltbevoumllkerung ndash in laumlhmender Armutversanken Wenn die Amerikaner uumlber ihre Grenzen hinausblick-ten und die brutale Tatsache der globalen Ungleichheit erkanntenbrauchten sie dafuumlr eine Erklaumlrung

Point Four bot ihnen eine uumlberzeugende Perspektive an Die rei-chen Laumlnder Europas und Nordamerikas seien raquoentwickeltlaquo siehaumltten einen Vorsprung auf dem groszligen Pfad des FortschrittsIhnen gehe es besser weil sie besser seien ndash intelligenter innovati-ver und fleiszligiger Sie haumltten bessere Werte bessere Institutionenund bessere Technologien Dagegen seien die armen Laumlnder desGlobalen Suumldens aumlrmer weil sie noch nicht die richtigen Werteund politischen Ziele gefunden haumltten sie seien zuruumlckgebliebenraquounterentwickeltlaquo und darum bemuumlht aufzuholen

Aufgrund dieser Geschichte konnten sich die Amerikaner zu-tiefst bestaumltigt fuumlhlen sie vermittelte ihnen ein positives Selbst-gefuumlhl sie machte sie stolz auf das Erreichte und ihren Platz in derWelt Aber noch wichtiger war vielleicht dass sie sich auf dieseWeise auch nobel fuumlhlen konnten ndash diese neue Perspektive eroumlff-nete ihnen den Zugang zu einer houmlheren beinahe kosmologischenMission Die entwickelten Laumlnder konnten sich als Leuchtfeuerder Hoffnung zeigen als Retter der Beduumlrftigen Sie wuumlrden ihnendie helfende Hand reichen sie groszligzuumlgig an ihren Reichtuumlmernteilhaben lassen und so den raquoprimitivenlaquo Laumlndern des GlobalenSuumldens dazu verhelfen ihnen auf dem Weg zum Erfolg zu folgenSie wuumlrden zu Helden werden die die Welt zu noch nie dagewese-nem Frieden und Wohlstand fuumlhren

Mit anderen Worten Point Four konnte nicht nur die globaleUngleichheit erklaumlren sondern auch eine Loumlsung anbieten wie siein einem befreienden Rundumschlag zu beheben sei Und so dau-erte es nicht lange bis diese Idee auch von den Regierungen in

Page 9: ,#510 · ,#510 *+%-'. &+' 6;4#00'+ &'5 9#%*567/5 9 7 9 ! Aus dem Englischen von Karsten Petersen und omas Pfei er

Vorwort Anfaumlnge

Zeit in der die globale Ungleichheit ein Rekordniveau erreicht hatDemagogen an die Macht draumlngen und das Klima unseres Plane-ten beginnt sich gegen die industrielle Zivilisation zu wenden be-duumlrfen wir mehr denn je der Hoffnung Nur wenn wir verstehenwarum die Welt ist wie sie ist ndash indem wir die Ursachen dafuumlruntersuchen ndash wird es uns gelingen echte wirksame Loumlsungen zufinden und einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu erdenkenEins steht auf jeden Fall fest Wollen wir die groszligen Probleme derglobalen Armut und Ungleichheit der Hungersnoumlte und kollabie-renden Oumlkosysteme loumlsen dann muss die Welt der Zukunft ganzanders aussehen als die Welt wie wir sie heute kennen

Der Bogen der Geschichte neigt sich wie Martin Luther King jreinmal sagte der Gerechtigkeit zu Das mag sein aber er wird dasnicht von alleine tun

Erster Teil

DIE KLUFT

17

1DER ENTWICKLUNGSWAHN

Es begann als eine PR-Masche Harry S Truman war gerade fuumlreine zweite Amtszeit zum Praumlsidenten der Vereinigten Staatengewaumlhlt worden und bereitete sich darauf vor am 20 Januar 1949seine Antrittsrede zu halten Seine Redenschreiber waren voumllligaufgeloumlst Sie mussten sich etwas Uumlberzeugendes ausdenken wasder Praumlsident sagen konnte ndash eine kuumlhne und mitreiszligende Ankuumln-digung Sie hatten drei Ideen auf ihrer Liste Unterstuumltzung fuumlr dieneu gegruumlndeten Vereinten Nationen Widerstand gegen die sow-jetische Bedrohung und die Selbstverpflichtung den Marshallplanfortzufuumlhren Aber keiner dieser Punkte konnte wirklich begeis-tern ndash eigentlich waren sie sogar ziemlich langweilig und dieMedien wuumlrden die Rede wahrscheinlich als raquoSchnee von gesternlaquoabtun und ignorieren Sie brauchten etwas anderes was den Zeit-geist aufgreifen wuumlrde ndash etwas das die Nation begeistern konnte

Die Antwort kam aus einer unerwarteten Ecke Benjamin Hardywar ein junger Beamter auf der mittleren Fuumlhrungsebene desUS-Auszligenministeriums doch als ehemaliger Reporter des AtlantaJournal hatte er ein Gespuumlr fuumlr eine gute Schlagzeile Als ihm einMemo zwischen die Finger kam in dem haumlnderingend nach neuenIdeen fuumlr Trumans Antrittsrede gesucht wurde entschloss er sichseinem Chef einen verruumlckten Einfall zu praumlsentieren raquoEntwick-lunglaquo Warum sollte Truman nicht verkuumlnden dass seine Regie-rung den Laumlndern der Dritten Welt finanzielle Hilfen gewaumlhren

18

Erster Teil Die Kluft

wuumlrde um ihre Entwicklung zu foumlrdern und so dem Leid der vonbitterer Armut geplagten Menschen ein Ende zu setzen Hardy hieltdas fuumlr einen sicheren Sieg ndash ein einfacher Weg so schrieb er in sei-nem Konzept raquodie groumlszligte emotionale Wirkunglaquo auf die US-Buumlrgerzu erzielen und sich raquodie allgemeine Sehnsucht nach einer besserenWelt zunutze zu machen und in geordnete Bahnen zu lenkenlaquo

Aber Hardys Chef hielt nichts davon Es sei eine riskante Ideeaus heiterem Himmel die womoumlglich zu neuartig sei um die Leutezu uumlberzeugen sie sei es nicht wert damit bei einem so wichtigenAnlass zu experimentieren Doch Hardy war entschlossen dieseChance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen Es gelang ihm un-ter einem Vorwand im Weiszligen Haus vorgelassen zu werden wo erTrumans Beratern mit gluumlhenden Worten seine Idee anpries Erkonnte einige von ihnen uumlberzeugen sodass sein Plan ndash mithilfegewisser diplomatischer Manoumlver von Insidern ndash als eine Artnachtraumlglicher Einfall in Trumans Redemanuskript aufgenommenwurde als raquoPoint Fourlaquo Truman war einverstanden

Es war die erste Antrittsrede eines US-Praumlsidenten die live imFernsehen uumlbertragen wurde Zehn Millionen Zuschauer verfolgtensie an jenem kalten Januarnachmittag vor den Bildschirmen ndash nochnie hatte ein einzelnes Ereignis ein groumlszligeres Publikum gefundenBei Trumans Antrittsrede sahen mehr Menschen zu als bei saumlmt-lichen Antrittsreden aller seiner Vorgaumlnger zusammengenommenUnd sie waren begeistert von dem was er zu sagen hatte raquoUumlber dieHaumllfte der Weltbevoumllkerung lebt unter so erbaumlrmlichen Bedingun-gen dass man sie geradezu als Elend bezeichnen koumlnntelaquo verkuumln-dete er raquoSie haben nicht genug zu essen Sie werden von Krankhei-ten geplagt In wirtschaftlicher Hinsicht ist ihr Leben primitiv undes ist keine Besserung in Sichtlaquo Aber so Truman es bestehe Hoff-nung raquoZum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit habenwir das Wissen und die Faumlhigkeiten das Leid dieser Menschen zulindern In der industriellen und wissenschaftlichen Entwicklung

19

1 Der Entwicklungswahn

nehmen die Vereinigten Staaten einen ganz besonderen Platz unterden Laumlndern der Erde ein hellip unsere unschaumltzbaren Ressourcen destechnischen Wissens werden staumlndig erweitert und sie sind un-erschoumlpflichlaquo Und dann spielte er seine Trumpfkarte aus raquoWirmuumlssen ein kuumlhnes neues Programm ins Leben rufen um denunterentwickelten Regionen der Welt den Nutzen aus unserenwissenschaftlichen Erkenntnissen und aus unserem industriellenFortschritt zur Verfuumlgung zu stellen sodass sie sich wirtschaftlichentwickeln und wachsen koumlnnen hellip Die ganze Welt muss sich an-strengen um Frieden Uumlberfluss und Freiheit zu erreichenlaquo

Natuumlrlich gab es keinerlei konkrete Plaumlne fuumlr ein solches Pro-gramm ndash nicht einmal ein einziges Dokument Es wurde aus-schlieszliglich als PR-Masche in Trumans Rede aufgenommen ndash undes funktionierte Die Medien uumlberschlugen sich vor Begeisterung ndashsaumlmtliche Zeitungen von der Washington Post bis hin zur New YorkTimes brachten gluumlhende Berichte uumlber Point Four und der Restder Rede war schnell vergessen1

Warum konnte Point Four eine so groszlige Faszination auf dieamerikanische Oumlffentlichkeit ausuumlben Weil Truman den Buumlrgern

eine neue und machtvolle Perspektive auf die sich abzeichnendeWeltordnung eroumlffnet hatte Nach den Verheerungen des ZweitenWeltkriegs glaumltteten sich die Wogen der europaumlische Imperialis-mus brach zusammen und die Welt begann sich als Gemeinschaftvon gleichberechtigten und unabhaumlngigen Staaten zusammenzu-finden Das Problem war nur dass sie eigentlich uumlberhaupt nichtgleichberechtigt waren Es gab riesige Unterschiede zwischenihnen wenn es um Macht und Wohlstand ging Die privilegierten

Um den Lesefluss nicht zu stoumlren wird in diesem Buch der Einfachheithalber bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen stetsdie maumlnnliche Form verwendet Selbstverstaumlndlich ist dabei die weib-liche Form gleichrangig mit einbezogen

20

Erster Teil Die Kluft

Laumlnder des Globalen Nordens erfreuten sich einer sehr hohen Le-bensqualitaumlt waumlhrend die benachteiligten Laumlnder des GlobalenSuumldens ndash die Mehrheit der Weltbevoumllkerung ndash in laumlhmender Armutversanken Wenn die Amerikaner uumlber ihre Grenzen hinausblick-ten und die brutale Tatsache der globalen Ungleichheit erkanntenbrauchten sie dafuumlr eine Erklaumlrung

Point Four bot ihnen eine uumlberzeugende Perspektive an Die rei-chen Laumlnder Europas und Nordamerikas seien raquoentwickeltlaquo siehaumltten einen Vorsprung auf dem groszligen Pfad des FortschrittsIhnen gehe es besser weil sie besser seien ndash intelligenter innovati-ver und fleiszligiger Sie haumltten bessere Werte bessere Institutionenund bessere Technologien Dagegen seien die armen Laumlnder desGlobalen Suumldens aumlrmer weil sie noch nicht die richtigen Werteund politischen Ziele gefunden haumltten sie seien zuruumlckgebliebenraquounterentwickeltlaquo und darum bemuumlht aufzuholen

Aufgrund dieser Geschichte konnten sich die Amerikaner zu-tiefst bestaumltigt fuumlhlen sie vermittelte ihnen ein positives Selbst-gefuumlhl sie machte sie stolz auf das Erreichte und ihren Platz in derWelt Aber noch wichtiger war vielleicht dass sie sich auf dieseWeise auch nobel fuumlhlen konnten ndash diese neue Perspektive eroumlff-nete ihnen den Zugang zu einer houmlheren beinahe kosmologischenMission Die entwickelten Laumlnder konnten sich als Leuchtfeuerder Hoffnung zeigen als Retter der Beduumlrftigen Sie wuumlrden ihnendie helfende Hand reichen sie groszligzuumlgig an ihren Reichtuumlmernteilhaben lassen und so den raquoprimitivenlaquo Laumlndern des GlobalenSuumldens dazu verhelfen ihnen auf dem Weg zum Erfolg zu folgenSie wuumlrden zu Helden werden die die Welt zu noch nie dagewese-nem Frieden und Wohlstand fuumlhren

Mit anderen Worten Point Four konnte nicht nur die globaleUngleichheit erklaumlren sondern auch eine Loumlsung anbieten wie siein einem befreienden Rundumschlag zu beheben sei Und so dau-erte es nicht lange bis diese Idee auch von den Regierungen in

Page 10: ,#510 · ,#510 *+%-'. &+' 6;4#00'+ &'5 9#%*567/5 9 7 9 ! Aus dem Englischen von Karsten Petersen und omas Pfei er

Erster Teil

DIE KLUFT

17

1DER ENTWICKLUNGSWAHN

Es begann als eine PR-Masche Harry S Truman war gerade fuumlreine zweite Amtszeit zum Praumlsidenten der Vereinigten Staatengewaumlhlt worden und bereitete sich darauf vor am 20 Januar 1949seine Antrittsrede zu halten Seine Redenschreiber waren voumllligaufgeloumlst Sie mussten sich etwas Uumlberzeugendes ausdenken wasder Praumlsident sagen konnte ndash eine kuumlhne und mitreiszligende Ankuumln-digung Sie hatten drei Ideen auf ihrer Liste Unterstuumltzung fuumlr dieneu gegruumlndeten Vereinten Nationen Widerstand gegen die sow-jetische Bedrohung und die Selbstverpflichtung den Marshallplanfortzufuumlhren Aber keiner dieser Punkte konnte wirklich begeis-tern ndash eigentlich waren sie sogar ziemlich langweilig und dieMedien wuumlrden die Rede wahrscheinlich als raquoSchnee von gesternlaquoabtun und ignorieren Sie brauchten etwas anderes was den Zeit-geist aufgreifen wuumlrde ndash etwas das die Nation begeistern konnte

Die Antwort kam aus einer unerwarteten Ecke Benjamin Hardywar ein junger Beamter auf der mittleren Fuumlhrungsebene desUS-Auszligenministeriums doch als ehemaliger Reporter des AtlantaJournal hatte er ein Gespuumlr fuumlr eine gute Schlagzeile Als ihm einMemo zwischen die Finger kam in dem haumlnderingend nach neuenIdeen fuumlr Trumans Antrittsrede gesucht wurde entschloss er sichseinem Chef einen verruumlckten Einfall zu praumlsentieren raquoEntwick-lunglaquo Warum sollte Truman nicht verkuumlnden dass seine Regie-rung den Laumlndern der Dritten Welt finanzielle Hilfen gewaumlhren

18

Erster Teil Die Kluft

wuumlrde um ihre Entwicklung zu foumlrdern und so dem Leid der vonbitterer Armut geplagten Menschen ein Ende zu setzen Hardy hieltdas fuumlr einen sicheren Sieg ndash ein einfacher Weg so schrieb er in sei-nem Konzept raquodie groumlszligte emotionale Wirkunglaquo auf die US-Buumlrgerzu erzielen und sich raquodie allgemeine Sehnsucht nach einer besserenWelt zunutze zu machen und in geordnete Bahnen zu lenkenlaquo

Aber Hardys Chef hielt nichts davon Es sei eine riskante Ideeaus heiterem Himmel die womoumlglich zu neuartig sei um die Leutezu uumlberzeugen sie sei es nicht wert damit bei einem so wichtigenAnlass zu experimentieren Doch Hardy war entschlossen dieseChance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen Es gelang ihm un-ter einem Vorwand im Weiszligen Haus vorgelassen zu werden wo erTrumans Beratern mit gluumlhenden Worten seine Idee anpries Erkonnte einige von ihnen uumlberzeugen sodass sein Plan ndash mithilfegewisser diplomatischer Manoumlver von Insidern ndash als eine Artnachtraumlglicher Einfall in Trumans Redemanuskript aufgenommenwurde als raquoPoint Fourlaquo Truman war einverstanden

Es war die erste Antrittsrede eines US-Praumlsidenten die live imFernsehen uumlbertragen wurde Zehn Millionen Zuschauer verfolgtensie an jenem kalten Januarnachmittag vor den Bildschirmen ndash nochnie hatte ein einzelnes Ereignis ein groumlszligeres Publikum gefundenBei Trumans Antrittsrede sahen mehr Menschen zu als bei saumlmt-lichen Antrittsreden aller seiner Vorgaumlnger zusammengenommenUnd sie waren begeistert von dem was er zu sagen hatte raquoUumlber dieHaumllfte der Weltbevoumllkerung lebt unter so erbaumlrmlichen Bedingun-gen dass man sie geradezu als Elend bezeichnen koumlnntelaquo verkuumln-dete er raquoSie haben nicht genug zu essen Sie werden von Krankhei-ten geplagt In wirtschaftlicher Hinsicht ist ihr Leben primitiv undes ist keine Besserung in Sichtlaquo Aber so Truman es bestehe Hoff-nung raquoZum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit habenwir das Wissen und die Faumlhigkeiten das Leid dieser Menschen zulindern In der industriellen und wissenschaftlichen Entwicklung

19

1 Der Entwicklungswahn

nehmen die Vereinigten Staaten einen ganz besonderen Platz unterden Laumlndern der Erde ein hellip unsere unschaumltzbaren Ressourcen destechnischen Wissens werden staumlndig erweitert und sie sind un-erschoumlpflichlaquo Und dann spielte er seine Trumpfkarte aus raquoWirmuumlssen ein kuumlhnes neues Programm ins Leben rufen um denunterentwickelten Regionen der Welt den Nutzen aus unserenwissenschaftlichen Erkenntnissen und aus unserem industriellenFortschritt zur Verfuumlgung zu stellen sodass sie sich wirtschaftlichentwickeln und wachsen koumlnnen hellip Die ganze Welt muss sich an-strengen um Frieden Uumlberfluss und Freiheit zu erreichenlaquo

Natuumlrlich gab es keinerlei konkrete Plaumlne fuumlr ein solches Pro-gramm ndash nicht einmal ein einziges Dokument Es wurde aus-schlieszliglich als PR-Masche in Trumans Rede aufgenommen ndash undes funktionierte Die Medien uumlberschlugen sich vor Begeisterung ndashsaumlmtliche Zeitungen von der Washington Post bis hin zur New YorkTimes brachten gluumlhende Berichte uumlber Point Four und der Restder Rede war schnell vergessen1

Warum konnte Point Four eine so groszlige Faszination auf dieamerikanische Oumlffentlichkeit ausuumlben Weil Truman den Buumlrgern

eine neue und machtvolle Perspektive auf die sich abzeichnendeWeltordnung eroumlffnet hatte Nach den Verheerungen des ZweitenWeltkriegs glaumltteten sich die Wogen der europaumlische Imperialis-mus brach zusammen und die Welt begann sich als Gemeinschaftvon gleichberechtigten und unabhaumlngigen Staaten zusammenzu-finden Das Problem war nur dass sie eigentlich uumlberhaupt nichtgleichberechtigt waren Es gab riesige Unterschiede zwischenihnen wenn es um Macht und Wohlstand ging Die privilegierten

Um den Lesefluss nicht zu stoumlren wird in diesem Buch der Einfachheithalber bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen stetsdie maumlnnliche Form verwendet Selbstverstaumlndlich ist dabei die weib-liche Form gleichrangig mit einbezogen

20

Erster Teil Die Kluft

Laumlnder des Globalen Nordens erfreuten sich einer sehr hohen Le-bensqualitaumlt waumlhrend die benachteiligten Laumlnder des GlobalenSuumldens ndash die Mehrheit der Weltbevoumllkerung ndash in laumlhmender Armutversanken Wenn die Amerikaner uumlber ihre Grenzen hinausblick-ten und die brutale Tatsache der globalen Ungleichheit erkanntenbrauchten sie dafuumlr eine Erklaumlrung

Point Four bot ihnen eine uumlberzeugende Perspektive an Die rei-chen Laumlnder Europas und Nordamerikas seien raquoentwickeltlaquo siehaumltten einen Vorsprung auf dem groszligen Pfad des FortschrittsIhnen gehe es besser weil sie besser seien ndash intelligenter innovati-ver und fleiszligiger Sie haumltten bessere Werte bessere Institutionenund bessere Technologien Dagegen seien die armen Laumlnder desGlobalen Suumldens aumlrmer weil sie noch nicht die richtigen Werteund politischen Ziele gefunden haumltten sie seien zuruumlckgebliebenraquounterentwickeltlaquo und darum bemuumlht aufzuholen

Aufgrund dieser Geschichte konnten sich die Amerikaner zu-tiefst bestaumltigt fuumlhlen sie vermittelte ihnen ein positives Selbst-gefuumlhl sie machte sie stolz auf das Erreichte und ihren Platz in derWelt Aber noch wichtiger war vielleicht dass sie sich auf dieseWeise auch nobel fuumlhlen konnten ndash diese neue Perspektive eroumlff-nete ihnen den Zugang zu einer houmlheren beinahe kosmologischenMission Die entwickelten Laumlnder konnten sich als Leuchtfeuerder Hoffnung zeigen als Retter der Beduumlrftigen Sie wuumlrden ihnendie helfende Hand reichen sie groszligzuumlgig an ihren Reichtuumlmernteilhaben lassen und so den raquoprimitivenlaquo Laumlndern des GlobalenSuumldens dazu verhelfen ihnen auf dem Weg zum Erfolg zu folgenSie wuumlrden zu Helden werden die die Welt zu noch nie dagewese-nem Frieden und Wohlstand fuumlhren

Mit anderen Worten Point Four konnte nicht nur die globaleUngleichheit erklaumlren sondern auch eine Loumlsung anbieten wie siein einem befreienden Rundumschlag zu beheben sei Und so dau-erte es nicht lange bis diese Idee auch von den Regierungen in

Page 11: ,#510 · ,#510 *+%-'. &+' 6;4#00'+ &'5 9#%*567/5 9 7 9 ! Aus dem Englischen von Karsten Petersen und omas Pfei er

17

1DER ENTWICKLUNGSWAHN

Es begann als eine PR-Masche Harry S Truman war gerade fuumlreine zweite Amtszeit zum Praumlsidenten der Vereinigten Staatengewaumlhlt worden und bereitete sich darauf vor am 20 Januar 1949seine Antrittsrede zu halten Seine Redenschreiber waren voumllligaufgeloumlst Sie mussten sich etwas Uumlberzeugendes ausdenken wasder Praumlsident sagen konnte ndash eine kuumlhne und mitreiszligende Ankuumln-digung Sie hatten drei Ideen auf ihrer Liste Unterstuumltzung fuumlr dieneu gegruumlndeten Vereinten Nationen Widerstand gegen die sow-jetische Bedrohung und die Selbstverpflichtung den Marshallplanfortzufuumlhren Aber keiner dieser Punkte konnte wirklich begeis-tern ndash eigentlich waren sie sogar ziemlich langweilig und dieMedien wuumlrden die Rede wahrscheinlich als raquoSchnee von gesternlaquoabtun und ignorieren Sie brauchten etwas anderes was den Zeit-geist aufgreifen wuumlrde ndash etwas das die Nation begeistern konnte

Die Antwort kam aus einer unerwarteten Ecke Benjamin Hardywar ein junger Beamter auf der mittleren Fuumlhrungsebene desUS-Auszligenministeriums doch als ehemaliger Reporter des AtlantaJournal hatte er ein Gespuumlr fuumlr eine gute Schlagzeile Als ihm einMemo zwischen die Finger kam in dem haumlnderingend nach neuenIdeen fuumlr Trumans Antrittsrede gesucht wurde entschloss er sichseinem Chef einen verruumlckten Einfall zu praumlsentieren raquoEntwick-lunglaquo Warum sollte Truman nicht verkuumlnden dass seine Regie-rung den Laumlndern der Dritten Welt finanzielle Hilfen gewaumlhren

18

Erster Teil Die Kluft

wuumlrde um ihre Entwicklung zu foumlrdern und so dem Leid der vonbitterer Armut geplagten Menschen ein Ende zu setzen Hardy hieltdas fuumlr einen sicheren Sieg ndash ein einfacher Weg so schrieb er in sei-nem Konzept raquodie groumlszligte emotionale Wirkunglaquo auf die US-Buumlrgerzu erzielen und sich raquodie allgemeine Sehnsucht nach einer besserenWelt zunutze zu machen und in geordnete Bahnen zu lenkenlaquo

Aber Hardys Chef hielt nichts davon Es sei eine riskante Ideeaus heiterem Himmel die womoumlglich zu neuartig sei um die Leutezu uumlberzeugen sie sei es nicht wert damit bei einem so wichtigenAnlass zu experimentieren Doch Hardy war entschlossen dieseChance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen Es gelang ihm un-ter einem Vorwand im Weiszligen Haus vorgelassen zu werden wo erTrumans Beratern mit gluumlhenden Worten seine Idee anpries Erkonnte einige von ihnen uumlberzeugen sodass sein Plan ndash mithilfegewisser diplomatischer Manoumlver von Insidern ndash als eine Artnachtraumlglicher Einfall in Trumans Redemanuskript aufgenommenwurde als raquoPoint Fourlaquo Truman war einverstanden

Es war die erste Antrittsrede eines US-Praumlsidenten die live imFernsehen uumlbertragen wurde Zehn Millionen Zuschauer verfolgtensie an jenem kalten Januarnachmittag vor den Bildschirmen ndash nochnie hatte ein einzelnes Ereignis ein groumlszligeres Publikum gefundenBei Trumans Antrittsrede sahen mehr Menschen zu als bei saumlmt-lichen Antrittsreden aller seiner Vorgaumlnger zusammengenommenUnd sie waren begeistert von dem was er zu sagen hatte raquoUumlber dieHaumllfte der Weltbevoumllkerung lebt unter so erbaumlrmlichen Bedingun-gen dass man sie geradezu als Elend bezeichnen koumlnntelaquo verkuumln-dete er raquoSie haben nicht genug zu essen Sie werden von Krankhei-ten geplagt In wirtschaftlicher Hinsicht ist ihr Leben primitiv undes ist keine Besserung in Sichtlaquo Aber so Truman es bestehe Hoff-nung raquoZum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit habenwir das Wissen und die Faumlhigkeiten das Leid dieser Menschen zulindern In der industriellen und wissenschaftlichen Entwicklung

19

1 Der Entwicklungswahn

nehmen die Vereinigten Staaten einen ganz besonderen Platz unterden Laumlndern der Erde ein hellip unsere unschaumltzbaren Ressourcen destechnischen Wissens werden staumlndig erweitert und sie sind un-erschoumlpflichlaquo Und dann spielte er seine Trumpfkarte aus raquoWirmuumlssen ein kuumlhnes neues Programm ins Leben rufen um denunterentwickelten Regionen der Welt den Nutzen aus unserenwissenschaftlichen Erkenntnissen und aus unserem industriellenFortschritt zur Verfuumlgung zu stellen sodass sie sich wirtschaftlichentwickeln und wachsen koumlnnen hellip Die ganze Welt muss sich an-strengen um Frieden Uumlberfluss und Freiheit zu erreichenlaquo

Natuumlrlich gab es keinerlei konkrete Plaumlne fuumlr ein solches Pro-gramm ndash nicht einmal ein einziges Dokument Es wurde aus-schlieszliglich als PR-Masche in Trumans Rede aufgenommen ndash undes funktionierte Die Medien uumlberschlugen sich vor Begeisterung ndashsaumlmtliche Zeitungen von der Washington Post bis hin zur New YorkTimes brachten gluumlhende Berichte uumlber Point Four und der Restder Rede war schnell vergessen1

Warum konnte Point Four eine so groszlige Faszination auf dieamerikanische Oumlffentlichkeit ausuumlben Weil Truman den Buumlrgern

eine neue und machtvolle Perspektive auf die sich abzeichnendeWeltordnung eroumlffnet hatte Nach den Verheerungen des ZweitenWeltkriegs glaumltteten sich die Wogen der europaumlische Imperialis-mus brach zusammen und die Welt begann sich als Gemeinschaftvon gleichberechtigten und unabhaumlngigen Staaten zusammenzu-finden Das Problem war nur dass sie eigentlich uumlberhaupt nichtgleichberechtigt waren Es gab riesige Unterschiede zwischenihnen wenn es um Macht und Wohlstand ging Die privilegierten

Um den Lesefluss nicht zu stoumlren wird in diesem Buch der Einfachheithalber bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen stetsdie maumlnnliche Form verwendet Selbstverstaumlndlich ist dabei die weib-liche Form gleichrangig mit einbezogen

20

Erster Teil Die Kluft

Laumlnder des Globalen Nordens erfreuten sich einer sehr hohen Le-bensqualitaumlt waumlhrend die benachteiligten Laumlnder des GlobalenSuumldens ndash die Mehrheit der Weltbevoumllkerung ndash in laumlhmender Armutversanken Wenn die Amerikaner uumlber ihre Grenzen hinausblick-ten und die brutale Tatsache der globalen Ungleichheit erkanntenbrauchten sie dafuumlr eine Erklaumlrung

Point Four bot ihnen eine uumlberzeugende Perspektive an Die rei-chen Laumlnder Europas und Nordamerikas seien raquoentwickeltlaquo siehaumltten einen Vorsprung auf dem groszligen Pfad des FortschrittsIhnen gehe es besser weil sie besser seien ndash intelligenter innovati-ver und fleiszligiger Sie haumltten bessere Werte bessere Institutionenund bessere Technologien Dagegen seien die armen Laumlnder desGlobalen Suumldens aumlrmer weil sie noch nicht die richtigen Werteund politischen Ziele gefunden haumltten sie seien zuruumlckgebliebenraquounterentwickeltlaquo und darum bemuumlht aufzuholen

Aufgrund dieser Geschichte konnten sich die Amerikaner zu-tiefst bestaumltigt fuumlhlen sie vermittelte ihnen ein positives Selbst-gefuumlhl sie machte sie stolz auf das Erreichte und ihren Platz in derWelt Aber noch wichtiger war vielleicht dass sie sich auf dieseWeise auch nobel fuumlhlen konnten ndash diese neue Perspektive eroumlff-nete ihnen den Zugang zu einer houmlheren beinahe kosmologischenMission Die entwickelten Laumlnder konnten sich als Leuchtfeuerder Hoffnung zeigen als Retter der Beduumlrftigen Sie wuumlrden ihnendie helfende Hand reichen sie groszligzuumlgig an ihren Reichtuumlmernteilhaben lassen und so den raquoprimitivenlaquo Laumlndern des GlobalenSuumldens dazu verhelfen ihnen auf dem Weg zum Erfolg zu folgenSie wuumlrden zu Helden werden die die Welt zu noch nie dagewese-nem Frieden und Wohlstand fuumlhren

Mit anderen Worten Point Four konnte nicht nur die globaleUngleichheit erklaumlren sondern auch eine Loumlsung anbieten wie siein einem befreienden Rundumschlag zu beheben sei Und so dau-erte es nicht lange bis diese Idee auch von den Regierungen in

Page 12: ,#510 · ,#510 *+%-'. &+' 6;4#00'+ &'5 9#%*567/5 9 7 9 ! Aus dem Englischen von Karsten Petersen und omas Pfei er

18

Erster Teil Die Kluft

wuumlrde um ihre Entwicklung zu foumlrdern und so dem Leid der vonbitterer Armut geplagten Menschen ein Ende zu setzen Hardy hieltdas fuumlr einen sicheren Sieg ndash ein einfacher Weg so schrieb er in sei-nem Konzept raquodie groumlszligte emotionale Wirkunglaquo auf die US-Buumlrgerzu erzielen und sich raquodie allgemeine Sehnsucht nach einer besserenWelt zunutze zu machen und in geordnete Bahnen zu lenkenlaquo

Aber Hardys Chef hielt nichts davon Es sei eine riskante Ideeaus heiterem Himmel die womoumlglich zu neuartig sei um die Leutezu uumlberzeugen sie sei es nicht wert damit bei einem so wichtigenAnlass zu experimentieren Doch Hardy war entschlossen dieseChance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen Es gelang ihm un-ter einem Vorwand im Weiszligen Haus vorgelassen zu werden wo erTrumans Beratern mit gluumlhenden Worten seine Idee anpries Erkonnte einige von ihnen uumlberzeugen sodass sein Plan ndash mithilfegewisser diplomatischer Manoumlver von Insidern ndash als eine Artnachtraumlglicher Einfall in Trumans Redemanuskript aufgenommenwurde als raquoPoint Fourlaquo Truman war einverstanden

Es war die erste Antrittsrede eines US-Praumlsidenten die live imFernsehen uumlbertragen wurde Zehn Millionen Zuschauer verfolgtensie an jenem kalten Januarnachmittag vor den Bildschirmen ndash nochnie hatte ein einzelnes Ereignis ein groumlszligeres Publikum gefundenBei Trumans Antrittsrede sahen mehr Menschen zu als bei saumlmt-lichen Antrittsreden aller seiner Vorgaumlnger zusammengenommenUnd sie waren begeistert von dem was er zu sagen hatte raquoUumlber dieHaumllfte der Weltbevoumllkerung lebt unter so erbaumlrmlichen Bedingun-gen dass man sie geradezu als Elend bezeichnen koumlnntelaquo verkuumln-dete er raquoSie haben nicht genug zu essen Sie werden von Krankhei-ten geplagt In wirtschaftlicher Hinsicht ist ihr Leben primitiv undes ist keine Besserung in Sichtlaquo Aber so Truman es bestehe Hoff-nung raquoZum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit habenwir das Wissen und die Faumlhigkeiten das Leid dieser Menschen zulindern In der industriellen und wissenschaftlichen Entwicklung

19

1 Der Entwicklungswahn

nehmen die Vereinigten Staaten einen ganz besonderen Platz unterden Laumlndern der Erde ein hellip unsere unschaumltzbaren Ressourcen destechnischen Wissens werden staumlndig erweitert und sie sind un-erschoumlpflichlaquo Und dann spielte er seine Trumpfkarte aus raquoWirmuumlssen ein kuumlhnes neues Programm ins Leben rufen um denunterentwickelten Regionen der Welt den Nutzen aus unserenwissenschaftlichen Erkenntnissen und aus unserem industriellenFortschritt zur Verfuumlgung zu stellen sodass sie sich wirtschaftlichentwickeln und wachsen koumlnnen hellip Die ganze Welt muss sich an-strengen um Frieden Uumlberfluss und Freiheit zu erreichenlaquo

Natuumlrlich gab es keinerlei konkrete Plaumlne fuumlr ein solches Pro-gramm ndash nicht einmal ein einziges Dokument Es wurde aus-schlieszliglich als PR-Masche in Trumans Rede aufgenommen ndash undes funktionierte Die Medien uumlberschlugen sich vor Begeisterung ndashsaumlmtliche Zeitungen von der Washington Post bis hin zur New YorkTimes brachten gluumlhende Berichte uumlber Point Four und der Restder Rede war schnell vergessen1

Warum konnte Point Four eine so groszlige Faszination auf dieamerikanische Oumlffentlichkeit ausuumlben Weil Truman den Buumlrgern

eine neue und machtvolle Perspektive auf die sich abzeichnendeWeltordnung eroumlffnet hatte Nach den Verheerungen des ZweitenWeltkriegs glaumltteten sich die Wogen der europaumlische Imperialis-mus brach zusammen und die Welt begann sich als Gemeinschaftvon gleichberechtigten und unabhaumlngigen Staaten zusammenzu-finden Das Problem war nur dass sie eigentlich uumlberhaupt nichtgleichberechtigt waren Es gab riesige Unterschiede zwischenihnen wenn es um Macht und Wohlstand ging Die privilegierten

Um den Lesefluss nicht zu stoumlren wird in diesem Buch der Einfachheithalber bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen stetsdie maumlnnliche Form verwendet Selbstverstaumlndlich ist dabei die weib-liche Form gleichrangig mit einbezogen

20

Erster Teil Die Kluft

Laumlnder des Globalen Nordens erfreuten sich einer sehr hohen Le-bensqualitaumlt waumlhrend die benachteiligten Laumlnder des GlobalenSuumldens ndash die Mehrheit der Weltbevoumllkerung ndash in laumlhmender Armutversanken Wenn die Amerikaner uumlber ihre Grenzen hinausblick-ten und die brutale Tatsache der globalen Ungleichheit erkanntenbrauchten sie dafuumlr eine Erklaumlrung

Point Four bot ihnen eine uumlberzeugende Perspektive an Die rei-chen Laumlnder Europas und Nordamerikas seien raquoentwickeltlaquo siehaumltten einen Vorsprung auf dem groszligen Pfad des FortschrittsIhnen gehe es besser weil sie besser seien ndash intelligenter innovati-ver und fleiszligiger Sie haumltten bessere Werte bessere Institutionenund bessere Technologien Dagegen seien die armen Laumlnder desGlobalen Suumldens aumlrmer weil sie noch nicht die richtigen Werteund politischen Ziele gefunden haumltten sie seien zuruumlckgebliebenraquounterentwickeltlaquo und darum bemuumlht aufzuholen

Aufgrund dieser Geschichte konnten sich die Amerikaner zu-tiefst bestaumltigt fuumlhlen sie vermittelte ihnen ein positives Selbst-gefuumlhl sie machte sie stolz auf das Erreichte und ihren Platz in derWelt Aber noch wichtiger war vielleicht dass sie sich auf dieseWeise auch nobel fuumlhlen konnten ndash diese neue Perspektive eroumlff-nete ihnen den Zugang zu einer houmlheren beinahe kosmologischenMission Die entwickelten Laumlnder konnten sich als Leuchtfeuerder Hoffnung zeigen als Retter der Beduumlrftigen Sie wuumlrden ihnendie helfende Hand reichen sie groszligzuumlgig an ihren Reichtuumlmernteilhaben lassen und so den raquoprimitivenlaquo Laumlndern des GlobalenSuumldens dazu verhelfen ihnen auf dem Weg zum Erfolg zu folgenSie wuumlrden zu Helden werden die die Welt zu noch nie dagewese-nem Frieden und Wohlstand fuumlhren

Mit anderen Worten Point Four konnte nicht nur die globaleUngleichheit erklaumlren sondern auch eine Loumlsung anbieten wie siein einem befreienden Rundumschlag zu beheben sei Und so dau-erte es nicht lange bis diese Idee auch von den Regierungen in

Page 13: ,#510 · ,#510 *+%-'. &+' 6;4#00'+ &'5 9#%*567/5 9 7 9 ! Aus dem Englischen von Karsten Petersen und omas Pfei er

19

1 Der Entwicklungswahn

nehmen die Vereinigten Staaten einen ganz besonderen Platz unterden Laumlndern der Erde ein hellip unsere unschaumltzbaren Ressourcen destechnischen Wissens werden staumlndig erweitert und sie sind un-erschoumlpflichlaquo Und dann spielte er seine Trumpfkarte aus raquoWirmuumlssen ein kuumlhnes neues Programm ins Leben rufen um denunterentwickelten Regionen der Welt den Nutzen aus unserenwissenschaftlichen Erkenntnissen und aus unserem industriellenFortschritt zur Verfuumlgung zu stellen sodass sie sich wirtschaftlichentwickeln und wachsen koumlnnen hellip Die ganze Welt muss sich an-strengen um Frieden Uumlberfluss und Freiheit zu erreichenlaquo

Natuumlrlich gab es keinerlei konkrete Plaumlne fuumlr ein solches Pro-gramm ndash nicht einmal ein einziges Dokument Es wurde aus-schlieszliglich als PR-Masche in Trumans Rede aufgenommen ndash undes funktionierte Die Medien uumlberschlugen sich vor Begeisterung ndashsaumlmtliche Zeitungen von der Washington Post bis hin zur New YorkTimes brachten gluumlhende Berichte uumlber Point Four und der Restder Rede war schnell vergessen1

Warum konnte Point Four eine so groszlige Faszination auf dieamerikanische Oumlffentlichkeit ausuumlben Weil Truman den Buumlrgern

eine neue und machtvolle Perspektive auf die sich abzeichnendeWeltordnung eroumlffnet hatte Nach den Verheerungen des ZweitenWeltkriegs glaumltteten sich die Wogen der europaumlische Imperialis-mus brach zusammen und die Welt begann sich als Gemeinschaftvon gleichberechtigten und unabhaumlngigen Staaten zusammenzu-finden Das Problem war nur dass sie eigentlich uumlberhaupt nichtgleichberechtigt waren Es gab riesige Unterschiede zwischenihnen wenn es um Macht und Wohlstand ging Die privilegierten

Um den Lesefluss nicht zu stoumlren wird in diesem Buch der Einfachheithalber bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen stetsdie maumlnnliche Form verwendet Selbstverstaumlndlich ist dabei die weib-liche Form gleichrangig mit einbezogen

20

Erster Teil Die Kluft

Laumlnder des Globalen Nordens erfreuten sich einer sehr hohen Le-bensqualitaumlt waumlhrend die benachteiligten Laumlnder des GlobalenSuumldens ndash die Mehrheit der Weltbevoumllkerung ndash in laumlhmender Armutversanken Wenn die Amerikaner uumlber ihre Grenzen hinausblick-ten und die brutale Tatsache der globalen Ungleichheit erkanntenbrauchten sie dafuumlr eine Erklaumlrung

Point Four bot ihnen eine uumlberzeugende Perspektive an Die rei-chen Laumlnder Europas und Nordamerikas seien raquoentwickeltlaquo siehaumltten einen Vorsprung auf dem groszligen Pfad des FortschrittsIhnen gehe es besser weil sie besser seien ndash intelligenter innovati-ver und fleiszligiger Sie haumltten bessere Werte bessere Institutionenund bessere Technologien Dagegen seien die armen Laumlnder desGlobalen Suumldens aumlrmer weil sie noch nicht die richtigen Werteund politischen Ziele gefunden haumltten sie seien zuruumlckgebliebenraquounterentwickeltlaquo und darum bemuumlht aufzuholen

Aufgrund dieser Geschichte konnten sich die Amerikaner zu-tiefst bestaumltigt fuumlhlen sie vermittelte ihnen ein positives Selbst-gefuumlhl sie machte sie stolz auf das Erreichte und ihren Platz in derWelt Aber noch wichtiger war vielleicht dass sie sich auf dieseWeise auch nobel fuumlhlen konnten ndash diese neue Perspektive eroumlff-nete ihnen den Zugang zu einer houmlheren beinahe kosmologischenMission Die entwickelten Laumlnder konnten sich als Leuchtfeuerder Hoffnung zeigen als Retter der Beduumlrftigen Sie wuumlrden ihnendie helfende Hand reichen sie groszligzuumlgig an ihren Reichtuumlmernteilhaben lassen und so den raquoprimitivenlaquo Laumlndern des GlobalenSuumldens dazu verhelfen ihnen auf dem Weg zum Erfolg zu folgenSie wuumlrden zu Helden werden die die Welt zu noch nie dagewese-nem Frieden und Wohlstand fuumlhren

Mit anderen Worten Point Four konnte nicht nur die globaleUngleichheit erklaumlren sondern auch eine Loumlsung anbieten wie siein einem befreienden Rundumschlag zu beheben sei Und so dau-erte es nicht lange bis diese Idee auch von den Regierungen in

Page 14: ,#510 · ,#510 *+%-'. &+' 6;4#00'+ &'5 9#%*567/5 9 7 9 ! Aus dem Englischen von Karsten Petersen und omas Pfei er

20

Erster Teil Die Kluft

Laumlnder des Globalen Nordens erfreuten sich einer sehr hohen Le-bensqualitaumlt waumlhrend die benachteiligten Laumlnder des GlobalenSuumldens ndash die Mehrheit der Weltbevoumllkerung ndash in laumlhmender Armutversanken Wenn die Amerikaner uumlber ihre Grenzen hinausblick-ten und die brutale Tatsache der globalen Ungleichheit erkanntenbrauchten sie dafuumlr eine Erklaumlrung

Point Four bot ihnen eine uumlberzeugende Perspektive an Die rei-chen Laumlnder Europas und Nordamerikas seien raquoentwickeltlaquo siehaumltten einen Vorsprung auf dem groszligen Pfad des FortschrittsIhnen gehe es besser weil sie besser seien ndash intelligenter innovati-ver und fleiszligiger Sie haumltten bessere Werte bessere Institutionenund bessere Technologien Dagegen seien die armen Laumlnder desGlobalen Suumldens aumlrmer weil sie noch nicht die richtigen Werteund politischen Ziele gefunden haumltten sie seien zuruumlckgebliebenraquounterentwickeltlaquo und darum bemuumlht aufzuholen

Aufgrund dieser Geschichte konnten sich die Amerikaner zu-tiefst bestaumltigt fuumlhlen sie vermittelte ihnen ein positives Selbst-gefuumlhl sie machte sie stolz auf das Erreichte und ihren Platz in derWelt Aber noch wichtiger war vielleicht dass sie sich auf dieseWeise auch nobel fuumlhlen konnten ndash diese neue Perspektive eroumlff-nete ihnen den Zugang zu einer houmlheren beinahe kosmologischenMission Die entwickelten Laumlnder konnten sich als Leuchtfeuerder Hoffnung zeigen als Retter der Beduumlrftigen Sie wuumlrden ihnendie helfende Hand reichen sie groszligzuumlgig an ihren Reichtuumlmernteilhaben lassen und so den raquoprimitivenlaquo Laumlndern des GlobalenSuumldens dazu verhelfen ihnen auf dem Weg zum Erfolg zu folgenSie wuumlrden zu Helden werden die die Welt zu noch nie dagewese-nem Frieden und Wohlstand fuumlhren

Mit anderen Worten Point Four konnte nicht nur die globaleUngleichheit erklaumlren sondern auch eine Loumlsung anbieten wie siein einem befreienden Rundumschlag zu beheben sei Und so dau-erte es nicht lange bis diese Idee auch von den Regierungen in