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72 Psychologie und Literatur PSYCHOLOGIE HEUTE März 2011

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„Ich habe oft geweint, als ich übermeinen Vater schrieb“ Die Lyrikerin und Schriftstellerin Ulla Hahn hat zwei autobiografische Romaneüber ihre Kindheit und Jugend geschrieben. Sie schildert darin den Lebenswegeines Proletarierkindes, das es bis an die Universität schafft. Hahn ist Expertin für das Thema Entwicklung – von Menschen, Büchern und Romanfiguren

Ulla Hahns Villa im Hambur-ger Stadtteil Harvestehude liegtversteckt hinter hohen Bäu-

men. Der Paketbote ist behilflich undweist den Weg – er liefert hier häufig Bü-cher. Hahns Liebe zu Wörtern und Ge-schriebenem sieht man auch im Wohn-zimmer sofort: Obwohl der Raum klarund aufgeräumt ist, stapeln sich Bücherund Zeitungen am Boden.„Das kommtdabei heraus, wenn man einen Raumvon Regalen freihalten will“, sagt UllaHahn heiter. Ganz leicht hört man nochden rheinischen Singsang in ihrer Stim-me. Die Schriftstellerin ist zierlich, trägteine rote Bluse, eine legere schwarzeHose. Wenn sie sich durch ihr Wohn-zimmer bewegt, wirkt sie gleichzeitigbeschwingt und konzentriert. In dieser„schwebenden Aufmerksamkeit“ bleibtsie auch im gesamten Gespräch. Manmerkt: Sie ist an Interviews gewöhnt –spätestens seit 2001 ihr Bestseller Dasverborgene Wort erschien, ein epischerautobiografischer Roman, der Hahns

proletarische Kindheit am Niederrheinzur Grundlage nimmt. Im Jahr 2009erschien ein weiterer Roman der Ge-schichte rund um Hahns Heldin HillaPalm. Aufbruch thematisiert ihre Ju-gendjahre, das Abitur und erste Schrit-te an der Universität.Am letzten Romander Trilogie arbeitet die Schriftstelleringerade: Hier geht es um die Studienzeit.Druckreif sei dieses dritte Projekt abernoch nicht, erklärt sie.

PSYCHOLOGIE HEUTE Frau Hahn,Siehaben jahrelang vor allem Lyrik ge-schrieben. Wann hatten Sie zum erstenMal den Impuls, über Ihr eigenes Lebenin Form eines Romans zu schreiben? ULLA HAHN Ich kann nicht genau sa-gen, wie lange die Idee schon da war.Aber sicher eine Weile. Sie hat lange ge-braucht, bis sie sich herausgetraut hat.Bezeichnenderweise habe ich dieses fürmich schwierige Projekt erst angefan-gen, als ich hier in Hamburg lebte, mich

in meinem Leben sicher und wohlfühl-te, auch zusammen mit meinem Mann.Und das Rheinland räumlich und zeit-lich weit von mir entfernt war. DiesenSicherheitsabstand, äußerlich und inner-lich, habe ich gebraucht, um die Ver-gangenheit heraufzubeschwören.PH Gab es einen konkreten Anlass? HAHN Eine gute Freundin von mirstarb, noch nicht 40 Jahre alt, an Krebs.Sie war eine sehr lebendige Frau, ihr Todwar ein Schock, hat mich wachgerüttelt:Ich habe mein bisheriges Leben resü-miert, mich gefragt, wie ich dahin ge-kommen bin, wo ich jetzt stehe. Da stie-gen erste Bilder aus der Vergangenheitwieder hoch. Gleichzeitig war da aucheine Aufforderung: Fang etwas mit dei-nem Leben an, was du vorher noch niegemacht hast! Und dann begann ich mitder Arbeit an Das verborgene Wort.PH Was hat sich beim Schreiben undErinnern in Ihnen abgespielt? HAHN Für mich war es wichtig, ein-fach loszuschreiben. Ohne Schere im

Kopf. Es gibt vom Verborgenen Wort elfverschiedene Fassungen, etwa 1100 Sei-ten habe ich weggeschmissen. Die Er-innerungen sind also explodiert. Psy-chologen würden wahrscheinlich sagen:Ich bin dem Flow gefolgt. Dadurch wur-de es allerdings oft ein Balanceakt amAbgrund. Da ist immer eine Schlucht,in die man stürzen kann. Denn mankann die Bilder, die auftauchen, ja nichtsteuern oder befehlen: Dann ist der prü-gelnde Vater auf einmal da, und das istnicht schön. Und es reicht nicht, es ei-nen Augenblick lang auszuhalten – ichbin in diese Bilder monatelang immertiefer hineingegangen; das heißt, ich ha-be in zwei Welten, zwei Zeiten gelebt.PH Wie sieht Ihr Alltag in einer so in-tensiven Schreibphase aus? HAHN Es gibt keinen mehr. Ich bindann woanders. Ich hänge mein Telefonaus, treffe mich mit niemandem mehr,arbeite auch räumlich getrennt von mei-nem Mann – also im oberen Stockwerk.Diese abgeschotteten Schreibphasenbrauche ich. Wenn diese Zeit dann vor-bei ist, schreibe ich eine Rundmail: Jetztbin ich wieder da.PH Was verändert sich durch den ge-nauen,geduldigen Blick in den Abgrund? HAHN Es ist eine Gemengelage: Man-che Bilder, die hochkamen, waren be-drohlich, machten mir Angst. Anderemachten mich traurig oder wütend. Oftwar es auch eine gewisse Verwunderung:Ist das wirklich eine Szene aus meinemLeben? Aber weil ich dann schnell an-fing, die passenden Wörter zu suchen,um die Szenen sprachlich zu gestalten,kam bald schon Erleichterung dazu.Auch wenn es ein großes Wort ist: Es isteine Art Heilungsprozess. Wir haben imDeutschen dafür schöne Metaphern: sichetwas von der Seele schreiben, von derSeele reden. Die Psychoanalyse lebt vondiesem Prozess.PH Hat sich durch die Arbeit denn dieBeziehung zu Ihren Eltern oder zu an-deren Menschen nachhaltig verändert? HAHN Ja. Ich habe beim Schreiben oftgeweint, zum Beispiel als ich über mei-nen Vater schrieb. Aber durch die Be-

schäftigung mit seinem Leben wurde mir schmerzhaft klar, was für ein armerMensch er war. Die Bilder und Personenaus der Kindheit nah heranzuholen, siescharfzustellen und zu gestalten, daswirkt ständig ins aktuelle Leben hinein.Bei meinem zweiten Roman über Hillagab es zum Beispiel einen kuriosen Um-kehrprozess: Ich selbst war innerlichschon viel versöhnter mit meinem Va-ter.Aber für das Buch musste ich sprach-lich noch einmal die Gefühle des jun-gen Mädchens erfinden – sonst hättendie Konflikte zwischen Hilla und demVater ihre Tiefe verloren.PH Es gibt Künstler, die lehnen deshalbPsychotherapie ab. Sie behaupten: Wennich zu viel an mir arbeite, habe ich kei-nen Stoff mehr.HAHN Ich habe nicht das Gefühl,dass man sich durch Psychotherapie ineine Schreibblockade manövriert. Selbstwenn sich Probleme und schmerzhafteKonstellationen verändern – es kommtdoch immer wieder genug neuer Schrottnach.PH Generell: Was ist beim Prozess desSchreibens anders als in der Psychothe-rapie? HAHN Die Erinnerung selbst, sie zu for-mulieren und zu spüren, welche Gefüh-

le hochkommen – das ist nur der ersteSchritt. Danach folgt ein weiterer, einlangwieriger Prozess der Ästhetisierung.Man muss die richtigen Worte eben nichtnur im persönlichen Sinn finden, son-dern auch im literarischen Sinn. ImGrunde sind die Erinnerungen ja nur dieknetbare Masse. Oder wie ein Steinblock,aus dem der Steinmetz eine Figur he-rausschält. Und in dem Schaffensprozesspassiert etwas Seltsames: Man distanziertsich nach und nach von der eigenenGeschichte. Der Vater in dem Buch istnach so langer Arbeit an der Geschich-te nicht mehr der Vater meines Lebens.Den Text lese ich heute, als wäre es dieGeschichte einer fremden Person: Dieeigene Lebensgeschichte ist zu etwas an-derem geworden. Zu einem Roman.PH Das heißt, man klappt die Buch-deckel zu, und die eigene Geschichte istunschädlich gemacht? HAHN So ungefähr. Die Distanzierungdurchs Schreiben ist wirklich stark. Mankoppelt sich emotional endgültig ab. Ichhabe das sogar mit Dingen erlebt, die ich sehr gern hatte. Ein Beispiel: Als ichin dieses Haus einzog, hatte ich zum ersten Mal seit meiner Kindheit wiedereinen Garten. Ich habe ihn geliebt, ganzviele Blumen gepflanzt, Goethes Lieb-

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lingsblume, den Diptam, und „Jelänger-jelieber“, auch Geißblatt genannt. Ichwar beseelt davon, Pflanzen, die ich nuraus der Literatur kannte, in die Wirk-lichkeit zu holen. Dann habe ich ange-fangen, über die Pflanzen und den Gar-ten zu schreiben, habe einen Gedicht-band dazu herausgebracht. Danach warmir der Garten egal. Ich hatte mir auchdas von der Seele geschrieben.PH War das eine Phase, oder war dieseEntwicklung nicht mehr umkehrbar? HAHN Es ist ein Transformationspro-zess. Ich kann ihn nicht rückgängig ma-chen. Ich hatte den Garten zu Sprachegemacht, zu Wörtern, zu einem Arte-fakt. Den unmittelbar-herzlichen Zu-gang zu meinem Garten habe ich niemehr gefunden. Mir war das eine War-nung: Ich werde nie mehr über Men-schen und Dinge schreiben, die mir imjetzigen Leben am Herzen liegen.PH In Ihrem Roman beschreiben Siedie Entwicklung des ProletarierkindesHilla, die es schließlich zur Universitätschafft. In den 1950er Jahren für eineFrau ein langer Weg. Wie gelingt er? Wo stellen sich Weichen? HAHN Es gab immer wieder Schlüssel-figuren, ich nenne sie säkularisierteSchutzengel.Menschen,die sich für michund meine Entwicklung eingesetzt ha-ben: Lehrer, die Schwestern im Kinder-garten, der Pfarrer. Es gibt im Verborge-nen Wort eine Szene, in der Hillas Volks-schullehrer fragt, wer von den Schülernin die höhere Schule gehen wolle. Dersolle aufstehen. Hilla steht nicht auf.Da sagt der Lehrer zwei kleine Wörter,die, wenn Sie so wollen, ein Motto mei-nes Lebens geworden sind: Steh auf! Erspricht mit Hillas Eltern, die selbst kaumSchulbildung haben und skeptisch sind,die Tochter auf die höhere Schule zuschicken. Genau so war es bei mir: Hät-te dieser Lehrer mir nicht geholfen, sä-

ßen wir heute nicht hier. Wenn es im El-ternhaus keine Unterstützung gibt, musses Unterstützung von anderen Erwach-senen geben. Denn so etwas kann einKind gar nicht allein schaffen.PH Die Bedeutung von dritten Perso-nen wie Großeltern oder Lehrern wirdauch in Therapien immer wieder he-rausgearbeitet. Trotzdem bleiben Fragenoffen: Wie kommt es, dass manche Kin-der, wie Hilla, solche Angebote anneh-men können – und andere nicht? HAHN Das habe ich mich oft gefragt.Und ich weiß es nicht genau. Ich kom-me immer mehr zu dem Schluss, dass eseinfach auch ein besonderes Talent ist,eine hilfreiche Hand ergreifen zu kön-nen.PH Sie meinen: Es ist ein Talent, zu er-kennen, wer es gut mit einem meint? HAHN Nicht nur: Man muss auch denrichtigen Zeitpunkt erkennen. Es gibt inder griechischen Mythologie den „Kai-ros“, den Gott des glücklichen Augen-blicks. Vorne hat er lange Haare, hintenTotalglatze. Wenn Sie nicht im richtigenMoment zugreifen, glitschen Sie hintenab. Er ist perfide, trotzdem einer meinerLieblingsgötter. Denn so habe ich dasLeben oft erlebt – dass ich den glück-lichen Moment erwischen durfte. Undauch im Roman werden durch dieseglücklichen Fügungen oft die Weichengestellt.PH Die Resilienzforschung versucht he-rauszufinden, warum manche Kinderauch unter schwierigen Bedingungen gutgedeihen. Man weiß zum Beispiel, dassNeugier und eigene Interessen hilfreichsind. Ihre Romanheldin Hilla passt ge-nau in diese Schilderung.HAHN Ja, aber das sehen Sie jetzt zupositiv. Hilla wird in ihrer Familie ja„Teufelsbraten“ genannt, die Eltern fin-den sie bockig und schwierig, und sicherist sie das ja auch.

PH Aber trägt dieser Eigensinn nichtauch dazu bei, sich weit von der Fami-lie wegzuentwickeln? HAHN Eigensinn kann sicher eine Ei-genschaft sein, die Entwicklung fördert.Man springt in Situationen hinein, gehtweite, oft gefährliche Wege. Aber ichkonnte das lange nicht schätzen. In derFamilie galt ich als widerborstig, als diemit dem eigenen Kopf, das hat viel Dis-tanz geschaffen. Als ich dann den Fried-rich-Hölderlin-Preis bekam, einen Preisfür Lyrik, sagte der Laudator sinngemäß:Wir zeichnen Frau Hahn für ihre wider-borstigen Gedichte aus. Damals lief esmir kalt den Rücken herunter. Da wur-de ich für die Haltung geehrt, die mir alsKind nur Ablehnung eingebracht hatte.PH Die Heldin Hilla ist aber nicht nureigensinnig, sondern auch wissbegierig,lernt Latein, verschlingt die Klassiker. Er-leben Sie auch das als einen Schutz? HAHN Auf das Wort Schutz wäre ichnie gekommen. Ich lerne einfach gerne.Ich habe immer Wörter geliebt, habesehr schnell Lesen gelernt, mich dann inSprachen vertieft. Bis heute liebe ich eszu lernen. Für mich ist Lernen im Grun-de Leben. Wer damit aufhört, ist fast tot.Und natürlich glaube ich daran,dass Ler-nen Menschen verändern kann. Bildungbedeutet mehr als gesellschaftlichen Auf-stieg und materielle Sicherheit. Sie ver-ändert in einem tieferen Sinne, schenktMenschen eine innere Unabhängigkeit,die auch unter widrigen Bedingungeneine Stütze sein kann.PH In der aktuellen Ratgeberliteraturwird häufig empfohlen, dass man sicheine Sache – zum Beispiel beruflichenErfolg – sehr wünschen soll, dann trittsie auch ein. Oder dass man seiner In-tuition folgen soll. Sind solche Faktorenfür Ihre Helden wichtig? HAHN Hilla lässt sich durch ihre Freu-de am Lernen leiten, wenn Sie so wol-

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Es gab immer wieder Schlüsselfiguren, säkularisierte Schutzengel.Ohne sie säße ich heute wahrscheinlich nicht hier

len also auch durch ihren Wunsch, nochmehr lernen zu dürfen. Aber mehr alsden Weg vorgeben kann ein Wunschnicht. Gehen muss man selbst. Da sindSekundärtugenden gefragt: Arbeit undDisziplin. Ohne die geht jedes Talentverloren. Heute sind Erfolg und Leistungstark entkoppelt. In der Wirtschafts-wunderzeit war das anders – da war es

selbstverständlich, dass man etwas schaf-fen kann, wenn man etwas dafür tut.PH Hilla gehört als ein Kind der 1950erund 1960er Jahre zur ersten Generationvon Frauen, die überhaupt eine Chanceauf profunde Bildung und beruflicheEntwicklung hatten.HAHN Natürlich, und das hat michbeim Schreiben auch oft verstört. DieGroßmutter, die Mutter und die Tantenim Roman, sie alle sind Frauen mitgroßen Talenten, aber sie hatten keineChance, diese zu entwickeln. Und sogarHillas Cousinen, die nur ein Jahrzehntälter sind, blieben im Dorf, und keinerdachte daran, sie auf eine höhere Schu-le zu schicken.PH Wie wichtig war es Ihnen, die Zeit-geschichte mit der Entwicklung der Per-son zu verknüpfen? HAHN Sehr wichtig: Im VerborgenenWort erschließt sich die Zeitgeschichteganz direkt aus den Figuren, aus dem

vom Krieg verbitterten Vater, aus Hillaund ihrem Weg. Im zweiten Band, Auf-bruch, stelle ich die gesellschaftlichenEntwicklungen noch mehr in Extrasze-nen dar. Es gibt zum Beispiel die Passa-ge, wo Tanten, Mutter und Hilla aus demQuellekatalog bestellen. Dort wird greif-bar, wie das Wirtschaftswunder auch diekleinen Leute erreicht und die englische

Sprache immer mehr in die Gesellschafteinsickert. Diese Szenen hatten aber auchnoch eine weitere Funktion: Sie sind wit-zig, heiter. Ich brauchte einen Kontrastzu den vielen schweren Szenen.PH Warum ist Ihnen Humor so wich-tig? HAHN Das Wort lässt ja erst mal anStammtisch denken, aber zu Unrecht.Die Heimstatt des Humors sind die Ver-nunft und der Verstand. Wenn wir et-was verstanden haben und es vernünf-tig betrachten, dann können wir es auchmit Humor sehen. Wenn der Humorfehlt, dann ist entweder nur die Vernunftim Spiel, und wir haben es eigentlichnoch gar nicht verstanden. Oder aber,wir leiden immer noch. In dem Augen-blick, wo wir ein Stück über die Verlet-zung hinaus sind, kommt der Humormit ins Spiel. Und der ist heilsam.PH Entwicklungen passieren also, wennman etwas mit Humor sehen kann?

HAHN Ja, natürlich. Etwas mit Humorsehen heißt, die Dinge aus einer neuenPerspektive zu sehen. ÜberraschendeSichtweisen – danach suche ich. In derSprache, aber auch im Leben.PH Noch einmal zurück zum Roman:Wie beschreiben Sie die EntwicklungenIhrer Figur Hilla? Gibt es da ein Prin-zip? HAHN Auch wenn ich große Lebens-entwicklungen über Jahre und Jahr-zehnte erzähle, interessieren mich dochimmer die Details. Denn: Man erkenntdie großen Entwicklungen an den Klei-nigkeiten. Und es ist das Wesen von Li-teratur, große Entwicklungen an präzi-sen Bildern festzumachen. Sie können jain einem Satz sagen: Hilla ging nachKöln, um zu studieren. Aber: Was heißtdas? – Da fängt das Ausbuchstabierenan. Dass man die Begriffe wieder zu-rückführt in sinnliche Erfahrungen, inBilder.PH Können Sie dafür ein Beispiel ge-ben? HAHN Nehmen Sie das Kind Hilla: Sieist fantasievoll. Aber wie zeigt man das?Ich brauche dafür ein Bild. Also erinne-re ich mich: Aha, da ist eine alte, abge-wetzte Handtasche, mit der Hilla spielt.Für sie ist die Tasche eine Person, sieheißt Frau Peps. Dann kommt der Va-ter, dem das nicht passt, er schmeißt die Tasche ins Feuer, der Großvater ret-tet sie aber im letzten Moment. Eine exis-tenzielle Szene. Einige Zeit später ist dieTasche dann für Hilla nicht mehr wich-tig. Die Heldin hat sich entwickelt, ihreFantasie kann sie jetzt ins Aufschreibenvon Geschichten stecken.PH Sie schreiben nun seit mehr alseinem Jahrzehnt über die Entwicklungeiner einzigen Frau. Was haben Sie da-bei gelernt? HAHN Was mich immer wieder beein-druckt: Wie weit der Weg ist, den wir alle gehen müssen, ehe wir wirklich zuerwachsenen, selbständigen Personenwerden. PH

■ Mit Ulla Hahn sprach Anne Otto

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