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9. Der Prozeß des Paulus (21,15–26,32) D ie folgenden Kapitel 21–28 können wir nur noch kursorisch behandeln. Sie schildern zunächst die Gefangennahme des Paulus in Jerusalem (21,15–36). Daran schließt sich der Prozeß des Paulus an; zunächst eine große Verteidigungs- rede in Jerusalem selbst (21,37–22,29), in deren Rahmen zum zweiten Mal die Bekehrung des Paulus geschildert wird. Diesen Text haben wir im Zusammen- hang mit der Auslegung von Kapitel 9 bereits behandelt. Es folgt eine Verhandlung vor dem Synhedrion (22,30–23,11) und die Überführung nach Caesarea ad mare (23,12–35), wo der proconsul Felix die Verhandlung übernimmt. 1 Die Appellati- on an den Kaiser (25,1–12) bringt Paulus nach Rom, was ihn aber nicht daran hindert, in 26,1–23 eine zweite große Verteidigungsrede zu halten. Hier wird die Bekehrung des Paulus zum dritten und letzten Mal erzählt. Jerusalem hat sich seit Kapitel 15 stark verändert. Was sich schon in Kapitel 12 angedeutet hatte, ist nun abgeschlossen: Die Apostel sind völlig von der Bildfläche verschwunden (in Kapitel 15 waren sie, wenn auch nur als ehrwürdige Statisten, immerhin noch anwesend!), und auch von Petrus ist gar keine Rede mehr. Er hat längst endgültig das Weite gesucht 2 und dem Herrnbruder Jakobus das Feld über- lassen. Dieser leitet die Gemeinde unangefochten; welche Rolle die auch hier wie- der erwähnten Ältesten (vgl. 21,18) dabei spielen, ist nicht zu erkennen. Sie sind die einzigen Gemeindefunktionäre, die Lukas hier oder auch sonst (vgl. 14,23) mit ihrem Titel nennt. 1 In 24,27 wird die Amtsübergabe von Felix an Porcius Festus erwähnt, was für die Datierung von Interesse ist. „Porcius Festus trat vermutlich 55/56 sein Amt an“ (Gottfried Schille, S. 436). Schü- rer I 460 dagegen setzt für Felix 52–60 an (mit einem Fragezeichen hinter der 60!). Eine Diskussion der verschiedenen Datierungen findet sich bei Schürer I 465f. in Anm. 42. Harnack hatte demzufolge für die frühe Datierung 54/56 plädiert. Schürer hält hingegen das Jahr 60 für das wahrscheinlichste (vgl. die dort angegebene Literatur). 2 Lukas verrät uns leider gar nichts über die weiteren Schicksale des Apostelfürsten; Paulus er- wähnt Gal 2, daß Petrus nach Antiochien am Orontes gekommen war. Dem 1. Korintherbrief kön- nen wir entnehmen, daß er auch in Korinth gewesen ist. Die spätere Tradition (vgl. den 1. Cle- mensbrief) läßt ihn auch nach Rom gelangen. Wie Paulus ist er oenbar in Rom den Märtyrertod gestorben.

9. Der Prozeß des Paulus (21,15–26,32) - Die … · 2013-12-12 · ie folgenden Kapitel 21–28 können wir nur noch kursorisch behandeln. Sie ... S. 89. 15 Heute kann ich das

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  • 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    Die folgenden Kapitel 2128 knnen wir nur noch kursorisch behandeln. Sieschildern zunchst die Gefangennahme des Paulus in Jerusalem (21,1536).Daran schliet sich der Proze des Paulus an; zunchst eine groe Verteidigungs-rede in Jerusalem selbst (21,3722,29), in deren Rahmen zum zweiten Mal dieBekehrung des Paulus geschildert wird. Diesen Text haben wir im Zusammen-hang mit der Auslegung von Kapitel 9 bereits behandelt. Es folgt eine Verhandlungvor dem Synhedrion (22,3023,11) und die berfhrung nach Caesarea ad mare(23,1235), wo der proconsul Felix die Verhandlung bernimmt.1 Die Appellati-on an den Kaiser (25,112) bringt Paulus nach Rom, was ihn aber nicht daranhindert, in 26,123 eine zweite groe Verteidigungsrede zu halten. Hier wird dieBekehrung des Paulus zum dritten und letzten Mal erzhlt.

    Jerusalem hat sich seit Kapitel 15 stark verndert. Was sich schon in Kapitel 12angedeutet hatte, ist nun abgeschlossen: Die Apostel sind vllig von der Bildflcheverschwunden (in Kapitel 15 waren sie, wenn auch nur als ehrwrdige Statisten,immerhin noch anwesend!), und auch von Petrus ist gar keine Rede mehr. Er hatlngst endgltig das Weite gesucht2 und dem Herrnbruder Jakobus das Feld ber-lassen. Dieser leitet die Gemeinde unangefochten; welche Rolle die auch hier wie-der erwhnten ltesten (vgl. 21,18) dabei spielen, ist nicht zu erkennen. Sie sinddie einzigen Gemeindefunktionre, die Lukas hier oder auch sonst (vgl. 14,23) mitihrem Titel nennt.

    1 In 24,27 wird die Amtsbergabe von Felix an Porcius Festus erwhnt, was fr die Datierungvon Interesse ist. Porcius Festus trat vermutlich 55/56 sein Amt an (Gottfried Schille, S. 436). Sch-rer I 460 dagegen setzt fr Felix 5260 an (mit einem Fragezeichen hinter der 60!). Eine Diskussionder verschiedenen Datierungen findet sich bei Schrer I 465f. in Anm. 42. Harnack hatte demzufolgefr die frhe Datierung 54/56 pldiert. Schrer hlt hingegen das Jahr 60 fr das wahrscheinlichste(vgl. die dort angegebene Literatur).

    2 Lukas verrt uns leider gar nichts ber die weiteren Schicksale des Apostelfrsten; Paulus er-whnt Gal 2, da Petrus nach Antiochien am Orontes gekommen war. Dem 1. Korintherbrief kn-nen wir entnehmen, da er auch in Korinth gewesen ist. Die sptere Tradition (vgl. den 1. Cle-mensbrief ) lt ihn auch nach Rom gelangen. Wie Paulus ist er offenbar in Rom den Mrtyrertodgestorben.

  • 436 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    Das Verhltnis des Paulus zur Gemeinde in Jerusalem ist gespannt. The wel-come Paul receives in 21.1825 is, even in Lukes narrative, lukewarm, and fromthat point onwards there is not a word to suggest that the church in Jerusalem andthe church in Caesarea had any interest in Pauls fate.3

    a) Zum rmischen Brgerrecht des Paulus

    Wir waren schon in Philippi mit dem rmischen Brgerrecht des Paulus kon-frontiert worden (16,37), ohne da wir uns dort im einzelnen damit aus-einandergesetzt htten. Wir hatten uns in Kapitel 16 lediglich darber gewundert,da sich Paulus erst sehr spt auf sein Brgerrecht berufen hatte; umso erstaunli-cher, eine wie durchschlagende Wirkung dies nach sich gezogen hatte. Eine hnlichspektakulre Szene (21,2229) wird uns auch hier in Jerusalem begegnen, mit dementscheidenden Unterschied freilich, da Paulus diesmal sein Brgerrecht vor derGeielung ins Spiel bringt. Da diese Frage nach dem rmischen Brgerrecht desPaulus fr den folgenden Proze an verschiedenen Stellen von Bedeutung ist, be-handle ich sie hier vorab.4

    Einleitung zum rmischen Brgerrecht

    Die erste Volkszhlung, von der die rmische Geschichte wei, wollte Romu-lus selbst einst durchfhren. Zu diesem Zweck hatte er auf dem Marsfeld diewehrfhige Mannschaft versammelt Frauen sah man damals offenbar noch nichtals zhlfhig an. Diese Volkszhlung jedoch war zum Scheitern verurteilt. Die Ge-schichte endet nicht mit einem statistischen Ergebnis, sondern mit der Himmel-fahrt des Romulus, die alles andere als unwesentlich erscheinen lt.5

    Zielfhrender so nennt man das heute6 war da schon das Unternehmen desKaisers Claudius. Unter dem Konsulat des Aulus Vitellius und des Lucius Vipsta-

    3 C. K. Barrett II, S. XL (in der Einleitung).4 Die folgenden Ausfhrungen sind die gekrzte Fassung eines Vortrags, den ich zu Beginn des

    Wintersemesters 2004/2005 in Erlangen gehalten habe. Dieser Vortrag Zum rmischen Brgerrechtdes Paulus steht unter der berschrift: Einer der 5 984 072? und wird demnchst im zweiten Bandmeiner gesammelten Aufstze erscheinen.

    5 Livius I 16,18; vgl. dazu Peter Pilhofer: Livius, Lukas und Lukian: Drei Himmelfahrten, in:ders.: Die frhen Christen und ihre Welt. Greifswalder Aufstze 19962001. Mit Beitrgen vonJens Brstinghaus und Eva Ebel, WUNT 145, Tbingen 2002, S. 166182; zur Himmelfahrt desRomulus aus der Feder des Livius, S. 167171; Text und bersetzung S. 179f.

    6 Noch im Duden des Jahres 2000 sucht man vergeblich nach diesem schnen neuen Wort(Duden. Die deutsche Rechtschreibung, 22., vllig neu bearbeitet und erweiterte Auflage. Heraus-gegeben von der Dudenredaktion. Auf der Grundlage der neuen amtlichen [sic!] Rechtschreibregeln,Mannheim 2000, S. 1093).

  • a) Zum rmischen Brgerrecht des Paulus 437

    nus d. i. das Jahr 48 n. Chr., Paulus macht sich grade zu seiner zweiten Missi-onsreise auf , so berichtet Tacitus in seinen Annalen, schlo der Kaiser Claudiusseine Ttigkeit als Zensor ab.7 Die Volkszhlung ergab insgesamt 5 984 072 rmi-sche Brger, wie Tacitus eigens vermerkt: condiditque lustrum quo censa sunt civiumquniquagies novies centa octoginta quattuor milia septuaginta duo.8 Die Frage, derich heute nachgehen mchte, lautet: War Paulus einer von diesen 5 984 072 rmi-schen Brgern, wurde der Vlkerapostel also von dem census des Kaisers Claudiuserfat?

    (1) Zur bisherigen Forschung

    Die Frage nach dem rmischen Brgerrecht des Paulus ist in den letzten Jahrenwieder intensiver diskutiert worden. Ich stelle exemplarisch zwei Arbeitenvor: Die aktuellste stammt aus der Feder von Wilfried Nippel und ist vor einigenJahren erschienen.9

    Nippel beruft sich auf Theodor Mommsen und Eduard Meyer und stellt fest,da in der althistorischen Forschung der historische Quellenwert der Apostelge-schichte sowohl fr die Bedeutung des rmischen Brgerrechts wie fr die Ent-wicklung des Urchristentums im allgemeinen nicht in Frage gestellt worden ist10

    und stellt diesem idyllischen Befund sogleich Teile der theologischen Literaturgegenber, die erhebliche Zweifel daran hat, die Apostelgeschichte . . . als hi-storische Quelle in Anspruch nehmen zu knnen.11 Dem fgt er sogleich hinzu:Aus althistorischer Sicht erscheint dies, bedenkt man die Problematik der literari-schen berlieferung, auf die man sich generell sttzen mu, als eine Hyperkritikals Folge einer einseitig redaktions- und traditionsgeschichtlichen bzw. tendenzkri-tischen Betrachtungsweise.12 Videant consules! kann man da nur rufen. Doch ganzso schlimm ist es Nippel zufolge auch in der von ihm so genannten theologischenLiteratur dann doch nicht. Beruhigenderweise erfahren wir sogleich: Allerdingswird auch in der theologischen Literatur das Brgerrecht des Paulus nur vereinzeltbezweifelt andernfalls mte man konsequenterweise die historische Verwertbar-

    7 Zum Konsulatsjahr vgl. Tacitus: Ann XI 23 (A. Vitellio L. Vipstano consulibus . . . ); zur zensori-schen Ttigkeit des Claudius XI 25.

    8 Tacitus: Ann XI 25 fin.9 Wilfried Nippel: Der Apostel Paulus ein Jude als rmischer Brger, in: Sinn (in) der Antike.

    Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, hg. v. Karl Joachim Hlkeskamp,Jrn Rsen, Elke Stein-Hlkeskamp und Heinrich Theodor Grtter, Mainz 2003, S. 357374.

    10 Wilfried Nippel, S. 357.11 Ebd.12 Wilfried Nippel, S. 357f.

  • 438 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    keit jedenfalls des zweiten Teils der Apostelgeschichte . . . verwerfen, der wesentlichauf der Annahme des rmischen Brgerrechts des Paulus basiert.13

    Das Kind mit dem Bade ausschtten dies ist eine aus meiner Sicht fast noch zumilde Bewertung dieses Verfahrens. Da sollte der Autor statt seiner Theo-dor Mommsen und Eduard Meyer doch lieber gleich W. M. Ramsay als Gewhrs-mann anfhren, der einst die These vertrat: You may press the words of Luke ina degree beyond any other historians and they stand the keenest scrutiny and thehardest treatment, provided always that the critic knows the subject and does notgo beyond the limits of science and of justice.14 Die Kehrseite der Medaille istRamsays geradezu aberwitzige Behauptung, wenn das kleinste Detail beim Histo-riker Lukas falsch sei, sei das gesamte lukanische Werk nichts mehr wert.15 Dasist um im Bilde zu bleiben nicht mehr, was man als das Kind mit dem Badeausschtten bezeichnet, das gleicht eher dem, was Harnack einst das Kind aus-schtten und das Bad behalten nannte.16 Eine ernstzunehmende Argumentationliegt insoweit weder bei Ramsay noch bei Nippel vor.

    Nippel zieht zur Behandlung seines Themas ausschlielich die Apostelgeschichteheran und kommt zu dem Ergebnis: Die Darstellung der Apostelgeschichte zumSchicksal des Paulus gibt insgesamt ein realistisches Bild von der Schutzfunktiondes rmischen Brgerrechts und macht zugleich deutlich, warum der Apostel be-sondere Grnde hatte, von diesem Privileg nur im Notfall Gebrauch zu machen.17

    Die zweite Arbeit, die ich Ihnen hier kurz vorstellen mchte, stammt aus derFeder von Karl Leo Noethlichs und kommt zu einem ganz andern Schlu.18 ImUnterschied zu Nippel geht Noethlichs nicht nur auf die Apostelgeschichte ein,sondern zieht daneben auch die Briefe des Paulus in Betracht.19 In bezug auf dasrmische Brgerrecht seien seine goldnen Worte die man diesem Beitrag gerade-zu als Motto htte voranstellen knnen zitiert: Es gibt kein Zeugnis und keinEreignis, das die Mglichkeit des rmischen Brgerrechts fr Paulus absolut un-

    13 Wilfried Nippel, S. 358.14 W. M. Ramsay: The Bearing of Recent Discovery on the Trustworthiness of the New Testa-

    ment, The James Sprunt Lectures delivered at Union Theological Seminary in Virginia, London/NewYork/Toronto 1915, S. 89.

    15 Heute kann ich das Buch leider nicht finden (20. Oktober 2004, 22.10 Uhr) aber der Beleglt sich leicht auftreiben, sobald das Buch zur Hand ist.

    16 Den Beleg aus Harnack mu man noch nachtragen!17 Wilfried Nippel, S. 371.18 Karl Leo Noethlichs: Der Jude Paulus ein Tarser und Rmer?, in: Raban von Haehling [Hg.]:

    Rom und das himmlische Jerusalem. Die frhen Christen zwischen Anpassung und Ablehnung,Darmstadt 2000, S. 5384.

    19 Vgl. seine Bemerkungen zur Quellenlage auf S. 57: Die einzigen Quellen zur Person desPaulus bis zum Ende des 1. Jh sind seine Briefe und die Apg.

  • a) Zum rmischen Brgerrecht des Paulus 439

    mglich machen wrde; es gibt aber auch kein Ereignis, was nur unter der Prmissediese Brgerrechts verstndlich wre. Die Antwort auf die Fage kann also nur imBereich von Wahrscheinlichkeit und Plausibilitt gesucht werden.20

    Ich lasse die Diskussion des tarsischen Brgerrechts bei Noethlichs hier beisei-te und zitiere nur sein Ergebnis bezglich des rmischen Brgerrechts des Paulus:Eine Reihe von Einzelargumenten, die auf den ersten Blick gegen die Mglichkeiteines rmischen Brgerrechts bei Paulus sprechen, hat sich als nicht stichhaltigoder als ambivalent erwiesen. Daraus folgt allerdings umgekehrt nicht, da Pau-lus wirklich ein civis Romanus war. Die Wahrscheinlichkeit schon auf Grund desquantitativ bis heute vorliegenden Befundes ber kleinasiatisch-syrische Juden mitrmischem Brgerrecht spricht insgesamt eher dagegen. In einer Zeit, in der ge-rade das syrisch-palstinensische und alexandrinische Judentum einen permanen-ten politisch-militrischen Unruhefaktor darstellte, htte es schon eines besondernAnlasses bedurft, da die von Geburt jdische Familie sptestens etwa um ChristiGeburt die civitas Romana (durch Freilassung oder Verleihung, kaum durch Kauf)erhielt, worber sich bei Paulus selbst keinerlei Anzeichen finden.21

    Daraus ergibt sich: Man kann nur weiterkommen, wenn man die beiden bisherkaum oder gar nicht bercksichtigten Quellen bercksichtigt: Kilikien und seineMetropole Tarsos einerseits, die Briefe des Paulus andrerseits. Ich gehe daher imfolgenden so vor, da ich in einem zweiten Schritt zunchst Kilikien diskutiere, umdann in einem dritten Schritt anhand des Philipperbriefs exemplarisch die Briefedes Paulus in die Diskussion einzufhren.

    (2) Paulus aus Kilikien ein rmischer Brger?

    Bevor wir den jungen Apostel durch die Gassen von Tarsos begleiten, mssenwir einen Blick auf das Land Kilikien werfen, dessen Hauptstadt Tarsos ist.Kilikien liegt in der Levante, ganz im Osten des Mittelmeers, gegenber der InselZypern. Zeitweise war Kilikien rmische Provinz mit Tarsos als Hauptstadt.22

    20 Karl Leo Noethlichs, S. 80.21 Karl Leo Noethlichs, S. 83f.22 Im folgenden benutze ich immer wieder die Arbeit von Susanne Pilhofer: Romanisierung in

    Kilikien? Das Zeugnis der Inschriften, Quellen und Forschungen zur Antiken Welt 46, Mnchen2006. Aus dieser Arbeit sind hier von besonderem Interesse die Kapitel III und V:

    Kapitel III behandelt die Prolegomena zu Kilikien wie folgt:

    1. Zur Geographie und Geschichte Kilikiens

    2. Quellen dieser Arbeit

    3. Piraten und Banditen Die literarische Quellen

    In Kapitel V geht es dann um die Bewohner Kilikiens.

  • 440 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    Von besonderer Bedeutung ist die Beschreibung Kilikiens bei dem GeographenDias zu Kilikien:Tarsos siehe 39

    Diokaisareia:689e/2004689f/2004689k/2004689l/2004

    689n/2004692a/2004708/2004712/2004713/2004722/2004723/2004724/2004

    Adamkayalar:732/2004735/2004737/2004743/2004Korykos:748/2004753/2004754/2004756/2004767/2004771/2004772/2004773/2004776/2004774/2004777/2004Selinous:

    558/2004524/2004523/2004531/2004541/2004507/2004509/2004

    -

    Strabon, da sie die Situation des Landes zur Zeit des Paulus widerspiegelt. DieLandschaft Kilikien an der Sdostkste der heutigen Trkei wird schon bei Stra-bon beschrieben. Von Interesse ist vor allem die Einleitung23:

    Abb. 1: Kilikien und die angrenzenden Gebiete24

    23 Strabon XIV 5,1. Ich zitiere mit CD-ROM TLG #E den griechischen Text nach: Strabo:Geographica, hg. v. August Meineke (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubne-riana), Band III, Leipzig 1913. Die bersetzung entnehme ich aus: The Geography of Strabo, hg.u. bersetzt v. Horace Leonard Jones (The Loeb Classical Library), Band VI, London/Cambridge(Massachusetts) 1960, 327. Die neue Strabon-Ausgabe von Radt ist mittlerweile zwar bei Buch XIVangelangt, und dieser Band steht auch in meinem Regal, doch fehlt es mir heute an der Zeit, dasfolgende entsprechend umzustellen . . . [28. Januar 2008]

    24 Nicholas G. L. Hammond: Atlas of the Greek and Roman World in Antiquity, Park Ridge, NewJersey 1981, Karte 27: The Eastern Provinces, Scale 1 : 5,000,000, by R. P. Harper.

    Hinweis: Die oben wiedergegebene Abbildung 33 ist nur ein Ausschnitt aus der im Ham-mond schen Atlas gedruckten Karte von R. P. Harper.

  • a) Zum rmischen Brgerrecht des Paulus 441

    As for Cilicia outside the Taurus, one part of it is called Tracheia and the other

    Pedias. , As for Tracheia, its coast is narrow and has no level ground, or scarcely any;, and, besides that, it lies at the foot of the Taurus, which affords a poor live- lihood as far as its northern side in the region of Isaura and of the Homonadeis as far as Pisidia; and the same country ist also called Tracheiotis, and its inhabitants Trachei-

    otae. But Cilicia Pedias extends from Soli and , Tarsus as far as Issus, and also to those parts beyond which, on the northern side of the Taurus, Cappadocians are

    situated; for this country consists for the most . part of plains and fertile land.25

    Wir knnen das an der Karte nachvollziehen: Im Sden wird Kilikien vom Meerbegrenzt, im Norden von dem imposanten Taurusgebirge. Im westlichen Teil Kili-kiens dem Rauhen Kilikien reicht das Gebirge bis fast ans Meer. Im stlichenTeil Kilikiens haben wir dagegen eine weite Ebene; hier liegt auch Tarsos.

    25 Strabon nennt anschlieend folgende Orte und Flsse als zu Kilikien gehrig: Korakesion (XIV5,2), Arsinoe [hier wird ein Fehler angenommen, eigentlich handle es sich um Sydrie, Syedra oderAuneses, vgl. Jones, Kommentar z.St., 330f.], Hamaxia, Laertes, Selinous Stadt und Flu , Kragos,Charadrous, Anemourion, Nagidos, Arsinoe, Melania, Kelenderis (alle XIV 5,3), Holmoi, den FluKalykadnos, Zephyrion, Seleukeia (XIV 5,4), ein weiteres Anemourion, die Insel Krambousa, Ko-rykos, den Flu Pikron Hydor (XIV 5,5), die Insel Elaioussa, den Flu Lamos (XIV 5,6), Olympos Berg und Festung (XIV 5,7), Soloi bzw. Pompeiopolis als Grenzstadt zwischen beiden Kilikien(XIV 5,8), ein weiteres Zephyrion, Anchiale (XIV 5,9), die Festung Kyinda, Olba, den Flu Kydnos(XIV 5,10), Tarsos (XIV 5,1215), den Flu Pyramos, Mallos (XIV 5,16), die Aleion-Ebene (XIV5,17), Aigaiai, Amanikai Pylai (XIV 5,18), Issos, den Flu Pinaros, den Golf von Issos mit Rhosos,Myriandros, Alexandreia, Nikopolis, Mopsouhestia, und den Pa ber das Amanos-Gebirge, der dieGrenze zu Syrien bildet (XIV 5,19). Seleukeia am Orontes ist dann bereits in Syrien (XIV 5,20 b).

    Die ganze Passage habe ich aus der eingereichten Fassung von Susanne Pilhofer, a. a. O., S. 26bernommen. Die Anmerkungen zu der Passage sind gekrzt; das ich, das da spricht, ist SusannePilhofer. In der Buchfassung hat sie den Test und die bersetzung im Gegensatz zu mir bereits aufdie Ausgabe Radts (vgl. dazu oben Anm. 23) umgestellt . . . Das Buch ist im brigen auch im Netzunter www.kilikien.de verfgbar.

  • 442 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    Nach dem Land, das sie bewohnen, heien die Menschen dort Kilikier. Aus r-mischer Perspektive erscheinen die Kilikier als ziemlich hinterwldlerisch. Wennein Rmer Kilikier hrt, dann assoziiert er sogleich Bandit oder Pirat. Aus-fhrlich berichtet Plutarch ber die kilikischen Seeruber zur Zeit der rmischenBrgerkriege. Die Kilikier seien so dreist gewesen, Inseln und Kstenstdte anzu-greifen, ja sogar bis tief ins Landesinnere vorzudringen, und reiche und vornehmeMnner htten sich ihnen angeschlossen, um Ruhm zu ernten und am piratischenLotterleben mit Gesang und Trinkgelagen teilzuhaben. ber tausend Schiffe ht-ten die Piraten gehabt, und mehr als vierhundert Stdte seien in ihrer Gewalt ge-wesen. Besonders frech htten sie sich an Rmern vergriffen, viele berhmte Leuteentfhrt und mit ihnen ihre makabren Scherze getrieben, darunter zwei Prtorenund die Tochter des lteren Marcus Antonius, der 102 v. Chr. zur Bekmpfung derSeeruber ausgesandt worden war.26

    Als Marcus Tullius Cicero die Statthalterschaft in der Provinz Kilikien zufiel, warer entsetzt. Einem Freund schrieb er damals es war der 10. Mai 51 v. Chr.: Meineinziger Trost in dieser entsetzlichen Kalamitt, das darfst Du mir schon glauben,ist wirklich nur die Hoffnung, da sie nicht lnger als ein Jahr dauert.27

    Wenn man die rmischen und griechischen Quellen zu Kilikien durchmustert,kommt man zu dem Ergebnis, da Kilikier in rmischen Quellen fast nur als Pi-raten und Wegelagerer auftauchen. Dabei lt sich eine Entwicklung feststellen:Whrend griechische Historiker wie Arrian in dieser Hinsicht unbefangen von denAufstndischen in Kilikien wie anderswo berichten, hat sich bei Cicero, Tacitusund Plutarch bereits ein fester Topos herausgebildet: Wo immer es um Kilikierging, mute Piraten oder Banditen die erste Assoziation sein.28 Ein kaiserzeit-licher Autor wie Pausanias scheint das stillschweigend vorauszusetzen.2930

    Noch immer interpretieren viele Exegeten Paulus aus jdischer Perspektive. Die-se Interpretation hat ihre Berechtigung; doch sie ist einseitig und bedarf der Ergn-zung. Dies hat W. M. Ramsay schon vor 100 Jahren gefordert: But, if we first

    26 Plut. Pompeius XXIV. Vom Kampf des Pompeius gegen die kilikischen Piraten wird in denfolgenden Kapiteln XXVXXVIII berichtet.

    Die zitierte Passage samt dem Plutarch-Nachweis aus Susanne Pilhofer, a. a. O., S. 26.27 Cic. Att. V 2, 3 [10. Mai 51]: noli putare mihi aliam consolationem esse huius ingentis molestiae,

    nisi quod spero non longiorem annua fore. bersetzung aus: Cicero: Atticus-Briefe, Lateinisch unddeutsch, hg. u. bersetzt v. Helmut Kasten, Mnchen 1959, S. 295.

    Die Angst, lnger als geplant in Kilikien bleiben zu mssen, kommt noch mehrfach zum Ausdruck(Cic. Att. V 15,1; 18,1; 20,7; 21,3 und VI 2,6; fam. II 7,4; III 7,9).

    Die Materialsammlung bei Susanne Pilhofer, a. a. O., S. 2730.28 Vgl. entsprechende Beobachtungen bei N 1980, 178.29 Paus. V 21,10.30 Susanne Pilhofer, a. a. O., S. 3132.

  • a) Zum rmischen Brgerrecht des Paulus 443

    familiarise ourselves with the society in which Paul grew up, in which he spentmost of his life, and for which he in his mature years felt that he was specially suit-ed, and if we approach him from that side, we shall feel everywhere in his work thespirit of the Tarsian Hellene.31

    Es kommt also darauf an, nicht nur den jdischen, sondern auch den griechi-schen Hintergrund des Paulus in den Blick zu nehmen. Wir folgen damit denHinweisen, die Paulus selbst uns gibt, wenn er sagt: Ich bin ein Schuldner vonGriechen und Barbaren, von Weisen und Unverstndigen.32 Daher ist die Fragenach der Herkunft des Paulus aus Tarsos schon deswegen genauer in den Blickzu nehmen, um auf diese Weise Paulus selbst und seine Briefe besser verstehen zuknnen.

    Stadt mit Fluhafen so liest man in dem Artikel im Neuen Pauly imWesten der Kilikia Pedias am Unterlauf des Kydnos, h.[eute] Tarsus. T.[arsos] lagan der Fernstrae von Antiocheia . . . durch die . . . Kilikischen Tore . . . an diekleinasiatischen Westkste, nach Konstantinopolis sowie an den Pontos Euxeinos(Schwarzes Meer) bei Amisos.33

    Dieser harmlose Befund ist fr die Heimatstadt des Paulus von grundlegenderBedeutung: Er stammt nicht aus einem abgelegenen Winkel der alten Welt soerscheint uns Heutigen Kilikien ganz flschlicherweise , sondern einer Metropole,die an einem internationalen Verkehrsweg gelegen war.

    Tarsos ist die Metropole Kilikiens. Tarsos liegt im ebenen Kilikien wir ha-ben uns vorhin mit dieser Region schon etwas vertraut gemacht. Die militrischenAnlagen in dieser Gegend haben zu Beginn des Jahres 2003 eine nicht unbedeu-tende Rolle gespielt, bevor der Krieg im Irak vom Zaun gebrochen wurde und dieamerikanischen Aufmarschplne in dieser Region an allen Stammtischen diskutiertwurden.

    Uns interessiert nun besonders die Stadt Tarsos im 1. Jahrhundert.34 Schon inder spten Phase der rmischen Republik war Tarsos eine libera civitas geworden,

    31 W. M. Ramsay: The Cities of St. Paul. Their Influence on his Life and Thought. The Cities ofEastern Asia Minor, London 1907, S. 89.

    32 Im Original lautet Rm 1,14: , - .

    33 Friedrich Hild: Art. Tarsos, DNP 12/1 (2002), Sp. 3738; hier Sp. 37.34 Die archologische Erforschung steckt noch in den Kinderschuhen. Neue Einsichten verspre-

    chen die Grabungen von L. Zoroglu von der Seluk Universitt (Konya). Vgl. seinen Bericht: Exca-vations at Antiocheia-on-the-Cydnus (Tarsus), in: Actes du Ier Congrs International sur Antiochede Pisidie, hg. v. Thomas Drew-Bear, Mehmet Taslalan und Christine M. Thomas, Collection Ar-chologie et Histoire de lAntiquit 5, Lyon/Paris 2002, S. 417422: Our excavations at RepublicSquare are still continuing. We believe that the remains which will come to light here will providenew information about the times of the Apostle Paul and about his home city (S. 420).

  • 444 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    ein Privileg, das der Kaiser Augustus erneuerte. Das bedeutete, da Tarsos whilecontinuing to be part of the Empire, i.e. of the Province, . . . was governed accord-ing to its own laws and not by Roman law along with the right to duty-free exportand import trade.35 Zudem war Tarsos die Hauptstadt der Provinz Cilicia. Damitist die Bedeutung der Stadt im ersten Jahrhundert umrissen: Kein Provinznest,sondern so etwas wie ein regionales Zentrum.

    Wenn wir mehr Zeit htten, wrden wir noch auf die geistige Situation in Tarsosnher eingehen. So beschrnke ich mich auf ein Zitat aus der Arbeit von MartinHengel: Strabo[n] schliet seine Lobeshymne auf Tarsus mit dem Hinweis, dadie Stadt alle Arten von Schlern der rhetorischen Knste besessen habe, und eswre an sich vorstellbar, da der junge Saul dort schon sehr frh die griechischeMuttersprache auch fr den literarischen Gebrauch . . . grndlich zu beherrschengelernt hat . . . .36 D. h. Paulus war seiner Prgung nach ein Grieche das ist frseinen weiteren Weg ganz wichtig! Das unterscheidet ihn von der Mehrzahl derJnger Jesu; es verschafft ihm einen eindeutigen Vorteil, was die knftige Ausbrei-tung des Evangeliums angeht.

    An dieser Stelle mssen wir uns dann auch klarmachen, was die Herkunft ausTarsos fr das Judentum des Paulus bedeutet: Stammt Paulus wirklich aus Tarsos,dann ist er ein Jude der Diaspora. Dann drfen wir beispielsweise nicht anneh-men, da er Aramisch oder gar Hebrisch beherrscht hat. Seine Muttersprachewar dann das Griechische, und seine Bibel hat er demzufolge auf Griechisch gele-sen.37 D. h. konkret: Paulus hat das von uns so genannte Alte Testament nicht inForm der Hebraica kennengelernt, sondern in Form der griechischen bersetzung,der sogenannten Septuaginta. Und die berprfung des Schriftgebrauchs des Pau-lus besttigt diese Folgerung voll und ganz.38 D. h. diese sehr spezielle philologi-sche Untersuchung der alttestamentlichen Zitate und Anspielungen in den Briefendes Paulus Dietrich-Alex Koch hat diese Untersuchung minutis durchgefhrt besttigt auf ihre Weise die historischen Angaben des Lukas, wonach Paulus einJude aus der Diaspora gewesen ist. Damit ist zwar die Herkunft konkret aus Tarsosnoch nicht gesichert; zieht man jedoch in Betracht, da Lukas eine solche Angabeschwerlich erfindet, so kann man sie als wahrscheinlich zutreffend einstufen.

    35 W. M. Ramsay, a. a. O., S. 197.36 Martin Hengel: Der vorchristliche Paulus, in: Paulus und das antike Judentum, WUNT 58,

    Tbingen 1991, S. 117293; hier S. 185f.37 Vgl. zum Problem Dietrich-Alex Koch: Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen

    zur Verwendung und zum Verstndnis der Schrift bei Paulus, BHTh 69, Tbingen 1986, S. 2; 78;u. .

    38 Vgl. die Studie von Dietrich-Alex Koch, ebd.

  • a) Zum rmischen Brgerrecht des Paulus 445

    Kindheit und Jugend des Paulus sind also von grundlegender Bedeutung frseine knftige Mission: Erstens sprachlich: Mit seiner Muttersprache Griechischkonnte der Apostel sieht man einmal von Spanien ab berall das Evangeliumverkndigen. Zweitens kulturell: Als Grieche aus der Metropole Tarsos hat er einenganz andern Horizont als ein Fischer vom See Genezareth.39 Drittens religis: AlsDiasporajude ist Paulus fr seine weiten Reisen geradezu prdestiniert!

    Freilich bedeutet das alles noch keineswegs, da Paulus das rmische Brgerrechtbesessen hat. Die zitierte Studie von Susanne Pilhofer ber die Romanisierung Kili-kiens listet im Anhang fr ganz Kilikien 178 rmische Brger auf, die tria nominaaufweisen, und weitere 82 Brger, die kein praenomen nennen.40 Die genanntenListen, die insgesamt 260 rmische Brger benennen, beziehn sich auf die Zeitvor 212 n. Chr. Bedenkt man die Gre Kilikiens, so ist dies eine verschwindendgeringe Zahl. Allein die rmische Kolonie Philippi weist in demselben Zeitraumdeutlich mehr rmische Brger auf!

    Befragt man die Listen nach rmischen Brgern aus dem ersten Jahrhundertunserer Zeitrechnung, so reduziert sich die Zahl auf ungefhr 105. Von dieseneinhundertfnf rmischen Brgern, die mglicherweise dem ersten Jahrhundertzuzuordnen sind, lassen sich ganze drei mit Sicherheit der ersten Hlfte diese Jahr-hunderts also der Zeit des Paulus zuordnen. Wer dem Paulus ein rmisches Br-gerrecht zuschreiben wollte, knnte ihn als Nr. 4 in diese Liste aufnehmen. Dieserscheint extrem unwahrscheinlich, noch unwahrscheinlicher jedoch, wenn manbercksichtigt, da es sich im Fall des Paulus um eine jdische Familie handelt.So zahlreich jdische Grber in den Nekropolen Kilikiens auch vertreten sind eine jdische Familie aus der ersten Hlfte des ersten Jahrhunderts mit rmischemBrgerrecht vermochte ich bislang nicht nachzuweisen!

    (3) Die paulinischen Briefe und das rmische Brgerrecht des Paulus

    Im abschlieenden dritten Schritt wollen wir uns nun der primren Quelle, denpaulinischen Briefen selbst, zuwenden. Leider ist es so, da Paulus sich in seinenBriefen weder zu seiner Herkunft aus Tarsos noch zu seinem etwaigen rmischenBrgerrecht uert. Trotzdem ist es sinnvoll, die Frage nach dem rmischen Br-

    39 Das ist natrlich ein Klischee, dieser Fischer vom See, fehlt es in Galila doch durchaus nichtan griechischen Stdten. Jedoch ist zu bedenken: Jesus hat den Evangelien zufolge keine diesergriechischen Stdte betreten, Sepphoris nicht und Tiberias auch nicht. Insofern steckt in dem Kli-schee doch ein zutreffender Sachverhalt. Sodann: Diese Stdte rund um den See sind natrlich nichtmit der Metropole Tarsos zu vergleichen. Ich halte daher an dem oben im Text Gesagten mutatismutandis fest.

    40 Susanne Pilhofer, a. a. O., S. 175210 (die Liste A) sowie S. 211225 (die Liste B).

  • 446 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    gerrecht auch in den Zusammenhang des paulinischen Selbstzeugnisses zu stellen.Es geht darum, zu prfen, ob die Briefe des Paulus eher zu einem rmischen Br-gerrecht passen oder nicht.

    Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang der Philipperbrief, inDas himmlischeBrgerrecht in Phil 3,20 dem Paulus ausdrcklich auf ein Brgerrecht zu sprechen kommt. Dieser Stelle

    wollen wir uns nun zuerst zuwenden. Es handelt sich um Phil 3,20. Da heites: Unser Brgerrecht ist im Himmel, von wo wir auch unsern Retter erwarten,den Herrn Jesus Christus.41 Nun ist hier nicht von dem rmischen, sondern vondem himmlischen Brgerrecht die Rede. Beide stehen jedoch in einem sehr engenZusammenhang, wie wir sogleich sehen werden.

    Dazu mssen wir als erstes den Status der Stadt Philippi in Betracht ziehen,der Stadt also, in der die Gemeinde beheimatet ist, an die Paulus diesen Briefschreibt. Philippi ist nmlich das haben wir bei der Auslegung von Kapitel 16gesehen42 keine normale griechische Stadt wie etwa Thessaloniki oder Athen,sondern Philippi ist eine rmische Kolonie (worauf Lukas in der Apostelgeschich-te ganz besonderen Wert legt, wie wir festgestellt haben: Wir brachen aber vonTroas auf und fuhren direkt nach Samothrake, am nchsten Tag dann nach Nea-polis und von dort nach Philippi, einer Stadt im ersten Bezirk Makedoniens, einerKolonie, heit es Apg 16,1112a43). In Philippi spielt aus diesem Grund das r-mische Brgerrecht eine besondere Rolle, weil es mit dem Brgerrecht der Stadtzusammenfllt. Wer Brgerrecht in Philippi hat, ist in die Brgerliste Voltinia inRom eingeschrieben, also zugleich Brger von Philippi und rmischer Brger. DieChristinnen und Christen in Philippi sind daher sehr viel intensiver mit der Fragedes rmischen Brgerrechts konfrontiert als Christinnen und Christen anderswo.Fr sie mu das rmische Brgerrecht ganz besonders erstrebenswert erscheinen.Sie mchten es gern haben, knnen es aber nur mit sehr groen Schwierigkeitenerreichen.

    41 Die Stelle lautet im Original: , - . Zur Interpretation der Stelle vgl. den einschlgigenAbschnitt in Philippi I (S. 127134).

    42 Vgl. dazu oben S. 343367.43 Im Original: , -

    , , , .

    Zum textkritischen Problem, das dieser Vers stellt, vgl. den Hinweis oben S. 344, Anm. 4. Bei derbersetzung auf S. 244 ist irrtmlicherweise das am nchsten Tag dann nach Neapolis weggelassenworden.

  • a) Zum rmischen Brgerrecht des Paulus 447

    Zweitens mssen wir die Situation des Absenders Paulus und seiner Adressa-ten den Christinnen und Christen in Philippi bercksichtigen. Die Situationdes Paulus ist vor allem dadurch gekennzeichnet, da Paulus im Gefngnis sitzt.Darber berichtet er der Gemeinde in Philippi ausfhrlich gleich zu Beginn seinesBriefes (Phil 1,1226). In keinem andern Brief wird die persnliche Situation desPaulus so eingehend geschildert wie in diesem Abschnitt. Aber nicht nur Paulusselbst sitzt im Gefngnis, sondern auch Christinnen und Christen in Philippi, wiewir sogleich im nchsten Abschnitt erfahren (Phil 1,2730), wo Paulus am Schlufolgende Formulierung gebraucht: Ihr habt denselben Kampf, den ihr an mir ge-sehen habt [als ich bei euch in Philippi war] und nun von mir [aus dem Gefngnisvermutlich in Ephesos] hrt.44

    Es handelt sich also um einen Brief aus dem Gefngnis (vermutlich in Ephe-sos) in das Gefngnis (in Philippi) mindestens einige Glieder der Gemeinde inPhilippi sind in derselben Lage wie Paulus. Die Situation ist also auf beiden Sei-ten sehr ungemtlich, fr Paulus ist sie sogar bedrohlich. Wir wissen nicht, unterwelcher Anklage die Gemeindeglieder in Philippi stehen, doch eins ist klar: Ht-ten sie das rmische Brgerrecht, so ginge es ihnen wesentlich besser! Denn geradein einer solchen Situation hat das rmische Brgerrecht unschtzbaren Wert. Mankann geradezu von einem Zweiklassensystem sprechen, was das rmische Rechtangeht. Ein Provinzbewohner, ein sogenannter peregrinus, wird nicht nur rascherins Gefngnis geworfen und gegeielt, sondern auch ohne weiteres hingerichtet.Das kann einem rmischen Brger nicht passieren. Er geniet eine viel bessereBehandlung und kann vor allem nicht einfach hingerichtet werden. Zwei Genera-tionen spter verfhrt der jngere Plinius, Statthalter von Bithynien und Pontus,so, da er diejenigen Christen, die zugeben, Christen zu sein, kurzerhand hinrich-ten lt es sei denn, sie haben das rmische Brgerrecht. Die Christen, die dasrmische Brgerrecht besitzen, lt Plinius nicht hinrichten, sondern er berstelltsie nach Rom zur weiteren Behandlung ihres Falls.45

    Mit diesem Hintergrund kehren wir nun zu der Aussage in Phil 3,20 zurck:Unser Brgerrecht ist im Himmel, von wo wir auch unsern Retter erwarten, denHerrn Jesus Christus. Man kann sich gut vorstellen, da dieses himmlische Br-gerrecht der Gemeinde in Philippi als sehr erstrebenswert erscheint, gerade wenn

    44 Im Original lautet Phil 1,30: .

    45 Vgl. den berhmten Christenbrief, Plinius: Epistulae X 96, wo es in 34 heit: interrogaviipsos an essent Christiani. confitentes iterum ac tertio interrogavi supplicium minatus: perseverantes duciiussi. neque enim dubitabam, qualecumque esset quod faterentur, pertinaciam certe et inflexibilem obsti-nationem debere puniri. fuerunt alii similis amentiae, quos, quia cives Romani erant, adnotavi in urbemremittendos. Mit dem quia cives Romani erant ist der Fall fr Plinius erledigt!

  • 448 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    die Menschen dort nicht im Besitz des rmischen Brgerrechts sind. Das himm-lische Brgerrecht ersetzt ihnen das rmische Brgerrecht geradezu. Nimmt manhinzu, da die Christinnen und Christen von der bald eintretenden Parusie ber-zeugt waren, dann sieht man, wie real und greifbar ihnen das himmlische Brger-recht erscheinen konnte. Paulus redet aus der Sicht der Christinnen und Christenin Philippi hier nicht von einer spirituellen Gre was immer das sein mag ,sondern von einer sehr realen. Die Gemeinde ist berzeugt, ihr himmlisches Br-gerrecht in Krze anzutreten.

    Und nun stellen wir uns die Frage: Kann es sein, da der Absender Paulus sichhinsichtlich des rmischen Brgerrechts von seinen Adressaten unterscheidet? Istes denkbar, da Paulus das rmische Brgerrecht zwar selbst besitzt und intensivnutzt die Philipper hingegen im Regen stehen gelassen werden? Ist es vorstellbar,da Paulus die Philipper auf ein himmlisches und erst knftig nutzbares Brger-recht vertrstet, selbst aber sich dem Statthalter der Asia gegenber auf sein rmi-sches Brgerrecht beruft?

    Die Fragen sind natrlich rhetorisch. Um die Glaubwrdigkeit des Paulus stn-de es schlecht, wenn er als privilegierter rmischer Brger so an die Gemeinde inPhilippi schriebe, wie er es tut. Gerade der Abschnitt Phil 1,2730 zielt daraufab, die hnlichkeit der Situation hben und drben herauszustreichen. Gliederder Gemeinde in Philippi sitzen im Gefngnis wie Paulus frher und wie Pau-lus jetzt wieder. Schon hier wre die Argumentation unterminiert, wenn Paulusals rmischer Brger einse, die Philipper aber nicht. Mit der Solidaritt ist esnicht weit her, wenn ein mit dem rmischen Brgerrecht bevorzugter Paulus andie Habenichtse in Philippi schreibt.46 Ich komme daher zu dem Ergebnis, da eswahrscheinlicher ist, da Paulus das rmische Brgerrecht nicht besessen hat.

    * * *

    Zusammenfassend ergibt sich: 1. Die Behauptung des Lukas, Paulus sei einZusammenfassung rmischer Brger gewesen, fgt sich gut in dessen apologetische Tendenzenein. Sie bereitet jedoch im Einzelfall Schwierigkeiten, wie wir in Kapitel 16 gesehenhaben, wo Paulus sich zu spt auf sein Brgerrecht beruft.

    2. Die Herkunft des Paulus aus der kilikischen Diaspora spricht gegen ein rmi-sches Brgerrecht. In der uns interessierenden Zeit der ersten Hlfte des erstenJahrhunderts gibt es nirgendwo in Kilikien eine substantielle Zahl von rmischenBrgern.

    46 Vgl. im einzelnen Phlippi I, S. 135152.

  • b) Die Ankunft in Jerusalem (21,1526) 449

    3. Die paulinischen Briefe selbst sprechen gegen ein rmisches Brgerrecht desPaulus, wie wir am Beispiel des Philipperbriefs gesehen haben. (Weiteres Materialaus den andern Briefen knnen wir aus Zeitgrnden hier nicht besprechen.)

    b) Die Ankunft in Jerusalem (21,1526)

    Nach diesen grundstzlichen berlegungen kehren wir zum Verlauf des Ge-schehens zurck. Paulus und seine Delegation treffen 15 in Jerusalem ein,begleitet auch von den Jngern aus Caesarea 16. Die Tatsache, da Lukas 17 da-von spricht, man sei (asme.nos) begrt worden von den Brdern, kanndie Differenzen nicht recht verdecken.47

    Die Situation der Urgemeinde hat sich das kann auch Lukas nicht verber-gen radikal gendert. Von den ersten Kapiteln unseres Buches bis zu Kapitel 15assoziierten wir mit Jerusalem vor allem die Apostel. Diese sind nun vllig vonder Bildflche verschwunden. Nach 16,4 (einem Rckverweis auf das sogenannteAposteldekret in Kapitel 15) begegnet nicht einmal mehr der Begriff (apo. stolos). Wir haben in Kapitel 12 von der Hinrichtung des Zebedaiden Jako-bus erfahren, und da Petrus das Weite gesucht hat, legte sich auch damals schonnahe. Aber wo sind die brigen Zehn geblieben? Lukas verrt uns darber nichts.In unserem Text wird 18 der Herrenbruder Jakobus erwhnt und die - (presby. teroi) alle andern Protagonisten sind in Jerusalem von der Bhneverschwunden.

    Merkwrdigerweise begibt sich Paulus samt seiner Delegation erst am zweitenTag 18 zum Leiter der Gemeinde, zum Herrenbruder Jakobus. Diesem und denPresbytern wird 19 Bericht erstattet; von einer Kollekte ist auch in diesem Zusam-menhang in der Apostelgeschichte keine Rede.48 Die Tatsache, da Lukas von derKollekte nichts wei, macht es so gut wie unmglich, ihn selbst als einen Reisebe-gleiter des Paulus zu sehen.

    Die Reaktion der Gemeinde in Jerusalem auf den Bericht der Delegation 19 lei-tet eine unerwartete Wendung des Geschehens ein. Gerd Theien hat in bezug aufdiese Ereignisse in einem Erlanger Vortrag eine sehr interessante These vertreten.Er sagt: Zweimal hat Paulus Gemeinden in eine Katastrophe hineingerissen, dieGemeinde in Jerusalem und die Gemeinde in Rom gewiss gegen seinen Willenund aufgrund einer Verkettung unglcklicher Umstnde, aber niemals ganz zufl-

    47 Fr geben Bauer/Aland, Sp. 233 die bersetzung gerne, freudig; das Wort begegnetim Neuen Testament sonst nur noch in einer varia lectio zu Apg 2,41.

    48 Zum Problem der Kollekte fr Jerusalem vgl. oben S. 424425.

  • 450 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    lig. Denn diesen Gemeinden wurde nicht ein Missverstndnis zum Verhngnis,sondern Auswirkungen des Zentrums seiner Botschaft.49

    Die historische Situation stellt sich Theien so dar: Im Rmerbrief kndigtPaulus seine Reise nach Jerusalem und dann nach Rom an (Rm 15,2529). Erfrchtet, in Jerusalem durch Anfeindungen nichtchristlicher Juden ums Leben zukommen. Er rechnet ferner damit, dass ihn die dortige christliche Gemeinde nurmit Vorbehalt empfangen wird. Denn er ist unsicher, ob seine Kollekte bei ihr will-kommen ist, obwohl er mit ihr ein altes Versprechen erfllt (Rm 15,3032).50

    Was den Bericht der Apostelgeschichte selbst angeht, sttzt sich Theien aufden oben erwhnten Aufsatz aus der Feder von Dietrich-Alex Koch: Die Apostel-geschichte erzhlt aus der Perspektive Dritter von jener Reise des Paulus nach Je-rusalem vielleicht aufgrund eines Rechenschaftsberichts der Kollektenmission,sicher aber aufgrund zustzlicher Traditionen, die nicht nur Fiktion sind.51

    Was zunchst die chronologische Folge angeht, so rekonstruiert Theien sie fol-gendermaen: Paulus kam etwa 58 n. Chr. nach Jerusalem, wurde dort inhaftiert,erlebte als Inhaftierter den Wechsel vom Prokurator Felix zu Festus (59 n. Chr.)und wurde dann aufgrund einer Appellation an den Kaiser (wahrscheinlich noch59/60 n. Chr.) nach Rom geschickt. Die Verfolgung der Jerusalemer Gemeindeereignete sich 62 n. Chr. ca. zwei bis drei Jahre, nachdem Paulus in Jerusalem Auf-sehen erregt hatte.52

    Zu unserm Abschnitt schreibt Theien: Jakobus und die ltesten der Gemein-de konfrontieren ihn [Paulus] mit dem Gercht, er wrde in der Diaspora unterJuden den Abfall von Mose lehren. [Dies geschieht in 21.] Er lehre, sie solltenihre Kinder nicht mehr beschneiden und sich von mosaischen Traditionen abwen-den . . . . Das war falsch. Paulus lehrte, dass sich Heidenchristen nicht beschnei-den lassen mussten, ja, dass sie es nicht einmal durften! Ersteres war Ergebnis desApostelkonzils, letzteres die durch das Apostelkonzil nicht gedeckte Deutung desPaulus. Er hat aber nicht auf Juden oder Judenchristen eingewirkt, um sie von derBeschneidung ihrer Kinder abzuhalten. Denkbar ist jedoch, dass unter seinem Ein-

    49 Gerd Theien: Paulus der Unglcksstifter. Paulus und die Verfolgung der Gemeinden inJerusalem und Rom, in: Biographie und Persnlichkeit des Paulus, WUNT 187, Tbingen 2005,S. 228244; hier S. 228.

    50 Gerd Theien, a. a. O., S. 229.51 Gerd Theien, a. a. O., S. 230. Vgl. zu der These von Dietrich-Alex Koch oben S. 424426

    mit Anm. 6 (gemeint ist: Dietrich-Alex Koch: Kollektenbericht, Wir-Bericht und Itinerar. Neue (?)berlegungen zu einem alten Problem, NTS 45 (1999), S. 367390).

    Theien verweist im brigen (Anm. 2) auf die seines Erachtens grndliche Untersuchung vonHeike Omerzu: Der Proze des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung derApostelgeschichte, BZNW 115, Berlin 2002.

    52 Gerd Theien, a. a. O., S. 230.

  • c) Die Festnahme des Paulus (21,2736) 451

    fluss Judenchristen ihre Kinder nicht mehr beschneiden lieen. Vorstellbar ist, dassihm eine grundstzliche Gesetzeskritik zugeschrieben wurde. Die Vertreter der Je-rusalemer Gemeinde schlagen ihm deshalb als vertrauensbildende Manahme vor:Um seine Gesetzestreue zu demonstrieren, soll er sich reinigen und die Kosten frdie Auslsung von Nasiratsgelbden bernehmen.53

    Damit kommen wir zur zweiten Szene in Jerusalem, der Verhaftung des Paulus,die den Anfang seines Prozesses vor dem Statthalter in Caesarea bildet.

    c) Die Festnahme des Paulus (21,2736)

    Juden aus der Asia sind es 27, die den Ansto fr die folgenden Ereignisse ge-ben. Diese sehen den Paulus im Tempel und schreien 28: Ihr Mnner! Israe-liten! Hilfe! Dieser ist der Mensch, der gegen das Volk und gegen das Gesetz undgegen diesen Ort alle berall lehrt! Noch dazu hat er auch Griechen in den Tempelgebracht und diesen heiligen Ort verunreinigt.

    Trophimos, der uns aus der Liste in 20,4 bekannte Mitreisende des Paulus, istder Unglcksrabe 29; ihn haben die Juden erkannt. Nun sind sie der Meinung,Paulus habe den Trophimos nicht nur aus Ephesos mitgebracht, sondern ihn auchin den Tempel mitgenommen. Interessant sind Theiens berlegungen dazu: Andem Gercht, er wolle einen Heiden in den Tempel bringen, ist Paulus nicht un-schuldig. Kurz vorher hatte er im Rmerbrief im Zusammenhang mit seinen Rei-seplnen nach Jerusalem geschrieben, dass er seinen Dienst als Priesterdienst verste-he, damit die Heiden ein Opfer werden, das Gott wohlgefllig ist (Rm 15,16).Wo anders kann man Menschen Gott als Opfer-Gabe darbringen als im Tempel!Wo anders als dort knnen Priester ihr Amt ausfhren! Paulus mochte das allesmetaphorisch gemeint haben. Aber man konnte seine Aussage auch so verstehen,dass er Heiden in den Tempel bringen wollte. Missverstndlich ist das von ihmoffenbarte Geheimnis, dass Israel teilweise verstockt sei, bis dass die Flle derHeiden hineingehen werde (Rm 11,25). Man fragt sich: Wo sollen die Heidendenn hineingehen? Etwa in den Tempel? Andere Christen haben damals ganz offendavon getrumt, dass der Tempel eine Gebetssttte fr alle Heiden werden soll eine Hoffnung aus Jes 56,7, die in Mk 11,17 zitiert wird. Sie hofften auf dessenffnung fr fremde Vlker. Man kann daher die Angst strenger Juden verstehen,Paulus und die Christen wollten den Tempel fr Heiden ffnen. Dieses Gerchtdrfte Paulus vorausgeeilt sein.54

    53 Gerd Theien, a. a. O., S. 231232.54 Gerd Theien, a. a. O., S. 232.

  • 452 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    Der Tumult 30 bleibt dem Chiliarchen nicht verborgen 31, und dieser ergreiftdie Initiative 32 und verhindert die Hinrichtung55 des Paulus.

    An dieser Stelle ist eine Bemerkung zum historischen Hintergrund notwendig:Bei der Verfolgung der Apostel Jakobus und Petrus in Kapitel 12 war uns Agrip-Die politische Situation in

    Palstina nach dem Tod desAgrippa I.

    pa I. als derjenige begegnet, der in Jerusalem das Sagen hatte. Dieser regierte alsKnig ab 37 nach Christus, aber nicht in Jerusalem. Dort war er erst ab dem Jahr41 n. Chr zustndig.56 Durch dieses Datum bietet sich fr den Tod des Jakobus dieMglichkeit einer Datierung: Dieser mu zwischen den Jahren 41 und 44 n. Chr.anzusetzen sein. Falls der Zusammenhang mit dem Tod des Agrippa I., den Lu-kas in Kapitel 12 herstellt, historisch zutreffend sein sollte, sind die Ereignisse ausKapitel 12 in das Jahr 44 n. Chr. kurz vor den Tod des Agrippa I. zu datieren.Nach dem Tod des Knigs wurde nicht etwa sein Sohn vom Kaiser Claudius zumNachfolger ernannt, sondern Juda wurde wieder direkt rmischer Verwaltung un-terstellt. Seit 44 wechselten sich in Jerusalem bzw. Caesarea die Prokuratoren wie-der ab (zwei dieser Prokuratoren begegnen wir in den folgenden Kapiteln noch,dem Festus und dem Felix). Dies hatte zur Folge, da wieder rmische Truppenim Land waren; eine Kohorte unter einem Chiliarchen greift hier in Jerusalem nunin das Geschehen ein.

    55 Ein Teilnehmer der Vorlesung im Winter 2004/2005 bemngelt den Begriff Hinrichtung,der an einen rechtsfrmigen Akt denken lasse, und schlgt stattdessen das Lynchen vor.

    56 Zu Agrippa I. vgl. die Informationen bei Emil Schrer: The history of the Jewish people inthe age of Jesus Christ (175 B.C. A.D. 135), A new English version revised and edited by GezaVermes, Fergus Millar, Matthew Black, Martin Goodman, Band I, Edinburgh 1973, S. 442454: 18. Agrippa I A.D. 37, 40, 4144.

    The New Testament (Acts 12) names him simply Herod. In Josephus and on the coins, however,he is always called Agrippa. An inscription from Athens . . . reveals that his name was Iulius Agrippa,and from the praenomen of his son it is virtually certain that his father too had as his full Romanname, M. Iulius Agrippa. (Schrer I 442, Anm. 1.)

    Das erste von Schrer genannte Regierungsjahr kommt nicht in Frage, da der Knig Agrippaerstens dieses Jahr in Rom zubrachte und zweitens die Ernennung durch Caligula nicht Jerusalembetraf; daher konnte er im Jahr 37 noch nicht wie von Apg 12 vorausgesetzt in Jerusalem ttigwerden (vgl. die bersicht bei Schrer I 444). Auch das Jahr 40 kommt nicht in Frage; zwar wurdedamals auch das frhere Herrschaftsgebiet des Herodes Antipas dem Agrippa zugeschlagen (SchrerI 445), aber noch immer nicht Jerusalem. Erst nach dem Tod des Caligula bekam Agrippa durchden von ihm protegierten neuen Kaiser Claudius im Jahr 41 auch Juda und Samaria hinzu. DieEreignisse, die uns hier interessieren, knnen daher nicht vor dieses Jahr 41 datiert werden.

    Fraglich bleibt ein Zusammenhang unserer Ereignisse mit dem Tod des Agrippa im Jahr 44 (Apg12,1923 und Josephus: Antiquitates XIX 343352, vgl. Schrer I 453). Gegebenenfalls wren dieEreignisse aus Kapitel 12 dann ins Jahr 44 zu datieren.

  • d) Die erste Verteidigungsrede des Paulus (21,3722,22) 453

    Anders als beim Proze Jesu sind es also von vornherein die Rmer, die denDelinquenten in Gewahrsam nehmen. Der Chiliarch lt den Paulus verhaftenund versucht 3336, ihn aus der Gefahrenzone zu bringen. Hier ergibt sich dieeine oder andere Analogie zum Proze Jesu, auf die ich hier aber nicht im einzelneneingehen kann.

    d) Die erste Verteidigungsrede des Paulus (21,3722,22)

    Paulus spricht den Chiliarchen 37 direkt an und fragt ihn, ob er nicht zum Volksprechen drfe.57 ber die Griechischkenntnisse des Paulus ist der Offizier38 hchlichst erstaunt (Sie mgen daraus ersehen, in wie vielen Lebenslagen dieKenntnis des Griechischen von unmittelbarem Nutzen ist . . . ), hatte er den Paulus39 doch flschlich fr einen gyptischen Terroristen gehalten.58 Paulus antwortetauf diese falsche Vermutung: Ich bin ein jdischer Mensch, aus Tarsos in Kilikien,Brger einer nicht unbedeutenden Stadt. Hier haben wir in gewisser Hinsicht eineParallele zu der Geschichte aus Philippi, wo Paulus sein rmisches Brgerrecht erstzu spt zur Geltung bringt. In Jerusalem liegen die Dinge insofern anders, als er hierzunchst sein tarsisches Brgerrecht geltend macht, spter dann aber eben nichtzu spt auch sein rmisches (vgl. 22,25).59 Der Chiliarch erteilt die Erlaubnis40, und so kann Paulus zu seiner groen Rede ansetzen.

    57 Zur Situation vgl. etwa die Darstellung bei Alfred Wikenhauser: Die Apostelgeschichte und ihrGeschichtswert, NTA 8,35, Mnster 1921, S. 314ff.: In Jerusalem lag in der Knigsburg Antoniaeine stndige schwache Besatzung, die whrend der Festzeiten bedeutend verstrkt wurde. Josephus,BJ V 5, 8, berichtet darber: Wo sie (die Antonia) an die Tempelhallen grenzte, fhrte je eineTreppe in diese hinunter, auf welcher die Wachmannschaften der stets in der Antonia liegendenrmischen Abteilung () herabstiegen, um, in den Hallen verteilt, an Festtagen das Volk zuberwachen, damit es keine aufrhrerischen Bewegungen anstelle. Bei Josephus . . . heit der Be-fehlshaber . Mit diesen Angaben stimmt die Apg aufs beste berein und ergnzt sie inverschiedenen Punkten. Nach ihr lag eine Kohorte mit einem Chiliarchen zur Zeit der VerhaftungP[au]li hie er Klaudius Lysias (23,26) auf der Antonia . . . . Dieser Kohorten-Tribun, der in derApg durchweg als der Hchstkommandierende erscheint . . . , war also jedenfalls mit dem - des Josephus identisch. Ganz der Angabe des Josephus, da von der Antonia zwei Treppen aufden Tempelplatz fhrten, entspricht Apg 21,35 und 21,40 .

    58 Der gypter fhrt zu hnlichen Schwierigkeiten wie die in 5,36 und 5,37 genannten Theudasund Judas, vgl. dazu Alfred Wikenhauser, S. 321f. wo auch die Zeugnisse des Josephus in Bellum II261263 und Antiquitates XX 169172 in deutscher bersetzung angefhrt werden.

    59 Zum tarsischen Brgerrecht des Paulus das meistens berhaupt nicht diskutiert wird, ob-gleich es nicht weniger problematisch ist als das rmische , vgl. den Aufsatz von Karl Leo Noethlichs:Der Jude Paulus ein Tarser und Rmer?, in: Raban von Haehling [Hg.]: Rom und das himmlischeJerusalem. Die frhen Christen zwischen Anpassung und Ablehnung, Darmstadt 2000, S. 5384.

  • 454 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    Wir haben diese Rede schon im Zusammenhang der Interpretation des Kapi-tels 9 gewrdigt, jedenfalls insofern sie die Bekehrung des Paulus ein zweites Malerzhlt. Ich darf Sie an dieser Stelle daher darauf zurckverweisen.60 Ich erinnerenoch einmal an den Begriff (apologi.a), den Paulus in 22,1 gebraucht.Eine Verteidigungsrede hlt Paulus hier vor den Juden in Jerusalem. Damit istnicht ausgeschlossen, da Lukas mit dieser Rede auf ein weit greres Publikumzielt. Alle Juden sind hier im Blick, nicht nur die damaligen Juden in Jerusalem.

    Diese Beobachtung wird verstrkt durch die zweimalige Betonung der Tatsache,da Paulus seine Rede (te. Hebrai.di diale. kto) hlt (21,40 und22,2). Diese Notiz erhlt umso mehr Gewicht, als der Chiliarch kurz zuvor sichber die griechischen Sprachkenntnisse des Paulus gar nicht genug hatte wundernknnen. Als die jdische Menge 2 bemerkt, da Paulus sie in ihrer eigenen Spracheanspricht, kehrt Ruhe ein. Damit kann der Redner seine Ausfhrungen beginnen.

    e) Die Reaktionen auf die Rede (22,2230)

    An der passenden Stelle wir erinnern uns an Antiochien und Athen wirdPaulus unterbrochen. Der Tumult ist nach der Rede 22f. mindestens so growie vor der Rede, und so versucht der Chiliarch 24, Paulus nun endgltig aus demVerkehr zu ziehen. Zugleich ordnet er eine Geielung an. Diesmal aber reklamiertPaulus 25 sein rmisches Brgerrecht zur rechten Zeit: Ist es euch erlaubt sofragt er den Hauptmann , einen rmischen Brger ohne Urteil zu geieln? Da-mit erzielt er einen vollen Erfolg: Der Hauptmann eilt 26 zu dem Chiliarchos, umdem von der unerwarteten Wendung zu berichten. Der macht sich 27 persnlichauf, um den Gefangenen nach seinem rmischen Brgerrecht zu befragen, nur um28 festzustellen, da dieser sein Brgerrecht von Geburt an besitzt, er es jedoch frteures Geld hat erwerben mssen.

    So kann von einer Geielung natrlich gar keine Rede mehr sein; vielmehr er-hlt Paulus die Mglichkeit, am folgenden Tag vor dem Synhedrion eine zweiteVerteidigungsrede zu halten.

    60 Zur Bekehrung des Paulus siehe oben S. 161178; speziell zu dieser Version aus Kapitel 22vgl. S. 172-173.

  • f) Die zweite Verteidigungsrede des Paulus (23,111) 455

    f) Die zweite Verteidigungsrede des Paulus (23,111)

    Es ist umstritten, ob das Verhr des Paulus vor dem Synhedrium eine Einzelanek-dote mit historischem Kern oder eine rein lukanische Erfindung ist (Apg 22,3023,11). Das Verhr umfasst zwei Episoden, die jeweils durch eine Rede des Pauluseingeleitet werden. In der ersten betont Paulus sein gutes Gewissen gegenber Gott(23,1) und provoziert dadurch, dass der Hohepriester Ananias ihn schlagen lsst.In der zweiten bekennt er sich als Phariser zur Hoffnung auf die Auferstehung(23,6) und spaltet dadurch Sadduzer und Phariser im Synhedrium. Knnten inbeiden Teilszenen historische Elemente enthalten sein? Oder finden wir hier, wieso oft, eine Mischung aus historischen und unhistorischen Elementen?61

    Ich kann die Diskussion Theiens hier nicht in aller Breite referieren; ich bringedaher nur sein Ergebnis: Es sei aber betont: Der Bericht enthlt viele historischeUngereimtheiten: Konnte ein rmischer Brger vor ein jdisches Gericht gestelltwerden? Hatte ein rmischer Beamter die Mglichkeit das Synhedrium einzube-rufen? Konnten Heiden bei einer Synhedriumssitzung im Tempel anwesend sein?Oder befinden wir uns gar nicht im Tempel? Direkt wird das nicht gesagt. Da-zu kommen kleinere Schwierigkeiten: Konnte Paulus als Angeklagter ohne Auf-forderung reden? Musste Paulus nicht aufgrund der Sitzordnung erschlieen, werals Hohepriester den Vorsitz hatte? Bei all diesen Schwierigkeiten muss man beden-ken: Soll man ihretwegen diesen Bericht Lukas zutrauen? Htte die freischaffendePhantasie des Lukas nicht fr mehr bereinstimmung mit dem Wahrscheinlichengesorgt? Htte sie nicht eine Erzhlung geschaffen, die mehr in den Gesamtverlaufseiner Darstellung integriert ist? Wenn es sich um ideale Szenen handelt, in dieErinnerungen an das Vorgehen gegen Paulus hineingewebt wurden, knnte mansie historisch durchaus auswerten.62

    Die historische Auswertung, die Theien vorschlgt, geschieht nun in der Wei-se, da er annimmt, da Paulus in dem Konflikt mit dem Hohenpriester Ananiasdie Jerusalemer Gemeinde dauerhaft in Mikredit gebracht hat. Die Hinrichtungdes Herrenbruders Jakobus und etlicher Mitchristen63 durch eben diesen Hohen-

    61 Gerd Theien, a. a. O., S. 233.62 Gerd Theien, a. a. O., S. 235.63 Diese Ereignisse werden von Lukas in der Apostelgeschichte nicht berichtet. Wir sind daher

    auf andere Quellen angewiesen. In Frage kommen vor allem Josephus und Hegesipp, dessen Berichtbei Euseb zitiert wird; die Texte finden sich bei Josephus: Antiquitates XX 200202 und bei Euseb:Kirchengeschichte II 23,319.

    Beide Texte sind im Original sowie in deutscher bersetzung bequem zugnglich unter www.die-apostelgeschichte.de; zur Interpretation kann man dort unter Seminar die Protokolle der 13.und der 14. Sitzung konsultieren.

  • 456 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    priester wenige Jahre spter ist nach Theien eine Folge dieses Konflikts. Endeder 50er Jahre gert Paulus wegen vermeintlichen Gesetzesbruchs in Jerusalem insGerede und wird verhaftet. Wenige Zeit spter werden Judenchristen in Jerusalemals vermeintliche Gesetzesbrecher hingerichtet. Zwischen beiden Ereignissen drf-te ein geschichtlicher Zusammenhang bestehen. Das Auftreten des im Judentumumstrittenen Paulus in Jerusalem hat die Gemter erregt und die Jerusalemer Ge-meinde in Mitleidenschaft gezogen.64 Paulus war fr die Jerusalemer Gemeinde einUnglcksstifter.65 Es ist nicht unsere Aufgabe, diese neue Interpretation Theiensan dieser Stelle abschlieend zu bewerten. Ich wollte Sie nur darauf aufmerksammachen, damit Sie wenn Sie mgen auf den Aufsatz Theiens zurckkommenknnen.

    Abschlieend wird 10f. wieder ein Traum zur Strkung des Paulus erzhlt; wirhaben einen vergleichbaren Traum schon im Kapitel ber Korinth besprochen, undso mag es gengen, wenn ich Sie hier daran erinnere.66

    g) Der Neffe des Paulus deckt eine Verschwrung auf(23,1222)

    Sie werden sich vielleicht ber diese berschrift wundern, aber sie hat ihr Recht:Der Protagonist dieses Abschnitts ist ein Neffe des Paulus, der diesem das Lebenrettet. Denn eine Gruppe von Juden hat es auf das Leben des Paulus abgesehen.Mehr als 40 Mnner sind es 13, die 12 schwren, nichts mehr zu essen oder zutrinken, bevor sie den Paulus umgebracht htten.

    Der Neffe des Paulus rettet diesen vor dem Anschlag. Da Paulus also eineSchwester hatte, erfahren wir hier so nebenbei. Zwar wissen wir nichts von sei-nen Geschwistern und seiner brigen Familie aber eine Schwester mu er gehabthaben. Ob sie wie ihr Sohn in Jerusalem lebt, knnen wir nicht wissen. Der Nef-fe lebt offenbar hier und tritt jetzt in Aktion. Er ist es, der den Paulus vor demAnschlag warnt. Daraufhin wird der Neffe des Paulus von dem Chiliarchen selbst

    64 Einen etwas anderen Zusammenhang zwischen dem Auftreten des Paulus in Jerusalem und derVerfolgung der dortigen Gemeinde sieht Euseb, KG II 23,1: Da Paulus an den Kaiser appelliert hatteund von Festus nach Rom geschickt worden war, sahen sich die Juden um das Ziel, das sie durch ihrVorgehen gegen Paulus zu erreichen hofften, betrogen. Sie wandten sich daher gegen Jakobus, denBruder des Herrn, welchem von den Aposteln der bischfliche Stuhl in Jerusalem anvertraut wordenwar.

    65 Gerd Theien, a. a. O., Manuskript S. 238; auch die vorige Anmerkung ist von Theien ber-nommen: S. 238, Anm 21.

    66 Zu Apg 18,911 vgl. oben die Auslegung S. 399401 und die Interpretation in der dort inAnm, 34 zitierten Zulassungsarbeit von Holger Ibisch z. St.

  • g) Der Neffe des Paulus deckt eine Verschwrung auf (23,1222) 457

    empfangen; er informiert ihn in einem Vieraugengesprch wie man das heu-te wohl nennen wrde67 ber den Mordplan. Der Chiliarch ist alarmiert undbeschliet, Paulus nach Caesarea zum Statthalter zu schicken. Zu diesem Zweckwerden nicht weniger als 200 Soldaten, 70 Reiter und 200 Leichtbewaffnete auf-geboten, die dem Paulus Geleit geben.68 Diese nicht kleine Truppe von insgesamt

    Abb. 2: Der Weg von Jerusalem nach Caesarea69

    67 Im griechischen Text von Apg 23,19 heit es .68 Apg 23,2325: 23

    , - , , 24 , 25 .

    Die Bedeutung des in v. 23 ist umstritten; in spterer Zeit ist es als terminus technicusder Militrsprache belegt (vgl. der Artikel bei Bauer/Aland, Sp. 349 und die dort gebotenen Belege).Bauer/Aland pldieren fr ein Leichtbewaffneter, etwa Schtze od.[er] Schleuderer (ebd).

    69 Yoram Tsafrir, Leah Di Segni and Judith Green [Hg.]: Tabula Imperii Romani: Iudaea Palaesti-na. Eretz Israel in Hellenistic, Roman and Byzantine Periods. Maps and Gazetteer, Jerusalem 1994,bersichtskarte (Ausschnitt).

  • 458 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    470 Mann macht sich bei dunkler Nacht (in der dritten Stunde der Nacht, heites im Text) auf, um den wichtigen Gefangenen von Jerusalem nach Caesarea amMeer zu bringen.

    Indem . . . dieser Transport mit der Verschwrung gekoppelt wird, verwandeltsich eine langweilige Routineangelegenheit in eine Erzhlung voll atemloser Span-nung; zugleich konnte Lukas so das Eintreten der rmischen Behrde fr Paulusim hellsten Licht zeigen. Fr den nchtlichen Abtransport wird die Hlfte derrmischen Garnison aufgeboten (manche Kommentatoren halten das fr eine rea-listische Schilderung!) und zu einem Gewaltmarsch gentigt, den Wendts Vermu-tung . . . , man werde bis in den Vormittag hinein marschiert sein, nicht ertrg-licher macht. In Wirklichkeit hat . . . der Erzhler die Entfernung von Jerusalemnach Antipatris nicht genau gekannt. So lie er die Infanteristen von dort unver-zglich den Rckmarsch antreten. Aber wichtiger als solche realistische Korrekturist die Erkenntnis, was Lukas hier dem Leser vor Augen fhrt: Nun rettet Rom demApostel schon zum dritten Mal das Leben (21,32f. im Tempel, 23,10 im Hohen-rat)! Wie gnstig es ihn beurteilt, ergibt der Begleitbrief des Tribunen [= Oberst;ich habe das griechische Fremdwort Chiliarchos diesmal einfach so stehen gelas-sen]: Dieser legt die Verhandlung vor dem Hohenrat genau so aus, wie Lukas eswnscht. Paulus der rmische Brger! hat nichts getan, was Tod oder Kerkerverdiente. Sein Konflikt mit den Juden grndet in innerjdischen Differenzen, wiesie zwischen Pharisern und Sadduzern bestehen. Damit wird Paulus durch denhchsten Vertreter Roms entlastet, der bisher mit dem Proze zu tun hatte.70

    Mit diesem Zitat aus dem Kommentar von Ernst Haenchen sind wir unverse-hens schon mitten in der nchsten Szene angelangt:

    h) Die Verlegung des Gefangenen nach Caesarea (23,2335)

    Die Folge der Bemhungen des Neffen des Paulus ist also eine Verlegung desGefangenen aus Jerusalem nach Caesarea. Die 31 genannte ZwischenstationAntipatris knnen Sie auf der Karte auf S. 457 (Abb. 2: Der Weg von Jerusa-lem nach Caesarea) lokalisieren: Man fhrt von Jerusalem nach Norden, whlt diezweite Strae nach links und kommt so nach Antipatris, von wo aus man entwederdirekt nach Caesarea gelangt oder mit einem kleinen Umweg verbunden aufder Strae am Meer.

    70 Ernst Haenchen, S. 622.

  • i) Das Pldoyer der Anklger (24,19) 459

    Die behagliche Breite, mit der Lukas das alles erzhlt, ist sehr auffllig. Umge-kehrt ist der theologische Gehalt dieser Kapitel recht gering. Gewi ist Lukasauch Theologe wir haben das etwa am Beispiel der Areopagrede studiert. AberLukas ist eben nicht nur Theologe (sonst wre sein Buch wohl auch viel langwei-liger . . . ). Lukas erweist sich in diesen Kapiteln vor allem als Apologet. Er willnicht nur zeigen, da Paulus eigentlich ja vllig unschuldig ist; er will den Lese-rinnen und Lesern vor Augen fhren, da die zustndigen rmischen Behrdendas genauso sehen. Als ersten hat er den Obersten in Jerusalem als Zeugen auf-marschieren lassen. Dieser Claudius Lysias teilt dem Statthalter schriftlich mit, daPaulus nichts Unrechtes getan hat: Diesen Brief bekommt er 33 zugleich mit demGefangenen berstellt: Dessen Bild wird beim Statthalter also 34 zuerst und vorallem durch diesen Brief geprgt demzufolge aber ist Paulus unschuldig!

    Dies wiederholt sich in den folgenden Kapiteln 2426. Hier besttigen die mitdem Fall Paulus befaten Statthalter Felix und sein Nachfolger Festus die Unschulddes Paulus. Auch der jdische Knig Agrippa II. und seine Schwester Berenike wer-den eigens aufgeboten, um die Unschuld des Paulus herauszustellen. Hchste staat-liche Reprsentanten sind davon berzeugt, da Paulus kein Verbrechen begangenhat.

    i) Das Pldoyer der Anklger (24,19)

    Zunchst erhalten die Anklger das Wort (Apg 24,19). Zu diesem Zweck reistauch der Hohepriester Ananias von Jerusalem nach Caesarea, um seine An-klage vor dem Statthalter zu vertreten. Er hat einige Presbyter sowie einen eigensangeheuerten Rhetor namens Tertullus mitgebracht.71 Der soll die jdische Sacheals Profi an den Mann bringen.

    Der Rhetor Tertullus zeigt sogleich, da er sein Geld wert ist: Er beginnt mit ei-ner captatio benevolentiae (d. h. er schmiert dem Statthalter Felix Honig ums Maul),um die rechte Stimmung man spricht heute von der Chemie hervorzurufen.72

    Dann kommt unser Rhetor zur Sache: 4 Damit ich dich aber nicht weiter er-mde, bitte ich dich, uns kurz in deiner Gte anzuhren. 5 Wir haben nmlichdiesen Mann als eine Pestbeule gefunden und als Erreger von Unruhen gegen al-

    71 24,1 heit es: , .

    72 Im griechischen Original lautet 23,23: - , , , .

  • 460 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    le Juden auf der ganzen Welt und als Anfhrer der Nazorersekte. 6 Er hat auchversucht, den Tempel zu entweihen. Ihn haben wir ergriffen. 7 Von ihm wirst duselber, wenn du ihn verhrst wegen aller dieser Dinge, das erfahren, dessen wir ihnanklagen.73

    Die Anklage ist nicht sehr spezifisch: Eine Pestbeule zu sein ist an sich ja nochkein Straftatbestand . . . Handfester ist da schon der Hinweis auf die Unruhen,die Paulus berall Tertullus sagt leicht bertreibend: auf der ganzen Welt erregt. Das griechische Wort (sta. sis), das Tertullus hier verwendet, ist einFachausdruck. In rmischen Ohren ist es so etwas wie Revolution. Da schrillen dieAlarmglocken bei Felix; mindestens hofft Tertullus, dies zu erreichen. Die Entwei-hung des Tempels, die Tertullus abschlieend nennt, hat geringeres Gewicht.

    Die Szene in Kap. 24 unterscheidet sich von allen andern Apologien in derAp[ostel]g[eschichte] dadurch, da sie die Gegner und Paulus in Wechselrede vordem Vertreter Roms zu Wort kommen lt. Zunchst die Klger, die Juden. DerHohepriester bleibt eine stumme Figur. Fr die Juden fhrt ausschlielich der Rhe-tor Tertullus das Wort. Seine Rede ist ein Meisterstck von . . . ausgesuchter rhe-torischer Kleinkunst, wie Stephan Lsch . . . dargelegt hat. Sie macht durch die imVerhltnis ungewhnlich breit entfaltete captatio benevolentiae 3 von 7 Versen! den Leser sogleich mit der Atmosphre einer solchen Verhandlung vertraut . . . .Lukas lt uns durch die V. 24 spren, da Tertullus sein Handwerk versteht undein gefhrlicher Gegner ist.74

    j) Die dritte Verteidigungsrede des Paulus (24,1021)

    Nun hat Paulus das Wort. Da er keinen Rhetor engagiert hat, verteidigt er sichselbst (Apg 24,1021). Seine Rede ist deutlich lnger als die des Tertullus.10 Paulus aber antwortete, als ihm der Statthalter zunickte: Da ich wei, da duseit vielen Jahren ein Richter fr dieses Volk bist, gehe ich mit gutem Mut an meineVerteidigung. 11 Du kannst erkennen, da ich nicht mehr als zwlf Tage habe, seitich, um anzubeten, nach Jerusalem hinaufzog. 12 Und weder im Tempel fanden siemich gegen jemanden disputierend oder einen Auflauf des Volkes erregend, nochin ihren Synagogen noch in der Stadt. 13 Sie knnen auch das dir nicht beweisen,dessen sie mich jetzt anklagen. 14 Das aber bekenne ich dir, da ich gem jenemWeg, welchen diese eine Sekte nennen, dem vterlichen Gott diene, indem ichallem im Gesetz und dem in den Propheten Geschriebenen glaube, 15 wobei ich

    73 Die bersetzung stammt von Ernst Haenchen, S. 623.74 Ernst Haenchen, a. a. O., S. 629.

  • j) Die dritte Verteidigungsrede des Paulus (24,1021) 461

    die Hoffnung zu Gott habe, welche auch diese selbst erwarten, da eine Auferste-hung der Gerechten und Ungerechten sein wird. 16 Deswegen be ich mich auchselbst, ein unverletztes Gewissen Gott und den Menschen gegnber zu haben inallen Dingen. 17 Nach vielen Jahren aber bin ich hergekommen, um Almosen frmein Volk zu bringen und Opfer. 18 Bei diesen fanden mich als einen Geheilig-ten im Tempel, nicht mit Masse noch Tumult, 19 einige Juden aus der (Provinz)Asia, die vor dir anwesend sein und mich anklagen mten, wenn sie etwas gegenmich htten. 20 Oder diese selbst mgen sagen, was sie fr ein Unrecht fanden,als ich vor dem Hohenrat stand, 21 auer jenem einen Satz, den ich, unter ihnenstehend, rief: Wegen der Auferstehung der Toten werde ich heute vor euch zurRechenschaft gezogen.75

    Was der Rhetor Tertullus kann, kann Paulus schon lange: Auch er beginnt miteiner captatio benevolentiae, wie sich das bei solcher Gelegenheit gehrt. Zwlf Tageist er erst im Lande, viel zu kurz, um irgend etwas angestellt zu haben. Lediglichbeten wollte er im Tempel mit niemandem hat er Streit angefangen, weder imTempel, noch in den Synagogen, noch in der Stadt. Der Vorwurf der (sta. sis)ist daher gegenstandslos.

    Bereitwillig rumt Paulus 14a sodann ein, da er einer besonderen jdischenGruppe angehrt. Interessant sind hier die Bezeichnungen. Den Begriff Christ,der in den paulinischen Schriften nirgends, bei Lukas nur an der bekannten StelleApg 11,26 und in 26,28 vorkommt76, verwendet Paulus hier bezeichnenderweisenicht. Er spricht vielmehr von dem Weg, eine der Apostelgeschichte eigene Be-zeichnung fr die Christen.77 Die Gegner, so erlutert Paulus dem hohen Gericht,nennen es Sekte.78

    Entscheidend ist und hier stimmt die dem Paulus von Lukas in den Mundgelegte Verteidigungsrede mit der Quintessenz von Rm 911 berein die Tatsa-che, da auch diese neue Gruppe den vterlichen Gott verehrt und auf Gesetz undPropheten basiert 14b. Auch die Hoffnung auf Auferstehung ist kein Gegensatzzum Judentum 15. So erscheint Paulus hier erneut als frommer Jude, der Almo-

    75 Die bersetzung findet sich bei Ernst Haenchen, S. 623.76 Vgl. dazu die Bemerkungen oben S. 201202.77 Ernst Haenchen gibt (S. 630) die folgende Erluterung: Wir sehen hier, warum Lukas so gern

    den Begriff Weg verwendet; dieser Begriff bezeichnet die neue Jesusreligion als eine eigene Greund reit sie trotzdem nicht vom Judentum los: er erinnert ja aufs strkste an alttestamentlicheWendungen wie die Wege des Herren, die das Judentum als die gelebte wahre Religion hinstellen.Dieser Weg hat Paulus nicht aus dem Judentum herausgefhrt . . . sicherheitshalber sei es nocheinmal angefgt: Die Rede ist hier von dem lukanischen Paulus, nicht dem historischen!

    78 Ob Ernst Haenchen mit Sekte wirklich ein angemessenes quivalent fr das griechische - gefunden hat, mag in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben.

  • 462 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    sen und Opfer darbringen wollte, sonst nichts 17. In dem Wort Almosen darfman keine Anspielung auf das Kollektenwerk des Paulus sehen: nur weil wir ausden Paulusbriefen von der groen Pauluskollekte wissen, erkennen wir hier eineAnspielung darauf; fr die Leser des Lukas war das nicht mglich. Da die Kol-lekte nur fr die christliche Gemeinde und nicht fr sein Volk bestimmt war, istein ebenfalls nicht zu beseitigender Ansto, wenn man hier historisch unbedingtzuverlssige Angaben sucht.79

    k) Das Ergebnis der Verhandlungen (24,2227)

    Das Ergebnis ist ein Unentschieden: Felix spricht den Paulus nicht frei; aber erverurteilt ihn auch nicht; er vertagt den Proze, um Einzelheiten von demuns bekannten Tribunen (Oberst) Claudius Lysias in Erfahrung zu bringen (22).Immerhin wird dem Paulus 23 Hafterleichterung gewhrt; zudem erhlt er dieErlaubnis, da seine Genossen ihn besuchen drfen. Damit hat Felix seinen Dienstgetan.

    Wir hren 24 noch von seiner jdischen Frau Drusilla und seiner Hoffnung26, Paulus werde etwas Kleingeld lockermachen. Dann heit es lakonisch: Alsaber die zweijhrige Frist voll war, bekam Felix als Nachfolger den Porcius Festus.In dem Willen aber, den Juden eine Gunst zu erweisen, lie Felix den Paulus alsGefangenen zurck.80

    Zur Bestechungssumme in Apg 24,26 schreibt Theien in seinem zitierten Auf-satz: Das Geld knnte Paulus spter zum Verhngnis geworden sein: Felix ver-schleppte den Prozess gegen Paulus, weil er auf eine Bestechungssumme wartete(Apg 24,26). Paulus hatte ihm nach Apg 24,17 berichtet, dass er nach Jerusalemgezogen war, um Almosen fr sein Volk zu berbringen. Felix wusste also, dass dieJerusalemer Gemeinde durch Paulus ber Geld verfgte. Die Apostelgeschichte be-tont, er sei ber die Christen gut informiert gewesen (Apg 22,22); er wusste alsovon der Solidaritt der Christen untereinander und hat sich vielleicht Hoffnungengemacht, von ihrer Solidaritt zu profitieren. Warum der Freikauf nicht zustandekam, ist schwer zu sagen. War das Geld durch die Auslsung der Nasiratsgelb-de verbraucht? Waren die Forderungen des Felix zu hoch? War die Gemeinde inJerusalem und in Caesarea nicht willens, etwas fr Paulus zu tun? Wurde Felix als

    79 Ernst Haenchen, a. a. O., S. 627.80 Apg 24,27 in der bersetzung von Haenchen, S. 631. Im griechischen Original heit es: -

    .

  • l) Die zweite Auflage des Prozesses unter Festus (Kapitel 25) 463

    Prokurator abgelst, bevor der Handel verwirklicht werden konnte? All das werdenwir leider nie wissen knnen.81

    Wir knnen daher folgendes Zwischenergebnis formulieren: Der zustndige Statt-halter Felix hlt Paulus zwar gefangen, kann sich aber zu keiner Verurteilung durch-ringen. Der Proze wird verschleppt.

    l) Die zweite Auflage des Prozesses unter Festus (Kapitel 25)

    Die entscheidende Wende im Proze des Paulus erfolgt unter dem Nachfolgerdes Felix, dem genannten Porcius Festus. Diese Wende wird durch Paulusselbst herbeigefhrt; er beruft sich auf den Kaiser. In Apg 25,1112 lesen wir:11 Wenn ich nun schuldig bin und etwas Todeswrdiges getan habe, so entzieheich mich dem Tod nicht. Wenn aber nichts von dem der Fall ist, dessen sie michanklagen, dann kann mich niemand ihnen [den Juden] preisgeben: ich rufe denKaiser an! 12 Da besprach sich Festus mit seinen Beratern und antwortete: Duhast den Kaiser angerufen zum Kaiser sollst du gehen!82

    Diese sogenannte Appellation des Paulus an den Kaiser ist in der Forschungseit jeher viel diskutiert. Umstritten ist vor allem die Frage, ob und wenn ja wiediese Appellation mit dem rmischen Brgerrecht zusammenhngt. Auffllig anunserm Abschnitt ist ja die Tatsache, da Paulus sich in diesem Zusammenhang ge-rade nicht auf sein rmisches Brgerrecht bezieht.83 Theodor Mommsen hat den feh-lenden Bezug auf die Unkenntnis des Schriftstellers zurckfhren wollen. Aberseltsamer Weise wird in unserem Bericht wohl die Befreiung von Fesselung undGeisselung mit dem privilegierten Personalrecht des Paulus [d. h. seinem rmischenBrgerrecht] in Verbindung gesetzt, nicht aber die Berufung auf das Kaisergericht;ja geradezu im Widerspruch mit der Erzhlung selbst wird nachher die bertra-gung des Prozesses nach Rom hingestellt als herbeigefhrt durch den Klger.84

    Man wird, absehend von diesem Missverstndnis des letzten Redacteurs, sich le-diglich an den ursprnglichen Bericht zu halten haben, der selber nirgends Anstossgiebt und nur wenig Erluterungen erfordert.85

    81 Gerd Theien, a. a. O., S. 232, Anm. 8.82 bersetzung von Ernst Haenchen, S. 635636.83 Sicherheitshalber sei ausdrcklich gesagt: Ich argumentiere hier im Rahmen der Apostelge-

    schichte, die das rmische Brgerrecht des Paulus ausdrcklich voraussetzt!84 Mommsen bezieht sich hier auf die Stelle 28,1819.85 Theodor Mommsen: Die Rechtsverhltnisse des Apostels Paulus, ZNW 2 (1901), S. 8196; hier

    S. 9293.

  • 464 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    Mommsen ist also der Auffassung, da ein Zusammenhang zwischen der Appel-lation und dem rmischen Brgerrecht besteht: Die Appellation setzt das rmischeBrgerrecht voraus.86 Lediglich die Ignoranz des letzten Redacteurs wir sagenheute nicht Redakteur, sondern Redaktor , also des Lukas, hat diesen Zusam-menhang verdunkelt. Die historische Abfolge stellt sich Mommsen zufolge also sodar: Paulus war rmischer Brger; als solcher hatte er in einem Kapitalproze dasRecht der Appellation. Also berief sich Paulus auf sein rmisches Brgerrecht underreichte dadurch, da er nach Rom berstellt wurde. Dieser durchaus folgerichti-ge Verlauf beruht auf dem Grundgedanken, dass der Capitalprozess des rmischenBrgers nicht anders gefhrt werden kann als vor den hauptstdtischen Gerich-ten und demnach ursprnglich in letzter Instanz von der Brgerschaft entschiedenwird, der rmische Brger also befugt ist, jeden ausserhalb Rom fungierenden Ma-gistrat in einem solchen Prozess als Richter zu recusieren und denselben demnachvor die hauptstdtischen Behrden zu bringen; weiter darauf, dass mit dem Beginndes Principats fr den republikanischen Magistrat und die Comitien teils wahr-scheinlich die Consuln und der Senat, teils der neue Herrscher substituiert wur-den. Es ist dies Verfahren in vollem Einklang mit dem oben angefhrten Inhaltdes julischen Gewaltgesetzes und ich zweifle nicht, dass in der frheren Kaiserzeitalso verfahren und der Bericht in allem wesentlichen historisch correct ist.87

    Die Position Theodor Mommsens lt sich mithin folgendermaen zusammen-fassen: Lukas begeht einen entscheidenden juristischen Fehler, weil er die Appellationdes Paulus nicht auf dessen rmisches Brgerrecht zurckfhrt. Der dem Lukas vor-liegende Bericht jedoch ist juristisch und historisch plausibel in allem wesentlichenhistorisch correct.

    * * *

    86 Aber der Statthalter ist in dem Capitalprozess des rmischen Brgers nicht die entscheidendeInstanz, sondern es ist nach dem vorher angefhrten julischen Gewaltgesetz Berufung zulssig andas Kaisergericht: lege Iulia de vi publica damnatur, qui aliqua potestate praeditus civem Romanumantea ad populum [provocantem], nunc imperatorem appellantem necaverit necarive iusserit. (TheodorMommsen, a. a. O., S. 92 mit Hinweis auf Paulus: Sent. V 26,1.)

    Eine interessante Analogie auf die Mommsen nicht hinweist ist das Verfahren des StatthaltersPlinius in Bithynien und Pontos Anfang des 2. Jahrhunderts (also zwei Generationen nach unsermFall): Die Menschen, die bei ihm als Christen denunziert werden und ihr Christsein nicht bestrei-ten, werden zur Hinrichtung abgefhrt wenn sie nicht rmische Brger sind. In diesem Fall giltvielmehr: fuerunt alii similis amentiae, quos, quia cives Romani erant, adnotavi in urbem remittendos,auf deutsch: Andre in dem gleichen Wahn Befangene habe ich, weil sie rmische Brger waren,zur berfhrung nach Rom vorgemerkt (Plinius: Epistulae X 96,4). D. h. der Statthalter Pliniusvollstreckt das Todesurteil nur an Nicht-Rmern; rmische Brger werden stattdessen nach Romberstellt. Sollte es bei Paulus ebenso gewesen sein?

    87 Theodor Mommsen, a. a. O., S. 9495.

  • l) Die zweite Auflage des Prozesses unter Festus (Kapitel 25) 465

    Einhundert Jahre nach Theodor Mommsen hat Heike Omerzu ihr Buch DerProze des Paulus verffentlicht.88 Wie sich die Zeiten gendert haben! DaHeike Omerzu kein Theodor Mommsen ist, kann man ihr nun wirklich nicht zumVorwurf machen. Niemand von uns ist ein Theodor Mommsen. Kein Althistorikerund (erst recht nicht . . . ) kein Neutestamentler dieser Generation ist des Nobel-preises fr Literatur verdchtig! Aber man htte sich vielleicht wnschen drfen,da sie nicht ein Buch von XIII + 616 = 629 Seiten ber ein Thema schreibt, dasMommsen seinerzeit auf fnfzehn Seiten erschpfend behandelt hat. Das Zwan-zigfache 300 Seiten wre diskutabel gewesen. Aber 629 Seiten sind es nichtmehr.

    Heike Omerzu nun mchte in bezug auf die Appellation des Paulus zeigen, dadie teilweise ausbleibende Bezugnahme auf das rmische Brgerrecht des Apostelskeineswegs auf einen Fehler oder auf die Tendenz des Redaktors bzw. Verfassers derAct zurckgeht, sondern vielmehr vor dem Hintergrund des rmischen Rechtssy-stems konsequent und korrekt ist.89 Insbesondere mchte Omerzu nachweisen,da sich Paulus mit der Berufung auf sein Brgerrecht gegen einen Akt der will-krlichen coercitio wendet.90

    Wir bergehen in unserm Zusammenhang die Untersuchung der republika-nischen Zeit91 und wenden uns sogleich der uns interessierenden Prinzipatszeitzu. Fr diese gilt, da die beiden Termini provocatio und appellatio offensicht-lich synonym gebraucht werden92. Es liegt daher die Vermutung nahe, da essich hierbei nur um ein einziges Rechtsmittel handelt.93 Die Appellation ist frAugustus schon durch Sueton bezeugt.94 Von Tiberius ist bekannt, da er es ab-

    88 Heike Omerzu: Der Proze des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchungder Apostelgeschichte, BZNW 115, Berlin/New York 2002. Es handelt sich dabei um eine MainzerDissertation aus dem Wintersemester 2001/2002.

    89 Heike Omerzu, a. a. O., S. 54. Sie nimmt ausdrcklich Bezug auf die Mommsensche Theseund dessen Annahme, es liege hier ein Missverstndnis des letzten Redacteurs vor (siehe oben).

    90 Heike Omerzu, a. a. O., S. 77.91 Vgl. Heike Omerzu, a. a. O., S. 6482.92 Heike Omerzu, a. a. O., S. 83.93 Ebd.94 appellationes quotannis urbanorum quidem litigatorum praetori delegabat urbano, at provincia-

    lium consularibus viris, quos singulos cuiusque provinciae negotiis praeposuisset (Suet.: Augustus 33,3).Bei Omerzu findet sich S. 93 die folgende bersetzung: Flle von Berufungen bertrug er, fallses sich um Streitigkeiten in Rom selbst handelte, jhrlich dem Stadtpraetor, die der Provinzbewoh-ner ehemaligen Konsuln, von denen er je einen in jeder Provinz mit der Leitung dieser Rechtfllebetraute.

    Bedauerlicherweise geht Omerzu hier auf die Terminologie des Sueton nicht weiter ein: Wenn imzweiten Teil des Satzes von appellationes provincialium die Rede ist, denkt man wohl nicht, da essich hier um rmische Brger handeln knnte!

  • 466 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    lehnte, Appellationen anzunehmen, die gegen einen speziellen, von ihm hochge-schtzten Richter ergangen waren, was im Umkehrschlu zeigt, da der Kaiser inanderen Fllen direkt als Appellationsrichter angerufen werden konnte.95

    Fr den Kaiser, der uns hier am meisten interessiert, weil der Proze des Paulusin seine Regierungszeit fllt, fr Nero, ist eine ganze Reihe von Zeugnissen erhal-ten. Zu dieser Zeit wurde eine Strafe fr Berufungen an den Senat eingefhrt, diezeigt, da es eine Geldbue fr nicht statthafte Appellationen an den Kaiser schonseit einiger Zeit gab.96 Eine Stelle bei Tacitus interpretiert Omerzu in dem Sinne,da auch noch in der zweiten, tyrannischen Amtshlfte des Nero direkte Anrufun-gen des Kaisers mglich gewesen sein [mssen]. In eben diesen Zeitraum fllt auchdie Appellation des Paulus, ber die bekanntermaen nur die Act berichten.97

    Hinsichtlich der juristischen Seite der Angelegenheit formuliert Omerzu folgen-des Zwischenergebnis: Resmierend kann festgestellt werden, da die in den Actgeschilderte Berufung des Apostels Paulus an den Kaiser weder als unhistorisch zuverwerfen, noch als ein Sonderfall des Appellationsrechts aufzufassen ist. Sie fgtsich gut in die weiteren Belege aus dem frhen Prinzipat ein, als sich die appella-tio in ihren Anfangsstadien befand und noch nicht ihre sptere Gestalt besa: Eskam vor, da der Kaiser zuweilen und zwar auch mndlich direkt angerufenwurde.98

    Diese juristischen Grundlagen wendet Omerzu nun auf unsern Text an. Ichkann die lange Argumentation hier noch nicht einmal zusammenfassend vortragen,weil uns dafr die Zeit fehlt. Entscheidend ist ihr Ergebnis: Aus der Tatsache, daim vorliegenden Kontext das rmische Brgerrecht des Paulus keine Erwhnungfindet, lassen sich keine weiteren Schlsse hinsichtlich des Berufungswesens ziehen:Auf der Erzhlebene ist der Brgerstatus des Apostels bereits im Kontext der An-klage in Philippi (vgl. 16,37) eingefhrt worden; er wurde in 22,2429 nochmalsexplizit aufgegriffen und ist daher auch fr die rmischen Beamten in Jerusalemund Caesarea (vgl. 23,27!) als bekannt vorauszusetzen. Die rmische Prgung desVerfahrens gegen Paulus lt berdies keinen Zweifel daran, da sowohl fr Lukasals auch fr seine Leser und Leserinnen der Besitz des Brgerrechts die notwendigeVoraussetzung fr eine Appellation war.99

    95 Heike Omerzu, a. a. O., S. 94.96 Heike Omerzu, a. a. O., S. 96.97 Heike Omerzu, a. a. O., S. 97.98 Heike Omerzu, a. a. O., S. 107.99 Heike Omerzu, a. a. O., S. 489.Der Abschnitt, dessen entscheidende Passage hier zitiert wird, reicht von S. 485 bis S. 498. Am

    Schlu behauptet Omerzu noch (S. 496): Die Perikope lt sowohl in den umfangreichen redak-tionellen Teilen als auch in ihrem vorlukanischen Bestand eine gute Kenntnis der zeitgenssischen

  • l) Die zweite Auflage des Prozesses unter Festus (Kapitel 25) 467

    Wir haben in dieser Vorlesung das rmische Brgerrecht fr wenig plausibelerklrt. Was ergibt sich daraus nun in Bezug auf die Appellation des Paulus?Ich lege Wert auf die Feststellung, da man sehr wohl die Verlegung des Prozessesvon Caesarea nach Rom fr historisch halten kann, ohne deswegen mit einemrmischen Brgerrecht des Paulus operieren zu mssen. Ich berufe mich in diesemZusammenhang auf die Arbeit von Karl Leo Noethlichs, die wir schon mehrfachherangezogen haben.100 Die Appellation an den Kaiser lt sich auch andersdeuten: Paulus beharrt auf der staatlichen Instanz, vor der er schon steht! Aus derBetonung, nur den Kaiser zum Richter zu haben, der in der Provinz vom Statthalterreprsentiert wird, macht dann Festus den realen Kaiser (25, 12), zu dem erihn hinschickt, weil er selbst nicht weiterwei und die Juden nicht verrgern will,d. h. fr die berstellung nach Rom braucht man eine nur dem rmischen Brgerzustehende Appellation bzw. Provokation nicht, wohl aber eine gewisse politischeBrisanz des Falles.101

    Wir kommen daher zu dem Ergebnis, da die Annahme des rmischen Brger- Ergebnis: berstellungnach Rom ja rmischesBrgerrecht nein!

    rechts des Paulus auch in diesem Zusammenhang entbehrlich ist. Es ist historisch plau-sibel, da der Proze von Caesarea nach Rom verlegt worden ist. Ein rmisches Br-gerrecht des Paulus mu dazu aber nicht angenommen werden. Mit Noethlichs istvielmehr festzuhalten: Die berstellung nach Rom bedarf nicht eines ius provo-cationis bzw. appellationis, wovon im Text nicht die Rede ist. Vergleichbare Fllekommen auch bei Nichtrmern vor.102

    rmischen Rechtsverhltnisse erkennen: Es konnte zu jeder Phase eines Prozesses appelliert werden,nicht erst nach einem Endurteil. Obwohl die Berufung auf den Kaiser ein spezielles Vorrecht rmi-scher Brger war, mute nicht ausdrcklich auf das Brgerrecht hingewiesen werden, da dies ohne-hin Grundlage des vorangehenden Prozesses war. Es war schlielich in der frhen Kaiserzeit nichtnur mglich, den Kaiser (auch mndlich) direkt anzurufen, fr Juda war dieser aufgrund der ab-geleiteten Gewalt der Statthalter und einer fehlenden Geschworenenbank sogar die einzig mglicheAppellationsinstanz.

    100 Karl Leo Noethlichs: Der Jude Paulus ein Tarser und Rmer?, in: Rom und das himmlischeJerusalem. Die frhen Christen zwischen Anpassung und Ablehnung, hg. v. Raban von Haehling,Darmstadt 2000, S. 5384.

    101 Karl Leo Noethlichs, a. a. O., S. 79. Ich stimme der Noethlichsschen Feststellung zu: Es gibtkein Zeugnis und kein Ereignis, das die Mglichkeit des rmischen Brgerrechts fr Paulus absolutunmglich machen wrde; es gibt aber auch kein Ereignis, was nur unter der Prmisse dieses Brger-rechts verstndlich wre. Die Antwort auf die Frage kann also nur im Bereich von Wahrscheinlichkeitund Plausibilitt gesucht werden (a. a. O., S. 80).

    102 Karl Leo Noethlichs, a. a. O., S. 82. Noch einmal sei daran erinnert, da Lukas in diesem Zu-sammenhang gerade nicht auf das rmische Brgerrecht des Paulus rekurriert!

  • 468 9. Der Proze des Paulus (21,1526,32)

    m) Nach der Appellation in Caesarea (Kapitel 26)

    Wir gnnen uns zum Schlu dieses Kapitels noch einmal einen neuen Ab-schnitt. Dieser Abschnitt ist deswegen ntig, weil der Aufenthalt in Caesa-rea keineswegs mit der Appellation an den Kaiser endet. Man knnte ja meinen,Paulus wrde von dem Statthalter gleich ins nchste Schiff gesetzt, damit er soschnell wie mglich nach Rom kme. Das ist jedoch ganz und gar nicht der Fall,wie wir sogleich sehen werden.

    Nachdem Festus dem Antrag des Paulus stattgegeben hatte (Apg 25,12), stehthoher Besuch ins Haus. Der jdische Knig Agrippa II. und seine Schwester Bere-nike machen dem neuen Statthalter in Caesarea ihre Aufwartung. Wenn ich Zeithtte, wrde ich Ihnen das eine oder andere von diesem merkwrdigen Paar be-richten. So kann ich Sie im Moment nur vertrsten. Vertrsten auf das Buch vonEva Ebel, das in diesem Jahr bei der Evangelischen Verlagsanstalt in Berlin erschei-nen wird. Dieses Buch wird eine ausfhrliche Wrdigung der Berenike bringen.Es erscheint in der Reihe Biblische Gestalten und behandelt die Frauen bei Lukas,insbesondere unsere Berenike. Wenn Sie das Buch in die Hand bekommen, solltenSie unbedingt das Kapitel ber Berenike lesen.103

    Da die beiden kniglichen Herrschaften nun schon einmal in Caesarea sind,erzhlt der Statthalter Festus ihnen ausfhrlich von seinem m