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9 Wissenschaftliche Texte lesen, verstehen und verarbeiten Worum geht es im 9. Kapitel? „Die Studierenden lesen nicht mehr“, lautet eine häufig geäußerte Klage über die Textarbeit in den Seminaren. „Wir haben wöchentlich Hunderte von Seiten lesen müssen!“, schwadroniert mancher Professor der Sozial- oder Geisteswissenschaften und macht damit seine Erwartungen deutlich. – Die PISA-Studie 2000 hat ins- besondere aufgezeigt, dass viele 15-Jährige in Deutschland keine hohe Lesekom- petenz aufweisen und ca. 42% von ihnen ungern lesen. Die Notwendigkeit des In- formationslesens in immer mehr Berufen nimmt aber zu, sodass Lesen zur zentralen Basiskompetenz für immer mehr Menschen wird. Dies war es für die Wissenschaften schon lange: Das Lesen wissenschaftlicher Texte ist die grundlegende Tätigkeit im Studium und wissenschaftlichen Arbeitsprozess, die unter gar keinen Umständen vernachlässigt werden darf. Denn wissenschaftliche Erkenntnisse werden erst zu solchen durch die Veröffentlichung der Forschungsarbeit und die damit verbundene Möglichkeit zur Rezeption, Prüfung und Kritik. Nach STARY/KRETSCHMER (2004, S. 38 f.) werden von Studierenden folgende Lese- Probleme benannt: „Ich habe keine Lust zum Lesen. Ich verstehe nicht – oder nicht vollständig –, was ich lese (Lexikon, Syntax, Ab- straktion, Inhaltsbezug). Ich kann nicht in eigenen Worten wiedergeben, was ich gelesen habe. Ich kann mir den gelesenen Stoff nicht einprägen.“ In diesem Kapitel erfahren Sie Wissenswertes über die komplexe Tätigkeit des Le- sens und unterschiedliche Lesetechniken, zwischen denen, je nach Zweck der Lektü- re, gewechselt werden sollte. Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht die „Sechs- Schritt-Methode (PQ4R)“ des lernenden Durcharbeitens von Texten. Darüber hinaus finden Sie Informationen über Textsorten und -strukturen sowie ausführliche Hin- weise zum Unterstreichen, Randnotizen vornehmen bzw. zum Herausschreiben von Textinformationen. Da das Gehirn denkökonomisch vorgeht, kommt es darauf an, Texte mithilfe einer Fragestellung zu lesen, wichtige von unwichtigen Textinforma- tionen zu unterscheiden, Argumentationsstrukturen nachzuvollziehen, Ungereimt- heiten und Lücken zu suchen sowie das Erarbeitete durch Umsetzung in eigene Worte und Superzeichen wie z. B. Zusammenfassungen, Tabellen und Schaubilder festzuhalten. F. Rost, Lern- und Arbeitstechniken für das Studium, DOI 10.1007/978-3-531-92001-6_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010

9 Wissenschaftliche Texte lesen, verstehen und …...thode“ empfohlen, die eine Weiterentwicklung der von Francis P. Robinson entwickelten SQ3R-Methode ist (vgl. z. B. VIEBAHN 1990,

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9 Wissenschaftliche Texte lesen, verstehen undverarbeiten

Worum geht es im 9. Kapitel?

„Die Studierenden lesen nicht mehr“, lautet eine häufig geäußerte Klage über dieTextarbeit in den Seminaren. „Wir haben wöchentlich Hunderte von Seiten lesenmüssen!“, schwadroniert mancher Professor der Sozial- oder Geisteswissenschaftenund macht damit seine Erwartungen deutlich. – Die PISA-Studie 2000 hat ins-besondere aufgezeigt, dass viele 15-Jährige in Deutschland keine hohe Lesekom-petenz aufweisen und ca. 42% von ihnen ungern lesen. Die Notwendigkeit des In-formationslesens in immer mehr Berufen nimmt aber zu, sodass Lesen zur zentralenBasiskompetenz für immer mehr Menschen wird. Dies war es für die Wissenschaftenschon lange: Das Lesen wissenschaftlicher Texte ist die grundlegende Tätigkeit imStudium und wissenschaftlichen Arbeitsprozess, die unter gar keinen Umständenvernachlässigt werden darf. Denn wissenschaftliche Erkenntnisse werden erst zusolchen durch die Veröffentlichung der Forschungsarbeit und die damit verbundeneMöglichkeit zur Rezeption, Prüfung und Kritik.Nach STARY/KRETSCHMER (2004, S. 38 f.) werden von Studierenden folgende Lese-Probleme benannt:

– „Ich habe keine Lust zum Lesen.– Ich verstehe nicht – oder nicht vollständig –, was ich lese (Lexikon, Syntax, Ab-

straktion, Inhaltsbezug).– Ich kann nicht in eigenen Worten wiedergeben, was ich gelesen habe.– Ich kann mir den gelesenen Stoff nicht einprägen.“

In diesem Kapitel erfahren Sie Wissenswertes über die komplexe Tätigkeit des Le-sens und unterschiedliche Lesetechniken, zwischen denen, je nach Zweck der Lektü-re, gewechselt werden sollte. Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht die „Sechs-Schritt-Methode (PQ4R)“ des lernenden Durcharbeitens von Texten. Darüber hinausfinden Sie Informationen über Textsorten und -strukturen sowie ausführliche Hin-weise zum Unterstreichen, Randnotizen vornehmen bzw. zum Herausschreiben vonTextinformationen. Da das Gehirn denkökonomisch vorgeht, kommt es darauf an,Texte mithilfe einer Fragestellung zu lesen, wichtige von unwichtigen Textinforma-tionen zu unterscheiden, Argumentationsstrukturen nachzuvollziehen, Ungereimt-heiten und Lücken zu suchen sowie das Erarbeitete durch Umsetzung in eigeneWorte und Superzeichen wie z. B. Zusammenfassungen, Tabellen und Schaubilderfestzuhalten.

F. Rost, Lern- und Arbeitstechniken für das Studium, DOI 10.1007/978-3-531-92001-6_9,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010

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9.1 Einiges Wissenswerte über den Lesevorgang

Vorbedingung für jedes Lesen ist die Mustererkennung durch visuelle Wahr-nehmung. Die Mustererkennung wird mit simultan ablaufenden Prozessen er-klärt, die in den Modellen der Daten- sowie der Konzeptsteuerung dargestelltwerden (vgl. Abbildung 9-1). Einerseits werden Sinnesreize, beispielsweisedie drei Striche eines „A“ als eine Figur (Buchstabe „A“) gesehen, an-dererseits verfügen Leser dank ihres Gedächtnisses über ein Repertoire anBuchstaben, Silben und gebräuchlichen Wörtern, die sie interpretierend undkontextabhängig an den Text heranbringen.

Abbildung 9-1: Datensteuerung und Konzeptsteuerung

Das Lesen ist ein komplexer Vorgang, der aber nicht nur die visuelle Wahr-nehmung umfasst, sondern in dem auch geistige Prozesse eine große Rollespielen: So werden semantische und syntaktische Relationen hergestellt unddas Gelesene wird im Arbeitsgedächtnis mit dem Vor-, Sprach- und Weltwis-sen des Lesers verbunden und durch dieses mit Informationen ergänzt. Zu die-sem Problem der Kontextdetermination und Kohärenz ein einfaches Beispiel:

„Karl trägt die Koffer hinunter und verstaut sie im Kofferraum. Gisela gießt nochschnell die Geranien. Dann fahren sie los.“

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Sie als Leser nehmen an, dass es sich um Vorbereitungen für eine Abreisehandelt, aber nicht der Blumen, sondern vermutlich eines Mannes und einerFrau (worauf die Vornamen schließen lassen) wahrscheinlich in einem PKW(in dessen Kofferraum Gepäckstücke verstaut wurden). Geranien sind keineZimmerpflanzen, sodass in der Kombination mit dem Hinuntertragen speku-liert werden kann, dass die Blumen auf einem Balkon gegossen werden. DieSzene ist zudem unvollständig, denn wahrscheinlich werden die beiden vorder Abfahrt die Türen geschlossen haben, die der Wohnung oder des Hauses,auf jeden Fall die des Autos. – Um diese drei einfachen Sätze zu verstehen,müssen in Interaktion mit dem Text mithilfe des eigenen Wissens umfassendeErgänzungen vorgenommen und Lücken geschlossen werden. Dies alles er-folgt bei einfachen Texten auf allen Ebenen flexibel und weitgehend auto-matisiert. Treten Entzifferungs- oder Verstehensprobleme auf, z. B. durch un-bekannte Wörter oder komplizierten Satzbau, so ist mehrfaches Lesen bzw.eine bewusste Steuerung erforderlich.

Die bisherigen Ausführungen haben vielleicht deutlich machen können, dassohne ein Vorwissen kein Text richtig verstanden werden kann. Vorinformationist deshalb so wichtig, weil der Mensch das Bestreben hat, nur die Informationenaufzunehmen, die für ihn Sinn machen und nicht allzu fremd sind. Wenn Sie bei-spielsweise durch eine Relevanzprüfung (s. S. 172 ff.) bestimmte Informationenaufgenommen haben (nach denen Sie aktiv gesucht haben), tritt beim wieder-holten Lesen ein Wiedererkennungseffekt ein. Wenn Sie Fragen zu den Text-überschriften generieren, dann haben Sie Erwartungen an den Text, nach denenSie aktiv suchen. – Nebenbei bemerkt, verfügt das Gehirn über eine Fehlerkor-rektur, mit deren Hilfe es nach einem (kontextabhängigen und individuell unter-schiedlichen) Wahrscheinlichkeitsprinzip Fehler ausgleicht, sodass auch ein Textmit verstümmelten Buchstaben (z. B. eine schlechte Fotokopie) noch entschlüs-selt werden kann. Das klappt sogar beim Wglssn smtlchr Vokale! (Die Fehler-korrektur verursacht allerdings auch, dass man in selbstverfassten Schriften vieleTippfehler übersieht. Man kennt seinen Text schon zu gut.)

Bevor die Lesetechniken vervollkommnet werden, können mit einigen TippsFehler vermieden werden, die nicht nur Studienanfänger begehen: Manche

– tragen – trotz Fehlsichtigkeit – keine Brille oder Kontaktlinsen,– sorgen nicht für eine reflexfreie, ausreichend helle Beleuchtung,– lesen Wort für Wort und nicht in Wortgruppen,– lesen zu langsam, was der Konzentration und dem Verstehen abträglich

ist, weil Informationen des Textanfangs nicht mehr im Arbeitsgedächtnisverfügbar sind,

– lassen Schaubilder aus (obwohl ein Bild oft mehr sagt als viele Worte – s.Abschnitt 9.8.2),

– gehen ohne sachliche Vorinformation und Fragestellung an einen Textheran.

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Beim Lesevorgang wandern die Augen nicht kontinuierlich, sondern ruckweisedurch die Zeilen (vgl. Abbildung 9-2). Diese Ruhepunkte bezeichnet man als Fi-xationen.

Abbildung 9-2: Augenbewegungen beim Lesen

(Quelle: STARY/KRETSCHMER 2004, S. 156 f.)

Die Anzahl der Fixationen kann man verringern, indem man mit dem Fingerals Schrittmacher unter der Lesezeile in Leserichtung entlangstreicht. Außerdem soll damit ein Zurückgehen der Augen vermieden werden, was nicht nurbeim Lesen aufhält, sondern auch ein Zeichen mangelnder Konzentration ist.Wenn das nach ca. 45 Minuten auftritt, ist eine Pause angebracht (s. a. S. 64).Bemerken Sie ein Zurückschweifen der Augen schon nach zehn Minuten, ist

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vielleicht eine Unterbrechung hilfreich, in der Sie sich fragen, warum dies ge-schieht (z. B., weil Sie an etwas anderes denken). Wenn Sie weiterlesen wollenoder müssen – sollten Sie Ihre Konzentration und Motivation stärken, geradediesen Text jetzt lesen zu wollen, z. B., indem Sie sich eine kleine Belohnungaussetzen; s. S. 67.

Falls Sie Wort für Wort subvokalisieren, verlangsamt sich Ihre Lesege-schwindigkeit, denn das Mitsprechen vollzieht sich langsamer als das Lesen.Versuchen Sie diese Angewohnheit durch Umstellung des Wahrnehmungs-mechanismus von Wortklängen auf Wortbilder abzuschwächen. Erhöhen SieIhre Konzentration, indem Sie schneller lesen und vorher bei der Relevanzprü-fung (s. Abschnitt 8.5) schon Fremdwörter nachgeschlagen haben, die Sienicht kennen. Solche Fachtermini sollte man wie Vokabeln lernen, weil sichdadurch langfristig die Lesegeschwindigkeit erheblich steigern lässt.

Darüber hinaus können Sie

– die Anpassungsfähigkeit Ihrer Augen durch Augengymnastik verbessern,indem Sie z. B. eine längere Zeit abwechselnd in die Ferne schauen unddann ein Nahziel in etwa 30 cm Abstand fixieren. Nach einiger Zeit wer-den Sie Anzeichen eines Muskelkaters bemerken. Da die Sehschärfedurch Muskelkontraktionen an der Augenlinse herbeigeführt wird, stärktdiese Übung die Elastizität der Linsen und damit deren Anpassungsfä-higkeit, fixierte Stellen scharf abzubilden.

– Ihr Blickfeld beim Lesen erweitern, sodass Sie mehrere, nebeneinander-stehende Wörter auf einen Blick erfassen können. Dafür gibt es Übungenin Schnelllesebüchern.

– angepasst lesen lernen. Bei Unterhaltungslektüre liest man durchschnittlichca. 250 Wörter pro Minute, bei einfachen Informationstexten 180; bei kom-plizierten Texten sinkt die durchschnittlich gelesene Wörterzahl von 135 bisauf 75, je nach Schwierigkeitsgrad (vgl. VON WERDER 1994, S. 39). Das istvielen zu langsam angesichts der großen Menge Fachliteratur, die auch wäh-rend eines Studiums gelesen werden soll. Deshalb sind viele bestrebt,schneller lesen zu wollen. Versuchen Sie es doch einmal mit folgender Me-thode: Nach dem Überfliegen eines Absatzes beginnen sie wieder am Ab-satzanfang, erhöhen langsam die Geschwindigkeit innerhalb des Absatzesund verlangsamen diese wieder zum Absatzende hin. Dabei kann der in Le-serichtung unterstreichende Finger wichtige Schrittmacherdienste leisten.Nach dem Absatz legen Sie eine kurze Unterbrechung ein, in der Sie sichdas Gelesene vergegenwärtigen und einprägen; zum Schnellesetraining gibtes spezielle Übungsbücher (z. B. MICHELMANN/MICHELMANN 1998). Dar-über hinaus bedeutet angepasst lesen zu lernen aber auch, unterscheiden zulernen, ob man einen Text nur zur Kenntnis nimmt, um in etwa zu wissen,was in ihm steht, ob man auf der Suche nach Teilinformationen ist oder obman etwas von A-Z gründlich durcharbeitet und unter die Lupe nimmt.

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Auf jeden Fall kann durch Augenübungen, visuelles Wahrnehmungstraining,insbesondere die Vergrößerung des Blickfelds, durch den Einsatz des Lese-fingers, durch Vokabeltraining und vermehrte Lektüre die Lesegeschwindigkeitin gewissen Grenzen erhöht werden. Die Lesegeschwindigkeit muss selbstver-ständlich dem Lektürezweck und Schwierigkeitsgrad des Textes angepasst sein.Für Prüfungszwecke zu Lesendes sollte wiederholt gelesen werden. Begrün-dung: Durch erhöhtes Vorwissen und den Wiedererkennungseffekt wird nichtnur das Verstehen verbessert, sondern auch der Lernerfolg gefestigt.

� Wenn Sie wissen wollen, wie viel Zeit Sie für bestimmte Textsorten brauchen:Schreiben Sie sich zu Beginn der Lektüre die Uhrzeit auf und jeweils zu Beginneiner neuen Seite die Zwischenzeit. – Wer es noch exakter wissen will, zähltdann die Buchstaben in 10 beliebigen Zeilen des Textes, addiert die 10 Werteund teilt die Summe anschließend durch 10. Damit wäre die durchschnittlicheZeichenzahl pro Zeile ermittelt, die dann mit der genauen Zeilenzahl pro Seitemultipliziert wird. Denn Seite ist nicht gleich Seite.

9.2 Lesetechniken

Es gibt ganz unterschiedliche Lesetechniken und -strategien (vgl. STARY/KRETSCHMER 2004, VON WERDER 1994). Gedichte und belletristische Textesind anders zu lesen als Sach- oder Fachtexte. Aber auch für die letzterenTextsorten sind die Zwecke für die Lektüre und die sich daraus ableitendenStrategien höchst variabel. Neben individuell unterschiedlich erfolgreich ein-gesetzten Lesetechniken sollte nicht vergessen werden, dass diese etwa vonfolgenden Zwecken bestimmt werden:

– Muss ich einen Text pflichtgemäß für ein Seminar/für eine Prüfung (gründ-lich) lesen?

– Handelt es sich um eine mir völlig neue Materie oder ein vertrautes Sach-gebiet?

– Will ich aus eigener Motivation mein Wissen vertiefen und einen wichti-gen Text wirklich verstehen?

– Soll ich zwei Texte unter bestimmten Aspekten vergleichen?– Will/muss ich den Text für eine schriftliche Ausarbeitung verwenden?– Suche ich in Texten nur bestimmte Informationen, die mir noch fehlen?

Die Antworten auf solche Fragen bestimmen den Einsatz unterschiedlicher Le-setechniken und dementsprechend verschiedene Arbeitsergebnisse: Exzerptezum ganzen Text oder nur zu den besonders interessierenden Textpassagen,Fakten, Informationen. – Wer gar nicht gerne viel liest, der muss vor allem daskonzentrierte kursorische Lesen und die Relevanzprüfung perfektionieren. Fürdas lernende Lesen wird im Folgenden die „Sechs-Schritt-Methode“ empfohlen.

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9.2.1 Die „Sechs-Schritt-Methode“ (PQ4R)

Für das lernende Durcharbeiten von Texten wird neben anderen Methoden(vgl. STARY/KRETSCHMER 2004, S. 60 ff.) die so genannte „Sechs-Schritt-Me-thode“ empfohlen, die eine Weiterentwicklung der von Francis P. Robinsonentwickelten SQ3R-Methode ist (vgl. z. B. VIEBAHN 1990, S. 253). PQ4R stehtfür die einzelnen Schritte und deren Abfolge: Preview, Questions, Read, Re-flect, Recite, Review.

1. Preview = Übersicht gewinnen. Durch kursorisches Lesen, also das Über-fliegen des gesamten Textes, gewinnen Sie einen ersten Eindruck und Über-blick. Außerdem sammeln Sie dabei Informationen, worum es thematisch indem Text geht und worauf er hinausläuft. Machen Sie sich auch mit derStruktur des Textes und seiner Abschnitte vertraut: Bis wohin geht die Einlei-tung? Wo beginnt und endet der Hauptteil, in wie viele (Lese-)Abschnittekann er sinnvoll eingeteilt werden? Was gehört zur Zusammenfassung? – Fallsdiese Abschnitte keine Überschriften tragen, formulieren Sie Zwischenüber-schriften und schreiben diese auf.

2. Questions = Fragen an den Text formulieren und niederschreiben. Werwenig fragt, bekommt wenige Antworten. Falls Sie mit dem Fragen Schwierig-keiten haben, können Sie diese mit den so genannten „W-Fragewörtern“ (Was?,Warum?, Wozu?, Wie?, Wer?, Wo?, Wann?) systematisch generieren und auf-schreiben. Beispiel: Vor Ihnen liegt ein Aufsatz mit dem Titel: „Peter stört“(HENNINGSEN 2000). Allein schon aus dem Haupttitel lassen sich folgende Fra-gen ableiten: Wer ist Peter? – Wie stört Peter? – Wen stört Peter? – Warum störtPeter? – Was versteht der Autor unter „stören“? – usf. Zwischentitel oder Kapi-telüberschriften können in gleicher Weise in Fragen umgeformt werden. – DurchFragen werden Interessen und Erwartungen geweckt, die eventuell erfüllt wer-den, vielleicht aber auch einen Überraschungseffekt beinhalten. Lernen gelingtleichter, wenn Sie interessiert, neugierig und zielgerichtet sind. Zudem stellenSie leichter fest, ob Ihnen der Text zu Ihrer Fragestellung überhaupt etwas zu sa-gen hat.

3. Read = den Text auf die Fragen hin lesen. Lesen Sie jeden Abschnittgründlich, indem Sie die erzeugten Fragen zu beantworten suchen. – Wer mitFragestellungen an einen Text herangeht, liest ihn zielgerichteter und die Ant-worten des Textes prägen sich einem besser ein. Dabei können Sie in eigenenBüchern und Fotokopien bei diesem zweiten, gründlichen Lesegang unter-streichen oder markieren, was Ihnen in Bezug auf Ihre Fragestellung wichtigist. Markieren und unterstreichen Sie jedoch sparsam (s. S. 118 f.).

4. Reflect = Denken Sie nach der Lektüre eines Abschnitts über dessenInhalt nach. Diese, die ursprüngliche SQ3R-Methode ergänzende Reflexiondient nicht nur dem Einprägen im intermediären Gedächtnis, sondern auch derlebhaften Auseinandersetzung mit dem Text. Versuchen Sie einerseits, denText in seinen Aussagen und seiner Argumentation zu verstehen, bleiben Sie

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aber andererseits kritisch: Trifft das zu, was der Text behauptet? Gibt es (Ge-danken-)Experimente, dass das funktioniert, was in diesem Abschnitt vorge-schlagen wird? Nehmen Sie den Dialog mit dem Text auf!

5. Recite = Wiederholen des Gelesenen durch schriftliche Beantwortungdes Gelesenen aus dem Gedächtnis. Ausführliche Notizen auf Texträndern,Zetteln oder Karteikarten sollten Sie erst machen, wenn Sie ein Kapitel einesBuches oder einen größeren Abschnitt eines Aufsatzes zu Ende gelesen haben.Bringen Sie zentrale Aussagen des Textes und – davon getrennt – Ihre eigeneAnsicht kurz und prägnant in Ihren Worten auf das Papier. Wenn Sie nichtweiterwissen, lesen Sie diese Passage im Text noch einmal. Doch danachsollten Sie wieder aus dem Kopf und in eigenen Worten fortfahren, bei-spielsweise Ihre Fragen an den Text zu beantworten. Lassen Sie dabei ausrei-chend Platz für spätere Ergänzungen. – Wenn Sie festen Willens sind, nachder Lektüre auswendig Ihre Erinnerungen aufzuschreiben, merken Sie sich In-halte auch besser, als wenn Sie sich dies nicht wirklich beabsichtigen. DieserSchritt braucht einige Übung und trainiert dabei das Gedächtnis.

6. Review = Rückblick und Überprüfung. Kontrollieren Sie nun am Textnoch einmal Ihre Aufzeichnungen, ob Ihnen Wesentliches entgangen ist.Schreiben Sie zuletzt eine kurze, nochmals verdichtete Zusammenfassung oderveranschaulichen Sie sich das Ganze durch ein Schaubild, eine Tabelle oderein Schema, beispielsweise der Argumentationskette, die den Text durchzieht(s. Abbildung 9-6). Die Technik des Visualisierens in Schaubildern wird imAbschnitt 9.8.2 erläutert. Doch die schönsten Exzerpte und Schaubilder helfenwenig, wenn Sie nicht öfter mit ihnen arbeiten, sie rekapitulieren und mit neuerworbenem Wissen verknüpfen.

9.2.2 Weitere Lesemethoden

Vom lernenden Lesen zu unterscheiden ist das kursorische Lesen, um

– Ausgangspunkt, Fragestellung, methodisches Vorgehen und Ergebnisseeines Textes kennenzulernen,

– die Relevanz eines Textes zu prüfen (s. S. 172 ff.) oder– sich einen Überblick für die weitere Erarbeitung eines Textes zu ver-

schaffen.

Um eine bestimmte Sachinformation zu finden, ist selektives Lesen ange-bracht; das meint eine konzentrierte Suche nach der Information, die man be-nötigt. Alles andere zu lesen wäre in diesem Fall überflüssig und würde nuraufhalten.

Lutz VON WERDER (1994, S. 26-96) beschreibt insgesamt neun „Tech-niken kreativen Lesens“, von denen einige hier kurz vorgestellt werden sollen:

Beim übersetzenden Lesen werden die Fachwörter in die Alltagssprache,der Fachdiskurs in einen des Alltags transferiert. Dies hilft sicher denjenigen,

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die noch Schwierigkeiten mit der wissenschaftlichen Fachsprache und Diktionhaben. Manche Texte, die mit Fremdwörtern und verschachtelten Satzkonstruk-tionen „gespickt“ sind, lassen sich auf diese Weise wunderbar entzaubern.Und dies mit Gewinn, weil durch die transferierende Bearbeitung das dabeiGelernte besser behalten wird. Allerdings werden diese alltagssprachlichenÜbersetzungen meist länger als die Ursprungstexte.

Als traditionelles Lesen bezeichnet von Werder die im Wissenschaftsbe-trieb häufig angewandte Lesetechnik, beim ersten Lesen schon Wichtiges zumarkieren und beim zweiten Lesen das Wesentliche herauszuschreiben. Fürungeübte Leser wissenschaftlicher Literatur ergibt sich hierbei das Problem,dass sie vielleicht beim ersten Mal noch nicht sicher entscheiden können, waswichtig sein könnte und darum zuviel anstreichen. Darüber hinaus wird beidieser Methode dem Text affirmativ gefolgt, anstatt eigene Fragen an den Textzu richten. Dementsprechend wird weniger von der Lektüre behalten.

Sokratisches Lesen besteht nach Lutz von Werder darin, so lange die „W-Fragen“ der griechischen Rhetorik an den Text zu richten (s. S. 118 f.), bis –durch die prüfende Fragetechnik – hinter dessen konventionellen Behaup-tungen ein Wahrheitswert deutlich wird. Sokratische Leser werden daher alleTermini, Definitionen, Argumentationen, Hypothesen, Schlussfolgerungen mitFragen wie „Was meint ... ?“ usw. auf ihre dahinter verborgenen Grundannah-men und Auswirkungen theoretischer wie praktischer Art hinterfragen. DieseMethode ist sicherlich anstrengend, jedoch hilfreich, wenn man Texte genauauf ihre versteckten Grundannahmen und Implikationen prüfen will. Insofernleistet diese Technik auch sehr gute Dienste beim Durchdenken eigener Texte.

Beim rhetorischen Lesen dagegen wird der Leseprozess über formale Per-sonal-, Sach- oder Gliederungskategorien der griechisch-römischen Rhetorik-tradition gesteuert, die nach dem Lesen in einem Arbeitsblatt eingesetzt wer-den (s. Abbildung 9-3).

Abbildung 9-3: Rhetorisches KategorienschemaThema:

Ursache:

Ort:

Zeit:

Art und Weise:

Möglichkeiten:

Definitionen:

Ähnlichkeiten:

Vergleich:

Fingierte Annahme:

Umstände:

Interdisziplinäre Aspekte:

(Quelle: VON WERDER 1994, S. 72)

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Solche Kategorien könnte man für die Kondensierung der Textinformation ineiner Tabelle anwenden. Allerdings werden die Informationen dadurch in einstatisches Raster gepresst, das dem Text und seiner Linearität nicht entspricht.Die Bezüge der einzelnen Textabschnitte zueinander gehen dabei verloren.Gleiches gilt jedoch für sämtliche Kategorienschemata.

Wie das sokratische und das rhetorische Lesen geht auch das kritische Le-sen über eine affirmative Textrezeption hinaus. Kritisches Lesen orientiert sichan der Prämisse, dass wissenschaftliche Texte in einem historischen und ge-sellschaftlichen Kontext produziert sowie von Menschen geschrieben werden,deren Rationalität sich auch mit Unbewusstem vermengt (vgl. VON WERDER

1994, S. 80). Insofern kann mancher Text aus wissenssoziologischer und/oderpsychoanalytischer Perspektive hinterfragt werden; im Hinblick auf ein imma-nentes Gesellschaftsbild bzw. auf möglicherweise in den Text eingeflosseneunbewusste Anteile der Autorenpersönlichkeit.

� Einmaliges Lesen wissenschaftlicher Texte reicht in der Regel nicht aus, zu-mindest nicht beim lernenden Lesen.

9.3 Textstrukturen und Textsorten

Sie haben soeben links oben, waagerecht nach rechts fortfahrend, mit dem Le-sen dieses Teilkapitels begonnen, weil das in unserer Kultur die Laufrichtungder Schrift ist, die Sie in der Schule gelernt haben. Sie sehen Buchstaben undWörter, obwohl sich auf dem weißen Blatt eigentlich nur schwarze Fleckenbefinden. – Wenngleich es bisher keine umfassende Theorie des Textverste-hens gibt, erleichtern Vorkenntnisse hinsichtlich der Struktur von Texten undder meist automatisch ablaufenden Prozesse im Zusammenhang mit Lesen –Interpretieren und Verstehen, Lernen und Wissen – das Leseverständnis.

Die Wörter. Sätze bestehen zunächst einmal aus Wörtern. Liegt der Text inIhrer Muttersprache vor und ist vom Schwierigkeitsgrad Ihrem Ausbildungs-stand angemessen, so werden Sie schätzungsweise 80 bis 90% der Wörter vonihrer Bedeutung her kennen bzw. aus dem Kontext heraus erschließen. Dochdie restlichen 10 bis 20% der Wörter sind meist die Schlüsselwörter, auf die esankommt: spezielle Fachwörter, ohne deren Kenntnis Sie den wis-senschaftlichen Text nicht umfassend verstehen werden.

� Jedes Wort, dessen Bedeutung Sie in dem auftretenden Textzusammenhangnicht hundertprozentig wissen, sollten Sie in einem Fachwörter- bzw. Fremd-wörterbuch nachschlagen!

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Da Sie die meisten dieser Wörter und ihre Bedeutung später auch ohne denGebrauch von Nachschlagewerken kennen sollten, empfiehlt es sich, eine ei-gene Definitionskartei aufzubauen, die – wie beim Vokabeltraining – auch alsLernkartei benutzbar ist (s. S. 94 f.). Wenn Sie die Bedeutung der Fachwörterkennen, laufen semantische Prozesse des Textverstehens schnell und weitge-hend unbewusst ab.

Kennen Sie die genaue Bedeutung von „semantisch“? – Sonst schlagen Siedas Wort bitte nach!

Der Satz. Die nächste Ebene stellen die Sätze dar, die z. B. mit der sokrati-schen Methode (s. S. 185) befragt werden könnten. Beispiel: Der Autor einesTextes hat Sätze formuliert wie folgenden: „Johann Heinrich Pestalozzi wurdeam 12.1.1746 in Zürich geboren.“ Die Bedeutung eines Satzes ist eine Funkti-on der in ihm enthaltenen Ausdrücke (hier: Eigenname, Datum, geografischerOrt) und der Art ihrer Zusammensetzung (hier: Relation von drei Satzgliedernmittels Passivkonstruktion). In diesem einfachen Aussagesatz wird eine Be-hauptung aufgestellt, die sich auf einen Mann bezieht, was an den Vornamenerkennbar ist. Wer von Ihnen nicht weiß, wer Pestalozzi war, müsste sich nunmit Hilfe eines Lexikons sachkundig machen. Die o. g. Behauptung beziehtsich offensichtlich auf den berühmten Klassiker der Pädagogik, den JohannHeinrich Pestalozzi. Für diesen trifft – nach Lage der Quellen, z. B. einigenLexika – dieser Beispielsatz zu. Die zu Rate gezogenen Nachschlagewerkeweisen die gleichen Vornamen, den gleichen Geburtsort, das gleiche Datumaus. Damit gibt man sich normalerweise zufrieden, denn die genauere Quel-lenüberprüfung wird meist nicht möglich sein; doch bedenken Sie, dass auchLexika und andere Quellen Fehler enthalten können. Bei wichtigen Faktensollten zumindest zwei voneinander unabhängige Quellen zu Rate gezogenwerden. – Falsch wäre der Satz indessen, wenn zu einer anderen Zeit Namens-vettern als Verehrer des großen Pädagogen einem ihrer männlichen Nach-kommen möglicherweise die gleichen Vornamen gegeben hätten. Meint derAutor Pestalozzi (II), so ist der Satz falsch, weil zumindest das Geburtsdatumauf diesen gemeinten Namensträger nicht zutreffen wird. – Die Bedeutung ei-nes Satzes hat man im Grunde erst erfasst, wenn man angeben kann, ob derSatz in seinem Aussagegehalt wahr oder falsch ist. Eigentlich müsste jede wis-senschaftliche Aussage ereignissemantisch bzw. wahrheitswertfunktionalüberprüft werden, wie dies mittels der sokratischen Methode möglich ist (vgl.dazu die Ausführungen auf S. 35 und 185). Doch in den meisten Fällen gehtman – auch aus Zeitgründen – allzuoft darüber hinweg. Vieles, was man liest,scheint plausibel und wird schon zutreffen. Leser wissenschaftlicher Textesollten jedoch besonders auf der Hut sein und viel weniger von dem glauben,was sie so alles lesen, sondern sich häufig fragen, ob aufgestellte Behauptun-gen, angegebene Fakten und Relationen stimmen. Zweifelsfälle sollten Sie miteinem Fragezeichen markieren und später an anderen Quellen prüfen.

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Widerspruchsfreiheit der Sätze? Insbesondere müssen auch die Bezie-hungen der Sätze eines Textes untereinander unter die Lupe genommen wer-den. Wenngleich sich Human- und Kulturwissenschaften zunehmend mit Pa-radoxien in ihren Forschungsbereichen beschäftigen, sind unaufgeklärte Wi-dersprüche in den Behauptungen und Aussagen eines Textes sicherlich einFaktum, das viele Wissenschaftler, deren eines Ideal das der Widerspruchs-freiheit ist, nicht akzeptieren können, wenn diese nicht im Verlauf des Textesaufgelöst werden (vgl. dazu z. B. ROTH 1997). Falls Sie solche Widersprüch-lichkeiten in einem Text finden, müssen Sie sich mit ihnen auseinandersetzenund sich Ihr eigenes Urteil bilden, z. B. durch eigene Nachforschungen oderdie Suche neuerer/besserer Quellen.

Absätze und Überschriften. Weitere Merkmale der Textstruktur sind Absätzeund (Zwischen-)Überschriften sowie eine Abfolge von Einleitung, mehr oderweniger breitem Mittelteil und einem Schluss. In der Einleitung eines wissen-schaftlichen Textes werden – meist von einem Problem oder einer For-schungslücke ausgehend – die Fragestellung und das methodische Vorgehenüberblicksartig angerissen. Im Hauptteil wird die Untersuchung mehr oderminder ausführlich und aufeinander bezogen dargestellt, während im Schluss-teil die Ergebnisse zusammengefasst werden. – Bei guten Texten sind Einlei-tung, Hauptteil und Schluss klar voneinander getrennt, meist durch aussage-käftige Überschriften in größerer oder dickerer Schrift (Fettdruck). So unter-stützt auch eine gute Typografie den Text durch klare Absatzbildung und dieHervorhebung wichtiger Textstellen durch die Verwendung von GROSS-BUCHSTABEN, KAPITÄLCHEN, Fettdruck, Kursivsatz, Unterstreichungenoder Spe r rungen .

Abbildungen, Tabellen. Schenken Sie Schaubildern, Statistiken, Flussdia-grammen u. ä. besonders wache Aufmerksamkeit. Abgesehen davon, dass diePräsentation von Zahlen manchmal dazu angelegt ist, wissenschaftliche Exakt-heit vorzugaukeln, die z. T. durch Fehler in der empirischen Untersuchung garnicht gegeben ist, sind Abbildungen und Tabellen wichtige Bestandteile desTextes. Auf deren Aussagekraft wird im Text meist Bezug genommen. Ver-gleichen Sie deshalb die Aussagen des Textes mit denen der Abbildungen undTabellen. Diese Strategie erhöht auch den Behaltenseffekt. Doch seien Sie aufder Hut! Krämer hat hervorragend lesbare Bücher geschrieben, in denen er ananschaulischen Beispielen mehr oder weniger seriöser Statistiken deutlichmacht, wann Sie als Leser misstrauisch werden sollten, wie Sie Zahlenmaterialinterpretieren lernen und wie man es selbst richtig macht (vgl. KRÄMER 1994,2001, 2002). Mithilfe welcher Kriterien empirische Untersuchungen zu analy-sieren und zu bewerten sind, führt Detlef H. ROST (vgl. 2005) glänzend vor.

Textsorten. Wissenschaftliche Texte gehören zur Sorte der Sachtexte; dochauch im Wissenschaftsbereich gibt es davon höchst unterschiedliche: Zu un-

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Das Unterstreichen und Markieren 189

terscheiden sind von der Textsorte u. a. die Monografie (= das Buch, das 1-3Personen geschrieben haben), der Fachzeitschriftenaufsatz, der Sammel-werksbeitrag, der (Forschungs-)Bericht, der Lehrbuchtext, der Nachschlage-werkbeitrag, die Rezension; vom Stil eher beschreibende, essayistische bzw.argumentierende Texte, die einen anderen Aufbau aufweisen als Veröffentli-chungen zu empirischen Untersuchungen, die einem bestimmten Bauplan fol-gen: WEINRICH (vgl. 1993) hat aufgezeigt, dass Forschungsarbeiten strukturellaus vier Textteilen bestehen:

– Erstens ist der aktuelle Forschungsstand darzustellen (d. h. für einen be-stimmten Zeitraum vergangener Jahre, die zum Gegenstand gehörige Lite-ratur zu rezipieren und zu kritisieren) und die sich daraus ergebende For-schungslücke als Frage- bzw. Problemstellung zu nennen.

– Zweitens schließt sich die Darstellung der eigenen Untersuchung an vonder Hypothesenbildung bis zur Ergebnisniederlegung.

– Drittens erfolgt die Diskussion der Ergebnisse. Die Ergebnisse der eige-nen Untersuchung werden mit denen der im ersten Abschnitt rezipiertenfrüheren Arbeiten konfrontiert und in einem fiktiven Dialog argumentativverteidigt.

– Viertens folgt ein Ausblick, der weiterhin offene Fragen oder Problembe-reiche benennt bzw. für die eigene Weiterarbeit reklamiert.

Solche Makrostrukturpläne zu kennen bzw. durch metasprachliche Bezeich-nungen (wie „Forschungslücke“, „Fragestellung“, „Hypothese“, „Theorie/Mo-dell“, „Methode“, „Ergebnis[darstellung]“, „Anwendung“, ...) sich selbst zuvergegenwärtigen, hilft erheblich bei der geistigen Verarbeitung der Themenund dazugehörigen Aussagen eines Textes sowie seines Argumentationssche-mas.

Generelles Ziel des Lesens wissenschaftlicher Texte ist es ja erst einmal,die sachliche (und auch argumentative) Struktur eines Textes zu erfassen undnachzuvollziehen. Das heißt, den Text aus seinem Kontext heraus zu inter-pretieren und zu verstehen. Aus kritischer Distanz und von der eigenen Frage-stellung ausgehend, gilt es aber auch, gegebenenfalls Widersprüche und Brü-che im Text, offene Fragen und ungeklärte Probleme zu finden sowie die theo-retischen, praktischen und innovativen Implikationen eines Textes zu über-denken. Dazu muss der Text durchgearbeitet werden, wobei Techniken desMarkierens, des Herausschreibens und der Verdichtung in Tabellen undSchaubildern die wissensmäßige Aufnahme fördern.

9.4 Das Unterstreichen und Markieren

Anfängerinnen und Anfänger sollten einen Text einmal überflogen und sichmittels eines Fremdwörterbuchs bzw. Fachlexikons Klarheit über die Bedeu-tung aller wichtigen Wörter verschafft haben, bevor es an die eigentliche

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190 Wissenschaftliche Texte lesen, verstehen und verarbeiten

Lektüre geht. Nach der kursorischen Lektüre wissen Sie, welche Textstellendie wirklich wichtigen des Textes sind, die unterstrichen bzw. markiert werdensollten. Das am Rande Anstreichen resp. das Unterstreichen von wichtigenTextstellen mit Stiften bzw. das Markieren mit fluoreszierenden Textmarkernfördert zugleich das Behalten; allerdings nur, wenn Sie sparsam an- oder un-terstreichen. Wenn Sie 80 % einer Seite unterstreichen oder gelb markieren,fällt gerade der Teil des Textes ins Auge, der von Ihnen nicht hervorgehobenwurde. – Selbstverständlich sollte sein, dass man nur in Texten markiert undunterstreicht, die einem selbst gehören. In Bibliotheksexemplaren oder privatgeliehenen Büchern kann man sehr schön mit Buchstreifen arbeiten (vgl. Ab-bildung 9-5) oder mit Haftnotizzetteln, die sich später leicht und ohne Rück-stände von den Seitenrändern entfernen lassen (s. Abschnitt 9.5).

Manche unterstreichen mit Vierfarbstift (z. B.: rot = besonders wichtig;schwarz = Schlüsselwörter und Definitionen; grün = Beispiele; blau = wassonst wichtig ist) oder verschiedenfarbigen Leuchtstiften. Solch ein Farbsys-tem erfordert allerdings, dass die gewählten Farbstifte immer zur Hand sind.Ich selbst gebe dem Bleistift den Vorzug, weil dessen Spuren bei Irrtümernwieder ausradierbar sind und nicht ständig die Farbe bedacht und gewechseltwerden muss.

9.5 Randbemerkungen (Marginalien)

Manche notieren sich bei diesem zweiten Lesegang auch schon am Seitenrandwichtige Wörter aus dem Text (= Stichwörter) und prägnante Satzteile oderzusammenfassende Schlagwörter zum Inhalt. Zentrale Wörter des Textes bzw.des Studiengebiets können dabei abgekürzt werden (z. B. „Erz.“ = Erziehung,„Ki.“ = Kind, Kinder; „Psych.“ = Psychologie). Am besten benennt man fürjeden Absatz mit einem Stich- oder Schlagwort das Thema sowie durch Wort-kombinationen dessen inhaltliche Aussage (z. B. „Familienkonstellation be-achten“). Zum Schluss sollte eine verdichtete Zusammenfassung in eigenenWorten geschrieben werden. Fragen, Kritik und zu prüfende Sachverhaltesollten davon getrennt abschließend aufgelistet werden (vgl. Abbildung 9-4).

Abbildung 9-4: Beispiel für das Unterstreichen, für Randnotizen undverdichtete Zusammenfassung (anhand einer Textpassage ausdem Buch von Andreas FLITNER: Reform der Erziehung.München 1992, S. 212f.) © Piper 1997

Selbständigkeit ermutigenDie Förderung des »Selbst«, der eigenen Persönlichkeit des Kindes,hängt eng mit dem »Verstehen« zusammen und macht ebenfalls einesder großen Leitthemen der modernen Erziehung aus. Mindestens dreiDimensionen sind dabei besonders in jüngerer Zeit in den Blick ge-kommen: einmal die immer wieder überraschende Eigenart schon

Selbstständigkeit zu fördern =1 Leitthema mod. Erz.

3 Dimensionen

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Randbemerkungen (Marginalien) 191

kleinster Kinder, die Individualitäten und Charaktere, die Kinder vonfrüh an sind und die sich, je genauer wir sie beachten, desto deutli-cher und vielseitiger zeigen. Dem wachsenden Interesse für die Diffe-renzen, für die Originalität schon im frühen Alter hat eine differenzie-rende Kinderpsychologie auch mit erstaunlichen Forschungsergeb-nissen Nahrung gegeben: Je mehr wir über Kinder forschend erfahren,um so reicher und farbiger zeigen sich Originalität und Selbstkompe-tenz des einzelnen Kindes schon vom Beginn seines Lebens an (vgl.Stone/Smith/Murphy 1974, Kap. I).

1. Individualität von Geburt an

Ki.psych. sieht Ki. mittlerweilewesentl. differenzierter

Zum anderen stärkt und entwickelt oder auch versteckt sich das »Selbst«des Kindes in dem Gefüge der frühen Beziehungen, in denen das Kindaufwächst; das »Selbst« als ein dynamisches Konzept, als ein Finden undEntwickeln der geschlechtlichen und emotionalen Identität. Dabei ist diefrühere Sicht, die auf die Mutterbeziehung konzentiert war, ergänztworden und die Familienkonstellation im ganzen mehr in das Blickfeldgekommen (Richter 1963; Bittner u.a. 1981).

2. Bedeutg. d. frühen Bezie-hungen (insbes. Fam.konstell.)wichtig f. Entwickl. d. kindl.Selbstkonzepts

Und schließlich hat man vom Lernen her die Selbständigkeit als eige-ne, selbst gesteuerte Tätigkeit mit immer größerer Aufmerksamkeitbedacht. Die generelle reformpädagogische Forderung nach aktivemund »selbsttätigem« Lernen wird gestützt durch die Lernpsychologieund eine kognitiv orientierte Didaktik (Aebli 1975). Aber sie spielt auchim pädagogischen Verständnis des Lernens eine immer größere Rolle.

3. Lernen als selbst gesteuerterProzess wird zunehm. durchPsych. + Did. gestützt

„In der Regel wird doch rezeptiv gelernt“, wendet mancher Kollegeein; das ABC, der Dreißigjährige Krieg, die Englische Sprache sinddoch nicht aktiv hervorzubringen oder neu zu erfinden, sondern siebestehen an sich und müssen, mit Lehrer- und Bücherhilfe, angenom-men werden. Das bildet die Argumentation, die Macht des traditionel-len Lernens. Aber das Lernen wird nun einmal in dem Maße als fremd-bestimmt und unwichtig erfahren, als es nicht in Beziehung zum Den-ken, Tun und Fühlen der lernenden Kinder steht. Erst die Verbindungmit dem eigenen Tun und Denken, mit der eigenen Biographie machtdas Lernen zur eigenen Sache des Kindes. Erst wenn das Kind Interes-se gewinnt und das zu Lernende annimmt als etwas, das es selber wis-sen und können will und von sich aus in Besitz nehmen kann, bleibtdas Lernen nicht mehr nur äußerlich, sondern wird Teil des eigenenSelbst (vgl. Messner 1985).

Einwand: Traditioneller Lern-stoff wird rezeptiv gelernt

Gegenargument: Dieses Ler-nen ist bloß aufgesetzt. Ge-lerntes wird erst Teil d. eig.Persönlichk., wenn Lernen inVerbind. tritt m. eigenem Han-deln + Denken (biograph. Be-zug)

Daß das Lernen so viel wie möglich zu einer eigenen Aktivität der Ler-nenden werden und mit ihrer eigenen Aktivität verbunden werdensoll, gilt für alle Altersstufen. Aber es gilt für Kinder mit ihrem Hand-lungs- und Bewegungsbedürfnis, ihrem Mitgehen des Körpers und derSinne in aller geistigen Tätigkeit in höchstem Maße. Gewiß, auch dasgenaue Zuhören und stille Aufnehmen sollen sie lernen, auch das Ar-beiten mit Symbolen will gelernt sein. Es aber von früh an zum herr-schenden Typus des Lernens zu machen, zeugt von wenig Verständnisfür Kinder und bleibt in den Ergebnissen bei vielen von ihnen küm-merlich.

Einbezug d. kindl. Handlungs-+ Bewegungsbedürfnisses, al-ler seiner Sinne wichtiger alsabstraktes, theor. ab-gehobenes Lernen

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192 Wissenschaftliche Texte lesen, verstehen und verarbeiten

Nochmals verdichtete Zusammenfassung in eigenen Worten: Selbständigkeit zu ermutigen, ist For-derung mod. Erz. 3 Dimensionen werden dabei zunehmend beachtet:

– die Individualität des Menschen von Geburt an– die Bedeutung (familialer) Beziehungen für kindl. Selbstkonzept/Identitätsentwickl.– die Bedeutung des selbsttätigen Lernens, wobei der Lerngegenstand mit eigenem Denken, Han-

deln sowie der eigenen Biografie verbunden wird.

Beim Lernen sollen alle Sinne sowie d. kindl. Handlung- und Bewegungsbedürfnis einbezogen sowieaktivem Lernen der Vorzug gegeben werden vor abstrakter, symbolischer Rezeption.

Zu klären, unbeantwortete und kritische Fragen:

– Was ist eigentlich das „Selbst“ genau? (nachschlagen in psychologischem Wörterbuch)– Beispiele zur Eigenart kleiner Kinder fehlen (bei Stone/Smith/Murphy 1974, Kap. 1 nachlesen,

wenn es Sie stärker interessiert)– Ebenso zu den Auswirkungen der Familienkonstellation (bei Richter 1963 bzw. Bittner u. a. 1981

nachlesen, wenn Sie dieser Aspekt stärker interessiert)– Sind die Begriffe „Selbst“ und „Identität“ Synonyme? (Vergleich in psycholog. Wb.)– Warum bleiben die Ergebnisse rezeptiven und symbolischen Lernens bei vielen Ki. nach Ansicht

Flitners „kümmerlich“?

Außerdem kann man die Argumentationskette eines Textes sozusagen aus der„Vogelperspektive“ rekonstruieren, indem man der Orientierung dienliche, me-tasprachliche Begriffe wie „Fragestellung“, „Hypothese“, „Ziel“, „Randbe-dingungen“ u. a. an den Rand schreibt (in Abbildung 9-4: „Einwand“ sowie „Ge-genargument“). Welche metasprachlichen Ausdrücke dafür zweckmäßigerweiseinfrage kommen, haben STARY/KRETSCHMER (vgl. 2004, S. 111) aufgelistet.Viele verwenden für die am häufigsten vorkommenden metasprachlichen Kenn-zeichnungen eigene Abkürzungen (etwa: B oder Bsp. = Beispiel, D oder Def. =Definition, H oder Hyp. = Hypothese, Q oder Qu. = Quelle, Th = Theorie oderThese, Z = Zusammenfassung, ....) oder bestimmte Zeichen (! = wichtig, !! =sehr wichtig, ? = fraglich, �� = Widerspruch, � = Kernthese).

Auch hier ist darauf hinzuweisen, dass Randbemerkungen nur in eigenenTexten in Frage kommen. Für geliehene Literatur gibt es die Möglichkeit, ent-weder mit Haftnotizzetteln aus Papier bzw. mit „Tape flags“ (kleinen, ver-schiedenfarbigen, im Bürofachgeschäft erhältlichen, selbsthaftenden und be-schriftbaren Kunststoff-Fähnchen) zu arbeiten oder mit den altbewährtenBuchstreifen (vgl. Abbildung 9-5): Papier- oder leichte Kartonstreifen werdenso zugeschnitten, dass sie als Einlage im Buch über den Einband hinausragen.Auf dem überstehenden Abschnitt könnten Stichwörter notiert sein, worum esauf der jeweiligen Doppelseite geht. Die Breite der Streifen sollte so gewähltwerden, dass sich Platz für lesbare Randnotizen ergibt, die man so schreibt,dass sie zeilengenau neben dem Text stehen, auf den sie sich beziehen, wenndie untere Kante des Buchstreifens mit der unteren Kante des Buchblocks ab-schließt. Für Bücher aus der Bibliothek sollten Sie auf Ihre Buchstreifen auchnoch die Seitenzahlen schreiben, und wenn Sie das entsprechende Buch zu-rückgeben müssen, Ihre Buchstreifen entfernen und in einem Briefumschlag

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Das Argumentationsschema eines Textes analysieren und Argumente prüfen 193

(z. B. DIN lang, ohne Fenster) aufheben, auf dessen Vorderseite Sie noch ein-mal die bibliografischen Angaben notieren. Vielleicht brauchen Sie das Buchnoch einmal und finden dann die entsprechenden Textstellen schneller (vgl.Abbildung 9-5).

Abbildung 9-5: Buchstreifen

(Quelle: THEISEN 1993, S. 116)

9.6 Das Argumentationsschema eines Textes analysierenund Argumente prüfen

Im Abschnitt 9.3 ist schon einiges über Textsorten und Textstrukturen gesagtund auf S. 177 festgestellt worden, dass Studierende Schwierigkeiten damithaben, die Argumentation eines Textes wiederzugeben und zu den Argu-menten eigene Stellung zu beziehen. Das Problem liegt m. E. in der fehlendenVerarbeitungstiefe, die sich erst ergibt, wenn man sich intensiv mit einem Textauseinandersetzt. Der Textaufbau folgt in den Wissenschaften meist formalenTextbauplänen (s. S. 188 f. und 285) und Argumentationsfiguren (s. Abbil-dung 9-6) und ist mithilfe

– der Gliederung bzw. des Inhaltsverzeichnisses,– der Thema-Rhema-Analyse (s. Abschnitt 9.7) sowie– der Beachtung der „Gelenkstellen“ eines Textes („... Im Folgenden soll

das methodische Vorgehen kritisiert werden. ...“) und deren Kennzeich-nung mit metasprachlichen Wörtern („Methodenkritik“) herauszuarbeiten.

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194 Wissenschaftliche Texte lesen, verstehen und verarbeiten

Die Linearität des Textes lässt sich dementsprechend visualisieren (s. Ab-bildung 9.8). Die Argumentationsstruktur kann auch in grafischer Form ab-gebildet werden, etwa mit der Hilfe von Pfeilen ( A � B = A führt zu B, Bfolgt aus A; A � B = A und B sind nicht miteinander vereinbar; Widerspruchzwischen A und B; A � B = Wechselwirkung zwischen A und B). Was immerSie sich ausdenken, die Zeichen müssen eindeutig sein, sodass diese für Siezweifelsfrei in ihrer Bedeutung rekonstruiert werden können.

Abbildung 9-6: Einige Argumentationsschemata

(Quelle: WILL 2001, S. 28)

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Das Argumentationsschema eines Textes analysieren und Argumente prüfen 195

Die verwendeten Aussagen wiederum lassen sich in vier Klassen einteilen, diedie Abbildung 9-7 wiedergibt. Für jede dieser Klassen werden Beispielsätzegenannt, es wird die Frage nach dem Geltungsmodus gestellt und es werdendie Möglichkeiten der kritischen Überprüfung der vier Aussagetypen benannt.

Abbildung 9-7: Methoden der kritischen Argumentprüfung

(Quelle: ALT 2000, S. 63)

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196 Wissenschaftliche Texte lesen, verstehen und verarbeiten

9.7 Exzerpieren und Texte zusammenfassen xxxx

Neben dem Markieren von wichtigen Textstellen, dem Anbringen von Rand-notizen oder Symbolen am Seitenrand bzw. auf Buchstreifen, ist das Exzerpt(der Textauszug) ein wichtiges Hilfsmittel, um Gelesenes in eigenen Wortenund knapper Form schriftlich festzuhalten. – Exzerpieren sollten Sie allewichtigen Texte, auf die Sie für die eigene (Abschluss-)Arbeit auch zu einemspäteren Zeitpunkt noch einmal zurückgreifen wollen oder – wenn Prüfungenanstehen – müssen. Exzerpieren, d. h. das Herausschreiben, dient nicht nur dervertieften Verarbeitung von Gelesenem, sondern das verfertigte Produkt dientspäter der Wiederauffrischung von Gelerntem. Deshalb: Schauen Sie sich IhreUnterlagen – in einigem zeitlichen Abstand – des Öfteren wieder einmal an,um Gelerntes dem Vergessen zu entreißen.

Man unterscheidet komplettes und auszugsweises, an einer spezifischenFragestellung orientiertes Herausschreiben, wobei die eigene Fassung in bei-den Fällen zum größeren Teil das Wichtigste der Vorlage in eigenen Wortenumschreibt (= paraphrasiert), zum Teil aber – und dieses dann mit An- undAbführungszeichen – wortwörtlich wiedergibt wie Zitate (s. S. 241). Für beideFormen ist wichtig, dass Sie zumindest einmal die genaue bibliografische An-gabe (s. S. 255) notiert haben und die jeweils dem Ursprungstext entsprechen-de Seitenzahl fortlaufend in Ihrem Exzerpt aufnehmen. Die Seitenzahl istebenso für die Paraphrase wie für das wortwörtliche Zitat erforderlich, wennSie später die Passagen für Ihre eigene Arbeit verwenden wollen. Achten Siealso darauf anzugeben, wo ein Seitenwechsel in einem Zitat oder Paraphrase-teil vorliegt, sonst müssen Sie dieses bei späterer Verwendung eventuell amexzerpierten Text noch einmal nachprüfen!

Inhaltlich ist ein Exzerpt ausführlicher als die Randbemerkungen (s. Ab-bildung 9-4); besonders dann, wenn es sich um ein häufig verliehenes Buchaus der Bibliothek handelt, und der Originaltext später nicht zusätzlich zumExzerpt vorliegt. Wie bei den Randnotizen geht man beim vollständigen Ex-zerpieren absatzweise mithilfe der Thema-Rhema-Analyse vor: Als erstes wirddas Thema des Absatzes ermittelt und als Wort oder Wörterkombination nie-dergeschrieben. Davon getrennt sollte zumindest die Kernaussage zu diesemThema notiert werden (Beispiel: [Thema:] Lehrerrolle (LR) [Rhema:] keineErweiterung der LR, sond. Konzentration auf Kernkompetenz). – Jedes Kom-primieren eines Absatzes (s. a. Abschnitt 10.4.4) beginnt auf einer neuen Zeile.Kapitelüberschriften werden wortwörtlich abgeschrieben und durch Unter-streichung als solche kenntlich gemacht. Und bitte die Seitenzahlen nicht ver-gessen, die den Bezug zur Originalseite herstellen (wichtig für Paraphrase undZitat! – s. Abschnitt 10.5.1).

Will ich den Text nur unter einer bestimmten Fragestellung exzerpieren(Beispiel: Es liegt ein Buch vor mit dem Titel: „Das Bildungswesen der Bun-desrepublik Deutschland“, aus dem mich nur die Aussagen über die „Ge-samtschule“ interessieren), so überfliege ich den Text, sofern das Buch kein

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Exzerpieren und Texte zusammenfassen 197

gutes Sachregister hat, und schreibe nur die Angaben heraus – sinngemäß oderwortwörtlich (dann in „Anführungszeichen“) –, die die „Gesamtschule“ be-treffen. – Ein Exzerpt taugt allerdings nur dann, wenn Sie auch ohne die Text-vorlage Ihre Zusammenfassungen für weitere Arbeitsgänge verwenden kön-nen, also auch irrtumsfrei Ihre Schrift lesen bzw. Abkürzungen auflösen kön-nen. Und lassen Sie bitte Platz für spätere Zusätze und Anmerkungen.

9.7.1 Formales zu den Exzerpten

Exzerpte kann man auf Karteikarten (DIN A5 quer) niederschreiben oder aufeinseitig zu beschreibenden DIN-A4-Blättern. (Einseitig nur deshalb, weilmanchmal Schere und Klebstoff der schnellste Ausweg sind, Textteile zuübernehmen, anstelle sie abschreiben zu müssen. Das geht nicht bei beidseitigbeschriebenen Blättern.) Für handschriftliche Exzerpte verwende ich dieRückseiten von nicht mehr benötigten Computerausdrucken als Konzept- bzw.Exzerptpapier. Lochen Sie einen Papierstapel vorher mit einem Locher (mitrichtig eingestellter Anschlagschiene), damit keine Seitenzahlinformationenausgestanzt werden. Knicken Sie sich für den Anfang an allen Seiten etwa 4cm breite Ränder, sodass Sie neun unterschiedlich große Flächen haben, diefür unterschiedliche Informationen vorzusehen sind (vgl. Abbildung 9-8).

Abbildung 9-8: Exzerptpapier DIN-A4 (Ausschnitt)Blatt n desExzerptes

Bibliografische Angabe des exzerpierten Textes, auf der1. Seite komplett, auf den Folgeseiten gekürzt

Platz für Sach-gruppenangabe,Exzerptnr.

Lochrand(Seitenzahlendes exzerpier-ten Textes)

S. 173

Kapitelüberschrift wortwörtlichIhr Exzerpttext zu Absatz 1

....

Ihr Exzerpttext zu Absatz 2

....

....

Ihr Exzerpttext zu Absatz 3

Ihre Leitworte,

Kommentare,

Ergänzungen

nochmals verdichtete Zusammenfassung in eigenen Worten Evtl. Hinweis auf Fol-geblatt n + 1

� Wer einen PC an seinem Leseplatz zur Verfügung hat, sollte seine Exzerptenicht erst mit der Hand schreiben, sondern gleich in den PC eintippen. Dazusollte man sich eine Dokumentvorlage in Tabellenform anlegen. In die Kopf-

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198 Wissenschaftliche Texte lesen, verstehen und verarbeiten

zeile der Datei (nicht der Dokumentvorlage) kommen die bibliografischen An-gaben, die dann auf jeder ausgedruckten Seite stehen werden. Eine Seiten-nummerierung der Exzerptseiten kann dagegen schon in der Dokumentvorlagevorgesehen werden. – Bei der Weiterverarbeitung des mit PC geschriebenenExzerptes hat man besondere Vorteile: Ergänzungen, Kürzungen und Verbesse-rungen sind jederzeit möglich. Mit der Suche nach einem markanten Wort inallen Textdateien werden einem die Dateien aufgelistet, die dieses Suchwortenthalten. In den Texten kann man die entsprechenden Textstellen dann eben-falls mit der Suchfunktion leicht auffinden. Will man Teile des Exzerptes fürdie eigene Arbeit verwenden, so kopiert man nach dem Markieren den entspre-chenden Teil aus der Exzerptdatei in die neue Textdatei. Auch die dazugehörigebibliografische Angabe kann man gleich aus dem Exzerpt in den neuen Textübernehmen. (Ablage in einem getrennten Dateiordner und Datensicherungnicht vergessen!)

Darüber hinaus stellt sich die Frage der Aufbewahrung der Exzerpte. An ei-gene Fotokopien kann man die dazugehörigen Exzerpte anheften, in eigeneBücher die Zettel gefaltet einlegen. Doch sollen ja gerade Exzerpte für wich-tige Bücher aus der Bibliothek angefertigt werden, die dann, wenn man drin-gend auf sie zurückgreifen möchte, meist ausgeliehen sind. Solche Exzerptekönnen Sie in Archivboxen, Stehsammlern, Ordnern oder Karteikästen auf-bewahren (s. Abschnitt 5.4). Ich hefte meine Exzerpte fortlaufend nummeriert(z. B. „E 45“ = Exzerpt 45) in Ordnern ab, und notiere mir auf der Literatur-karteikarte bzw. in meiner Literaturdatenbank, dass es zu dem Buch aus derBibliothek mit der Signatur „Päd 2a2/kru 1“ ein Exzerpt mit der Nr. „E 45“gibt. Als Dateinamen vergebe ich „E45_Kruse.doc“ und speichere die Dateiim (elektronischen) Verzeichnis „Exzerpte“. Führt man darüber hinaus nocheine Schlagwörterkartei (elektronisch z. B. mittels „CUEcards“ – s. S. 288),können auch dort Hinweise auf das entsprechende Exzerpt vermerkt werden.

Karteikarten für Exzerpte sollten mindestens DIN-A5-Querformat haben,sonst geht zuwenig auf eine Karte. Auch bei Exzerpten auf Karteikarten sind(schmale) Ränder für die Informationen wichtig, die auch auf den Rändern derDIN-A4-Blätter stehen. Die Karteikartentechnik eignet sich allerdings besserfür eine Definitions- oder Zitatenkartei auf DIN-A6-Karteikarten (s. Abbil-dung 9-9), die dann – nach Schlagwörtern geordnet – in einem Karteikastenabgestellt werden, der so auch als Lernkartei dienen kann, z. B. für eine Klau-survorbereitung.

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Exzerpieren und Texte zusammenfassen 199

Abbildung 9-9: Definititions- oder ZitationskarteikarteHandeln, soziales (Definition) Sozialpsych.

S. 321 „Zusammenfassend definieren wir Handeln als das bewusst s. H = Verhalten eineszielgerichtete und geplante, gewollte und von Emotionenbegleitete, sozial gesteuerte und kontrollierte Verhalten ei-nes Handelnden (Aktors).“

Aktors, und zwar:1. bewusst zielgerichtet2. geplant3. gewollt4. von Emotionen begleitet5. sozial gesteuert & kontrolliert

CRANACH, Mario von/KALBERMANN, Urs: Soziales Handeln.In: Sozialpsychologie. Dieter Frey/Siegfried Greif (Hrsg.). –München 1983, S. 321-325

Hinweis auf möglicheFolgekarten

Ein weiteres Karteikarten-Verfahren besteht darin, einseitig beschriebeneDIN-A4-Exzerptblätter (diesmal die Rückseite unbedruckt bzw. unbeschrie-ben) so auf DIN-A6-Format zu falten (vgl. Abbildung 9-10), dass der Exzerpt-Text nicht mehr zu sehen ist und nun dieses 2-mal gefaltete Blatt wie eineKarteikarte nahe des Faltrands beschriftet werden kann, indem die vollständi-ge bibliografische Angabe (bei Büchern aus der Bibliothek mit Signatur) aufdieser „Karteikarte“ notiert wird. Handelt es sich nicht um allzu viele Folge-blätter, können diese gemeinsam in der beschriebenen Weise gefaltet und indie Literaturkartei (s. Abschnitt 5.3.1) einsortiert werden.

Abbildung 9-10: Von DIN-A4 auf DIN-A6 gefaltetes Karteiblatt

Diese Methode kann auch für eine tabellarische Auswertung von Literatur ge-nutzt werden. Hat man ein unbeschriebenes DIN-A4-Blatt zweimal so gefaltet,dass die längere Strecke jeweils halbiert wird, sind acht gleich große Flächengegeben. Die durch Faltung entstandenen Innenflächen könnten jeweils linksoben Überschriften tragen wie: „Ziel des Buchs:“, „Inhalt:“, „Problem-/Frage-stellung:“ (darunter könnten Ihre W-Fragen stehen), „Problemlösung/Antwor-ten:“. Bei der Beschriftung der Außenseite muss darauf geachtet werden, dass

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200 Wissenschaftliche Texte lesen, verstehen und verarbeiten

nahe am Faltrücken die Ordnungszeile angelegt wird, unter der die „Kartei-karte“ alphabetisch/systematisch in den Kasten einsortiert werden soll. Unterder Ordnungszeile sollten die vollständigen bibliografischen Informationenstehen einschließlich der Bibliothekssignatur, wenn Sie die Literatur entliehenhaben. Auf die übrigen Flächen Ihrer Tabelle können Sie Textauszüge als Zi-tate oder Paraphrasen eintragen oder die Kategorien der Rhetorik (s. Abbil-dung 9-3) nutzen. Schön ist auf der „Rückseite“ eine „Kurzübersicht zum In-halt“ oder Ihre persönliche Bewertung des Aufsatzes oder Buches (z. B.: „+neueste Literatur verarbeitet“, „– implizit normativ“), sodass Sie nach demZiehen dieser „Karte“ eine schnelle Übersicht haben. Wenn Sie solche Blätterdann mit dem Faltrücken nach oben in einen Karteikasten stellen, kann mansich aus DIN-A4-Blättern eine kostengünstige und informative Kartei schaf-fen, die z. B. auch komprimierte tabellarische Zusammenfassungen oderSchaubilder aufnimmt oder die zwischen Karteikarten sortiert werden kann,entweder in der Literaturkartei oder in der Lern-/Arbeitskartei (wenn beide imFormat DIN-A6 geführt werden).

9.8 Gelesenes verarbeiten

Da das Behalten verbessert wird, indem Sie sich immer wieder in Abständen mitbereits Gelerntem beschäftigen, sollten Sie wichtige Literatur nicht nur ex-zerpieren, sondern Texte weiter verdichten bzw. mit Ihrem bisherigen Wissenvernetzen. Die Komprimierungstechniken helfen, die Verarbeitungstiefe imRahmen der Rekapitulation des Gelesenen zu erhöhen, weil man sich etliche Ge-danken zu den einzelnen Kategorien machen muss, die man darstellen will, undmöglichen Relationen zwischen den Begriffen. Bei der Relationendarstellunggibt es unterschiedliche Möglichkeiten wie z. B. Flussdiagramme oder die Netz-werk-Technik (vgl. STARY/KRETSCHMER 2004, S. 120-129).

9.8.1 Tabellen

Gelesenes kann auch in eine Tabellenform gebracht werden (vgl. Abbildung9-11), was besonders bei Vergleichen oder Zusammenfassungen angebrachtsein kann (vgl. Abbildung 9-12). Durch die intensive, wiederholte Beschäfti-gung mit dem Lernstoff werden mithilfe von didaktischen Prinzipien wie Ein-fachheit bzw. Übertreibung/Kontrastverstärkung die Gemeinsamkeiten undUnterschiede herausgearbeitet. Selbstverständlich müssen die Schemata undTabellen noch die notwendige wissenschaftliche Differenzierung aufweisen,aber durch die Elaboration wird das Gelernte besser in das vorhandene Wissenintegriert.

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Gelesenes verarbeiten 201

Abbildung 9-11: Die Fachsprache der Erziehungswissenschaft seit dem Endedes 18. Jahrhunderts (zu dem Text LENZEN/ROST 1998)

1. Phase: 1779 – ca. 1890 2. Phase: ca. 1890 – 1963 3. Phase: seit 1963

Wurzeln d. Päd:Theologie u. prakt. Philoso-phie

Gesellschaftserwartungenan Päd.: Deutungsmuster +Handlungsorientierungen

Schriften alltagsfixiert, starknormativ

Begriffe aus der Erz.praxis inpäd. Wiss. übernommen

bestandskrit. Phase durch2 Provokationen:

(1) Reformpäd. +(2) Historismus

zu 1.: Gegenbewegung zurbürokrat. + entfremdetenSchule; Kritik am Herbartia-nismus

zu 2.: geschichtsphilosoph.Relativierung; DiltheysGrundlegung d. Geistes-wiss. + Ausbau d. Herme-neutik � Geisteswiss. Päd.Relativierung der Erzie-hungswirklichkeitBegriffe aus der Erz.praxis inpäd. Wiss. übernommen

(vereinzelte erfahrungswiss. Vorläufer ab 1900:Meumann, Lochner)1963 „realistische Wendung“ (Heinrich Roth,Göttingen)Entwickl. zur sozialwiss. orientierten Erziehungs-wissenschaft; starke Anlehnung an US-amerikanische Psychologie und Soziologie

Neue Paradigmen: Empir.-analyt. Erzwiss. undKritische Erzwiss., orientiert an psycholog. Unter-richtsforschung resp. Frankfurter Schule (Hork-heimer/Adorno);

Auslöschung geisteswiss. Terminologie, Einset-zung neuer, weniger nationalsprachl. Termini;charakteristische Differenz zw. handlungswiss. u.analytischem Selbstverständnis

Begriffe aus der Erzwiss. z. Teil in die Erz.praxisdiffundiert

Textsorten:fiktionale Lit.erziehungstheoret.Monografien200 Jahrbücher/Zs./ReihenKompendien (= kurzgefass-te Lehrbücher)staatl. RichtlinienNachschlagewerke

Textsorten:wie 1. Phase +Polemiken und Streitschrif-ten

Textsorten:– erzwiss. Lit. (Monografien, Abhandlungen)– Lehrbuch– Praxisanleitung– Einführungen, Grundkurse– Propädeutiken– Geschichten der Päd.– kasuistische Lit.– Streitschriften + Polemiken– empir. Untersuchungen

weitere Charakteristika:

keine rein wiss. Semantik,kaum nichtsprachl. Mittel;Sprechakttypus der Auffor-derung sehr häufig; positi-vistische Faktendarstellung,Behauptungen von Bewer-tungen nicht getrennt;Interjektionen,indoktrinärer Stil,aber auch Ausnahmen:z. B. Herbart (differenziert,konditional, argumentativ)

weitere Charakteristika:

vertikale Schichtung zw.(A) Lebenspraxis u.(B) akadem. Literaturnicht immer durchgehalten

zu A: futurische Form,tendenziell prophetisch,religiös bekehrend; Meta-phern, Semantik antiszienti-fisch; performatorischerSinn indoktrinär; Behaup-tungssätze mit implizitemAufforderungscharakter

zu B: Ausbildung der geis-teswiss. Fachterminologie;Präteritum anstelle Futur,dennoch stark affirmativ;ungebrochene Semantik, In-terpretation im hermeneut.Zirkel;wenig nichtsprachl. Mittel,stattdessen Metaphern

weitere Charakteristika:

Syntax schwer klassifizierbar; hochkomplex undoft unverständlich.Nichtsprachl. Mittel haben beträchtl. Stellenwert.

Im Streit zw. geistesw. Päd., krit. Erzwiss. u. em-pir.-analyt. Erzwiss. spielten Begriffe als Leitfor-meln wichtige Rolle zur Erkennung von In- undOutgroup – Dennoch: gemeinsame Orientierungan Rationalität

Fazit: diskontinuierliche Entwicklung;schwindende nationalsprachl. Terminologie,wenig terminolog. Eigenständigkeit, rascherModenwechsel,semantisch selten trennscharf;von Berufspraxis zurückhaltend rezipiert.Polit. Teilung Dtschl. in Terminologie bemerkbar,muss noch erforscht werden

Ausblick: Postmoderne-Diskussion: „anythinggoes“

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Gelesenes verarbeiten 203

9.8.2 Texte visualisieren

Eine weitere Verdichtung von Textinformationen kann in Schaubildern erfolgen.Deren Erarbeitung erfordert zwar auf der einen Seite eine noch intensivere Aus-einandersetzung mit dem Text, auf der anderen Seite kann der Inhalt solcherSchaubilder viel schneller erfasst und wiederholt werden als durch das Durchle-sen von Exzerpten. Schaubilder bleiben im Gedächtnis viel besser haften, weilsolche Schemata, wenn sie übersichtlich sind, ganzheitlich erinnert und rekon-struiert werden können, zumindest von eher visuell Lernenden. – Deshalb soll andieser Stelle noch einmal daran erinnert werden, dass Sie beim Lesen insbeson-dere auch den Abbildungen Beachtung schenken sollten!

Abbildung 9-13: Visualisierungsbeispiel zum Netzwerk des Lernens

(Quelle: VESTER 1996, S. 169)

STARY/KRETSCHMER (vgl. 2004, S. 121-129) stellen Texte und deren Bearbei-tung mithilfe der Netzwerk-Technik und des Mind-Mappings vor (vgl. auchBUZAN 1998; HERTLEIN 1999). Während bei der Netzwerktechnik oftmalsBegriffe in Kästchen, Kreisen oder Ellipsen und Relationen durch verschiede-ne Pfeilformen dargestellt werden (vgl. Abbildung 9-13), geht die „Mindmap-Technik“ von einem zentralen Thema aus, das in die Mitte der Seite geschrie-ben wird. Von dort aus werden „Äste“ und weitere Zweige angelegt, die fürzusammenhängende bzw. gesonderte Aspekte stehen (vgl. Abbildung 9-14).Gerade das „Mind-Mapping“ eignet sich für die Strukturierung von Inhaltenzu einer Wissenslandkarte oder für die Exposition eines Textes (vgl. Abbil-dung 11-4), bevor man ihn schreibt. Das Mind-Mapping ist weiterentwickelt

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worden zum Verfahren des Cluster-Mappings. Hierbei wird nicht von einemzentralen Thema in der Mitte des Blattes ausgegangen, sondern ein Cluster- oderConcept-Map kann mehrere Zentren auf dem Blatt haben, die miteinander inRelationen stehen (vgl. NÜCKLES u.a. 2004). – Anhand einiger Beispiele sollnachhaltig demonstriert werden, dass solche Schaubilder Aussagekraft haben(vgl. die Abbildungen 9-15 und 9-16). Die Auseinandersetzung mit ihnen hilftbesonders, Lerninhalte zu Superzeichen zu verdichten und längerfristig zu be-halten. Noch besser ist es, selbst solche Tabellen oder Schaubilder zu erstellen.

Abbildung 9-14: Mind Map zum Thema Lesen und Exzerpieren

(Quelle: ESSELBORN-KRUMMBIEGEL 2000, S. 74)

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Abbildung 9-15: Doppelcluster-Map zu Freud und Adler

(Quelle: VON WERDER 1998, S. 31)

Abbildung 9-16: Schaubild zum Thema Französische Revolution

(Quelle: SEEL 2000, S. 177)

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206 Wissenschaftliche Texte lesen, verstehen und verarbeiten

9.8.3 Begriffe klären, Sachverhalte prüfen, aufgeworfenen Fragennachgehen

Bei allen diesen Lese- und Verarbeitungsprozessen dürfen Sie es nicht ver-säumen,

– Wörter nachzuschlagen, die Sie nicht verstanden haben. Dazu sollten Sievon Beginn an zumindest ein Fremdwörterbuch und ein Fachwörterbuchmit möglichst vielen Fachtermini an Ihrem Arbeitsplatz zur Verfügunghaben.

– bei den geringsten Zweifeln Sachverhalte zu prüfen. Sind Verweise aufQuellen angegeben, sollten Sie diese als Erstes prüfen. Darüber hinauskönnen natürlich auch andere Quellen und Informationen gesucht werden(s. Kapitel 8).

– Fragen nachzugehen, die der Text offenlässt und die Sie interessieren. Aussolchen Fragen kann sich beispielsweise das Thema für eine schriftliche(Abschluss-)Arbeit ergeben.

– eigene Textauszüge, selbsterstellte Tabellen und Schaubilder in der Grup-penarbeit anderen zu erläutern und ihre Richtigkeit in der Diskussion zuüberprüfen. Dazu müssen sich andere genausoviel Mühe geben wie Siemit der Erstellung dieser Materialien.

9.9 Kritik an Texten üben

Textkritik und Sachkritik sollten nach Möglichkeit getrennt werden (vgl. zumFolgenden u. a. HACKENBROCH-KRAFT/PAREY 1998). Textkritik legt den Au-genmerk auf den Aufbau, die Textstruktur, den Stil und die verwendete Spra-che, etwa mit den Fragen:

– Von welchen Voraussetzungen geht der Text aus?– Werden diese Voraussetzungen im Blick behalten?– Wie wird argumentiert?– Gibt es Widersprüche oder Brüche in der Argumentation?– Stehen Voraussetzungen, Argumentation und Schlussfolgerung in einem

stimmigen, d. h. widerspruchsfreien Zusammenhang?

Die Sachkritik hingegen kann nicht so formal erschlossen werden. Der Schwer-punkt liegt nun auf der inhaltlichen Reflexion des Textes mithilfe des eigenenVorwissens; d. h. seiner Prüfung an der je eigenen Erfahrung bzw. an der se-kundär vermittelten Erfahrung anderer. Im Wissenschaftsbereich setzt diesFachwissen bzw. die Bereitschaft voraus, sich fehlendes Fachwissen anzueig-nen. Folgende Fragen führen zu einer Sachkritik eines Textes:

– Werden Probleme angemessen bzw. sachlich richtig dargestellt?– Wie ist der methodische Ansatz einzuschätzen?

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Kritik an Texten üben 207

– Können Aussagen des Textes kritisiert werden, indem sie mit Aussagen,Hypothesen, Theoremen anderer Texte verglichen oder durch sie ergänztwerden?

– Welche Quellen wurden herangezogen?

Zusammenfassung

Selbst wenn man lieber empirisch oder praktisch arbeiten würde: Am Lesenführt kein Weg vorbei, weil wissenschaftliche Ergebnisse zumeist schriftlichvorliegen. Wer nicht so gerne liest, der sollte einerseits seine Motivation zumStudium überprüfen, andererseits vielleicht mit kleinen Belohnungen versu-chen, seine Abneigung gegen das Lesen zu überwinden. Vor allem sollte der-jenige jedoch die Methode der Relevanzprüfung (s. Abschnitt 8.5) anwenden,um herauszufinden, ob ein Text für ihn und seine Fragestellung wichtig istoder nicht. Danach kommt es wiederum auf die Auswahl der richtigen Lese-methode an, je nachdem, was mit dem Text bezweckt wird. In der Regel reichtjedoch einmaliges Lesen eines wissenschaftlichen Textes nicht aus. Da Sie diemeisten Wörter aus dem alltäglichen Sprachgebrauch kennen, kommt denjeni-gen Termini besondere Aufmerksamkeit zu, deren Bedeutung Sie nicht odernur vage kennen. Dies sind meist die Schlüsselwörter, die Sie nachschlagenund deren Bedeutung Sie lernen sollten. Danach laufen semantische Prozesseautomatisch ab. (Na, wissen Sie noch die Bedeutung von „semantisch“?) – Fürdas lernende Durcharbeiten empfehle ich die „Sechs-Schritt-Methode“. Hierkommt es besonders darauf an, Themen und Aussagen des Textes zu identifi-zieren und später aus dem Kopf niederzuschreiben. Wichtig ist jedoch abschlie-ßend die Überprüfung am Text, um die Wahrnehmungsfehler richtigzustellenund Erinnerungslücken zu füllen. Zwingen Sie sich dazu, Sachverhalte in eigeneWorte zu fassen, weil dadurch ebenso eine bessere Verarbeitungsqualität erreichtwird wie mit der Verdichtung von Gelerntem in Exzerpten, Kategorienschemataoder Schaubildern.

� Wer sich noch ausführlicher mit dem Lesen und Durcharbeiten von wissen-schaftlichen Texten beschäftigen will, greife zu dem Buch von STARY/KRETSCH-MER (vgl. 2004). Lutz VON WERDER (vgl. 1994) beschreibt noch mehr Leseme-thoden für wissenschaftliche Texte und zeigt an Beispielen auf, wie sie kreativeingesetzt werden können. Wer seine Kenntnisse zum komplexen Vorgang desTextverstehens noch vertiefen möchte, der lese nach bei Heiner WILLENBERG

(vgl. 1999) bzw. Jürgen GRZESIK (vgl. 2005). Wer schneller lesen möchte,sollte sich das Buch von Rotraut und Walter U. Michelmann ansehen (vgl.MICHELMANN/MICHELMANN 1998).

Strategien zur Zusammenfassung wissenschaftlicher Fachtexte finden Sie indem Werk von KRETZENBACHER (vgl. 1990). Wichtiger für Anfänger als dieletzte Empfehlung ist jedoch das Buch von Detlef H. ROST (vgl. 2005) zum

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208 Wissenschaftliche Texte lesen, verstehen und verarbeiten

Lektüreumgang mit empirischen Untersuchungen. Das Erkennen von empiri-schen Fehlinformationen durch Querdenken vermittelt sehr unterhaltsam dasBuch „Der Hund, der Eier legt“ von DUBBEN/BECK-BORNHOLT (2006).