8
8. 2A. Integration von Potenzreihen Wie wir schon mehrfach sahen, sind Potenzreihen ein unentbehrliches Werkzeug für viele Berechnungen in der Ingenieurmathematik. Glücklicherweise darf man Potenzreihen nicht nur gliedweise differenzieren, sondern auch integrieren. Es wird stets betont, daß sich beim Differenzieren und Integrieren das Konvergenzverhalten in den Randpunkten verändern kann. Aber gerade die Randpunkte sind häufig diejenigen, für die man sich bei Reihenentwicklungen (z.B. von Logarithmen oder rationalen Vielfachen der Kreiszahl π) interessiert. Also sollten wir über die Situation am Rand mehr Information sammeln. Sehr hilfreich ist hier der nach dem norwegischen Mathematiker Nils Henrik Abel (1802-1829) benannte Abelsche Grenzwertsatz Konvergiert eine reelle Potenzreihe in einem positiven Punkt r, so auch auf dem ganzen Intervall [, 0 r] , und dort stellt sie eine stetige Funktion dar. In der Praxis nutzt man diese Tatsache meist in folgender Form: Man weiß, daß eine stetige Funktion f in einem offenen Intervall durch eine Potenzreihe dargestellt wird. Falls diese auch noch in einem Randpunkt des Intervalls konvergiert, so muß der Grenzwert der Funktionswert von f an dieser Randstelle sein. Mit Hilfe des Abelschen Grenzwertsatzes, auf dessen Beweis wir hier verzichten wollen, zeigt man nun relativ leicht: Jede Potenzreihe läßt sich in ihrem gesamten Konvergenzbereich gliedweise integrieren. Konvergiert also eine Potenzreihe = k 0 a k x k (1) im Intervall I gegen die Funktion ( ) f x , so konvergiert die Reihe = k 0 a k x ( ) + k 1 + k 1 (2) gegen die Stammfunktion ( ) F x von ( ) f x mit = ( ) F 0 0, und beide Reihen haben den gleichen Konvergenzradius. Falls die Reihe (2) darüber hinaus in einem Randpunkt r konvergiert (in dem die Ausgangsreihe (1) nicht zu konvergieren braucht), so ist F durch den Grenzwert an der Stelle r stetig ergänzbar. In Randpunkten des Konvergenzintervalls ist natürlich nur die jeweilige einseitige Ableitung zu betrachten. Daß sich beim Integrieren der Konvergenzbereich allerdings um einzelne Punkte vergrößern kann, zeigen die nächsten zwei Beispiele. Beispiel 1: Die geometrische Reihe und der Logarithmus Aus der nur im offenen Intervall ]-1,1[ konvergenten geometrischen Reihe = 1 + 1 x = n 0 ( ) -x n = - + - 1 x x 2 x 3 ... gewinnt man durch gliedweise Integration die Potenzreihe für den (um 1 verschobenen) natürlichen Logarithmus

8. 2A. Integration von Potenzreihen - IAZDerne/Mathematik2/dateien/maple/MB_8_2A.pdf · Das Exponential-Integral ist mit MAPLE ebenfalls als spezielle Funktion abrufbar. Ei ( )x Will

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: 8. 2A. Integration von Potenzreihen - IAZDerne/Mathematik2/dateien/maple/MB_8_2A.pdf · Das Exponential-Integral ist mit MAPLE ebenfalls als spezielle Funktion abrufbar. Ei ( )x Will

8. 2A. Integration von PotenzreihenWie wir schon mehrfach sahen, sind Potenzreihen ein unentbehrliches Werkzeug für viele Berechnungen in der Ingenieurmathematik. Glücklicherweise darf man Potenzreihen nicht nur gliedweise differenzieren, sondern auch integrieren. Es wird stets betont, daß sich beim Differenzieren und Integrieren das Konvergenzverhalten in den Randpunkten verändern kann. Aber gerade die Randpunkte sind häufig diejenigen, für die man sich bei Reihenentwicklungen (z.B. von Logarithmen oder rationalen Vielfachen der Kreiszahl π) interessiert. Also sollten wir über die Situation am Rand mehr Information sammeln. Sehr hilfreich ist hier der nach dem norwegischen Mathematiker Nils Henrik Abel (1802-1829) benannte

Abelsche Grenzwertsatz Konvergiert eine reelle Potenzreihe in einem positiven Punkt r, so auch auf dem ganzen Intervall [ ,0 r] , und dort stellt sie eine stetige Funktion dar.

In der Praxis nutzt man diese Tatsache meist in folgender Form: Man weiß, daß eine stetige Funktion f in einem offenen Intervall durch eine Potenzreihe dargestellt wird. Falls diese auch noch in einem Randpunkt des Intervalls konvergiert, so muß der Grenzwert der Funktionswert von f an dieser Randstelle sein. Mit Hilfe des Abelschen Grenzwertsatzes, auf dessen Beweis wir hier verzichten wollen, zeigt man nun relativ leicht:

Jede Potenzreihe läßt sich in ihrem gesamten Konvergenzbereich gliedweise integrieren. Konvergiert also eine Potenzreihe

∑ = k 0

ak xk (1)

im Intervall I gegen die Funktion ( )f x , so konvergiert die Reihe

∑ = k 0

ak x( ) + k 1

+ k 1 (2)

gegen die Stammfunktion ( )F x von ( )f x mit = ( )F 0 0, und beide Reihen haben den gleichen Konvergenzradius. Falls die Reihe (2) darüber hinaus in einem Randpunkt r konvergiert (in dem die Ausgangsreihe (1) nicht zu konvergieren braucht), so ist F durch den Grenzwert an der Stelle r stetig ergänzbar. In Randpunkten des Konvergenzintervalls ist natürlich nur die jeweilige einseitige Ableitung zu betrachten. Daß sich beim Integrieren der Konvergenzbereich allerdings um einzelne Punkte vergrößern kann, zeigen die nächsten zwei Beispiele.

Beispiel 1: Die geometrische Reihe und der Logarithmus

Aus der nur im offenen Intervall ]-1,1[ konvergenten geometrischen Reihe

= 1

+ 1 x∑ = n 0

( )−x n = − + − 1 x x2 x3...

gewinnt man durch gliedweise Integration die Potenzreihe für den (um 1 verschobenen) natürlichen Logarithmus

Page 2: 8. 2A. Integration von Potenzreihen - IAZDerne/Mathematik2/dateien/maple/MB_8_2A.pdf · Das Exponential-Integral ist mit MAPLE ebenfalls als spezielle Funktion abrufbar. Ei ( )x Will

= ( )ln + 1 x ∑ = n 0

( )−x( ) + n 1

+ n 1 = −

= n 1

∞( )−x n

n = − + − x

x2

2

x3

3

x4

4 ...

die im Gegensatz zur geometrischen Reihe aufgrund des Leibniz-Kriteriums auch noch im rechten Randpunkt 1 gegen einen endlichen Wert konvergiert:

= ( )ln 2 −

= n 1

∞( )−1 n

n = − + − 1

1

2

1

3

1

4 ...

Im linken Randpunkt -1 entsteht dagegen die negative harmonische Reihe

= n 1

∞1n

n = − − − − 1

1

2

1

3

1

4 ...

welche bekanntermaßen gegen −∞ strebt. Wir zeichnen im Folgenden die jeweilige Stammfunktion und deren Taylor-Approximationen, in einigen Fällen auch die ursprüngliche Funktion und ihre Approximationen.

= ( )f x1

+ x 1

= d⌠⌡ ( )f x x ( )ln + x 1

Page 3: 8. 2A. Integration von Potenzreihen - IAZDerne/Mathematik2/dateien/maple/MB_8_2A.pdf · Das Exponential-Integral ist mit MAPLE ebenfalls als spezielle Funktion abrufbar. Ei ( )x Will

Beispiel 2: Eine Stammfunktion des Logarithmus ist

= d⌠⌡ ( )ln + 1 x x ( ) + 1 x ( ) − ( )ln + 1 x 1 ,

wie man durch Ableiten der rechten Seite sofort bestätigt. Die zugehörige Potenzreihenentwicklung bekommen wir durch gliedweise Integration der Potenzreihe für den Logarithmus:

= d⌠⌡ ( )ln + 1 x x − + 1

= n 1

∞( )−x

( ) + n 1

n ( ) + n 1 = − + − + 1

x2

2

x3

6

x4

12 ...

Die Integrationskonstante -1 haben wir durch Einsetzen von = x 0 in

( ) + 1 x ( ) − ( )ln + 1 x 1

gefunden. Die neue Potenzreihe konvergiert nun sogar in beiden Randpunkten: Daß die Potenzreihe für = x 1 gegen 2 ( ) − ( )ln 2 1 konvergiert, ist ihr sicher nicht anzusehen, folgt aber sofort durch Einsetzen von = x 1 in ( ) + 1 x ( ) − ( )ln + 1 x 1 . Andererseits kann man sehr wohl direkt aus der Reihe ablesen, daß für = x −1 der Grenzwert 0 herauskommt:

− + 1

= n 1

∞1

( ) + n 1

n ( ) + n 1 = − + 1

lim

→ m ∞∑ = n 1

m

1

n

1

+ n 1 =

− + 1

lim

→ m ∞ − 1

1

+ m 1 = 0.

Hingegen muß man die Regel von l'Hospital bemühen, will man diesen Wert durch "Einsetzen" von = x −1 in( ) + 1 x ( ) − ( )ln + 1 x 1 ermitteln:

= lim → +x ( )−1

( ) + 1 x ( ) − ( )ln + 1 x 1 lim → +x ( )−1

− ( )ln + 1 x 1

( ) + 1 x( )−1

=

lim → +x ( )−1

( ) + 1 x( )−1

−( ) + 1 x( )−2

= lim → +x ( )−1

−( ) + 1 x = 0 .

Die Stammfunktion und ihre ersten Taylorpolynome sehen folgendermaßen aus:

= d⌠⌡ ( )ln + x 1 x − − ( )ln + x 1 ( ) + x 1 x 1

Page 4: 8. 2A. Integration von Potenzreihen - IAZDerne/Mathematik2/dateien/maple/MB_8_2A.pdf · Das Exponential-Integral ist mit MAPLE ebenfalls als spezielle Funktion abrufbar. Ei ( )x Will

Anhang: Nicht elementar berechenbare Integrale

In den bisherigen Beispielen war die Integration im Prinzip noch ohne Zuhilfenahme von Potenzreihen möglich. Häufig ist aber die Reihenentwicklung die letzte Rettung, wenn man anderweitig bei der Suche nach Stammfunktionen nicht zum Ziel kommt.

Wir betrachten vier der wichtigsten Spezialfälle. Beispiel 3: Der Integralsinus

ist die durch 0 verlaufende Stammfunktion der in 0 stetig ergänzten Funktion

( )sin x

x .

Mit den Reihenentwicklungen

= ( )sin x ∑ = n 0

∞( )−1 n x

( ) + 2 n 1

!( ) + 2 n 1 und =

( )sin x

x∑ = n 0

∞( )−1 n x

( )2 n

!( ) + 2 n 1

erhalten wird durch gliedweise Integration die Reihenentwicklung des Integralsinus:

= d

( )sin x

xx ∑

= n 0

∞( )−1 n x

( ) + 2 n 1

!( ) + 2 n 1 ( ) + 2 n 1 = − + x

x3

18

x5

600 ...

Diese Reihe konvergiert nahe bei 0 noch erheblich schneller als die für den Sinus!

,d

( )sin x

xx ∑

= n 0

m( )-1 n x

( ) + 2 n 1

!( ) + 2 n 1 ( ) + 2 n 1

Beispiel 4: Das Gaußsche Fehlerintegral

entsteht durch Integration der Glockenkurve e( )−x

2

und ist in der Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik von zentraler Bedeutung.

Page 5: 8. 2A. Integration von Potenzreihen - IAZDerne/Mathematik2/dateien/maple/MB_8_2A.pdf · Das Exponential-Integral ist mit MAPLE ebenfalls als spezielle Funktion abrufbar. Ei ( )x Will

Wegen

= e( )−x

2

∑ = n 0

∞( )−1 n x

( )2 n

!n

ergibt sich

= d⌠

e

( )−x2

x ∑ = n 0

∞( )−1 n x

( ) + 2 n 1

!n ( ) + 2 n 1 = − + x

x3

3

x5

10 - + ...

MAPLE kennt diese Funktion unter der Bezeichnung erf (error function).

,d⌠

e

( )−x2

x ∑ = n 0

m( )-1 n x

( ) + 2 n 1

!n ( ) + 2 n 1

Wie man sieht, ist die Approximation durch die Partialsummen der Potenzreihe innerhalb des Einheitsintervalls ziemlich gut, außerhalb davon aber sehr schlecht. Beispiel 5: Das Exponential-Integral

= ( )Ei x d

ex

xx

gehört ebenfalls nicht zu den elementaren Funktionen. Jedoch besitzt es für alle von 0 verschiedenen x die "partielle Reihenentwicklung"

= ( )Ei x + + C ( )ln x

= n 1

∞xn

!n n ,

wie man durch gliedweise Differentiation bestätigt:

= ( )Ei´ x + 1

x

= n 1

∞x

( ) − n 1

!n = = x

( )−1

= n 0

∞xn

!n

ex

x .

Die Integrationskonstante C wählt man meist so, daß

= lim → x ( )−∞

( )Ei x 0

Page 6: 8. 2A. Integration von Potenzreihen - IAZDerne/Mathematik2/dateien/maple/MB_8_2A.pdf · Das Exponential-Integral ist mit MAPLE ebenfalls als spezielle Funktion abrufbar. Ei ( )x Will

herauskommt. Ohne Beweis sei erwähnt, daß sich bei dieser Wahl die berühmte, nach Leonhard Euler (1707-1783) und Lorenzo Mascheroni (sprich: Maskeroni) (1750-1800) benannte Konstante ergibt, welche den Inhalt der Fläche zwischen den Funktionen 1/x und 1/[x] im Intervall von 1 bis ∞ beschreibt:

= C lim → n ∞

= k 1

n1

k( )ln n = .5772156649...

Das Exponential-Integral ist mit MAPLE ebenfalls als spezielle Funktion abrufbar.

( )Ei x

Will man aus der obigen Darstellung für ( )Ei x eine echte Reihenentwicklung machen, so muß man den Logarithmus an einer Stelle rechts von 0 entwickeln, denn bei 0 hat ( )ln x bekanntlich einen Pol. Am bequemsten ist eine Verschiebung um 1. Die Taylorentwicklung für ( )Ei x im Punkt 1 lautet

= ( )Ei + 1 x − + C

= n 1

∞( )−x n

n

= n 1

∞( ) + 1 x n

!n n =

+ + ( )Ei 1 e

+ − + − + x

x3

6

x4

12

3 x5

40

11 x6

180

53 x7

1008( )O x8

mit

= ( )Ei 1 + C

= n 1

∞1

!n n ,

angenähert auf 10 Stellen:

, , = C 0.5772156649 = ∑ = n 1

∞1

!n n1.317902151 = ( )Ei 1 1.895117816

Page 7: 8. 2A. Integration von Potenzreihen - IAZDerne/Mathematik2/dateien/maple/MB_8_2A.pdf · Das Exponential-Integral ist mit MAPLE ebenfalls als spezielle Funktion abrufbar. Ei ( )x Will

Die Taylorpolynome approximieren die Funktion ( )Ei + 1 x nur zwischen -1 und 1 gut!

Beispiel 6: Der Integrallogarithmus

Während wir den Logarithmus ( )ln x und seine Ableitung 1

x mühelos integrieren konnten, stoßen

wir bei der Funktion

1

( )ln x

mit unseren elementaren Integrationskünsten an Grenzen. Die naheliegende Substitution

= t ( )ln x , = x et , = dx et dt

führt auf

= d

1

( )ln xx

d

et

tt

= t ( )ln x

= ( )Ei ( )ln x .

Eine gute Näherung an diese Funktion (für nicht zu große x > 1) ist

+ x

2( )ln − x 1 .

Wir können 1

( )ln x weder um 0 noch um 1 in eine Potenzreihe entwickeln, weil dort Pole liegen.

Mit viel Fleiß schaffen wir den Anfang der Taylorreihe um den Entwicklungspunkt e:

= d

1

( )ln xx + − + − + − C1 2 x

x2

2 e

( ) − x e 3

2 e2

7 ( ) − x e 4

12 e3

11 ( ) − x e 5

15 e4

347 ( ) − x e 6

360e5 + - ...

Page 8: 8. 2A. Integration von Potenzreihen - IAZDerne/Mathematik2/dateien/maple/MB_8_2A.pdf · Das Exponential-Integral ist mit MAPLE ebenfalls als spezielle Funktion abrufbar. Ei ( )x Will