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Sprachstandserhebung in multikulturellen Volksschulklassen: bilingualer Spracherwerb in der Migration A ku i sprecham Deutsch ć

A kući sprecham Deutsch. Sprachstandserhebung in ... · gleiche mit dem Erwerbsverlauf unter monolingualen Bedingungen herstellen zu können, wurden ... Testserien auf Deutsch getestet,

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Sprachstandserhebung in

multikulturellen Volksschulklassen:

bilingualer Spracherwerb in der Migration

A ku i sprecham

Deutsch

ć

A kući sprecham DeutschSprachstandserhebung in multikulturellen Volksschulklassen:

bilingualer Spracherwerb in der Migration

Teil I:Psycholinguistische Langzeitstudie

Teil II:Soziolinguistische Begleitstudie

Projektleitung

Univ.-Prof. Dr. Annemarie Peltzer-Karpf

Impressum:

Eigentümer, Herausgeber und Verleger:Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur

Abt. I/5, Referat für Migration und SchuleLektorat, Layout, Satz und Umschlaggestaltung:

Laudenbach Satz & DTP, 1070 Wien2. unveränderte Auflage, Wien 2011

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5Vorwort zur 1. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

Teil I: Psycholinguistische Studie

Vorwort der Projektleiterin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1. Wegweiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112. Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153. Die Entwicklung von Systemen in der Erst-, Zweit- und Fremdsprache . . . . . . . . . . . . . . . . 254. Details zur Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355. Spontansprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386. Tests auf Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597. Tests auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 848. Tests auf Türkisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 999. Textkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

10. Die frog-story-Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13711. Dynamik im Zeitraffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15612. Fremdsprachenerwerb Englisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17613. Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18714. Spracherwerb in der Heimat vs. Spracherwerb in der Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20415. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21416. Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21717. Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Teil II: Soziolinguistische Begleitstudie

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2552. Individuelle, soziale und gesellschaftliche Variablen im Zweitspracherwerb

von Migrantenkindern in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2593. Bildungs-, Sprach(en)- und Minderheitenpolitik der Herkunftsländer

der Migrantinnen als Variablen im Spracherwerb von Eltern und Kindern . . . . . . . . . . . . . . . 2804. Zusammenfassung: Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Vorbemerkung zur 2. Auflage

Die im Jahr 2006 unter dem Titel „A kući sprecham Deutsch“ veröffentlichte Langzeitstudie zum bi-lingualen Spracherwerb in der Migration war zum Zeitpunkt ihres Erscheinens ein absolutes Novumnicht nur in Österreich, sondern im gesamten deutschsprachigen Raum.

Seither hat das Interesse an wissenschaftlichen Befunden zur sprachlichen Entwicklung lebens-weltlich mehrsprachiger Kinder deutlich zugenommen. PraktikerInnen und ForscherInnen, Personenaus der Lehreraus- und -weiterbildung sowie eine nicht unbeträchtliche Anzahl an Studierenden äußer-ten immer wieder den Wunsch nach einer Neuauflage der Publikation. Diesem Wunsch wird mit dervorliegenden unveränderten 2. Auflage entsprochen, die – so steht zu hoffen – die Ergebnisse dieserrichtungsweisenden Studie zahlreichen neuen Leserinnen und Lesern erschließen wird. Aus Kosten-gründen kann diese umfangreiche Publikation allerdings nur online als PDF-Download zur Verfügunggestellt werden.

Elfie Fleck

Referat für Migration und Schule im bm:ukk

Vorwort zur 1. Auflage

Sprachliche und kulturelle Vielfalt ist in den meisten österreichischen Volksschulen längst schon dieRegel und nicht mehr die Ausnahme. Die heterogene Zusammensetzung der Schulklassen eröffnet al-len am Bildungsprozess Beteiligten spannende Lernfelder, sie stellt aber auch für die betroffenen Leh-rerinnen und Lehrer eine beträchtliche Herausforderung dar.

Um diese erfolgreich zu bewältigen, ist ein fundiertes Wissen um die Bedingungen des Zweit-spracherwerbs in der Migration eine wesentliche Voraussetzung. Dabei kann die Sprachwissenschafteinen wertvollen Beitrag leisten, indem sie die Prozesse, die der kindliche Spracherwerb durchläuft,transparent macht und in einer allgemein verständlichen Form präsentiert.

Es ist das Verdienst der vorliegenden Langzeitstudie, an insgesamt sechs Schulstandorten diesprachliche Entwicklung von über 100 Volksschülerinnen und Volksschülern unterschiedlichster Her-kunftssprachen vom Schuleintritt bis zum Ende der 4. Klasse der Volksschule wissenschaftlich beglei-tet und akribisch dokumentiert zu haben.

Drei Mal im Jahr wurde bei allen SchülerInnen der Sprachstand auf Deutsch erhoben; bei Kindernmit Bosnisch/Kroatisch/Serbisch oder Türkisch als Erstsprache wurde gleichzeitig die sprachlicheEntwicklung in ihrer Muttersprache verfolgt. Zusätzlich wurden die ersten Schritte in der Fremdspra-che Englisch in die Erhebung miteinbezogen. Diese umfassende psycholinguistische Studie wurdedurch eine soziolinguistische Begleituntersuchung ergänzt, um aufzuzeigen, welche außersprachlichenFaktoren den Spracherwerb beeinflussen.

Mit der vorliegenden Publikation sollen die Ergebnisse dieses umfangreichen Forschungsprojektseinem interessierten Fachpublikum vorgestellt werden. Wir wünschen allen Leserinnen und Leserneine anregende Lektüre, viele neue Einsichten und vor allem brauchbare Denkanstöße für die eigeneArbeit.

Elfie Fleck

Referat für interkulturelles Lernen im bm:bwk

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Teil I

Psycholinguistische Studie

Psycholinguistische Studie

Projektleitung

Annemarie Peltzer-Karpf

MitarbeiterInnen

Reva AkkușTina Blažević

Marion GriesslerDiana Karabinova

Ruth KümmelKlaus LederwaschDijana PiwonkaBarbara Schwab

Petra SundlVera Wurnig

Glossar

Eva Rabitsch

Vorwort der Projektleiterin

Dieser Bericht lässt vier Jahre Projektarbeit Revue passieren und gibt somit Information über die Dy-namik der Systementwicklung in vier Sprachen. Das bedeutet, dass die Ergebnisse von rund 2.000 Ein-zeltests mit über 100 Kindern zusammengefasst werden, wobei nicht nur Veränderungen innerhalbder einzelnen Systeme, sondern auch ihr mitunter intensiver Kontakt zur Sprache kommen. Kurz, jelänger die Studie währte, desto komplizierter wurde der Weg durch das Labyrinth der Daten, durch dassich die Kinder und das Projektteam bewegten. Wir haben uns jedenfalls um Klarheit in der Darstel-lung des multilingualen Geschehens bemüht und unsere Überlegungen durch zahlreiche Beispiele il-lustriert.

Eine weitere Dimension wurde durch eine im vierten Jahr ergänzend durchgeführte soziokulturelleStudie (siehe Teil II) eröffnet, welche die Rahmenbedingungen des Spracherwerbs in der Migrationsondierte. Um den unterschiedlichen Schwerpunkten der aufeinander bezogenen Studien gerecht zuwerden, präsentieren wir die intern ablaufenden Prozesse und die von außen geschaffenen Bedingun-gen im Doppelpack. Der psycholinguistische Teil informiert über die sprachlichen Wachstumsschübevon sechs bis zehn Jahren, die soziolinguistische Begleitstudie überprüft, welche Chancen den Kinderngeboten wurden, ihre Sprachen im Kontext von Schule, Familie und Gesellschaft zu erwerben undweiterzuentwickeln.

Um das Tempo und die Präzision des Spracherwerbs genau zu recherchieren, wurden über die vierProjektjahre hinweg regelmäßig Daten erhoben. Die SchülerInnen mit Türkisch oder Bosnisch/Kroa-tisch/Serbisch (in der Folge: BKS) als Erstsprache haben uns sechsmal pro Jahr Interviews gewährt,(Bild)Geschichten erzählt und Testfragen beantwortet. Die anderen Kinder kamen nur dreimal proJahr an die Reihe. Allen Kindern sei für ihr Engagement, ihre Geduld und ihre Originalität herzlich ge-dankt. Immerhin können sie von sich behaupten, dass ihre Sprachentwicklung in mindestens zweiSprachen über vier Jahre hinweg sorgfältig dokumentiert wurde und dass ihre Daten allen Interessier-ten zur späteren Einsicht zur Verfügung stehen.

Wir hatten das Glück, vier Jahre lang in einem (mitunter bereicherten) stabil gebliebenen Team die-selben Kinder zu untersuchen. Und wir hatten gotzeidank (um eine Siebenjährige zu zitieren) immerFrau Mag. Elfie Fleck vom bm:bwk, Referat für interkulturelles Lernen, an unserer Seite. Wir dankenauch den Lehrerinnen und den Direktionen der sechs an der Studie beteiligten Wiener Volksschulen.Es ist zu hoffen, dass die Ergebnisse nicht nur über die beachtlichen Leistungen vor allem der Migran-tenkinder informieren, sondern auch als Diskussionsgrundlage für bildungspolitische Entscheidungenfungieren können.

Annemarie Peltzer-Karpf

für das Projektteam

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1. Wegweiser

Der Titel dieser Einleitung ist in zweifacher Hinsicht zu verstehen: Erstens soll darauf hingewiesenwerden, dass diese Studie wegweisend für weitere bildungspolitische Entscheidungen sein könnte undzweitens ist sie eine Programmvorschau auf das fünfte und letzte Forschungsjahr zum bilingualenSpracherwerb in der Migration.1

Wir präsentieren die Ergebnisse einer Langzeitstudie zu einem Thema, das bislang nur am Randeder weltweit florierenden Spracherwerbsforschung beachtet wurde. Es gibt mittlerweile eine Fülle voninterdisziplinär orientierten Studien zum Erstsprachenerwerb (Banich & Mack 2003; Tomasello 2003),eine beachtliche Anzahl von Publikationen zum Erwerb einer Fremdsprache (Bausch, Christ &Krumm 42003), aber noch kaum Untersuchungen, die sich mit dem bilingualen Spracherwerb in derMigration beschäftigen (Edwards 1998; Broeder & Extra 1999; Belke 2001). Vor allem nicht solche, diesowohl die weitere Entwicklung der Erstsprache als auch die durch den Start in eine neue Sprache aus-gelösten Prozesse berücksichtigen.

Im konkreten Fall haben wir an sechs Wiener Volksschulen nicht nur die Weiterentwicklung derErstsprachen Bosnisch, Kroatisch, Serbisch und Türkisch ab sechs Jahren untersucht, sondern auchden Erwerb von Deutsch als Unterrichtssprache und Englisch als Fremdsprache beobachtet. Um Ver-gleiche mit dem Erwerbsverlauf unter monolingualen Bedingungen herstellen zu können, wurdenüber die gesamte Projektzeit hinweg auch die deutschsprachigen MitschülerInnen getestet und zudemKontrolluntersuchungen in Bosnien und in der Türkei durchgeführt. Wir haben uns also eine Volks-schulzeit lang in einem multilingualen und multikulturellen Raum bewegt, um möglichst adäquat den1999 erteilten Forschungsauftrag des bm:bwk zu erfüllen: eine Sprachstandserhebung des bilingualenSpracherwerbs in der Migration durchzuführen.

Die kurze Geschichte dieser Langzeitstudie ist bereits 2002 nach drei Projektjahren erschienen(Peltzer-Karpf et al. 2002). Hier ist nun die lange Geschichte, die vier Jahre Projektgeschehen Revuepassieren lässt und die Dynamik des bilingualen Erst-, Zweit- und Fremdsprachenerwerbs analysiert.Zu erwähnen wäre noch, dass über jedes Projektjahr ein umfassender Bericht verfasst wurde, um mehrDaten und Zwischenergebnisse präsentieren zu können. Diese Einzelberichte umfassen insgesamt gut1.000 Seiten und dokumentieren etwa 2.000 psycholinguistische Tests, Untersuchungen der Textkom-petenz und Interviews zur Spontansprache.

Um eine erste Information über die breite Palette der Projektarbeit zu vermitteln, skizzieren wir imFolgenden die Rahmenbedingungen der psycho- und pragmalinguistischen Forschung, die währendder vier Jahre konstant gehalten wurden: Die Untersuchungen liefen parallel in vier bzw. sechs Spra-chen, wenn Bosnisch, Kroatisch und Serbisch extra gezählt werden. Unter den ProbandInnen warenauch Kinder mit Erstsprachen wie Arabisch, Albanisch, Hindi, Polnisch oder Slowenisch, die aller-dings nur in der Unterrichtssprache Deutsch und der neuen Fremdsprache Englisch, jedoch nicht inihrer Erstsprache getestet wurden.

Für die Sprachen Deutsch, BKS, Türkisch und Englisch wurden (unter Berücksichtigung sprach-spezifischer Besonderheiten) parallele Tests entwickelt, die sich in jeder Testphase an die jeweiligeKompetenz der Kinder anpassten. Das Fragerepertoire für die Untersuchung der Spontansprachewurde crosslinguistisch akkordiert, dies gilt auch für den speziell für dieses Projekt entwickelten Spon-tanspracherahmen und Testrahmen für die Analyse von Texten (Details werden in Abschnitt 4 be-

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1 Im 5. Laufjahr wurde die sprachliche Entwicklung von ca. 20 Kindern mit den Erstsprachen BKS und Türkisch exemplarischweiterverfolgt. Die Ergebnisse aus psycholinguistischer, soziolinguistischer und psychagogischer Sicht sind in zwei Berichtendokumentiert, die beim Referat für interkulturelles Lernen im bm:bwk erhältlich sind.

schrieben). Wichtig ist hier noch der Hinweis, dass alle Daten im weltweit vernetzten CHILDES-Sys-tem transkribiert wurden, das besonders für die abschließende Diagnose des bilingualen Spracher-werbs ideale Analysemöglichkeiten bietet.

Die computergestützte Analyse empfiehlt sich auch angesichts des riesigen Datenpools. Dennschon in einem Jahr ergibt die Korrelation aus der Zahl der Sprachen und ProbandInnen die stattlicheAnzahl von über 600 Tests. Diese Zahl errechnet sich wie folgt: Jedes der 106 Kinder wurde in dreiTestserien auf Deutsch getestet, dazu kommen 40 Tests in BKS, 26 Tests in Türkisch und 342 Tests inEnglisch. Es gibt daher in der Testgruppe Kinder, die neun Mal pro Jahr jeweils eine halbe Stunde indrei Sprachen getestet wurden. Die Untersuchung der Kontrollgruppen in Bosnien und der Türkeiwurde hier nicht mitberechnet. Und auch wenn es hier nicht so aussieht: Den Kindern haben die TestsSpaß gemacht.

Um ein Vielfaches multiplizieren sich die oben genannten Zahlen dann, wenn man auch die in dieeinzelnen Sprachen involvierten Systeme in Betracht zieht. Aber auf diese Kalkulation wollen wirhier verzichten. Wir bringen stattdessen in Fig. 1.1 einen Querschnitt mit den jeweils untersuchtenSystemen:

Dieser grafisch untermalte Exkurs sollte einen Einblick davon vermitteln, in welcher sprachlichenVielfalt sich das Projektteam ständig bewegt hat. Komplexität ist auch bei den theoretischen Grundla-gen angesagt: Bei der Interpretation der Daten orientieren wir uns an der dynamischen Systemtheorie,die besonders bei Langzeitstudien wichtige und interessante Befunde ermöglicht. Dies gilt sprachin-tern und crosslinguistisch. Für das Projekt bedeutet dies, dass einerseits innerhalb eines Sprachsystems,also Deutsch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Türkisch und Englisch, die Entwicklung von Semantik &Lexikon, Morphosyntax, der Textkompetenz und der Kommunikation untersucht werden, anderer-seits auch das Wechselspiel zwischen den Sprachen und das unterschiedliche Tempo, in dem sich dieeinzelnen Systeme organisieren.

Kommen wir nun (in geraffter Form) zur eingangs angekündigten Programmvorschau:Die Abschnitte 2 und 3 skizzieren die theoretischen Leitlinien für die Datenanalyse quer durch alle

Systeme und folgen verschiedenen Varianten des Spracherwerbs entlang eines chaotischen Pfades. ZurSprache kommen Übergeneralisierungen und Fluktuationen in der Regelanwendung, die Fortschritteanzeigen, während reproduzierte Formeln, die nicht produktiv erweitert und verändert werden, die

Teil I – Psycholinguistische Studie

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Fig. 1.1: Schematische Darstellung der pro Sprache untersuchten Systeme

Türkisch – BKS – Deutsch – Englisch

2 Diese Zahl 34 ergibt sich daraus, dass angesichts der überwiegend fremdsprachigen Schülerpopulation in mehreren Klassenmit dem Englischunterricht erst später begonnen wurde. Weiters stellte sich in einigen Fällen heraus, dass auf Grund desnicht sehr intensiven Englischunterrichts bei vielen Kindern keine oder nur eine sehr geringe sprachliche Weiterentwicklungzu verzeichnen war, sodass diese nicht weiter verfolgt wurden.

(trügerische) Ruhe der Anfangsphase signalisieren. Es gibt aber auch Hinweise auf Prozesse, die Bewe-gung und höhere Stabilität in Systeme bringen. Um zu zeigen, wie das kindliche Gehirn mit diesen Akti-vitäten zu Rande kommt, bringen wir auch einen Exkurs zu den neurobiologischen Grundlagen.

Abschnitt 4 berichtet von der intensiven Feldforschung an sechs Wiener Schulen. Das Arbeits-pensum lässt sich nicht nur anhand der oben berechneten Anzahl von Tests abschätzen, sondern auchaus der Tatsache, dass jedes Kind einzeln getestet wurde; dies gilt sowohl für die Spontansprache alsauch für die psycholinguistischen Tests. Alle Untersuchungen wurden auf CDs aufgenommen, nachCHILDES codiert und computergestützt analysiert (MacWhinney 32000). Ergänzende Videoaufnah-men dokumentierten das Gesprächsverhalten während der Tests und im Klassenzimmer.

Im Abschnitt 5 werden die Ergebnisse zur Untersuchung der Spontansprache präsentiert. Wir ha-ben für die Analyse einen Bewertungsrahmen entwickelt, der sich bei wiederholten Untersuchungenbestens bewährt hat. Die so ermittelten Sprachprofile werden zunächst nach Sprachen sortiert vorge-stellt, um individuelle Unterschiede besser herausarbeiten zu können. Aufgezeigt wird auch die großedialektale Variationsbreite unter den Migrantenkindern. Aufholprozesse quer durch alle Gruppen wer-den in der sprachübergreifenden Diskussion verglichen.

In den Abschnitten 6, 7 und 8 trennen sich die Sprachen, d. h. Deutsch, BKS und Türkisch werdenSystem für System diskutiert. Wir starten mit dem Lexikon, weil wir davon ausgehen, dass es eineSchlüsselfunktion im Erwerb morphosyntaktischer Strukturen hat. Fortgesetzt wird mit dem Erwerbvon Morphologie und Syntax. Für jede Sprache werden die Entwicklungsprofile über vier Jahre her-ausgearbeitet. Informiert wird zudem über sprachübergreifende Prozesse und Entwicklungsschübe.

In den Abschnitten 9 und 10 wird das Wechselspiel der in 6 bis 8 diskutierten Systeme beobachtet.Im Fokus steht die Entwicklung der Textkompetenz. Auf einer durchaus amüsanten Nebenbühnekann die Entwicklung der Persönlichkeit beobachtet werden:

Die Untersuchungen, über die in Abschnitt 9 berichtet wird, starteten im zweiten Schuljahr, alsoein Jahr nach Einsetzen der Alphabetisierung. Die Vorlaufstudie zeigte in allen Gruppen eine enormeBandbreite der schriftlichen Kompetenz sowie orthographische Probleme. Es gab auch wiederholtSignale, dass Kinder, die Deutsch als Fremd- bzw. Zweitsprache erwerben, Probleme mit dem Erfas-sen komplexer Inhaltsstrukturen haben. Zur Evaluierung der schriftlichen Produktion wurde ein Test-rahmen entwickelt, der Faktoren wie Erzählstruktur und Kohärenz, Erzählschritte, Kohäsion und Er-zähllänge bewertet.

Abschnitt 10 zeigt das breite Spektrum von Analysemöglichkeiten, das die frog story bietet. DieseErfolgsgeschichte, die bereits in 400 Sprachen zum Einsatz kam, bietet ideale Vergleichsmöglichkeitenzur Entwicklung der Textkompetenz (Berman & Slobin 1994; Strömqvist & Verhoeven 2003). Siewurde im dritten Schuljahr von 62 Kindern auf Deutsch nacherzählt; im vierten Schuljahr folgten dieErzählungen auf BKS und Türkisch. Besonders interessant ist der Vergleich der beiden Versionen, dievon den zweisprachigen Kindern erzählt wurden.

Abschnitt 11 kann als Interimszusammenfassung betrachtet werden. Er gibt Auskunft über dieDynamik der Systementwicklung, wie sie in den Abschnitten 3 bis 10 besprochen und mit Zahlen undBeispielen belegt wird. Von Interesse sind nicht nur die unterschiedlichen Ordnungszustände inner-halb eines Systems, sondern auch die Prozesse, die mit unterschiedlicher Intensität zwischen den Spra-chen ablaufen. Die gilt sowohl für lexikalische Interferenzen und hybride Kombinationen von freienund gebundenen Morphemen als auch für den Regeltransfer aus der Zweit- in die Erstsprache. Kurz,es folgt eine datengestützte Diskussion des in Kapitel 2.2. präsentierten chaotischen Pfades desSpracherwerbs. Die Daten liefern ein gutes Argument dafür, sich gerade beim frühen Fremd- bzw.Zweitsprachenerwerb nicht nur das neue System anzusehen, sondern auch die Entwicklungsmusterder Erstsprache zu beachten.

1. Wegweiser

13

Abschnitt 12 beschäftigt sich mit dem Erwerb des Englischen bei Kindern, die gleichzeitig in denbilingualen Erwerb der Unterrichtssprache Deutsch und ihrer Erstsprache BKS oder Türkisch invol-viert sind. Berichtet wird über Fortschritte in der Kommunikation und der Entwicklung von Systemen.Die Evaluation konzentriert sich auf die Loslösung von gespeicherten chunks zugunsten der aktivenAnwendung von Regeln und die Zunahme des Lexikons. Zur Differentialdiagnose werden Daten vonKindern herangezogen, die am Vienna Bilingual Schooling (VBS) teilgenommen haben.

Abschnitt 13 befasst sich mit einem Phänomen, das bei Sprachstandserhebungen nicht zu überse-hen ist: die individuelle Variation. In einer Langzeitstudie lassen sich sowohl generelle Erwerbsprozesseals auch gruppeninterne Wachstumsschübe herausarbeiten. Zudem gibt es individuelle Kurven, die fürjedes Kind einzeln zu definieren sind. Anhand von Fallstudien sollen jene Variablen diskutiert werden,die für Spurts und Sprints, aber auch für massive Probleme verantwortlich sind. Wir haben dafür Kinderausgewählt, die – hinsichtlich Geschwindigkeit, Präzision und Intensität – ganz oben, in der Mitte undam unteren Ende der Skala angesiedelt werden können. In diese individuellen Profile liefen die Werteaus den psycholinguistischen Tests, der Spontansprache und der textlinguistischen Untersuchung ein.

In Abschnitt 14 wird der Spracherwerb in der Migration mit jenem im Herkunftsland verglichen.Da sich besonders die Erstsprache aus der Interaktion in der Familie und dem gesamten kulturellenUmfeld entwickelt, lag die Vermutung nahe, dass sich durch die Migration markante zeitliche und qua-litative Unterschiede ergeben würden. Um also in unserer Diagnose der Erstsprache von Migranten-kindern richtig zu liegen, haben wir Paralleltests im jeweiligen Herkunftsland durchgeführt. Nach demModell der in Wien eingesetzten Tests wurden je zehn gleichaltrige Kinder in vergleichbarer sozialerSituation in Lukavac (Bosnien) und Ankara (Türkei) untersucht.

Welche Perspektiven sich aus den Ergebnissen für die schulische Förderung und die Lehrerausbil-dung ergeben, wird in den beiden letzten Abschnitten (15 und 16) diskutiert.

Ein umfangreiches linguistisches Glossar (Abschnitt 17) soll LeserInnen ohne einschlägige sprach-wissenschaftliche Ausbildung die Lektüre erleichtern. Der Bericht wird durch Literaturhinweise (Ab-schnitt 18) abgerundet. Im Anhang (Abschnitt 19) befindet sich neben einer Bewertungsskala für denSpontansprachetest eine Auswahl aus dem verwendeten Testmaterial.

Die Kommunikation in multilingualen Gruppen könnte eine der wichtigsten Herausforderungen derneuen Generation sein. Englisch hat es schon lange geschafft, die Sprache des global village zu werden. Daaber jeder EU-Bürger bzw. jede EU-Bürgerin zwei Fremdsprachen zumindest passiv beherrschen sollte,haben auch andere in Europa gesprochene Sprachen eine gute Chance, wieder verstärkt im Curriculumvertreten zu sein. Es gibt bereits eine große Gruppe von Menschen, die das Ziel der Mehrsprachigkeitschon erreicht haben oder zumindest auf bestem Wege dorthin sind. Migrantenkinder haben ihre Erst-sprache bis zum Schuleintritt großteils erworben, lernen Deutsch (meist) als erste Fremdsprache und dannnoch die jeweilige für alle SchülerInnen verpflichtende Fremdsprache (in der Regel Englisch).

Wie diese Mehrsprachigkeit jetzt wirklich aussieht, lässt sich allerdings nur durch eine Sprach-standserhebung in allen beteiligten Sprachen feststellen. Es genügt also nicht, sich nur mit dem Erwerbder Unterrichtssprache zu beschäftigen, sondern es sollte parallel dazu auch die Kompetenz in derErstsprache und in der neu dazu gekommenen Fremdsprache erhoben werden. Wir haben diese Be-dingungen über vier Jahre hinweg erfüllt und können nun Ergebnisse vorlegen, die hohen Informa-tionswert für die Spracherwerbsforschung und für den Unterricht in mehrsprachigen und multikultu-rellen Klassen haben könnten.

Teil I – Psycholinguistische Studie

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2. Theoretische Grundlagen

Zweck dieses ersten Abschnitts ist die Skizzierung der theoretischen Rahmenbedingungen der Lang-zeitstudie. Um die Ergebnisse von nahezu 2.000 Tests sinnvoll zu interpretieren, braucht es ein Modell,das sozusagen mit der Langzeitstudie mitwächst. Zudem muss es flexibel genug sein, die Prozesse undWachstumsschübe in mehreren typologisch unterschiedlichen Sprachen zu erfassen und zu erklären.Und es ist auch sinnvoll, sich mit den hirnorganischen Voraussetzungen dieses Wachsens auseinanderzu setzen.

In den verschiedenen Einzelberichten ist immer wieder ein Modell angeklungen, das sich schonin mehreren Forschungsprojekten bewährt hat. Es handelt sich um die aus den Naturwissenschaftenstammende dynamische Systemtheorie, die wir hier praktisch orientiert vorstellen möchten. Die ein-zige Neuorientierung im Denken, die sich aus der naturwissenschaftlichen Orientierung ergibt, istdie, Sprache als natürliches System zu sehen, denn so lassen sich viele Veränderungen besser ver-stehen.

Prinzipiell gilt folgender Sachverhalt: Natürliche Systeme stehen in ständigem Wechselspiel mitihrer Umwelt. Dieser Kontakt ist selektiv, d. h., es wird nur jene Information aufgenommen, die der je-weiligen funktionalen Kapazität des Gehirns entspricht. Wir heben den folgenden Satz hervor, weil erso wichtig für jede Form des Spracherwerbs ist: Die jeweils verfügbare sprachliche und kognitive Ba-sis bestimmt und erweitert die weitere Auswahl und Verarbeitung von Information.

Was macht nun das Gehirn mit der Flut von Daten, welche die Chance hatten, ausgewählt zu wer-den? Es organisiert Systeme, und zwar in Eigenregie im Kontakt mit der Umwelt.

2.1 Dynamische Systeme

Wie die Kapitelüberschrift nahe legt, bilden sich dynamische Systeme, die ihren eigenen Zeitplan ha-ben. Dieser wird einerseits durch die neuronalen Bedingungen bestimmt und andererseits durch diesysteminterne Reihenfolge, in der sich Einheiten formieren und Regeln entwickeln.

Ein Markenzeichen dynamischer Systeme ist ihre Nichtlinearität, ein Problem, mit dem sich dieNaturwissenschaften schon seit geraumer Zeit beschäftigen (zu Details vgl. Karpf 1990; Kelso 1995;Peltzer-Karpf & Zangl 2001; Hohenberger 2002). Der Einzug der dynamischen Sichtweise in die Lin-guistik ist jüngeren Datums. Inzwischen gibt es eine Serie von biologisch orientierten Langzeitstudienzu verschiedenen Varianten des Erst- und Fremdsprachenerwerbs, welche die unterschiedlichen Ord-nungszustände und Systemschübe dokumentieren. Wir bringen eine für den Fremd- bzw. Zweitspra-chenerwerb adaptierte Kurzfassung:

Um den Weg von Daten zu einem System bündig beschreiben zu können, müssen wir zu den Neu-rowissenschaften eine andere Disziplin auf den Plan rufen: die Physik. Sie kann die Dynamik der Sys-tementwicklung beschreiben und erklären. Wir nehmen hier vor allem Anleihe an der Chaostheorie,die für die Entwicklung von neuronalen Systemen einen chaotischen Pfad konzipiert hat (Kaneko1990; Karpf 1993). Wir machen es kurz und führen nur die für uns wichtigsten Prinzipien an (Detailsin Karpf 1990; Thelen & Smith 1994; Kelso 1995):

• Systeme nehmen im Verlauf ihrer Entwicklung unterschiedliche Ordnungszustände an.

• Die Organisation dynamischer Systeme bringt Fluktuationen und Übergeneralisierungen in der Re-gelanwendung mit sich.

• Auffallende und häufige Daten, die wiederholt in ähnlicher Form auftreten, haben besonders in derAnfangsphase Vorrang in der Aufnahme von Information.

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Werfen wir nun einen Blick auf die frühen Stadien des Erst- und Fremd- bzw. Zweitsprachenerwerbs.Eltern und LehrerInnen wissen, dass die ersten Jahre sehr bewegt sind, was den Umgang mit Formenund Regeln anbelangt. Bekannt ist auch, dass Kinder in ihrer Aufmerksamkeit fluktuieren und häufigihre sprachlich/kognitive Arbeitsfläche wechseln. Intuitiv verstanden wird, dass der Erwerb von Syste-men nichtlinear erfolgt, d. h., dass die einzelnen Systeme zeitlich verschiedene Erwerbsschübe durch-machen.

Es gibt Zeiten der (trügerischen) Ruhe und dann wieder bewegte Phasen, in denen das zuvor Er-worbene vergessen zu sein scheint. Denn dann wird mit Regeln experimentiert; einmal werden alleFormen nach demselben Schema bearbeitet (d. h. eine Regel wird übergeneralisiert) und das nächsteMal ist das Kind bzw. der/die Lernende eklektisch und schwelgt in Formenvielfalt. Wenn dann wiederRuhe eintritt, darf man annehmen, dass der Code der zu erlernenden Sprache geknackt ist und dass dasSystem langsam stabil wird.

Wir bringen im Folgenden einen Überblick über die Ordnungszustände, die sich in unterschiedlicherAusprägung in jeder Erwerbssituation beobachten lassen. Wie die einzelnen Phasen in der Realität aus-sehen, wird in weiterer Folge durch Beispiele aus dem Erst- und Fremd- bzw. Zweitsprachenerwerbdokumentiert. Zu beachten ist, dass die Grenzen fließend sind, da sich nicht jedes System geschlossenin alle in den Erwerb involvierten Prozesse stürzt.

2.2 Die nichtlineare Selbstorganisation von Mustern: der chaotische Pfad

Vor dem Hintergrund der aktuellen interdisziplinären Forschung zeigt sich Spracherwerb als ein sichständig bewegendes dynamisches System, in dem Muster organisiert und reorganisiert werden. DieAufgabe des/der Lernenden besteht nun darin, eine Serie von sich überlappenden Signalen, Kontras-ten und Konturen zu organisieren, was auf Sprache umgesetzt das Entdecken von phonetischenMerkmalen, Wortgrenzen und grammatischen Regelmäßigkeiten bedeutet. Im Verlauf der Entwick-lung entstehen sprachliche Muster, die zunehmend präzise, differenziert und strukturell sowie funktio-nell komplex werden und im Laufe der Jahre ein dichtes Netzwerk von Systemen und Subsystemen bil-den. Wichtig ist dabei zu beachten, dass jedes System sein eigenes Tempo hat und dass – wie noch ge-zeigt werden soll – vielfach ein System die Startbedingungen für den Aufbau eines neuen Systemsschafft.

Die Metamorphosen sprachlicher Systeme lassen sich am besten mit einem dynamischen Pfad be-schreiben, der sich von diffusen zu detaillierteren Mustern in den verschiedenen Subsystemen bewegt.Wie oben betont, hat jedes von ihnen seinen eigenen Erwerbsverlauf. Faktoren, die diese Asynchronieinnerhalb oder zwischen Sprachen beeinflussen, sind:

• wechselnde (entwicklungsbedingte) Präferenzen in der Selektion des Inputs,

• die nichtlineare Entwicklung der so genannten Computational-systems-Syntax und -Morphologie (zuder je nach Sprachtyp verschiedene Subsysteme gehören),

• der vorwiegend akkumulative Erwerb des Lexikons.

In den folgenden Passagen bewegen wir uns die Zeitachse entlang und sehen uns an, was während desErwerbs mit einem System geschieht. Wir bringen also im Zeitraffer das, was wir über vier Jahre hin-weg bei unseren ProbandInnen untersucht haben. Auf dem Tapet stehen die Sprachen Deutsch alsErst- und Zweitsprache, Bosnisch, Kroatisch und Serbisch als Erstsprache, Türkisch als Erstspracheund Englisch als Fremdsprache. Wir möchten zeigen, dass alle Sprachen in ihrer Entwicklung densel-ben Prinzipien folgen, wenn auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und vom Typ abhängigenProzessen. Das Erwerbsschema ist kurz gefasst wie folgt:

Teil I – Psycholinguistische Studie

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(1) Die Anfangsphase (inkl. vorsprachlichem Verhalten) ist gekennzeichnet durch die Suche nach Ko-härenz; die sprachliche Produktion besteht aus nicht analysierten Wortgruppen (chunks) mit wenigVariation.

(2) Die mittleren Phasen sind charakterisiert durch das (Neu-)Modellieren von Verbindungen. Über-produktivität und Fluktuationen kündigen die Modularisierung und systemspezifische Phasen-übergänge an.

(3) Die Schlussphase zeigt kohärente Gruppen und Muster mit starker interner Verbindung und gro-ßer Stabilität gegenüber ungeordnetem Input. Die Sprache ist komplex; sie zeigt große Flexibilitätund Variationsbreite.

Um den Übergang von der holistischen zur detaillierten Verarbeitung zu verdeutlichen und das allmäh-liche Entstehen von Mustern zu illustrieren, verknüpfen wir die Skizze des chaotischen Pfades miteiner Lithographie von M. C. Escher mit dem Titel Bevrijding/Befreiung:

Da diese Phasen eine wichtige Rolle in unserer Studie spielen, sollen sie im Folgenden näher bespro-chen werden. Zu beachten ist, dass, abgesehen von den mehr oder weniger intensiven Phasen derCode-Mischung, die Entwicklungspfade mono- und bilingualer Kinder große Ähnlichkeiten zeigen.

1. Die pseudo-stabile Phase: das Kopieren nichtanalysierter chunks

Ein wichtiger Schritt im Spracherwerbsprozess ist das Herauslösen von ganzen, unanalysierten Wort-gruppen (chunks) aus dem Input. Wie zahlreiche Untersuchungen bestätigen, ist das sprachliche Systemzu diesem Zeitpunkt noch sehr instabil und auf Speicherbetrieb geschaltet. In dieser Phase treten Äu-ßerungen auf (formulas, routines), welche die eigentliche Kompetenz des Lernenden übersteigen undsich durch ihre grammatikalische Korrektheit in auffallender Weise von den frühen kreativen Äuße-rungen unterscheiden (Peltzer-Karpf & Zangl 1998).

2. Theoretische Grundlagen

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Fig. 2.1: Musterwechsel: M. C. Escher (1955), Bevrijding/Befreiung und der chaotische Pfad des Spracherwerbs

Wir beginnen mit einem Beispiel aus dem Erstsprachenerwerb. Steven, 1;9 Jahre3, wiederholt eineoft gehörte Äußerung, wann immer er aus seinem Sitz herausgehoben werden möchte. Up we go wird inseinem jungen System zur Forderung upigo. Frühes Englisch im Kindergarten, aber auch der Anfangs-unterricht bei SeniorInnen zeigt Parallelen, wie die folgenden Verkettungen nicht analysierter chunks

beweisen:

� Fremdsprachenerwerb im Kindergarten, 4 Jahre, L1 DeutschMy name is thank you.Can I have a here you are?

� Seniorenprogramm, 70 Jahre, L1 DeutschThat’s are.What it’s?What’s time is it?Spieling mit meiner daughter.

Abgesehen von vorfabrizierten, gespeicherten (Allzweck-)Formeln oder automatisierten Mustern wirddie Anfangsphase von Fehlsegmentierungen, einfachen hybriden Sätzen und foreignizing gekennzeich-net. Letzteres ist die Füllung lexikalischer Lücken mit phonologisch angepassten Lexemen aus derErstsprache. Umgekehrt können auch Lexeme aus der Zweitsprache herangezogen werden, um lexika-lische Lücken in der Erstsprache zu füllen, wie das folgende türkische Beispiel illustriert:

� 7 Jahre, L1 Türkisch, L2 DeutschInterviewerin (im Folgenden Int): Okulda ne yapıyorsun?(Was machst du in der Schule?)Kind (im Folgenden K): Ders yapıyoz, oyun oynuyoz, pause’de de yemek yiyoz, ders yapıyoz, re-sim yapıyoz, bi peyler boyalıyoz, zeichnen yapıyoz, bi peyler yazıyoz.(Wir lernen, spielen, in der Pause essen wir was, lernen, zeichnen, malen verschiedene Sachenan, wir machen Zeichnen, schreiben einige Sachen.)

Mit dem Erwerb der Schriftsprache erhält die Segmentierung eine neue Dimension. Wie die folgendenBeispiele zeigen, muss gesprochene Sprache in Wörter zerlegt werden, und da gibt es besonders beiRedewendungen Probleme mit den Wortgrenzen:

� 7 Jahre, L1 Italienisch, L2 DeutschNagut schüs wir senunstan. (Wir sehn uns dann.)Halo wigztir mir gezgut. (Hallo, wie geht’s dir? Mir geht’s gut.)

� 7 Jahre, L1 DeutschSie hatte schon öftersbrobirt aus der Schule up zu hauen.

� 7 Jahre, L1 Türkisch, L2 DeutschEr patelte mit seinen Pfoten und gotzeidank an lant.

� 7 Jahre, L1 Bosnisch, L2 Deutschdie kaze wiel auf den baum kletern. die kaze felt fon baum runtains wassa.

Teil I – Psycholinguistische Studie

18

3 1;9 steht für 1 Jahr, 9 Monate. Die darauf folgenden Altersbezeichnungen sind analog zu lesen.

2. Die turbulente/chaotische Phase: das Herausfinden von Regeln

Die Zwischenstadien bringen eine ganze Serie von Aktivitäten mit sich, die in der folgenden Liste auf-gezählt sind:(1) die Reduktion der Anzahl von Formeln und chunks

(2) ein deutlicher Anstieg der durchschnittlichen Äußerungslänge(3) die fluktuierende Anwendung von Regeln(4) die Übergeneralisierung von Regeln(5) die klare Präferenz für auffällige und häufige Muster(6) die Bewegung von Elementen und die morphologische Markierung

Diese Phase ist durch die Aufteilung des bislang undifferenzierten Systems in spezialisierte Teilsysteme(Module) gekennzeichnet, die ihr eigenes Entwicklungstempo haben und auch unterschiedlich anfälligfür Störungen sind.

Bei bilingualen Kindern zeigt sich diese Asynchronie der Systementwicklung schon sehr früh. Diezunehmende Partnerorientierung und die Ansammlung von Sprachdaten führen in der chaotischenPhase zum gesteigerten Mischen und Umschalten (code-mixing und code-switching). Der freie Austauschvon Lexemen, Flexions- und Derivationsmorphemen sowie die Übernahme syntaktischer Strukturenwerden durch die folgenden Beispiele illustriert:

� bilingualer Spracherwerb Englisch und Deutsch (Beispiele aus Tracy 2001)2;3 Kiwis, oh, du hast gebuy them?2;4 Ich hab gemade you much better.2;6 Ich cover michself up.2;7 Ich warte for es ist faschingsfest dann kann ich mein clown suit wearen.2;9 Cleanst du dein teeth?

� bilingualer Spracherwerb Deutsch und Italienisch (Beispiele aus Schneider 2002)2;2 Io einsteigo.2;5 Me la schneidi?2;11 Ich habe gebrochen die Figuren. (italienische Satzstellung)2;11 La nonna ha il bottoncino gecuct. (cucire = nähen, annähen)3;3 Fläschlino4;1 überdomani4;4 Io volevo con questo sempre giocare. (deutsche Satzstellung)

Wie oben erläutert, haben diese sprachlichen Übergriffe die Aufgabe, lexikalische und strukturelle Lü-cken im jeweiligen System zu füllen: ein klarer Hinweis, dass das Kind am System arbeitet. Beispielewie das folgende sollten jedoch nach vier Jahren bilingualen Erwerbs nicht mehr in dieser Dichte auf-tauchen:

� 10 Jahre, L1 Bosnisch, L 2 Deutsch– I ova Eule samo je fliegela gdje Lukas ide.– On je se freuenio.

– A Eule ide tamo, fliega doma.– I one Bienen oče da stechaju kucu. I onda Eule fliega weg . . .– I on tako nešto berühra uvo.

2. Theoretische Grundlagen

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Dass lexikalische Hilfesuche in der neuen Sprache mit morphologischem Chaos in der Erstspracheeinhergehen kann, zeigt folgendes Beispiel aus unserer Studie:

� 7 Jahre, L1 Kroatisch, L2 Deutsch (die korrekten kroatischen Formen stehen in Klammer)Int: Šta si sve radio na raspustu, znaš, onda, kad niste išli u školu?

(Was hast du alles in den Ferien gemacht, als ihr nicht in die Schule gegangen seid?)K: Ja bio na jedin Geburtstag.

(richtig: Ja sam bio na rođendanu.)(Ich war bei einem Geburtstag.)

Int: Ko je slavio rođendan? (Wer hat Geburtstag gefeiert?)K: Jedan Freund od mene.

(richtig: Jedan od mojih prijatelja.)(Ein Freund von mir.)

Int: Koliko godina ima? (Wie alt ist er?)K: Osam. (Acht.)

Dynamisch gesehen sind diese Asynchronien in der crosslinguistischen Entwicklung ein klares Indizfür autonome (= modulare), aber interagierende Systeme. Dass dieser enge Sprachkontakt bis in dasErwachsenenhalter anhalten kann, zeigt der folgende Ausschnitt aus einem Gespräch mit einem US-erfahrenen Bayern:

Ja! Und mir hat das amol jemand erzählt in die Poconos that er war auf ’m Schiff heimkommenvon Frankreich oder wa-wo, und na ham’s a Poker gspuit, and when he arrived in New York hesays I didn’t even own my shirt that I had on my back, so, I mean, das is ja schrecklich, we-wennwenn wenn they take them over like that. (DFG-Project Tracy & Lattey 2001 f.)

Das folgende Beispiel stammt aus einem Interview zu einem potentiellen Lottogewinn mit einemkroatischen Mädchen, deren Erstsprache schon sehr stark Wienerisch unterwandert ist:

� 9 Jahre, L1 Kroatisch, L2 DeutschInt: Kuda bi putovala?

(Wohin würdest du fahren?)Mira4: Hm, Griechenland, tako u Japansku, Spaniju; u Jugoslaviji je fast schon fad.

Solche hybriden Texte sind nach vier Jahren bilingualen Erwerbs keine Seltenheit. Problematisch wirdes nur dann, wenn innerhalb eines Systems kurzfristig massiv Fehler in der Morphosyntax auftauchen,denn das wäre ein Indiz für Erwerbsstopp (siehe dazu Abschnitt 7).

Ein weiteres Merkmal der turbulenten Phase ist die Überproduktivität von Regeln. Sehr gut zu be-obachten ist diese Suche nach der richtigen Form in der Wortbildung (z. B. dörteck für Viereck; türkischdört = vier). Diese Aktivitäten sind vergleichsweise sehr spät im Erwerbsprozess anzutreffen. Die fol-genden morphologischen Beispiele treten auch im Erstsprachenerwerb bis weit hinein in das Grund-schulalter auf (Karpf 1990). Die unten angeführten Formen konnten innerhalb einer Klasse bei einemeinzigen Testdurchgang erhoben werden:

� 9 bis 10 Jahre, L1 BKSprodavati/verkaufen > prodavačica/Verkäuferin: prodavanica, prodačica, prodavica, prodajka,prodajnica, predačica, prodavčica, prodajica, prodivnica, prodejica, prodakinja

Teil I – Psycholinguistische Studie

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4 Um die Anonymität der Kinder zu gewährleisten, wurden die Namen im Bericht geändert.

� 7 bis 8 Jahre, unterschiedliche L1Karo > kariert: gekaro, gekart, gekarot, gekarost, gekariert, karomelt, karoliertBlume > geblümt: blumig, geblümig, blümiert, blumiert, geblütet

Für die Flexion lassen sich folgende Fluktuationen beobachten:

� 6 Jahre, L1 Slowenisch, L2 DeutschBericht über die FerienInt: Und was hast du dort gemacht?Marco: Geschwimmt, hm gespielen, gegessen und bissl hab ich mit die Hunde gespielt.

� 6 Jahre, L1 DeutschWeiter sind wir dann in das Haus gegongt und dann bin ich in den Park gegangt.

� 10 Jahre, L1 Bosnisch, L2 Deutsch (schriftliche Textproduktion)Tomi war überglücklich, er hatte seinen hellbraunen Hut Auf seinem Kopf, denn er glaubte dasder Hut im Glück branng.

� 7 Jahre, L1 Türkisch, L2 Deutsch (L3 Englisch)two dogenthree yellow Mäuses

Jedenfalls deuten diese Aktivitäten darauf hin, dass (1) das Lexikon eine kritische Größe erreicht hatund dass (2) die Kinder gelernt haben, kreativ mit der neuen Sprache umzugehen.

Zusammenfassend zu dieser turbulenten Zwischenphase lässt sich sagen, dass sie von Fluktuatio-nen und Übergeneralisierungen geprägt ist. Von Interesse für die Diagnose des Sprachstands ist, wieein Kind satzinterne Koreferenzbeziehungen herstellt und Kongruenzen markiert, wie groß sein Re-pertoire an Satzbauplänen ist und ob es durch die Ausnützung der morphologischen Optionen neueWörter bilden und so das Lexikon bereichern kann. Ein klares Indiz für Fortschritte ist die Reduktionhybrider Formen.

Aus einer kurz vor dieser Studie abgeschlossenen Langzeituntersuchung zum Vienna Bilingual

Schooling können wir schließen, dass durch intensiven Input und eine peer group der zu erlernenden Spra-che die Wachstumsschübe rascher kommen als in der Regelschule (Peltzer-Karpf & Zangl 1998). Diedynamisch orientierte Analyse unseres über vier Jahre angesammelten multilingualen Datenpools wirdzeigen, ob sich beim bilingualen Spracherwerb in der Migration durch den Aufenthalt in Österreich,die Unterrichtsprache Deutsch und die relative große deutschsprachige peer group ähnliche Tendenzenbeobachten lassen. Das Problem sollte eher darin bestehen, dass der Erwerb der Erstsprache verzögertabläuft, schon deshalb, weil sie nicht die Unterrichtssprache ist (siehe dazu Abschnitt 15: Kontroll-untersuchungen in Bosnien und der Türkei).

3. Schlussphase: kohärente Regelsysteme und stabile Muster

Die Schlussphase bringt Stabilität in die Systeme, gepaart mit hoher Flexibilität und wenigen Regelver-letzungen. Das Lexikon ist gut sortiert und ermöglicht präzise Formulierungen. Kinder, die dieses Sta-dium erreicht haben, verstehen und produzieren komplexe Texte. Bei bilingualen Kindern sinkt dieZahl der Interferenzen und der hybriden Formen. Besonders in der Morphologie und in der Syntaxsteigt die Fähigkeit zur wort- und satzinternen Analyse. Mit zunehmender kognitiver und sprachlicherReife werden auch lexikalische Definitionen präziser. Beispiele dazu sind vor allem in den Abschnittenüber Textproduktion und lexikalische Entwicklung zu finden.

2. Theoretische Grundlagen

21

Bevor wir zu den Schlussfolgerungen kommen, scheint es angebracht, die wichtigsten sprachlichenProzesse in die Reihe zu bekommen: Zunächst sollten wir einige interessante Parallelen zwischen denverschiedenen Erwerbssituationen beachten. Dies gilt vor allem für die Anfangs- und die Zwischen-phase. Unabhängig von der Sprache startet die Dynamik des Erst- und Zweit- und Fremdsprachener-werbs mit einer holistischen Phase, die von auswendig gelernten Wortgruppen und vorfabriziertenFormeln dominiert wird, welche in Folge, sobald Prozesse höherer Ordnung möglich sind, einer detail-lierten Analyse unterzogen werden. Der folgende Wegweiser gilt daher für Lernende aller Alters- undSprachgruppen. Wie schnell jemand unterwegs ist und wie weit er/sie kommt, hängt nicht nur von derjeweiligen neuronalen Plastizität ab oder von individuellen Parametern, sondern auch zu einem beacht-lichen Grad von einer Fülle außersprachlicher Faktoren (siehe Teil II: Soziolinguistische Begleitstudie).

Wir skizzieren nochmals den chaotischen Pfad des frühen Fremdsprachenerwerbs und geben darineine Vorschau auf die Erwerbsprozesse, die wir bei Migrantenkindern (und teilweise noch bei dendeutschsprachigen SchülerInnen) über vier Jahre hinweg beobachten konnten:

2.2.1 Meilensteine der fremdsprachigen Entwicklung: Wachstumsschübe im Zeitraffer

• Fremdsprachenerwerb beginnt mit einer nach außen sehr ruhig wirkenden stillen Phase, in der sichKinder mit dem Klang und den Mustern der neuen Sprache vertraut machen, ohne selbst produktiv zusein. In dieser nonverbalen Phase sammeln Kinder Daten, sie beobachten, imitieren und probieren,um sich auf den fremden Rhythmus und Klang einzustellen.

• Die Beschäftigung mit dem neuen Lautsystem ist sehr gut an einem Prozess zu erkennen, der alsforeignizing bekannt ist. Dabei werden lexikalische Lücken durch Elemente der Erstsprache gefüllt, diekonform zum Phonemsystem der Zweitsprache ausgesprochen werden.

• Erste Kommunikationsversuche starten mit der Produktion zunächst nicht weiter analysierter kur-zer Wortketten, die als Ganzheit aus dem Input herausgelöst werden und erst nach und nach analysiertwerden. Die ersten sprachlichen Gehversuche bestehen also eher aus vorfabrizierten, auswendig ge-lernten (Allzweck-)Formeln bzw. routinisierten Mustern und einfachen hybriden Sätzen mit Elemen-ten aus beiden Sprachen.

• An der Schwelle zum kreativen Sprachgebrauch sind Kinder dann, wenn die Zahl der gespeichertenEinheiten abnimmt, Regeln (über)generalisiert werden und die durchschnittliche Äußerungslängedeutlich zunimmt.

• Bei den ersten eigenen Produktionen zeigt sich die Vorliebe für auffallende und oft wiederholte For-men, die ohne große Variation in vergleichbaren Kontexten auftreten. Kreativität, Bewegung in derSyntax, fluktuierende Regelanwendung und (Über)generalisierungen sind demnach ein Indikator fürFortschritte im Spracherwerb.

Bevor wir in die Dynamik des bilingualen Spracherwerbs zwischen sechs und zehn Jahren einsteigen,wäre es interessant, sich kurz mit den hirnorganischen Voraussetzungen zu beschäftigen, welche dieLeitschienen für die Aufnahme und Verarbeitung von Information bilden. Immerhin gilt es beiMigrantenkindern, das System der Erstsprache weiter aufzubauen und ein neues System in relativkurzer Zeit in Wort und Schrift zu entwickeln. Dass auch noch eine weitere Fremdsprache, Englisch,mit vergleichsweise minimalem Input dazu kommt, macht die Sache nicht unbedingt einfacher. Wieaußersprachliche Faktoren die Erfolgschancen beeinflussen, wird uns später noch ausgiebig beschäf-tigen. Sehen wir uns vorerst an, was die Neurowissenschaften über unsere Zielgruppe zu berichtenhaben.

Teil I – Psycholinguistische Studie

22

2.3 Neuronale Plastizität im Grundschulalter

Hirnorganisch gesehen ist die Zeit um das sechste Lebensjahr eine spannende und aktive Phase, dieideale Voraussetzungen für die Verarbeitung großer Informationsmengen bietet. Das Gehirn erfährteinen weiteren großen Entwicklungsschub (nach einem Staccato im ersten Lebensjahr und einem wei-teren großen Schub mit vier Jahren) und formt die neuronalen Netze, die in Zukunft den weiteren Auf-bau von Systemen bestimmten werden. Ein maßgeblicher Faktor dabei ist die hohe Plastizität, die ge-rade beim bilingualen Spracherwerb stark gefordert wird.

In diesem Kontext kann neuronale Plastizität als die Fähigkeit des Gehirns verstanden werden, sichals Reaktion auf innere und äußere Veränderungen zu organisieren und zu reorganisieren. Die innerenVeränderungen betreffen in der uns interessierenden Altersgruppe vor allem die Stabilisierung neuro-naler Netze durch den Abbau überflüssiger Kontaktstellen und das damit einhergehende Einpendelndes Hirnstoffwechsels auf Erwachsenenwerte (Peltzer-Karpf 2003). Die äußeren Veränderungen sindbei Migrantenkindern durch die Einschulung und den damit verbundenen Erwerb der Unterrichts-sprache Deutsch (marginal Englisch) sowie das neue soziokulturelle Umfeld gegeben. Das Zentralner-vensystem hat somit rasch optimale Bedingungen zu schaffen, um mit der plötzlich einströmenden In-formationsmasse zu Rande zu kommen. Da bekanntlich die normale Entwicklung des Gehirns vonder optimalen und nicht von der maximalen Stimulierung durch die Umwelt abhängt, stellt sich dieFrage, wie diese Kinder neuronal für die massive Anreicherung des Inputs gerüstet sind.

Da das Sehen und Hören von unmittelbarem Interesse für den Erwerb von Sprache sind, startenwir unsere Bestandsaufnahme mit den Veränderungen in den sensorischen Systemen.

Das visuelle System entwickelt zum Schuleintritt eine Fähigkeit, die unabdingbar für den Erwerbder Schriftsprache ist: Es kommt in der Verarbeitung visueller Muster, im Herausarbeiten von Kontu-ren und Details an die Leistungen Erwachsener heran und hat somit bereits mit sechs Jahren Erwach-senenkapazität erreicht. Das auditive System ist im Grundschulalter im letzten Reifungsstadium (es istmit neun bis zehn Jahren voll ausgebildet) und zeigt noch immer hohe Sensibilität für die Anpassungan ein neues Lautsystem, die im Zusammenhang mit dem frühen Fremdsprachenerwerb nicht zu un-terschätzen ist. Zwar haben schon Säuglinge erstaunliche auditive Fähigkeiten (vgl. Juszyk 1997; Kuhl2000), Bedingung für ihre präzise Segmentierung ist allerdings die Minimierung von Hintergrundge-räuschen. Das perfekte Herauslösen von sprachrelevanter Information aus Störgeräuschen schafft dasGehör erst mit zehn Jahren.

Diese Staffelung von Prozessen zeigt sich auch sehr deutlich in der Bildung von Proteinhüllen umdie Nervenbahnen (= Myelinisierung), die einen effizienteren Transport von Information quer durchalle Bereiche des Cortex garantieren. Die Prozesse beginnen mit zwei bis vier Monaten im visuellenSystem, versorgen mit ca. vier Jahren das auditive System und erst relativ spät, mit ca. 20 Jahren, dasFrontalhirn als kognitive Kommandozentrale. Kognitive Systeme haben somit sehr viel mehr Zeit, ihrneuronales Aggregat vorzubereiten als die sensorischen Systeme, deren kritische Phasen für Verände-rungen relativ früh ablaufen.

Dramatische Veränderungen ergeben sich ab dem sechsten Lebensjahr in der neuronalen Infra-struktur. Das Gehirn schaltet auf Ökonomie und bereitet sich auf höher geordnete Lernprozesse vor.Wir haben eingangs die Interaktion zwischen dem Hirnstoffwechsel (Glukosemetabolismus) und derjeweiligen neuronalen Vernetzungsdichte angesprochen. Der Balanceakt funktioniert folgenderma-ßen: Mit der Zahl der Kontaktstellen (Synapsen), die das junge Gehirn im Überschuss aufbaut, steigtauch der Metabolismus. Angesichts der vielen Lernaufgaben in der Kindheit nimmt es nicht wunder,dass die Glukosewerte bis zum 10. Lebensjahr um ein Drittel mehr Umsatz als bei Erwachsenen ver-zeichnen, was einen immensen Aktivitätsradius ermöglicht. Diese frühe Üppigkeit wird jedoch System

2. Theoretische Grundlagen

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für System eingedämmt. Bis zum 11. Lebensjahr werden ca. 40% der überflüssigen Synapsen abgebautund damit pendelt sich auch der Metabolismus auf Erwachsenenwerte ein (mehr dazu in Nelson & Lu-ciana 2002; Cattell 2003).

Wir möchten hier nicht ins Detail gehen, aber doch noch auf eine Kette von Ereignissen hinwei-sen, die unsere kognitive Leistungsfähigkeit maßgeblich beeinflussen. Wie oben angeführt werdenfrüh angelegte neuronale Netze durch Umwelterfahrung modelliert. Die Neurowissenschaften ma-chen hier eine sprachliche Anlehnung an die Hortikultur und sprechen vom Stutzen überflüssigerTriebe (engl. pruning). Dieser Verlust ineffizienter anatomischer Verbindungen schränkt, nach Syste-men gestaffelt, die Vielfalt (und die Chancen) weiterer physiologischer Veränderungen ein. Gesteuertwird das Wachstum durch die Wichtigkeit der neuronalen Kontakte, und zwar in dem Sinn, dass rele-vante Verbindungen stabilisiert und passagere Interimsverbindungen wieder abgebaut werden. DiesesSparprogramm bedeutet jetzt nicht einen Versorgungsengpass für Erwachsene, sondern eine bessereOrganisation und die effizientere Nutzung des durchaus noch üppig vorhandenen Potentials.

Auf den Spracherwerb bezogen ergibt sich folgendes Bild der Hirnreifung:

• Die Hirnreifung verläuft nach Systemen gestaffelt von hinten nach vorne, also vom Okzipetallap-pen (dem Sitz des Sehzentrums) zum Frontallappen (dem Steuerungszentrum für höher geordnetePlanung).

• Die Synaptogenese (mit koordiniertem Metabolismus) sowie das Wachstum und die Reifung vonNervenfasern schaffen eine größere Kapazität für die Kodierung, Speicherung und Organisationsprachlicher Information.

• Die strukturelle Reifung verschiedener Hirnregionen und der sie verbindenden Nervenbahnen istdie Grundbedingung für die erfolgreiche Entwicklung kognitiver, motorischer und sensorischerFunktionen.

Anzumerken wäre noch, dass diese Entwicklungsschübe sehr gut mit den Richtzeiten für die Stadiender kognitiven Entwicklung eines Kindes korrelieren; dies betrifft u. a. jene metakognitiven Fertigkei-ten, die für die Entwicklung von Denk- und Lernstrategien notwendig sind. Kurz gesagt: Mit einemFreiraum für individuelle Unterschiede sind mit sechs Jahren alle reifungsmäßigen Voraussetzungenvorhanden, die eine systematische Beschulung möglich machen (Details in Rossmann 1996: 111 ff.,Korkman 2001). Angesichts ihrer großen neuronalen Plastizität haben also auch Migrantenkinderbeste Chancen, ihr großes Arbeitspensum zu bewältigen, sie benötigen allerdings optimalen Input, po-sitive Umweltbedingungen und ausreichend Zeit (vor allem bei großer typologischer Distanz der Spra-chen), um den weiteren Aufbau ihrer Erstsprache, den Erwerb der Unterrichtssprache Deutsch unddie Erstkontakte mit der Fremdsprache Englisch – neben allen anderen Lernaufgaben – zu bewältigen.

Zusammenfassend zu diesem Abschnitt können wir sagen, dass sprachliche Systeme durch dasWechselspiel von angeborenen Fähigkeiten, der jeweiligen neuronalen Infrastruktur und dem Inputentstehen. Die Dynamik des Erwerbs bringt sie von Phasen der holistischen Verarbeitung über Fluk-tuationen und Turbulenzen zu einem kohärenten Endzustand, der von hoher Stabilität geprägt ist. Wiediese Phasen in den von uns untersuchten Systemen Lexikon, Morphologie und Syntax aussehen, wirduns in dem nun folgenden Abschnitt beschäftigen. Wir sehen uns auch an, wie Kommunikation startet,da die Untersuchung der Spontansprache gerade in den ersten Projektjahren einen wesentlichen Teilder Untersuchung ausgemacht hat. Die folgenden Ausführungen sind vor allem als Grundlage dersprachspezifischen Protokolle der vier Schuljahre zu verstehen.

Teil I – Psycholinguistische Studie

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3. Die Entwicklung von Systemen in der Erst-, Zweit- und

Fremdsprache

Wir alle werden schon früh mit der Wahrnehmung und Segmentierung von Sprache konfrontiert. ZurGeburt können wir bereits zwischen stimmhaften und stimmlosen Lauten unterscheiden, und balddarauf starten wir mit dem Herauslösen phonetischer Merkmale aus dem Input. Weitere sprachlicheAktivitäten des ersten Lebensjahres sind das Entdecken von Wortgrenzen und das Erkennen verschie-dener Silbenstrukturen. Das Abtasten des Inputs nach morphosyntaktischen Regeln startet um daszweite Lebensjahr. Auch hier gilt wieder dasselbe Prinzip: Herauslösen von Einheiten, Untersuchennach Gesetzmäßigkeiten, Vergleichen mit der bereits gespeicherten Information und das Herausfilternvon Regeln.

Wir skizzieren im Folgenden den Aufbau sprachlicher Systeme, deren interne Mechanismen sichmit systemspezifischem Tempo und unterschiedlicher Intensität in jeder Erwerbssituation wiederho-len. Die Präsentation erfolgt in zwei Varianten: Wir gehen (1) nach Systemen geordnet vor, weil dieseinen besseren Einblick in die jeweilige innere Organisation ermöglicht und wir bringen (2) Querver-weise zu dem in 2.2 skizzierten chaotischen Pfad, weil dadurch die allgemeine Dynamik der Systement-wicklung besser herausgearbeitet werden kann. Was beide Perspektiven verbindet, ist der Blick auf dasZusammenspiel (interface) der Systeme, die natürlich nicht getrennt ihren Weg durch das Erwerbsge-schehen machen, sondern sich gegenseitig anstupsen und interagieren.

In diesem Zusammenhang ist der Hinweis auf ein Phänomen interessant, das seit Jahren in ver-schiedenen Sprachen beobachtet wird. Es geht um Kettenreaktionen in der Organisation von Syste-men, die jeweils von einer kritischen Masse an Information ausgelöst werden. Das ist so zu verstehen:In der Frühphase des Spracherwerbs ist eine kritische Masse von Klangmustern für den Aufbau desLexikons erforderlich. In weiterer Folge „triggert“ eine kritische Menge von lexikalischen Einheiten(ca. 400 Elemente) die Organisation syntaktischer Strukturen und damit verbunden die morphologi-sche Markierung. Man könnte es auch so formulieren, dass ein Kind oder ein/e LernerIn zunächsteinmal Elemente anspeichert, die in weiterer Folge zu Sätzen (mit ansteigender Komplexität) ver-knüpft werden. Das Lexikon seinerseits ist davon abhängig, dass die Segmentierung des Inputs unddie semantische Kategorisierung funktionieren. Nicht zuletzt ist zu beachten, dass die Pragmatik beiall diesen Aktivitäten eine wichtige Rolle spielt (Details in Peltzer-Karpf & Zangl 1998; Hohenberger2002).

Vor dem Start in das Erwerbsgeschehen möchten wir einen weiteren wichtigen Punkt hervorhe-ben, den wir schon in 2.3 andiskutiert haben. Es geht darum, dass das Nervensystem nur jene Infor-mationen bzw. Daten aus dem Input auswählt, die es schon verarbeiten kann. Die Vorzugskandidatenin jeder Erwerbssituation sind auffallende, häufige und in ihrer Struktur transparente Stimuli, die wie-derholt in derselben Kombination auftreten. In den folgenden Abschnitten werden wir uns genaueransehen, welche Rolle diese Favoriten im (bilingualen) Spracherwerb spielen. Vorweggenommen sei,dass sie, wie bei Expeditionen üblich, als Basislager für die Erkundung neuen Terrains dienen. Unddieses neue Terrain bringt auch Formen mit sich, die kaum auffallen, selten sind, schwer durchschau-bar sind und in Kombinationen immer wieder die Form wechseln. Kurz, es handelt sich um jene Struk-turen, die in allen Varianten des Spracherwerbs relativ spät auftauchen und zudem stark fehleranfälligsind.

Wie zahlreiche Studien über natürliche Ordnung (natural order) und Entwicklungsschritte (develop-

mental sequences) gezeigt haben (vgl. Ellis 1997), folgen Erst- und Zweitsprachenerwerb grundsätzlichdem gleichen Muster, es gibt jedoch Unterschiede im Spracherwerb zwischen Erst- und Zweit/Dritt-

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sprache, die durch folgende Faktoren bestimmt sind (einen umfassenden Forschungsüberblick gibtJohnstone 1999):

• Alter (neuronale, kognitive & sprachliche Entwicklung)

• System der Zweitsprache

• Input (Qualität, Quantität, Dauer)

• individuelle Faktoren (Motivation, Persönlichkeit, Interessen, bereits erworbene Sprachen)

Die kognitiven Neurowissenschaften haben zu diesem Wechselspiel eine interessante Neuigkeit zumelden, die für unsere ProbandInnen in etwa zehn Jahren interessant sein wird: Nur die Kompetenz,nicht aber das Startalter spielen eine Rolle dabei, wie das Gehirn zwei oder mehrere Sprachsysteme imErwachsenenalter organisiert. Untersucht wurden Bilinguale, die seit ihrer Geburt bzw. ab dem elftenLebensjahr die zweite Sprache erworben hatten. Das Ergebnis: Es gibt, zumindest bei typologisch ähn-lichen Sprachen, keinen Unterschied in der neuronalen Repräsentation bei native-speaker-Kompetenz inzwei oder mehreren Sprachen, egal ob sie von Kind an oder erst später erworben wurden (Mehler &Christophe 2000).

Sehen wir uns jetzt an, wie die einzelnen Systeme nach einer ruhigen Phase immer stärker in denSog der Geschehnisse gezogen werden oder auch wie es geschehen kann, dass aus auswendig gelerntenFormeln Sätze werden wie: Has you got plans for the future?

3.1 Protokommunikation und früher Diskurs

Babies sprechen mit dem ganzen Körper und sie reagieren hochsensibel auf Berührungen, die Stimmeoder den Gesichtsausdruck ihrer BetreuerInnen. Wenn mit sechs Wochen die ersten Spieldialoge be-ginnen (bei denen der/die GesprächspartnerIn beide Rollen übernimmt), kann das Baby seine/n Part-nerIn noch gar nicht binokular, räumlich und scharf wahrnehmen. Dennoch werden Gefühle durchBlick, Stimme, Hand und Mund ausgetauscht. Das vorsprachliche Repertoire ist vorwiegend nonver-bal, es besteht aus konzentriertem Stirnrunzeln, Mundöffnen als Zeichen stark fokussierter Aufmerk-samkeit, Lächeln, Handbewegungen, aber auch schon Vokalisierungen. Klare Favoriten in der Kon-taktaufnahme sind Lebewesen; Dinge in der Umgebung und der Rest der Welt müssen noch warten.Der Forschergeist erwacht erst mit drei Monaten, dann werden Babies aktiv und beginnen mit ihrerCharmeoffensive und der Manipulation von Objekten. Ab zwölf Monaten werden diese Objekte auchbenannt (wenn auch schon viel früher erkannt); die Kommunikation dreht sich um Handlungen undDinge (und deren Wunsch, Verweigerung und Suche). Gesten und Vokalisierung werden kombiniert.Das Baby protestiert, fordert, verweigert, gibt und bekommt, sagt Hallo und benennt Objekte.

Eltern (und die Kontaktpersonen) passen ihre Sprache durch fine-tuning des Inputs an die jeweiligenKapazitäten des Kindes an. Der dafür verwendete Code heißt child-directed speech (CDS). CDS ist ge-kennzeichnet durch langsames Sprechen, Wiederholungen, Pausen, Betonung der Schlüsselwörter, un-terstützt durch Mimik und Gesten (vgl. dazu Ninio & Snow 1996). Eltern und BetreuerInnen tun je-denfalls ihr Möglichstes für die Vorbereitung und den Start der Kommunikation. Sie fördern das turn-

taking, den Sprecherwechsel (zunächst wie oben angedeutet durch Doppelrollen), und begleiten ersteverbale Interaktionen mit Handlungen und Gesten: Look at me. Give me the doll. There it is, the doll. Bei-spiele wie diese tauchen in der Frühphase vielfach als (vorerst) nicht analysierte chunks auf; sie sind dasSprungbrett zu einem kreativen Umgang mit Formen und Regeln (siehe Kapitel 3.2). In der pragmati-schen Entwicklung haben unanalysierte, auswendig gelernte Formeln eine Schlüsselfunktion in der Be-wältigung diverser sozialer und kommunikativer Situationen (Kasper & Schmidt 1996).

Teil I – Psycholinguistische Studie

26

Erst- und Fremdsprachenerwerb zeigen in der frühen Interaktion viele Parallelen (Snow 1995), wennman davon absieht, dass die Interaktion in der Familie eher in dyadischen (Mutter/Vater – Kind) als in po-lyadischen (KindergärtnerIn/LehrerIn – Gruppe) Situationen erfolgt. Protokommunikation in derFremdsprache startet wie in der Erstsprache mit Lächeln, Blickkontakt, Stirnrunzeln, Hochziehen der Au-genbrauen, wortunterstützender Gestik und fragendem bzw. beantwortendem Hinzeigen. Umgekehrtkönnen potentielle GesprächspartnerInnen Kommunikation durch Hinsehen, Hinzeigen und Benennenin Gang setzen. Dieses Repertoire kommt im frühen Fremdsprachenerwerb auch dann zur Anwendung,wenn in der Erstsprache ein differenziertes Repertoire von Konversationsstrategien zur Verfügung steht.

Eine weitere Affinität ergibt sich im Umgang von Eltern und LehrerInnen mit Fortschritten in derSystementwicklung; sie reagieren mit einem deutlich angereicherten Input und einer größeren Palettevon Sprechakten, was wiederum die sprachliche Kompetenz des Kindes fördert. Das bedeutet, dassjeder der einzelnen Wachstumsschübe eine größere Kapazität für die Kodierung und Speicherung vonInformation schafft. So zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen Vokabelspurts, erhöhtenMLU5-Werten und größerer pragmatischer Kompetenz. Durch diese Interaktionsspirale führt also derÜbergang von eher einsilbigen Äußerungen und vorfabrizierten Formeln zu größerer Kompetenz undgesteigerter pragmatischer Flexibilität.

3.2 Die Modellierung von Lautsystemen

Wie in 2.3 besprochen, unterliegt auch die Hörverarbeitung einem Reifungsprozess, der sich im Ge-gensatz zum visuellen System langsamer vollzieht. Das Hörverstehen ist ebenso wie das visuelle Er-kennen von der Fähigkeit zur Diskriminierung abhängig; dies setzt die Entwicklung zahlreicher Stimu-lusmerkmale voraus.

Babies starten akzentfrei, d. h., sie haben während der ersten Lebensmonate ein universelles Reper-toire, das zwischen dem 6. und 12. Monat, sozusagen unter dem Sog eines Sprachmagneten (Kuhl2000), dem System der jeweils zu erwerbenden Sprache angepasst wird. Nach neuesten Untersuchun-gen kann jedoch diese frühe Spezialisierung durch die soziale Interaktion mit SprecherInnen andererSprachen verzögert werden (Kuhl et al. 2003). Die angeborenen Merkmalsdetektoren für die jeweiligeErstsprache werden schon früh programmiert: Die Organisation von Rhythmus und Intonation er-folgt bereits zwischen fünf und sechs Monaten; Lautsegmente werden mit rund acht Monaten heraus-gearbeitet. Suprasegmental kommt also vor segmental (und ist auch am resistentesten im Fremdspra-chenerwerb). Mit zehn Monaten haben Babies bereits das Repertoire von Konsonanten, die sich in derErwachsenensprache als statistisch relevant erweisen, selektiert (Vihman 1996).

Beim Aufbau des Phonemsystems begeben sich Erst- und Fremdsprache auf den schon bekanntenchaotischen Pfad (2.2). Auch hier gibt es eine ruhige Anfangsphase mit darauffolgenden Turbulenzenund allmählich wieder einkehrender Ordnung; schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass die Phono-logie der Lieferant für das Lexikon ist, Informationen für die Segmentierung des Sprachstroms liefertund dabei hilft, die sprachspezifische Wortstruktur segmental und suprasegmental zu definieren. DiesePhasen lassen sich sowohl im Erst- als auch im Fremdsprachenerwerb beobachten. Beide zeigen Fluk-tuationen in der Regelanwendung, sei es in der abwechselnden Fortisierung und Lenisierung von Kon-sonanten (= starke oder schwache Artikulation) oder im Wechsel der Vokalqualität und -quantität beigleicher Position. Die Schwankungen werden erst mit dem Erreichen der individuellen Stabilisierungdes Systems reduziert.

3. Die Entwicklung von Systemen in der Erst-, Zweit- und Fremdsprache

27

5 MLU: mean length of utterance = durchschnittliche Länge einer Äußerung.

Nach dem, was über die Staffelung der Systementwicklung und die Plastizität des auditiven Sys-tems bekannt ist, liegt die Vermutung nahe, dass sich ein früher Start in die Fremdsprache sehr positivauf die phonologische Entwicklung auswirkt. Aus der frühen Stabilisierung folgt auch, dass in derGrundschule antrainierte Aussprachefehler nur unter großen Anstrengungen wieder korrigiert werdenkönnen.

3.3 Dynamik des Lexikonerwerbs

Der Aufbau des Lexikons hat eine lange Anlaufzeit. Wenn Babies mit ca. zwölf Monaten ihre erstenWörter sagen und wenn die Form auch zum Inhalt passt, haben sie bereits ein ausgedehntes Lernpro-gramm absolviert. Mit drei Monaten beginnen sie mit der Segmentierung der visuellen Welt in Katego-rien und mit dem Aufbau vorerst noch rudimentärer Konzepte, d. h., sie erstellen eine interne Reprä-sentation der äußeren Welt (mehr dazu in Bowerman & Levinson 2001). Ab acht Monaten beginnt dasSortieren von Klangmustern. Schon in diesem Alter zeigen Babies eine deutliche Präferenz für häufigvorkommende Wörter und sie beginnen damit, die Klangmuster häufig im Input vorkommender Wör-ter zu speichern. Dies ist eine wichtige Vorstufe für den Erwerb des Lexikons.

Die Speicherung von Klangmustern sorgt für die erforderliche Datenbasis, um Schlüsse über dieTypen phonetischer und prosodischer Muster zu ziehen, die häufig in der Muttersprache vorkommen(Juszyk 1997, de Boysson-Bardies 1999). Untersuchungen zum Auftauchen erster Wörter bringenmeist eine Serie weiterer Beobachtungen zu ihrem Einbau in syntaktische Strukturen mit sich. Dazukommt noch das Auffüllen von leeren syntaktischen Positionen mit Füllsilben (vgl. Peters 2001 zumsentence padding).

Wenn wir also über den Erwerb des Lexikons sprechen, müssen wir überlegen, was den sprachli-chen Symbolen ihre spezielle Qualität gibt. Gerade in der Frühphase des Erwerbs ist es wichtig, diekommunikativen Absichten eines Kindes zu beachten und sich anzusehen, wie Kinder bzw. Lernendeden Input in seine funktionalen (Sub)komponenten zerlegen (Tomasello 2000). Man sieht das sehrschön an der Herauslösung von ganzen Wortketten, die zunächst als Einheit gespeichert werden und in

toto ihre kommunikative Funktion erfüllen.Das Lexikon gehört zu den Systemen, die sich ein ganzes Leben lang organisieren und reorganisie-

ren. Auch in der Erstsprache löst jeder neu erarbeitete Sachbereich verstärkt Aktivitäten in der Feindif-ferenzierung von Kategorien aus; zudem werden semantische Felder neu strukturiert und die Positionvon Prototypen auf der Rangliste der typischsten Vertreter einer Kategorie verschoben (vgl. Bloom2000). Für den Fremdsprachenerwerb kann gelten, dass die geschlossene Klasse des Lexikons (also dieFunktionswörter und Partikel) bald bekannt ist. Woran Lernende jedoch lange arbeiten, ist ihre kor-rekte Verwendung. Dies betrifft die syntaktische Position und die Frage der morphologischen Markie-rung (die Beispiele zum Deutschen und zu BKS werden zeigen, was damit gemeint ist). Die offeneKlasse des Lexikons hingegen erfährt mit steigender Kompetenz einen enormen Zuwachs durch denintensiver werdenden Input.

Der Erwerb des Lexikons hat seine eigene Dynamik, die sich auf einem Kontinuum zwischen pas-sivem Erkennen/Verstehen und aktiver Produktion bewegt (vgl. dazu Peltzer-Karpf & Zangl 1998;Horst & Meara 1999). Der Aufbau beginnt mit einer Phase linearen Wachstums. Diese Benennungs-und Sammelaktivitäten werden von einer nichtlineareren Phase gefolgt, in der durch ReorganisationOrdnung in das Sortiment der gesammelten Daten gebracht wird. Wir haben also einen langsamen An-lauf mit Wort-für-Wort-Lernen, gefolgt von Akzelerationen und einer beginnenden Systematisierungin der Morphosyntax.

Teil I – Psycholinguistische Studie

28

3.4 Morphologische Systeme

Die Morphologie nimmt im Spracherwerb eine Brückenstellung zwischen Lexikon und Syntax ein;einerseits hilft sie dabei, neue Wörter zu bilden (= Wortbildung), andererseits ist sie semantischer In-formationsträger in der Syntax (= Flexion). Sie wird jedenfalls in neuen Theorien wie die Syntax denregelintensiven computational systems zugeordnet; wobei die Wortbildung auch auf Speicherbetrieb arbei-tet. Wie früh Kinder mit der morphologischen Markierung in der Syntax und mit der Bildung neuerWörter beginnen, hängt vom jeweiligen Sprachsystem ab. Kinder, die flektierende Sprachen erwerben,starten relativ früh; beginnend mit der Kennzeichnung des Plurals (mit den Vorstufen Zahlwort oderAdverb + Nomen). Erfolge zeigen sich rascher in einer agglutinierenden Sprache, wie dem Türki-schen, da das System transparenter und regelmäßiger ist.

Die Präferenzen entsprechen den eingangs genannten Kriterien: Frequenz, Transparenz und wie-derholtes Auftreten in vergleichbaren Kombinationen. Das Prinzip der Auffälligkeit kommt hier nichtzum Tragen, denn gerade gebundene Morpheme (Flexions- und Derivationsmorpheme) halten sichakustisch eher im Hintergrund. Wie schon besprochen, hängt auch der Erwerb der Morphologie voneiner kritischen Masse lexikalischer Elemente ab, welche die Organisation von Regelsystemen „trig-gert“. Es ist daher nicht überraschend, dass in der Frühphase des Spracherwerbs eher von gespeicher-ten Protomorphemen gesprochen werden kann, die – so scheint es zumindest auf den ersten Blick –mit dem Zufallsgenerator produziert werden. Jedenfalls werden Formvarianten wie Mann/Männer,

goose/geese, cheval/chevaux sobald Kinder/Lernende mit Regeln zu experimentieren beginnen, gerne re-gularisiert. In der Verbalflexion gibt es Formen wie taked, goed, buyed parallel zu jumped, walked.

In der Flexion sind Übergeneralisierungen das erste Indiz für produktive Regelanwendung. Gene-rell gilt, dass transparente, einfache und häufige Formen früher bearbeitet werden als seltenere kom-plexe Formen. Besonders schwierige und unregelmäßige Formen bereiten im Zweit-, aber auch imErstspracherwerb noch länger Schwierigkeiten. Beispielsweise stabilisiert sich das morphosyntaktischeRegelsystem im Deutschen mit etwa sieben Jahren. Übergeneralisierungen bei Pluralbildungen mitUmlaut oder bei unregelmäßigen Verben können aber noch die gesamte Grundschulzeit hindurch auf-treten (vgl. Karpf 1990).

Das ökonomische Denken setzt sich auch in der Wortbildung fort. Auch hier werden die Verbin-dungen von der größten und produktivsten Klasse genommen. Ein Prozess, bei dem im Englischengepunktet werden kann, ist die Konversion, z. B. fish und to fish (Fisch und fischen). Die Vorliebe fürTransparenz führt dazu, dass neue Wörter aus bekannten Wurzeln und Suffixen gebildet werden. DieVorliebe für Einfaches bringt es mit sich, dass so wenige Veränderungen wie möglich erfolgen, daherwerden Affixe bevorzugt, die keine Veränderung bedingen, z. B. -ness. Die shooting stars unter den Suffi-xen sind, wie könnte es auch anders sein, die mit der höchsten Frequenz in der Erwachsenensprache.

Ein eigenes Kapitel in der kontrastiven Betrachtung sind Komposita (Typ: Briefkasten), Agentivde-rivationen (Typ: Sänger) und Nullderivationen (Typ: it. grattacielo/Wolkenkratzer). Komposita mit undohne Derivation (z. B. mit dem Agentivsuffix -er) sind in den germanischen Sprachen Legion und sindob ihrer einfachen Kombinationsart und hohen Frequenz bei Kindern, die Deutsch, Englisch, Nieder-ländisch oder Schwedisch lernen, schon um das zweite Lebensjahr zu beobachten. Nullderivationensind eine romanische und slawische Spezialität, bei diesem Wortbildungstyp werden Verb und Objekteines zugrunde liegenden fiktiven Satzes kombiniert (z. B. frz. casse-noisette/Nussknacker von il casse les

noisettes; und eben auch grattacielo).Die Morphologie spielt in der ersten Phase des Spracherwerbs eine marginale Rolle. Wie die Bei-

spiele zur Syntax zeigen werden, läuft die Flexionsmorphologie beim Bau von Sätzen mit. In der An-fangsphase werden bestenfalls der Plural und im Englischen die expanded form auf -ing markiert. Der

3. Die Entwicklung von Systemen in der Erst-, Zweit- und Fremdsprache

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Plural, weil er semantisch wichtig und einfach zu realisieren ist; Ausnahmefälle werden zunächst, so-fern sie nicht gespeichert sind, regularisiert. Das Suffix -ing hat eine hohe Frequenz und ist phonetischauffällig. In der Verbalflexion dominieren zunächst Übergeneralisierungen. Das -s in der 3. Person Sin-gular bleibt im Erst- und im Fremdsprachenerwerb Englisch lange ein Problem. Der Hauptgrund fürdas Weglassen ist die Doppelmarkierung durch Personalpronomen und Verbalendung in dieser sonstso flexionsarmen Sprache.

Zusammenfassend lässt sich Folgendes zum Erwerb der Morphologie sagen: Im Deutschen undEnglischen werden einfache und transparente Formen bevorzugt und früh erworben, Oppositiondurch Partikel ausgedrückt. Sobald die Bedeutung eines Präfixes klar ist, fällt es in die Rubrik „transpa-rent“ und wird nach den jeweils gültigen produktiven Regeln verarbeitet. Die Reihenfolge des Erwerbsist generell: einfach, transparent, produktiv. Die Optionen sind mit vier Jahren bekannt, danach erfolgtein sich je nach Sprachtyp über Jahre erstreckender Anpassungsprozess an die Muster der Erwachse-nensprache, wie schon zwei bis drei Jahre zuvor in der Phonologie. Unsere Daten werden zeigen, dassSchülerInnen im zweiten Lernjahr in hohem Maße gespeicherte Formen produzieren (= die quasi sta-bile Phase) und dass Regelfluktuationen und die Experimentierfreudigkeit im vierten Lernjahr ihrenHöhepunkt erreichen (= die turbulente Phase).

3.5 Metamorphosen der Syntax

Am Beispiel der Syntax lässt sich sehr schön illustrieren, welche Ordnungszustände ein System im Ver-lauf der Entwicklung durchläuft. Wir erinnern an den chaotischen Pfad in 2.2, der mit gespeichertenchunks beginnt und dann über Fluktuationen und Turbulenzen in ein ruhigeres Fahrwasser gerät. Nochlange vor dem Einzug dynamischer Theorien hat Stern (1907) Muster registriert, die dem initial state

entsprechen. Wir nennen hier eischwei (= eins-zwei) für loslaufen.Die ersten Sätze werden als Einheit verstanden und mit Handlungen verbunden. Mit acht bis neun

Monaten reagieren Babies auf Aufforderungen wie Blow a kiss!, Schau her! oder Steh auf! – Formen, diemit anderem Inhalt auch im total physical response (TPR), bei Tanzspielen wie Simon says oder im Club Med

mit Erfolg zum Einsatz kommen.Die ersten Eigenproduktionen sind, wie im Kapitel über das Lexikon beschrieben, einzelne No-

men, die von paralexikalischen Elementen begleitet auftreten, und danach erste undifferenzierte Wort-sätze, wie das bereits zitierte upigo für Up we go. Die Funktionen der ersten Sätze sind meist Wünscheund Verneinung (zuvor durch Gesten, Interjektionen und Partikel realisiert), die sprachliche Realisie-rung ist: more/give + das Objekt der Begierde. Syntaktische Aktivitäten im eigentlichen Sinn werdendurch eine Invasion von Verben im Lexikon „getriggert“, die in diversen phonologisch verändertenFormen zwischen 1;4 und 1;8 auftreten. Sie kommen zunächst einzeln als Beschreibung einer Hand-lung, dann in Kombination mit Objekten vor.

Pronomen sind ein Kapitel für sich, sie treten erstmals um das 20. Monat auf. Der korrekte Um-gang mit ihnen erfordert semantische Differenzierung und Flexibilität in der Syntax. Eine Untersu-chung von Hickmann & Hendriks (1999) mit Vorschulkindern weist für das Deutsche den niedrigs-ten Prozentsatz von Pronomen aus (40–50%), französische Kinder starten mit 50%, reduzieren dannaber im weiteren Verlauf des Spracherwerbs, dies gilt auch für das Englische. Chinesische Kinder ma-chen Kurven von 60–45–65–55%. Jüngere deutschsprechende Kinder bevorzugen postverbale Posi-tionen, was dann im Deutschen die Subjekt-Verb-Inversion obligatorisch macht. Man vergleiche Kon-struktionen im Deutschen, Französischen und Englischen: Und dann fliegt sie weg. Et puis elle s’envole. And

then she flies away. (Ein ähnlicher Satz ist auch in unserer Testbatterie zur Kontrolle von bevor/nach ent-halten.)

Teil I – Psycholinguistische Studie

30

Häufig zu beobachten sind in dieser Phase Kurzformeln aus Personalpronomen + Ergänzung ausModalverben, Adverben etc., die, um einer kommunikativen Funktion zu genügen (ungeachtet dereigentlichen Bedeutung), zusammengebaut werden: I now (meint: ich will an die Reihe kommen); I’m not

(Lehrerin ruft irrtümlich den falschen Namen).Sehen wir uns nun an, wie im frühen Spracherwerb Sätze verknüpft und Pro-Formen eingesetzt

werden. Wir konzentrieren uns hier auf die Bildung von Relativsätzen, und nicht auf die Satzkoordina-tion. Relativsätze werden früh erworben und häufig produziert, Formen und Funktionen sind jedochnoch eingeschränkt (vgl. Jisa & Kern 1998). Die bevorzugte Konstruktion ist rechtsverzweigend, d. h.,es kommt zuerst ein Hauptsatz mit dem Prädikat und dann die neue Information als noch einzubetten-der (= zu kürzender) Satz. In den folgenden Beispielen zu den ersten Einbettungsversuchen vonSaskia (Hohenberger 2002) sind die identischen Elemente gekennzeichnet:

(2;5) . . . das Kleidchen von Saskia mit Knöpfchen hat.(2;9) . . . kleinen Kinderkleber, der’n ganz zunen Deckel hat.(2;9) Ich hab den Löffel geholt, der ganz hinten steckt.

Der Erwerb der Syntax in der Fremdsprache geht einen ähnlichen Weg. Die folgenden Beispiele zuverschiedenen Systemzuständen lassen sehr gut erkennen, dass hier SchülerInnen an der Fragebildung,der Negation und an der Konstruktion von Relativsätzen arbeiten. Die Problemfelder sind die Satz-stellung, die morphologische Markierung und die Satzkoordination. Der so korrekt wirkende Ord-nungszustand der ersten Phase weicht langsam einem größeren Chaos, eine notwendige Zwischen-stufe auf dem Weg zu höherer struktureller und funktioneller Komplexität.

Die Frage nach der Uhrzeit wird in einer vierten Grundschulklasse mit unvollständig analysiertenchunks, steigender Intonation oder Fragepronomen ohne Inversion gestellt. Die Beispiele deuten dar-auf hin, dass die SchülerInnen langsam den Überblick über ihre vielen Formeln verlieren. Es ist alsohöchste Zeit für das Herausfiltern von Regeln:

What’s time?Excuse me, I clock?Excuse me, one on the clock?Where it’s the time?Excuse me, where o’clock?Excuse me, what’s is o’clock?Sorry, what’s the clock?

Was bei den nun folgenden Beispielen sofort auffällt, sind die beginnende morphologische Markie-rung und die Bewegung von Elementen. SchülerInnen, die am Vienna Bilingual Schooling teilnehmen,produzieren Formen mit Subjekt-Verb-Inversion bereits im zweiten und dritten Lernjahr.

Play your father football?Plays your father football?Playing your father football?Are your father play football?Go you not to school?Why you not go to school?

Bei Satzverneinung transferieren diese Kinder bereits die Negationselemente in das Satzinnere; an-stelle der do-Periphrase verwenden sie jedoch noch das Vollverb mit nachgestelltem not :

3. Die Entwicklung von Systemen in der Erst-, Zweit- und Fremdsprache

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I went not to London in my holidays.The girl eats not cookies.Sit not down here!

Mit dem Bau von Relativsätzen haben wir uns schon weiter oben beschäftigt. Die für die Erstsprachebeobachtete Erwerbsreihenfolge gilt auch für den Fremdsprachenerwerb, wobei Relativsätze in satzfi-naler Position (z. B. Die Katze beißt die Maus, die den Käse frisst.) in der Regel vor eingebetteten Relativ-strukturen (z. B. Die kleine Giraffe, die der Tiger jagt, versteckt sich hinter der großen Giraffe.) erworben werden.Die folgenden Beispiele aus einem Nachsprechtest zeigen sehr schön, dass eingebettete Sätze vorerstnoch in koordinierte Sätze umgebaut werden (Peltzer-Karpf & Zangl 1998: 93 f.):

Stimulus: Walter feeds the cat which the dog bites.Response: Walter feeds the cat and the dog bite the cat.Stimulus: The bear which knocks down the sheep follows the rabbit.Response: The bear knocks down the sheep and follows the rabbit.

Wie Studien zum Erst- und Fremdsprachenerwerb bestätigen, zeigt der Erwerb temporaler Markie-rungen (before/after) nicht nur im Englischen, sondern auch im Deutschen ein vergleichbares Muster:Ereignisabfolgen werden zunächst unter Einhaltung der tatsächlichen Ereignisabfolge in einzelnenSätzen geschildert, die häufig mit und oder und dann verbunden werden (order of occurrence = order of men-

tion). Die Markierungen before/bevor und after/nachdem kommen erst danach, und zwar in der genanntenReihenfolge (wir verweisen hier auf Karpf 1990; Peltzer-Karpf & Zangl 1998; Hickman & Hendriks1999). Dieses Thema ist vor allem in Zusammenhang mit der Produktion von Texten interessant, mitder wir uns in den Abschnitten 10 und 11 befassen werden.

Wir kommen zum Schluss dieses umfangreichen Unterkapitels. Die Länge hat sich aus der massi-ven Aktivität in der Regelfindung ergeben, die der erhöhten Speicherung von vorfabrizierten Musternin der Anfangsphase folgt. Die turbulente Phase lässt sich in der Syntax an der Fähigkeit erkennen, mitdislozierten Elementen umzugehen und sie je nach Position und Funktion morphologisch zu markie-ren. Außerdem ist eine rapid anwachsende Experimentierfreudigkeit in der Bewegung von Elementenzu beobachten.

Sehen wir uns am Ende dieser Parade quer durch alle Systeme noch an, wie Kinder über Sprachedenken. Denn diese Fähigkeit ist beim Erwerb einer Zweit-/Fremdsprache im Schulkontext besondersgefragt.

3.6 Metasprachliche und metakognitive Entwicklung

Von Piaget wissen wir, dass sich im Vorschulalter der Übergang vom anschaulichen zum repräsentati-ven Denken vollzieht. In dieser Zeit werden konkrete Operationen vorbereitet und Strukturen interna-lisiert. Der Schulstart fällt in die Schnittstelle vom präoperationalen (1;6 bis 11 Jahre) zum operationa-len Denken (7–11 Jahre). Ein dazu passender Intelligenztest aus dem Material Piagets illustriert die hiergeforderte Denkart: Edith ist heller als Susanne. Edith ist dunkler als Lily. Wer ist am dunkelsten? Zu den ko-gnitiven Aktivitäten dieser Altersgruppe gehören auch die mentale Repräsentation von Symbolen undZeichen und das Ordnen von Begriffspyramiden nach Ober- und Unterbegriffen. Wie groß der Wirk-lichkeitsbezug bei Vorschulkindern ist, zeigt sich in den folgenden Ansichten zum Wortstatus und zurWortlänge (vgl. Berthoud-Papandropoulou 1980):

– Eye is a short word because the eye is small.– Journal is a long word because it has many letters.

Teil I – Psycholinguistische Studie

32

– Bed is a word because you can sleep in it.– The is no word because you cannot see it.– Supermarket is longer than doll because there are so many things in it.– The boy washes the lorry has three words in it: the boy and he washes the lorry.

Sprachbewusstsein kann als die Fähigkeit definiert werden, über Sprache nachzudenken oder über ihreStruktur, Funktion und Natur Überlegungen anzustellen. Dazu gehört zum Beispiel die Fähigkeit, zuerkennen, dass zwei Wörter gleich klingen, obwohl ihre Bedeutung ganz verschieden ist. Weitaus hö-here kognitive Reife erfordert das Definieren von Begriffen. Die folgende Liste bringt Beispiele vollerSpontaneität und Phantasie von Fünf- bis Neunjährigen; sie sind teils praktisch und philosophisch,aber immer kreativ (vor allem in der Wortbildung) (Kania & Rosenberg 1986):

Vampir : Er ist recht schmeichelhaft, er verführt die Frauen und dann sagt er, darf ich Sieküssen, und dann beißt er zu, und er ist schwarz angezogen.

Wunder : Das kann ganz unerwartet kommen.ewig: Alles, was ein Ende hat, ist nicht unendlos.

Es besteht kein Zweifel daran, dass der Schulunterricht die Präzision der Begriffsbestimmung positivbeeinflussen kann: Dies gilt vor allem für die bessere Definitionsfähigkeit in der Fremdsprache (siehedie Beispiele in den Abschnitten 7 bis 9). Auch bei der phonologischen Aufmerksamkeit punktenSchulkinder (Bruck & Genesee 1995). Zwar sind bilinguale Kinder im Kindergarten der monolingua-len Gruppe überlegen, aber mit Beginn der Lese- und Schreibfähigkeit holen monolinguale Kinderwieder auf. Halten wir fest: Früher fremdsprachlicher Input kann offensichtlich das Tempo und dasMuster der metasprachlichen Entwicklung positiv beeinflussen. Auch bei geringer Sprachkompetenzin der Fremdsprache wird die phonologische Aufmerksamkeit erhöht, zudem hat die orthographischeRepräsentation (= das Wissen um die Korrespondenz von Phonem & Graphem) einen positiven Ein-fluss auf die Segmentierung.

Besonders deutlich wird die Diskrepanz zwischen Sprache und Metasprache bei psycholinguisti-schen Tests. Vierjährige Kinder sind durchaus mit den Optionen ihrer Erstsprache vertraut, sie produ-zieren und verstehen bereits relativ komplexe morphosyntaktische Muster und verfügen über ein gutsortiertes lexikalisches Sortiment, aber: Es ist zweierlei, Formen spontan zu produzieren oder sie be-wusst auf Anweisung des Testleiters zu konstruieren. Wie sehr sich SchulanfängerInnen noch auf denextralinguistischen Kontext konzentrieren, wird in den Reaktionen (1–3) auf die folgende Aufgabedeutlich; aber es gibt auch Ansätze zur Parataxe und zur Hervorhebung (= Topikalisierung) desSchlüsselwortes (4–5); (mehr dazu in Peltzer-Karpf 2001):

Stimulus: Die Mutter gibt Ursula ein Geschenk. Heute ist ihr Geburtstag.Aufgabe: Hier sind zwei kurze Sätze, aus denen du einen langen Satz machen kannst.

1. Heute wird Ursula neun Jahre und Mutter schenkt ihr etwas.2. Ursula freut sich.3. Darf ich das Päckchen aufmachen?4. Die Mutter gibt Ursula ein Geschenk und heute ist ihr Geburtstag.5. Ein Geschenk gibt Mutter Ursula heute ist ihr Geburtstag.

Zum Vergleich die in natürlicher Kommunikation produzierten Sätze von Saskia (Hohenberger 2002):

(2;8) Heute brauch man keine Handschuhe. Im Auto is warm.(2;9) Da war mal so ein leines Auto und des Auto at den rasen demäht.

3. Die Entwicklung von Systemen in der Erst-, Zweit- und Fremdsprache

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Wir haben diese Beispiele gebracht, um daran zu erinnern, dass Spracherwerb nicht nur das Erlernenvon Regeln bedeutet, sondern auch den Erwerb der Fähigkeit, damit kreativ und bewusst umzugehen.

Es scheint mehrere Wege zu geben, den Code einer Sprache zu knacken und bewusst mit sprachli-chen Regeln und Einheiten umzugehen. Möglicherweise beginnen Kinder mit der Suche nach dem Zu-sammenhang von Form und Funktion, sobald die semantischen Konzepte einen gewissen Stabilitäts-grad erreicht haben und die sprachlichen Mittel für die Realisierung bekannt sind. Es gibt aber auchDaten aus dem Erst- und Fremdsprachenerwerb, die nahelegen, dass die reine Beschäftigung mit For-men und Strukturen ebenfalls zielführend sein kann. Zahlreiche Studien der Spracherwerbsforschungmachen deutlich, dass morphologische und syntaktische Regeln hierbei keineswegs kontinuierlich an-gehäuft, sondern phasenweise erworben werden. Die dabei beobachteten Ähnlichkeiten der Entwick-lungsmuster in verschiedenen Situationen des Spracherwerbs – von individuellen Variationen abgese-hen – lassen auf dafür verantwortliche universell gültige Prozesse schließen (Peltzer-Karpf & Zangl2001; Nelson, Aksu-Koç & Johnson 2001). Wie diese mit sprachspezifischen Parametern in verschie-denen Varianten des Erst- und Fremdsprachenerwerbs interagieren, wird uns in den folgenden Ab-schnitten beschäftigen.

Teil I – Psycholinguistische Studie

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4. Details zur Untersuchung

Die Untersuchung war als Longitudinalstudie konzipiert, welche die Dauer von vier Volksschuljahrenumfasste. Pro Untersuchungsjahr fanden drei Testphasen statt: zu Beginn, in der Mitte und am Ende desSchuljahres (mit Ausnahme des vierten Schuljahres, in dem nur zwei Testphasen stattfanden). Die Kin-der wurden in der Erst-/Zweit-/Drittsprache Deutsch und im Fall von BKS und Türkisch in der jeweili-gen Muttersprache getestet. Bei den Kindern mit anderen Muttersprachen wurde nur der deutscheSprachstand untersucht. Bei einer Auswahl von 34 Kindern wurde auch der Erwerb des Englischen be-obachtet. Jedes Kind wurde einzeln in einem möglichst ruhigen Raum in der jeweiligen Schule getestet.

4.1 ProbandInnen

Im Rahmen dieser Untersuchung wurden insgesamt 106 Kinder aus sechs verschiedenen WienerVolksschulklassen getestet. Es handelte sich hierbei um 27 Kinder mit deutscher Erstsprache, 26 mut-tersprachlich türkische Kinder, 40 Kinder mit den Muttersprachen BKS und 13 Kinder mit anderenMuttersprachen (Albanisch, Arabisch, Hindi, Polnisch, Rumänisch, Slowenisch). Eine Übersicht überdie Lage zu Beginn der Untersuchung gibt die folgende Tabelle:

Deutsch Türkisch BKSandere

Muttersprachengesamt

Schule 1 1 1 13 1 16

Schule 2 7 6 8 1 22

Schule 3 2 2 2 2 8

Schule 4 5 13 7 5 30

Schule 5 3 3 10 4 20

Schule 6 9 1 0 0 10

gesamt 27 26 40 13 106

Die Anzahl der Testpersonen reduzierte sich im Laufe der vier Jahre auf insgesamt 93 Kinder (26 Kin-der mit deutscher L1, 23 Kinder mit türkischer L1, 29 Kinder mit den Erstsprachen BKS, 15 Kindermit anderen Erstsprachen), da einige die Schule wechselten oder die Klasse wiederholen mussten. DieZunahme der Kinder mit anderer Erstsprache von 13 auf 15 erklärt sich aus der Tatsache, dass sicherst im Verlauf der Untersuchung herausgestellt hat, dass bei mehreren Kindern aus dem ehemaligenJugoslawien Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch nicht die Erstsprache ist (zur Problematik der Feststel-lung der Erstsprache siehe Teil II: soziolinguistische Begleitstudie).

Im vorliegenden Bericht werden die Probandengruppen wie folgt bezeichnet:

Gruppe 1 (Kinder mit türkischer Erstsprache)Gruppe 2 (Kinder mit den Erstsprachen BKS)Gruppe 3 (Kinder mit anderen Erstsprachen)Gruppe 4 (Kinder mit deutscher Erstsprache)

Daneben wurden im 3. Laufjahr auch Kontrollgruppen in den Herkunftsländern in die Untersu-chung miteinbezogen:

• 10 Kinder aus Lukavac (Bosnien)

• 10 Kinder aus einem Vorort von Ankara (Türkei)

35

4.2 Testmethode

Zur Erhebung der sprachlichen Kompetenzen der Kinder wurden

• spontansprachliche Interviews,

• systemlinguistische Tests

• sowie Untersuchungen zur Textkompetenz durchgeführt.

In den spontansprachlichen Interviews wurden mit den Kindern Einzelespräche zu altersgemäßenThemen, wie Freizeit, Schule oder Familie, geführt. Die Dauer der Interviews variierte je nach Testse-rie zwischen fünf und zehn Minuten. Die Interviews wurden auf Audiokassetten aufgezeichnet undnach dem CHILDES-System (MacWhinney 1991) transkribiert. Die Auswertung erfolgte mit Hilfeeines eigens entwickelten Spontanspracherasters6, der folgende Kriterien beinhaltet: Kommunikation,morphosyntaktische Struktur und semantisch/lexikalische Struktur (siehe Anhang).

Die systemlinguistische Untersuchung berücksichtigte sowohl die Sprachproduktion als auch dasSprachverständnis. Die Tests gliederten sich in einen morphosyntaktischen und in einen semantisch-lexikalischen Teil. Jeder Abschnitt dauerte etwa sieben bis zehn Minuten. Die Auswertung und Inter-pretation erfolgte systemspezifisch und orientierte sich an den für die einzelnen Subsysteme relevantenKriterien.

Die Evaluation erfolgte größtenteils in Form eines Punktesystems, wobei unterschiedlichen Ent-wicklungsstufen verschiedene Punktwerte zugeordnet wurden, gelegentlich auch durch eine richtig/falsch-Differenzierung. Die Bewertungsskala stellte – je nach Teilbereich – morphologische und syn-taktische oder semantisch-lexikalische Kriterien in den Vordergrund. Die erreichten Punkte wurdenin Prozentzahlen umgerechnet.

Im Laufe der vier Jahre wurden folgende Teilbereiche getestet:

Deutsche Tests:

1. Morphologie (Komposition, Derivation, Verbalflexion, Pluralbildung, Adjektivsteigerung, Kon-gruenz)

2. Syntax (Fragebildung, Negation, Aktiv/Passiv, Temporalsätze, Relativsätze, Kausalsätze, Kausativ-strukturen)

3. Lexikon/Semantik (semantische Felder, oppositionelle Relation, paradigmatische Relation, syntag-matische Relation, Körperschema, Verwandtschaftsbeziehungen, Wortklassen)

4. Pragmatik (Sprechakte)

Tests für BKS:

1. Morphologie (Derivation, Verbalflexion, Pluralbildung, Adjektivsteigerung, Genitiv, Kongruenz)2. Syntax (Fragebildung, Negation, Aktiv/Passiv, Temporalsätze, Relativsätze, Kausalsätze, Kausativ-

strukturen, Satzbildung, Interferenzen)3. Lexikon/Semantik (semantische Felder, oppositionelle Relation, paradigmatische Relation, syntag-

matische Relation, Körperschema, Verwandtschaftsbeziehungen, Wortklassen)4. Pragmatik (Sprechakte)

Teil I – Psycholinguistische Studie

36

6 Das Bewertungssystem nimmt seiner Form nach Anlehnung an den Aachener Aphasietest (vgl. Huber/Poeck/Weniger/Willmes 1983).

Tests für Türkisch:

1. Morphosyntax (Komposition, Derivation, Verbalflexion, Pluralbildung, Genitivverbindung, Fra-gebildung, Negation, Temporalsätze, Relativsätze, Kausalsätze, Kausativstrukturen, Gerundien)

2. Lexikon/Semantik (semantische Felder, oppositionelle Relation, paradigmatische Relation, syntag-matische Relation, Körperschema, Verwandtschaftsbeziehungen, Postpositionen, Wortklassen,Adjektivsteigerung)

3. Pragmatik (Sprechakte)

Detaillierte Informationen zu den einzelnen Subtests und ihrer Durchführung finden sich in den ein-zelnen Projektberichten (Peltzer-Karpf et al. 2000, 2001, 2002, 2003).

Der vorliegende Bericht über die vier Untersuchungsjahre enthält speziell die Ergebnisse jenerTeilbereiche, welche die sprachliche Entwicklung der ProbandInnen im Laufe der vier Jahre besondersdeutlich reflektieren.

4.3 Testmaterial

In allen Bereichen wurde darauf geachtet, dass das Testmaterial dem Alter und der Erfahrungswelt derKinder entspricht. Besonderes Augenmerk wurde auf kulturspezifische Gegebenheiten (Essgewohn-heiten, Feiern etc.) gelegt. Viele der Testaufgaben sind spielerisch gestaltet, um eine angenehme Atmo-sphäre zu schaffen. Den Kindern sollte nicht das Gefühl vermittelt werden, sich in einer Testsituationzu befinden.

In den Untersuchungen zu Spontansprache und Textkompetenz wurde unterstützendes Bildmate-rial als Stimuli eingesetzt. In der Systemlinguistik wurden Bildkarten7 und Kärtchen, Holzfiguren,Handpuppen bzw. Stofftiere zur Durchführung der Tests verwendet.

4. Details zur Untersuchung

37

7 Repräsentative Beispiele der Bildkarten finden sich im Anhang.

5. Spontansprache

Um sich in einer Sprache als kompetente/r KommunikationspartnerIn zu erweisen, benötigen Ler-nende nicht nur systemlinguistische (morphosyntaktische sowie semantisch/lexikalische) Kenntnisse,sondern auch pragmatisches Wissen. Sie müssen die Regeln des Sprachgebrauchs genauso beherrschenwie die Regeln der Sprache an sich. Spontansprachliche Interviews bieten sich an, um einerseits diekommunikative Kompetenz der Kinder ersichtlich zu machen und um andererseits die Verwendungdes Regelsystems in natürlicher Konversation zu beobachten. Zusätzlich stellen die aufgezeichnetenDaten eine besonders gute Vergleichsbasis über einen längeren Zeitraum dar. Die Entwicklung der ein-zelnen ProbandInnen sowie der Sprachgruppen lässt sich deutlich ablesen. Daher legten wir Wert dar-auf, besonders mit jenen Kindern, die anfangs über eine sehr niedrige Deutschkompetenz verfügten,in jedem Untersuchungsjahr zumindest ein spontansprachliches Interview zu führen. Bei den Kindernmit deutscher Erstsprache wurde auf diese Dokumentation der sprachlichen Kompetenz bald verzich-tet und nur im dritten Schuljahr eine Kontrolluntersuchung durchgeführt. Am genauesten beobachtetwurde die spontansprachliche Entwicklung der Kinder mit türkischer L1. Daher lassen sich bei dieserSprachgruppe Vergleiche über alle vier Jahre ziehen.

Die aufgezeichneten Interviews wurden im CHILDES-System (McWhinney 1991) transkribiertund anschließend nach einem eigens entwickelten Raster ausgewertet (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2000),der die folgenden Beschreibungsebenen enthält:

• Kommunikation

• morphosyntaktische Struktur

• semantisch/lexikalische Struktur

Innerhalb jeder Ebene werden verschiedene Entwicklungsstufen (0 bis 5) unterschieden (siehe Anhang).Bei den Gesprächen – die immer einzeln mit den Kindern durchgeführt wurden – wählten wir The-

men, die sich am Erfahrungshorizont der Kinder orientierten (Hobbies, Lieblingsbücher, Lieblingsspiele,Schule, Familie, . . .). Zu Beginn der Untersuchung wurde auch Bildmaterial als Stimulus verwendet, umdie Konversation mit schüchternen Kindern sowie jenen mit geringer Deutschkompetenz zu animieren.

5.1 Interviews auf Deutsch

5.1.1 Die Anfangsphase

Die Kinder mit deutscher Erstsprache sind in der Lage, problemlos über altersgemäße Themen zuerzählen. Das morphosyntaktische Regelsystem ist weitgehend stabil, jedoch bereiten schwierige undunregelmäßige Formen gelegentlich noch Schwierigkeiten, beispielsweise Pluralbildungen mit Umlautoder auch unregelmäßige Verben.

(1)Michi: Dienstag da da warn wir wieder bei meiner Oma.Int: Ja.Michi: Und da da haben wir Knackwurster gekauft.

Das Lexikon der Kinder besteht bereits aus einer Vielzahl von Einträgen, die zum größten Teil auchgut gegeneinander abgegrenzt sind. Der Wortschatz ist geprägt von der Verwendung sämtlicher Wort-klassen. Besonders auffällig scheint im Vergleich zu den anderen Sprachgruppen das bewusste Einset-zen von Adjektiven.

38

(2)Int: Kannst du mir noch kurz dein Zimmer beschreiben, bitte?Eva: Ja, also ich hab ich hab eine eine goldene Garnische mit einem weißen Vorhang, mit ei-

nem langen, mit weißen Blumen aus weißem Faden gemacht, dann hab ich oben nochso einen zweiten kurzen Vorhang, und meine Türe ist weiß, ich hab ein kleines Zimmer,es ist so grün angemalt, so dunkelgrün, und ein rot ein roter Streifen oben, und oben istes ganz weiß, und ich hab ein Bett, das liegt aber leider noch am Boden, ich krieg erst einrichtiges Bett.

Bei Wörtern, die komplexere Konzepte beinhalten, neigen Kinder jedoch zum Teil noch zu Über-und/oder Untergeneralisierungen. Bei Verwandtschaftsbezeichnungen ist dies besonders häufig derFall, da sich je nach Bezugspunkt die Bezeichnung für ein und dieselbe Person ändert.

(3)Daniel: Aber . . .8 die Oma hat sich so gefreut, dass ich auch . . ., dass sie mit mir ku-

scheln konnte ahm . . . und und dann hat die Oma gsagt . . . und und zu zu Mamahat sie gsagt „Böse Schwiegermutter“, so hat sie zur Mama gsagt, wei weil die Omaist ja der Mama ihre Stiefmutter.

Int: Aha.Daniel: Wei und und dem Papa seine Mutti, aber wir nennen sie alle Mutti und von mir

ist sie die Oma.

Merkmale:

• vergleichsweise stabiles Regelsystem

• gelegentlich Kasusschwächen in Verbindung mit Präpositionen

• alle Wortklassen erworben

• Probleme beim idiomatischen Sprachgebrauch.

Die Kinder mit den Muttersprachen BKS besitzen im Deutschen durchaus schon die Fähigkeit, inverbale Interaktion zu treten, ihre kommunikativen Fertigkeiten weisen jedoch noch einige Schwächenauf, die seitens der KommunikationspartnerInnen erhöhte Aufmerksamkeit und verständnissicherndeMaßnahmen erfordern. Das noch instabile morphosyntaktische System kommt in einer großen Zahlan Übergeneralisierungen, Regelverletzungen sowie in Fluktuationen in der Anwendung von Regelnzum Ausdruck. Auch im Lexikon ist die Instabilität des Sprachsystems besonders auffällig: Durch dasAnhäufen von neuen Wörtern, deren semantische und grammatikalische Bedeutung noch nicht gänz-lich erworben ist, kommt es häufig zu Fehlinterpretationen von Wörtern, zu Übergeneralisierungenund zu Fehlern in der Kombination von Wörtern. In dieser produktiven Phase der Reorganisation(Nelson 1991, Peltzer-Karpf und Zangl 1998) wird das Lexikon umgeschichtet, Kategorien werden er-weitert, Merkmale hinzugefügt, Überbegriffe mit den entsprechenden Kategorien verknüpft.

Diese (turbulente) Phase soll anhand einiger Beispiele kurz umrissen werden:

(4)Int: Hast du ein Haustier?Marija: Mm . . . Meine Bruders lieben Hunde [?]9, meine Brudern . . .

5. Spontansprache

39

8 Mit . . . werden kürzere, mit . . . . . . längere Pausen im Gespräch gekennzeichnet.9 [?] steht hinter akustisch nicht eindeutig verständlichen Wörtern, wobei innerhalb der Klammern eventuelle Alternativtrans-

kriptionen angeführt werden können.

Int: Ich hab dich jetzt nicht verstanden, Entschuldigung.Du hast gesagt, deine?

Marija: Meine Bruder lieben Hunde.Int: Sie lieben Hunde, mhm . . .Marija: Wir haben nur Fischen.Int: Fische habt ihr. . . . In einem Aquarium, oder?Marija: Ja.

Das Kind verwendet unmittelbar hintereinander drei verschiedene Strategien zur Pluralbildung desNomens Bruder. Das frequente Suffix -n, das im Fall von Brudern zum Einsatz kommt, wird auch bei derProduktion von Fischen übergeneralisiert. Im Lexikon ist bei vielen Kindern die Feindifferenzierung inmanchen Bereichen noch nicht abgeschlossen. In Beispiel (5) sieht man, dass die Begriffe Kreis undRing schon erworben sind, ihre Abgrenzung voneinander scheint jedoch noch nicht beendet zu sein.Der im Gespräch gefragte Begriff Reifen fehlt im Lexikon des Kindes noch.

(5)Int: Ja, was habt ihr denn heute im Turnunterricht gemacht?Sonja: Hulla Hulla tanzen.Int: Hulla Hulla tanzen, ja, wie funktioniert denn das?Sonja: So, du hast so nen großen Kreis [. . .?]10, die Uschi hat gesagt, dass ich gut bin, dann hat

sie gesagt [. . .?], dann hat sie gesagt, dass ich jetzt vorzeigen muss [. . .?], du musst dieHände so oben haben, dann musst du [. . .?][Kind zeigt es vor, entfernt sich dabei auch weit vom Mikrophon weg, daher die unver-ständlichen Stellen.]

Int: Ah, das kannst du gut, ja, aha. Ja, was habt ihr sonst noch in der Turnstunde gemacht?Sonja: So . . . äh wir hatten Kreise, sehr viele . . . und alle passt uns wir müssten eins weggeben.Int: Was für Kreise?Sonja: Na auch so, wie die Hulla Hulla tanzen, diese Ringe.Int: Ja, aha.

Merkmale:

• Häufige Übergeneralisierungen sowohl der morphosyntaktischen Regeln als auch der Bedeutungeinzelner Begriffe

• Regelverletzungen z. B. Verwendung des Akkusativs anstelle des Dativs

• Ausreichende Anzahl an Inhaltswörtern, die allerdings mit hoher Frequenz auftreten.

• Teilweise werden lexikalische Lücken durch Paraphrasen gefüllt.

In der Gruppe der Kinder mit türkischer L1 ist die Bandbreite der sprachlichen Kompetenz beson-ders auffällig (zu den Gründen siehe Teil II: Soziolinguistische Begleitstudie). Die verbale Interaktionist häufig begrenzt und in einzelnen Fällen noch gar nicht möglich. Einzelne Kinder befinden sich je-doch bereits auf dem gleichen sprachlichen Niveau wie die Kinder der Gruppen 2 und 3 (siehe Ab-schnitt 14).

Begrenzter Informationsaustausch in Form von kurzen Äußerungen war mit etwas mehr als derHälfte der Kinder möglich. Mit knapp der Hälfte der Kinder verläuft die Kommunikation aber vorwie-gend nonverbal, und die verbalen Äußerungen beschränken sich in erster Linie auf das bloße Imitierenvon deutschen Wörtern der Gesprächspartnerin. Der Wortschatz eines Großteils der Kinder muss

Teil I – Psycholinguistische Studie

40

10 Mit […?] werden fehlende Passagen gekennzeichnet, die aus akustischen Gründen nicht transkribiert werden konnten.

sowohl in der Quantität als auch in der Qualität als stark limitiert bezeichnet werden. Die Syntax zeich-net sich vorwiegend durch Zweiwortsätze aus, und syntaktische Relationen werden meist noch nichtmorphologisch markiert.

Beispiel (6) zeigt eine häufige Strategie der ProbandInnen – von der Interviewerin Gesagtes wirdwiederholt:

(6)Int: Das ist ein Mann.Berna: Mann.Int: Mann, ja . . . ein Papa. . . . Du hast auch einen Papa.Berna: Papa.Int: Ja.Berna: Da.Int: Ja . . . das . . . Was ist das? . . . . . . Das ist ein Bub . . . ein kleiner Bub.Berna: Bub.Int: Ja, ein Bub.

Bei Wörtern, die wiederholt werden, lässt es sich schwer beurteilen, ob der Sprecher/die Sprecherin das ge-äußerte Wort tatsächlich erworben hat, d. h. mit einem semantischen Inhalt belegt hat oder nicht.

Einzelne Kinder dieser Gruppe verfügen bereits über eine weit höhere sprachliche Kompetenz,was sich in einer deutlichen Zunahme der Kommunikationsfähigkeit bemerkbar macht. Allerdingssind sie noch nicht immer in der Lage, sich verständlich auszudrücken, was gelegentlich verständnis-sichernde Maßnahmen erfordert.

Merkmale:

• großer Anteil an nonverbaler Kommunikation

• Zwei-Wort-Sätze

• syntaktische Relationen sind nicht markiert

• häufige Imitation der Gesprächspartnerin

• stark limitierter Wortschatz

• kaum Adjektive, wenn dann all-purpose-Adjektive, wie z. B. klein

Vergleicht man die Ergebnisse der einzelnen Sprachgruppen zu Beginn der Untersuchung, zeigen sichdeutliche Klüfte. (Fig. 5.1)

Fig. 5.2 präsentiert noch einmal die markanten Unterschiede in der Entwicklung der einzelnenenSprachgruppen.

Dieses Diagramm zeigt anhand von drei verschiedenen Kindern unterschiedlicher Sprachgruppedie Verteilung der Wortklassen im September des ersten Schuljahres. Es lässt sich deutlich erkennen,dass das Kind mit türkischer L1 im Vergleich mit den beiden anderen Kindern noch über die wenigstenWortklassen verfügt. Das Lexikon des Kindes der Gruppe 2 weist eine Vielzahl von Wortklassen auf,bei dem muttersprachlich deutschen Kind ist jedoch auch ein Anstieg in der Anzahl der types zu ver-merken. Speziell bei Verben, Präpositionen und Konjunktionen beinhaltet das Gespräch mit demKind deutscher Erstsprache eine höhere Auswahl an verschiedenen Vertretern. Frappierend ist auchder quantitative Unterschied bei den Nomen der Lexika der Kinder aus Gruppe 1 und 2. Man kann ausdiesem Diagramm eine generelle Erwerbstendenz (vgl. Clark 1993, Peltzer-Karpf und Zangl 1998,Schwab 1999) ablesen, nämlich, dass zuerst Nomen und dann Verben erworben werden.

5. Spontansprache

41

5.1.2 Die Endphase

In den vier Untersuchungsjahren haben sich die individuellen Sprachprofile teils sehr unterschiedlichentwickelt. Bei einem Großteil der Kinder kann man deutliche Fortschritte in sämtlichen sprachlichenSystemen feststellen. Dennoch gibt es Kinder, die ihre Deutschkompetenz nur geringfügig steigernkonnten. Hauptsächlich trifft dies auf Kinder der Gruppe 1 zu.

Vergleicht man die Ergebnisse zu Schuleintritt und am Ende des dritten Schuljahres, bemerkt manbei allen Sprachgruppen eine Verbesserung. (Fig. 5.3)

Interessanterweise blieben die Abstände zwischen den Gruppen 1, 2 und 3 konstant, obwohl sichalle drei stärker an Gruppe 4 annäherten.

Die Kinder mit deutscher Erstsprache (Gruppe 4) sind bis zum Ende unserer Untersuchungbereits zu sehr versierten KommunikationspartnerInnen geworden. Sie sind in der Lage, sich mit Hilfekomplexer syntaktischer Strukturen sowie eines ausgewählten Vokabulars differenziert auszudrücken.Verständlicherweise gibt es aber auch Themengebiete, in welchen den Kindern das Kommunizierennoch schwer fällt. Das Interview in (7) repräsentiert den durchschnittlichen Entwicklungsstand eineseinsprachigen Kindes mit deutscher L1.

Teil I – Psycholinguistische Studie

42

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1

2

3

4

4,5

5

Türkisch BKS andereMuttersprachen

Deutsch

Fig. 5.1: Spontansprache Deutsch: Beginn des 1. Schuljahres

0

10

20

30

40

Türkisch BKS Deutsch

Sprachgruppe

Anz

ahld

erW

örte

r/In

terv

iew Nomen

Verben

Adjektive

Konjunktionen

Pronomen

Präpositionen

Fig. 5.2: Spontansprache Deutsch: Wortklassenverteilung

zu Beginn des 1. Schuljahres

(7)Int: Wie macht ihr denn das immer, habt ihr ein Zelt oder?Lilli: Ja, wir haben ein ganz großes Zelt und da bring ma also da bring ma so eine eine auf-

blasbare Matte hinein, das ist, dass wir nicht so hart liegen, und das hat auch ein Vorzelt,wenns regnet, und am Camping Cambraro, da fahrt halt jeden Tag am Abend ein gelberZug herum und da dürfen die Kinder mitfahren.

Int: Mhm, und da gefällt es dir?Lilli: Ja, den ganzen Campingplatz entlang.Int: Und was macht man so den ganzen Tag am Campingplatz?Lilli: Oh ja, da rennt man herum und geht zum Meer und manchmal fahrt auch die Freundin

von mir mit, die Magdalena, dann gemma am Strand, da wollen wir nicht ins Wasser ge-hen, und dann gemma immer so nach einer Stunde die Magdalena und ich allein nachHause zum Campingplatz und spieln.

Mit jeweils über 60% der Kinder mit den Erstsprachen BKS (Gruppe 2) und anderen Mutter-

sprachen (Gruppe 3) verläuft die Kommunikation weitgehend problemlos. Schwierigkeiten tretenlediglich bei vergleichsweise anspruchsvolleren Inhalten (z. B.: Beschreibung eines Spiels oder einesArbeitsablaufs) auf:

(8)Int: Aha, was hast du denn am Wochenende gemacht?Armin: Hm . . . ich war bei meiner Oma von ihre ihrer ihrer Tochter Haus ein bisschen

renovieren, ich und ihr Freund.Int: Aha, und was hast du da genau gemacht?Armin: Ich und wir haben Tapeten ge raufgekleben und haben halt ein Regal zusam-

mengestellt, das hab ich zwei Tage gemacht.Int: Du, Tapeten raufkleben, wie funktioniert denn das?Armin: Oh, sehr schwer.Int: Aha, ja was muss man da tun?Armin: Man muss hinten Leim geben, man gibt es auf diese Tapeten und dann muss

man richtig schreiben um die Tür und dann muss man ah das wenn manche

5. Spontansprache

43

1. Schuljahr 3. Schuljahr

Mit

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0,5

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5

Türkisch

BKS

andereMuttersprachen

Deutsch

Fig. 5.3: Spontansprache Deutsch: Vergleich der Daten (1. und 3. Schuljahr)

Tapeten werden ja nicht brauchen, dann müssen wir manche sind noch geklebt,manche auf den Boden geklebt, und wir müssen die richtig ausschneiden unddann nehmen wir diesen Leim und kleben es drauf und auf die Wand stellen.

Int: Super.Armin: Dann soll es trocknen.Int: Sehr gut. Hats schön ausgesehen?Armin: Mhm.

Knapp über 20% der Kinder dieser Gruppen haben jedoch auch hiermit keine Probleme mehr. Die inder Kommunikation festgestellten Verbesserungen spiegeln sich teils auch im Lexikon wider. Diesprachliche Entwicklung im Deutschen von jeweils fast einem Fünftel der Kinder der Gruppen 2 und3 kann bereits als quasi muttersprachlich bezeichnet werden (siehe Abschnitt 14).

Der Sprachgebrauch eines Großteils der Kinder dieser Gruppen weist jedoch noch gelegentlicheLücken im Wortschatz sowie idiomatisch inkorrekte Äußerungen auf. Wenngleich auch in der Mor-phosyntax Steigerungen feststellbar sind, so sind diese insgesamt doch geringer als in der Kommunika-tion und im Lexikon. Dennoch konnten die verbalen Daten von immerhin knapp über 20% der Kin-der mit den Erstsprachen BKS und anderen Muttersprachen mit 4 eingestuft werden (großteils sichereVerwendung morphosyntaktischer Strukturen; nur noch gelegentlich Fehler bei Flexionsformen/Funktionswörtern). Der weitaus größte Teil der Kinder der Gruppen 2 und 3 zeigt eine deutliche Zu-nahme der syntaktischen Komplexität, jedoch weisen die Äußerungen noch viele falsche/fehlende Fle-xionsformen/Funktionswörter sowie Fehler bei der Wortstellung auf (Kategorie 3).

Merkmale:

• Kommunikation verläuft bis auf die Beschreibung komplexerer Abläufe problemlos.

• morphosyntaktisches Regelwerk teils instabil

• Zunahme der syntaktischen Komplexität

• breitgefächertes Lexikon – jedoch Probleme mit der Feindifferenzierung einzelner Begriffe

Auch die Gruppe der Kinder mit türkischer Erstsprache hat sich insgesamt gesteigert. So konntendie Äußerungen der Kinder in allen Systemen am Ende der 4. Klasse mit durchschnittlich 2,5 bepunk-tet werden. Die sprachlichen Systeme haben sich einander deutlich angeglichen, dennoch kann dieEntwicklung noch nicht als zielsprachenadäquat bezeichnet werden. [Fig. 5.4]

Teil I – Psycholinguistische Studie

44

Mit

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Pun

ktw

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0,5

1

1,5

2

2,5

3

3,5

4

4,5

5

1. Schuljahr 2. Schuljahr 3. Schuljahr 4. Schuljahr

Kommunikation

Morphosyntax

Lexikon

Fig. 5.4: Spontansprache Deutsch: Vergleich der Daten der Kinder mit

L1 Türkisch (1. bis 4. Schuljahr)

Diese Gruppe wurde zunehmend heterogen, da lediglich ein kleiner Teil der Kinder, die zu Schul-eintritt über eine sehr geringe Deutschkompetenz verfügten, seine sprachlichen Fertigkeiten in derZweitsprache erwartungsgemäß weiterentwickeln konnte. Bei diesen Kindern lässt sich aber ein deutli-cher Schub bemerken, so zum Beispiel bei der durchschnittlichen Länge der einzelnen Äußerungen in-nerhalb eines Interviews von durchschnittlich 1,5 Wörtern auf ungefähr sechs Wörter pro Äußerung.Unerwähnt sollte dennoch nicht bleiben, dass sich noch 40% der Kinder dieser Gruppe in sämtlichensprachlichen Systemen auf Stufe 2 befinden. Der Informationsaustausch mit ihnen ist teils nur be-grenzt möglich. Die Äußerungen sind meist nicht nur kurz, sondern auch als nonresponsiv zu bezeich-nen. Ebenso muss der Wortschatz dieser ProbandInnen als stark limitiert beschrieben werden. Basis-termini treten nach wie vor mit hoher Frequenz auf und selbst einfache Konzepte (z. B.: Fluss, Meer)können nicht adäquat verbalisiert werden.

(9)Int: Wie schaut es denn aus in der Türkei, dort wo du bist?Serdar: Türkei schaut wie wie Garten.Int: Ja.Serdar: Weiß ich nicht mehr.Int: Aber ja, wie schaut es denn aus, beschreib einmal, sind dort viele Häuser, wo du

bist?Serdar: Was?Int: Sind dort viele Häuser, wo du bist?Serdar: Ja.Int: Große?Serdar: Wir haben große.Int: Aha, und wie schauts dort aus?Serdar: Gut.Int: Beschreib einmal, was ist denn dort?Serdar: Dort gibts ein Wasser, große wie Donauwasser.Int: So groß wie die Donau, ja?

In dieser Gruppe befinden sich aber auch Kinder, die über einen Wortschatz mit wesentlich höhererBandbreite verfügen. Das folgende Beispiel stammt von einem jener zwei Kinder, deren sprachlicherEntwicklungsstand innerhalb dieser Gruppe bereits am weitesten fortgeschritten ist. Selim sprichtüber einen relativ komplizierten Arbeitsablauf und verwendet dabei sehr spezifische Ausdrücke(Metallkorb). Abgesehen von der falschen bzw. ungebräuchlichen Verwendung von ausfüllen findetman hier keine Fehler in der Wortwahl. Der Bub verwendet in dieser Textpassage dreizehn verschie-dene Verben.

(10)Int: Was arbeitest du?Selim: So Kerne in eine Maschine geben und dort für ein Sack ausfüllen und am Sams-

tag und am Sonntag Spielzeug . . . mit dem Spielzeugen in einem Geschäft.Int: Was machst du da?Selim: Na, ich bin, ich helfe dort, wo mein Onkel arbeitet, diese Spielzeuge ordnen und

dort putzen.Int: Wieso muss man das Spielzeug putzen?Selim: Na, nicht die Spielzeuge, die Spielzeuge muss man ordnen und den Boden putzen.

5. Spontansprache

45

Int: Aha, und das andere hab ich nicht verstanden, du arbeitest wo, da musst duKerne in eine Maschine geben?

Selim: Ja, es gibt so ein ganz großes Metallkorb, und dort müssen wir die Kerne hinge-ben.

Int: Welche Kerne?Selim: Nüsse.Int: Nüsse.Selim: Ja, und dort müssen wir einen ganz großen Sack dort hin so . . . . . . es gibt etwas

so Pickiges und den so . . . unteren Teil bei der Maschine aufhängen, bis es ganzvoll ist, man muss dann den Sack schnell wegnehmen und den anderen Sack,weil es es hört dann nicht auf, wenn man mit dem aufhören muss, dann dannmuss man in ein roten Knopf drücken.

Der Gruppe der Kinder mit türkischer L1 wurde von uns besondere Aufmerksamkeit geschenkt, dadie sprachlichen Profile der Kinder auffallend stark divergierten und der Großteil dieser ProbandIn-nen über einen Sprachstand, der weit hinter dem der anderen Gruppen zurücklag, verfügte. Die Ursa-chen für diese Tatsache sind vielfältig (siehe Teil II: Soziolinguistische Begleitstudie) – wichtig scheintuns jedoch zu bemerken, dass dort, wo der Input stark von der Schule geprägt ist, auch bei diesen Kin-dern sprachliche (vor allem lexikalische) Fortschritte zu bemerken sind. Wenn gemeinsame Erlebnissebesprochen und teils sogar verschriftlicht werden, werden neue Begriffe merkbar besser im Lexikonverankert, wie das folgende Beispiel zeigt.

(11)Int: Ihr wart ja jetzt mit der Schule in Carnuntum.Reyhan: Ja.Int: Was habt ihr denn dort gemacht?Reyhan: Römeranlage gesehen, diese Römerausgrabungen und ham wir lesen . . . Gra-

bungen gesehen, diese Steine und . . . seine [?] Bad und Kanalsystems ham wir,dann ham wir die Hauptstraße des Tempels gesehen und ham wir dort im Zeltgeschlafen. Und neben gibt es noch eine Ausgrabungen.

Int: Hast du alleine im Zelt geschlafen?Reyhan: Alle Mädchen in eine Zelt und alle Buben in eine Zelt.Int: Das war aber ziemlich groß das Zelt.Reyhan: Ja.Int: Waren die Zelte schon dort oder habt ihr die mitgebracht?Reyhan: Die warn dort und neben uns gibt noch eine Maxel [?] von Römer zwar [?] wir

ham von das Angst gehabt.Int: Ein was hat es gegeben?Reyhan: Ein Maxel, eine große so.Int: Was ist ein Maxel?Reyhan: Ein Mann.Int: Aha.Reyhan: Die von Stein gemacht.Int: Okay.Reyhan: Und die war von Römer angezogen. Wir habn von das Angst gehabt.

Teil I – Psycholinguistische Studie

46

Merkmale:

• große Unterschiede in der individuellen sprachlichen Entwicklung

• 50% der Kinder weisen eine sehr einfache Syntax auf.

• Diese Kinder haben auch große Schwierigkeiten in der Morphologie.

• teilweise noch stark limitierter Wortschatz, vor allem in den Wortklassen Verben und Adjektive

5.2 Interviews auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch

Vergleicht man die Ergebnisse der Testjahre, fällt auf, dass die Kinder in der Kommunikation besserabschneiden als in den anderen Bereichen der Spontansprache, wobei die Kommunikationsfähigkeitbereits während des ersten Schuljahres mit kontinuierlichem Anstieg einen Höhepunkt (Punktwert 4auf der Skala des Spontanspracherasters) erreichte und sich dann in den darauffolgenden Schuljahrennicht weiter veränderte. Das heißt, die Kinder erzählten auch ohne besondere Hilfestellung der Inter-viewerin ausführlicher und überwiegend responsiv. Sie wichen jedoch bei schwierigeren Inhalten teilsauf deutsche Wörter oder semantische Paraphrasen aus. Da einerseits ein ausgeprägtes Mitteilungs-bedürfnis bestand, die Kinder aber andererseits auf Grund des geringen Wortschatzes ihre Ge-danken nicht adäquat sprachlich umsetzen konnten, traten bei der Interviewerin gelegentlich Ver-ständnisschwierigkeiten auf. Während der letzten Testphase nahm die spontane Kommunikationsbe-reitschaft allerdings bei vielen Kindern wieder ab und musste verstärkt durch die Interviewerin geför-dert werden. Dieser Umstand führte zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Auswertung der Inter-views.

Anders stellte sich die Situation in den Bereichen Morphosyntax und Lexikon dar, wo während desersten Schuljahres sogar anfänglich eine geringfügige Verschlechterung der Ergebnisse nachzuweisenwar und nach einer Verbesserung im dritten Schuljahr sich zuletzt wieder ein geringer Abfall zeigte.

Generell ist bei vielen Kindern eine positive Entwicklung zu beobachten, auch wenn diese beimanchen nur geringfügig ist. Deutlicher ausgeprägt ist dieser Fortschritt im Bereich der Kommuni-kation mit der oben angeführten Einschränkung, am geringsten hingegen im Lexikon. Durch die zuge-nommene Kommunikationsbereitschaft versuchen die Kinder, komplexere Satzstrukturen zu bildenund bemühen sich um eine detailreichere Erzählweise, wobei sie jedoch auf Grund des geringen Wort-schatzes vor allem auf Basistermini zurückgreifen, auf Umschreibungen ausweichen oder deutscheLexeme verwenden.

Die folgenden graphischen Darstellungen sollen die eben beschriebene Entwicklung der unter-suchten Kinder verdeutlichen: [Fig. 5.5, 5.6]

5. Spontansprache

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September Februar Juni

Kommunikation

morpho-syntaktischeStruktur

semantisch-lexikalischeStruktur

Fig. 5.5: Spontansprache BKS: Entwicklung im 1. Schuljahr

5.2.1 Die Anfangsphase

Nach diesen allgemeinen Ausführungen sollen folgende Textbeispiele zunächst den unterschiedlichenSprachstand zweier Kinder während der ersten Testphase veranschaulichen. Anschließend sollen zweiInterviewausschnitte eines Kindes dessen sprachliche Entwicklung im Verlaufe der gesamten Untersu-chung zeigen. Zum Schluss folgt ein Beispiel für die Schwierigkeiten, die bei der Schilderung einerFernsehserie auftreten.

Zuerst werden jeweils zwei Äußerungen zum gleichen Thema einander gegenübergestellt, umeinen direkten Vergleich der individuell unterschiedlich ausgeprägten Sprachkompetenz während derersten Testphase im ersten Schuljahr anzustellen:

(12)

L1 BKS (Mario) L1 BKS (Armin)

Int: Kako se zoveš?(Wie heißt du?)Mario: Mario.

Int: I još?(Und wie noch?)

Mario: Nemam više, samo to.(Sonst nichts, nur so.)

Int: Vukić?

Mario: Tako je, Vukić.(Ja, Vukić.)

Int: Da li možeš da mi ispričaš nešto o svojojporodici, Mario?(Kannst du mir etwas über deine Familieerzählen?)

Mario: Hm, koje? (Hm, was?)

Int: Kako se zoveš?(Wie heißt du?)Armin: Armin.

Int: Da li možeš da mi ispričaš nešto o svojojporodici, Armine?(Kannst du mir etwas über deine Familieerzählen, Armin?)

Armin: Imam mamu . . . moja je mama oženjena[= udata] sa mom [= mojim] nekim rođakom, onmi nije tata a tata mi je bio neki stari čovjek i sadse mama sa njim rastala i ima drugog čojeka.Ich habe eine Mama . . . meine Mama ist miteinem von meinen Cousins verheiratet, er istnicht mein Papa, der Papa war schon ein alterMann und jetzt hat sich die Mama von ihmscheiden lassen und hat einen anderen Mann.)

Int: Imaš li još nekoga?(Hast du noch jemanden?)

Teil I – Psycholinguistische Studie

48

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1. Schuljahr 3. Schuljahr 4. Schuljahr

Kommunikation

morpho-syntaktischeStruktur

semantisch-lexikalischeStruktur

Fig. 5.6: Spontansprache BKS: Vergleich 1., 3. und 4. Schuljahr

L1 BKS (Mario) L1 BKS (Armin)

Int: O svojoj porodici?(Über deine Familie?)

Mario: U Beču? (In Wien?)

Int: Mhm.

Mario: A ne, imam samo tu babu, mamu . . .Papu, tata, moj brat i moj sestru.(Na ja, ich habe nur meine Oma, die Mama . . .Papa [Hier bessert sich das Kind selber aus und

verwendet „tata“, das kroatische Wort für „Papa“],mein Bruder und mein Schwester.)

Int: Dobro, znači imaš brata, sestru, mamu itatu?(Gut, also du hast einen Bruder, eine Schwester,eine Mama und einen Papa?)

Mario: I babu.(Und eine Oma.)

Int: Da li su brat i sestra stariji ili mlađi od tebe?(Sind der Bruder und die Schwester älter oderjünger als du?)

Mario: . . . mojo ähm moj brat . . . veće [= veći].(Mein Bruder . . . größer.)

Int: A sestra?(Und die Schwester?)

Mario: Sestra mala . . . ima tri godine, dve.(Die Schwester ist [noch] klein . . . sie ist dreiJahre alt, zwei.)

Int: Kako dolaziš do škole i ko te dovodi?(Wie kommst du in die Schule, und wer bringtdich her?)

Mario: Moj babu [= moja baba] i moj Papa, mojPapa [= je] otišo [= otišao] u Jugoslaviju sad.(Mein Oma Großmutter und mein Papa, meinPapa ist jetzt nach Jugoslawien gegangen.)

Armin: Imam nanu, imam tetku, imam dajdžu. . . imam . . .(Ich habe eine Oma, ich habe eine Tante, ichhabe einen Onkel . . . ich habe . . .)

Int: Stanujete li svi zajedno?(Wohnt ihr alle zusammen?)

Armin: Samo sa mamom i tatom. Nekad midođe tetka, nekad i dajdža, nekad i nana.(Nur mit Mama und Papa.Manchmal kommt die Tante, manchmal derOnkel und manchmal die Oma.)

Int: Kako dolaziš u školu?(Wie kommst du in die Schule?)

Armin: Mama me dovede do onih tamostepenica i ja ovde dođem gore, skinem sebipatike i onda papuče obučem i odem u školu.(Die Mama bringt mich bis zu den Stufen dortund ich komme hier hinauf, ziehe mir dieTurnschuhe aus und dann ziehe ich mir diePatschen an und gehe in die Schule.)

Das erste Beispiel steht für ein Kind mit niedrigem Sprachstand, was sich in Problemen auf der Ver-ständnisebene, Non- und Teilresponsivität, sehr eingeschränktem Wortschatz und häufigen morpho-syntaktischen Abweichungen niederschlägt. Demgegenüber zeigt das zweite Beispiel ein Kind mit gutentwickelter muttersprachlicher Kompetenz; die Antworten erfolgen bei größerem Wortschatz aus-führlich und responsiv, wenn auch gelegentlich morphosyntaktische Unsicherheiten nachweisbar sind.

5. Spontansprache

49

5.2.2 Die Endphase

Im Laufe der Untersuchung konnten alle Kinder ihre Sprachkompetenz ausweiten, manche verfügenbereits über die Möglichkeit, sich differenziert auszudrücken, wie das folgende Beispiel zeigt.

(13) L1 BKS (Silvija)Die Weihnachtsgeschichte, Dezember 2003

Tako, to se ovaj Isus se rodio i onda i ova Marija je bila trudna prvo s njime, to jako trudna i ondaje pitala nekoga u restoranu, ali ne mogu da plate. Ona je pitala da li smijeju [= smiju] u restoranubiti i reko je: „Ako nemate para onda ne možete dolazit [= doći].“ I onda [= su] otišli kod nekogdrugog, opet isto bilo i onda kod trećog [= trećeg] mogli su. Neku, bila neka soba i neka štala itamo se Isus rodio bio. I onda poslje kad je Isus bio ovako jedan čovjek, bio je na križu razapet.Na križu je patio. I onda prije toga je morao taj križ da nosi i onda tri puta je pao sa križom. I ondasu mu stavili neku . . . od ruže, ono, kak se kaže od ruže, ono, krunu. Ovo trnje bilo. I onda su mustavili i onda krv počne da curi i onda je na petku [= petak] umro u tri sati je umro i onda je bio u. . . na groblje [= groblju], pa je bio zakopan i onda sutradan je bilo, ova kamen što se stavi, je bilo,nije ga više tu bilo neg su ga, i onda je došo neki anđelčić i reko [= rekao] da je Isus živ.(So, da ist dieser Jesus geboren worden und dann und diese Maria ist zuerst schwanger gewesenmit ihm, und zwar sehr schwanger und dann hat sie jemanden im Restaurant gefragt, aber siekönnen nicht zahlen. Sie hat gefragt, ob sie im Restaurant sein dürfen und er hat gesagt: „WennSie kein Geld haben, dann dürfen Sie nicht kommen.“ Und dann sind sie zu wem anderen ge-gangen, war wieder das Gleiche, und dann beim Dritten haben sie können. So ein, es war so einZimmer und so ein Stall und dort ist der Jesus geboren worden. Und dann später, als der Jesusschon so ein Mann war, ist er gekreuzigt worden. Am Kreuz hat er gelitten. Und dann vorherhat er dieses Kreuz tragen müssen und dann ist er drei Mal gefallen mit dem Kreuz. Und dannhaben sie ihm so eine . . . von der Rose, das (Dings), wie sagt man, von der Rose, so ein (Dings),eine Krone aufgesetzt. Das waren Dornen. Und dann haben sie ihm das aufgesetzt und dannbeginnt das Blut zu fließen und dann ist er am Freitag gestorben um drei Uhr ist er gestorbenund dann war er im . . . am Friedhof und wurde begraben und dann am nächsten Tag ist . . . ,diese Stein, den man hinlegt, ist . . ., ist nicht mehr da gewesen, sondern sie haben ihn, und dannist ein Engelchen gekommen und hat gesagt, dass der Jesus lebt.)

Dem Mädchen gelingt es nun bereits, ein abstrakteres Thema erzählerisch darzustellen. Auffallend ist dasAuftreten komplexer Satzgefüge, einschließlich Verwendung der indirekten Rede, sowie ein deutlich erwei-tertes Lexikon, welches eine differenzierte und detaillierte Schilderung ermöglicht. Andererseits verursachtdie Zunahme an Komplexität auch häufiger Verstöße im morphosyntaktischen Bereich.

Ein Beispiel für Schwierigkeiten bei der Realisierung der Äußerungsabsicht findet sich im folgen-den Versuch, eine Fernsehserie zu beschreiben, wobei gehäufte morphosyntaktische Regelverletzun-gen das Verständnis erschweren:

(14) L1 BKS (Nina)Jedna žena voli onoga muža i onaj drugi voli, a on ima jednu ženu što ima dete s njom.A obadve je volu i ona voli sad onu obadvoje isto. Pa on se uda sa jednom Telom i tako se uzeli.Pa ima jedna Eba i jedan Rick, on also Eba je schwanger od njega a on nije isto schwanger od nje,nego ona isto spava sa jednim crncom. A oni se ne znaju, samo od toga muškarca drugar zna,a on neće ništa kazat što on voli onu drugu Kimerly. A on voli isto Kimberly, tako ko i ona dva.I tako romantisch. Neko tako svi protiv onoga i onak, pa Tejla oće Rika i oće. Obadvije žene zajednoga varalica.

Teil I – Psycholinguistische Studie

50

(Eine Frau liebt diesen Mann da und der liebt (sie) auch, und er hat eine Frau, was ein Kind mitihr hat. Und alle beide lieben sie und sie liebt jetzt die beiden auch. Dann heiratet er eine Taylorund so haben sie geheiratet. Dann gibt es eine Ebba und einen Rick, der, also, Ebba ist schwanger

von ihm, aber er ist nicht auch schwanger von ihr, sondern sie schläft auch mit einem Schwar-zen. Aber sie kennen sich nicht, nur der Freund von diesem Mann weiß es, aber er wird nichtssagen, weil er diese andere Kimberly liebt. Und er liebt Kimberly auch, so wie diese zwei. Undso romantisch. Irgendwie so alle gegen diesen einen und so, und Tela will den Rick und will. BeideFrauen für einen Betrüger.)

Durch die Mischung der beiden Sprachsysteme im kindlichen Alltag (Freundeskreis, Schule, Familie)kommt es auffallend häufig zu negativem Transfer aus der deutschen Sprache. In den spontansprachli-chen Interviews wurde auf allen Ebenen der sprachlichen Produktion das Auftreten von Interferenzenfestgestellt, wobei Interferenzen im Lexikon die dominante Kategorie sind.

In den folgenden Interviewausschnitten ist der starke Einfluss der deutschen Sprache auf die Erst-sprache zu beobachten:

� Verwendung von deutschen Wörtern:

Malo Rechnungen imali, imali ono ähm onoga Lesebuch, nešto u knjigu abschreiben i rechnen još jedanRechenzettel i još jedan und das fertig machen.

(Ein paar Rechnungen haben wir gehabt, das ähm dieses Lesebuch, etwas ins Buch abschreiben undnoch einen Rechenzettel rechnen und noch einen und das fertig machen.)

� Deutsche Lexeme werden übernommen und nach den morphologischen Regeln der Mutter-sprache verwendet:

sa mojam Freundama (statt: sa svojim prijateljima)(mit meinen Freunden)

Otiša sam da plivam i indak sam na Rutschu (statt: klizalicu) išla.(Ich bin schwimmen gegangen und dann bin ich auf die Rutsche gestiegen.)

� Verben werden aus dem Deutschen entlehnt und nach morphologischen Regeln der Mutter-sprache verwendet:

Onda sam mu schenkenijo (statt: poklonio) jedan . . . jedan mali . . . ono gemboj za igrat.(Dann habe ich ihm einen . . . einen kleinen . . . Gameboy zum Spielen geschenkt.)

A kući sprecham Deutsch. (statt: A kući govorim njemački.)(Zu Hause spreche ich Deutsch.)

� Gebrauch der Präposition wie im Deutschen (bzw. wie in der deutschen Umgangssprache):

jedan Freund od meine (statt: moj prijatelj)(ein Freund von mir)

� Wortstellung wie im Deutschen:

Ovaj hoće da ribu uhvati. (statt: Ovaj hoće da uhvati ribu.)(Dieser will den Fisch fangen.)

Možda pet sam dana bila. (statt: Možda sam bila pet dana.)(Vielleicht fünf Tage bin ich gewesen.)

5. Spontansprache

51

Insgesamt weist der Großteil der Kinder, abgesehen von individuellen Unterschieden, keine altersge-mäße Sprachkompetenz in ihrer Muttersprache auf, wenn sie auch sprachlich den Anforderungen derAlltagskommunikation einigermaßen gewachsen sind und sich in einfachen Sprechsituationen ausrei-chend ausdrücken können. Als wahrscheinliche Ursache für die im Vergleich zur gleichaltrigen ein-sprachigen Kontrollgruppe geringere Sprachkompetenz könnte die spezifische Situation der Kinderin der Migration angeführt werden, die sich zwischen zwei Sprachen befinden. Da soziale Kontakteund Informationen vor allem in der Sprache des gesellschaftlichen Umfelds, einschließlich verschie-dener Medien erfolgen, gerät die Muttersprache im Verhältnis zur Zweit-/Fremdsprache in eine un-günstigere Position. Dabei entwickelt sich die Zweitsprache zu Ungunsten der Muttersprache, die all-mählich aus dem Sprachgebrauch der Kinder verdrängt wird. Je besser sich das Kind in der Zweit-sprache entwickelt, desto geringer werden die Kenntnisse der Muttersprache, weil sie durch dieZweitsprache (die Sprache des gesellschaftlichen Umfelds) aus dem Gebrauch verdrängt wird (Stan-čić & Ljubešić 1994).

Die Sprache unserer ProbandInnen ist gekennzeichnet durch eine eingeschränkte muttersprachli-che Kompetenz mit starkem Einfluss der Zweitsprache und mangelhaft entwickeltem Gefühl für dieNormen der Muttersprache. Ihre sprachlichen Fähigkeiten beschränken sich auf die Alltagskommuni-kation im Rahmen des Familienlebens.

Falls die zweisprachigen Kinder keinen regelmäßigen muttersprachlichen Unterricht erhalten,wird die Muttersprache nicht weiterentwickelt, sondern stagniert oder verkümmert gar. Einen mögli-chen Ausgleich für diesen mangelnden schulischen Unterricht schaffen entsprechend motivierte El-tern, indem sie gezielt die muttersprachliche Weiterentwicklung ihrer Kinder durch Kommunikationinnerhalb der Familie und zusätzliche Beschäftigung mit muttersprachlichen Medien (Zeitschriften,Bücher, Fernsehen etc.) fördern. Aber auch dies gilt mit Einschränkung, da einige Eltern der Auffas-sung sind, dass ihre Kinder rascher die Fremdsprache erlernen würden, wenn sie diese auch zu Hausebenützten.

Da sich jedoch der negative Einfluss der Zweitsprache umso geringer auswirkt, je gefestigter dieMuttersprache ist (Tanović 1999), empfehlen sich der muttersprachliche Unterricht sowie alle anderenFormen der Pflege der Sprachkultur auch im außerschulischen Bereich.

5.3 Interviews auf Türkisch

5.3.1 Die Anfangsphase

Im ersten Testjahr war die sprachliche Kompetenz eines Großteils der Kinder in ihrer L1 von großenDifferenzen in der Spontansprache gekennzeichnet. Während einige Kinder zum Teil komplizierteSprachmittel anwenden konnten, verlief die Interaktion mit manchen Kindern nonverbal. Diese unter-schiedliche Sprachkompetenz soll im Folgenden verdeutlicht werden.

Um eine ausführliche und detaillierte Analyse durchführen zu können, wurden zwölf Kinder mitunterschiedlicher Sprachkompetenz ausgesucht. Die Interviews wurden hinsichtlich der qualitativen(komplexe morphosyntaktische Strukturen wie Genitivverbindungen und Nebensätze) und quantitati-ven Merkmale (Anzahl der Wörter, der Antworten, der nonverbalen Äußerungen und der Ein-Wort-Antworten) untersucht.

Um Werte vergleichen zu können, wurde eine vergleichbare Menge an Datenmaterial (pro Inter-view etwa 75 Zeilen) analysiert. Aus der folgenden Tabelle werden die markanten Unterschiede desSprachstands der Kinder am Anfang ihrer Schullaufbahn ersichtlich.

Teil I – Psycholinguistische Studie

52

AYNUR ALİ AHMET SELMASER-

DARRECEP

TAR-

KANYUNUS GAMZE NUR

Ein-Wort-

Antworten9 16 5 4 8 12 10 12 17 7

nonverbal 11 10 4 2 10 4 0 1 7 2

keine

Antwort3 3 0 0 9 4 2 4 0 2

Genitiv 5 0 14 2 1 1 1 6 1 7

Nebensätze 0 0 6 2 0 0 0 6 0 2

deutsche

Wörter8 1 2 7 0 0 0 1 0 1

Tab. 5.1: Spontansprache Türkisch: 1. Schuljahr

Ali, Serdar, Recep, Tarkan, Yunus und Gamze äußerten sich zum größten Teil nonverbal oder mit Ein-Wort-Antworten. Komplizierte morphosyntaktische Merkmale traten sehr selten bis gar nicht auf. Ge-nitivverbindungen, die im Türkischen von besonderer Bedeutung sind, kamen in einem fünfzehn-mi-nütigen Gespräch entweder nicht oder nur ein bis zweimal vor. Ahmet, Selma und Nur waren kompe-tente GesprächspartnerInnen, auch wenn Schwierigkeiten bei vergleichsweise anspruchsvollen Inhal-ten auftraten. Nur war die einzige, die Nebensätze oder nebensatzäquivalente Konstruktionen verwen-dete. Bei Aynur und Selma fällt im Vergleich zu anderen Kindern die relativ häufige Anwendung deut-scher Wörter auf.

Mit Ali (siehe Abschnitt 14) war ein stark begrenzter Informationsaustausch möglich, die Kommu-nikation verlief zum Teil nonverbal. Im seinem ersten Interview gab er 88 Antworten, 30 davon sindnonverbal, 34 davon sind Ein-Wort-Antworten. Er verzichtete auf morphologische Markierungen. Erzeigte oft auf einen Gegenstand im Bild, ohne etwas zu sagen, und schaute die Interviewerin mit er-wartungsvollen Augen an. Im folgenden Ausschnitt sind neben nonverbalen Äußerungen Bejahungoder Verneinungsformen im Dialekt erkennbar:

(15)Int: Okula gelmek hoșuna gidiyor mu senin, seviyor musun okulu?

(Gehst du gerne zur Schule, gefällt es dir in der Schule?)Ali: He. [Dialektausdruck für evet] (Ja.)Int: Neyi seviyorsun en çok? (Was magst du am liebsten?)Ali: Hı? (Hmm?)Int: En çok neyi seviyorsun okulda?

(Was magst du am liebsten in der Schule?)Ali: [keine Antwort]Int: En çok ne hoșuna gidiyor, senin hangi dersler . . . yazma mı matematik mi?

(Was gefällt dir besser, welche Fächer . . . Schreiben oder Mathematik?)Ali: Yazma. (Schreiben.)Int: Peki annenler senin derslerine yardım ediyorlar mı?

(Helfen dir deine Eltern bei deinen Hausaufgaben?)Ali: [verneint nonverbal.]Int: Etmiyorlar mı, sen tek bașına mı yapıyorsun?

(Sie helfen dir nicht, machst du alles allein?)Ali: He. (Ja.)

5. Spontansprache

53

Int: Aferin sana peki yapabiliyor musun tek bașına?(Bravo, schaffst du alles alleine?)

Ali: He. (Ja.)

5.3.2 Die Zwischenphase

Der Spontansprachtest wurde im zweiten Schuljahr im Februar und im Juni durchgeführt. Durch dieThematisierung des Opferfestes wurde im Februar versucht, kulturelle Aspekte zu berücksichtigenund in Erfahrung zu bringen, welchen Zugang die Kinder zu ihrer Herkunftskultur haben. Im Junihingegen war das aktuelle Thema der bevorstehende Urlaub. In diesem Jahr wurde auch eine Kon-trollgruppe aus Ankara interviewt. Ein auffälliger Unterschied zwischen den zwei Gruppen zeigtesich im Gebrauch der Genitivkonstruktionen und Verbaladverbien. Während alle Kinder der Kon-trollgruppe in ihrer Kommunikation solche Konstruktionen verwendeten, sind sie bei der WienerTestgruppe nur selten anzutreffen. Bei manchen Kindern lässt sich ein geringer Gebrauch von mor-phologischen Strukturen beobachten. Bei Ali dominieren auch im dritten Schuljahr einfache Sätze,wobei ein leichter Rückgang der nonverbalen Äußerungen und Ein-Wort-Antworten zu beobachtenist.

(16)Int: Peki sen büyüdüğünde ne olmak istersin?

(Gut, was willst du werden, wenn du groß bist?)Ali: . . . . . . Maç maççı. (Matsch.) [Anmerkung: eigene Wortkreation!]Int: Maççı ne demek biliyor musun? Ne maçı yapmak istersin?

(Was heißt maççı, weißt du es? Was für ein Match möchtest du machen?)Ali: Top. Fußball. (Ball. Fußball.)

Mehmet versucht, komplizierte Sätze zu bilden. Durch das Fehlen ganzer Satzteile (z. B. Verb oder Ob-jekt) werden manche Sätze jedoch unverständlich: Sonra o kadın pasta fabrikine (gitti – das Verb – fehlt)içine böyle büyük büyük pasta yapma șeylerinin içine döktü. (Dann ist die Frau in die Kuchenfabrik [gegangen,dort] hat sie [es] in diese große, große Kuchenform gegossen.) oder O zaman sert oldu. (Dann ist [es]hart geworden.) (fehlendes Subjekt: Was ist hart geworden?) Mehmet hat innerhalb der Testgruppe einedurchschnittliche morphologische Kompetenz in seiner L1.

Durch die breitere Themenstellung bei der Befragung im Juni, die verschiedene Lebensbereicheeinbezog, konnte gezeigt werden, dass besonders in der Testgruppe noch nicht alle Wortfelder abge-deckt sind. Recep fand in seinem Wortschatz den Ausdruck für Messer nicht, nannte die Axt als Gerätzum Schlachten (Opferfest) und beschrieb die Ziege, deren Name ihm nicht gleich einfiel, folgender-maßen: „Onun ismi neydi? Beyaz șeyler oluyodu her tarafInda. Keçi.“ (Wie heißt das wieder? Es hatte überallweiße Dinge. Ziege.) Es gibt Begriffe, die von der Testgruppe ausschließlich auf Deutsch genannt wer-den, etwa grillen, Computer, Kindergarten oder einzelne Unterrichtsgegenstände wie Lesen oder Sachunter-

richt. Bei manchen Kindern jedoch ist zum größten Teil eine Abdeckung aller untersuchten Wortfelderzu beobachten.

Aus Tabelle 5.2. ist ersichtlich, dass die Kinder deutliche Fortschritte in ihrer L1 machen. Währendnur vier Kinder am Anfang der Volksschule imstande waren, komplizierte Satzkonstruktionen wie Ne-bensätze zu bilden, konnten sich in der dritten Klasse alle Kinder außer Ali (siehe Abschnitt 14) mehroder weniger dieser Konstruktionen bedienen. Außer bei Recep kommen bei allen ProbandInnen deut-sche Wörter vor, deren Zahl überschreitet jedoch nur bei Aynur fünf Wörter.

Teil I – Psycholinguistische Studie

54

AYNUR ALİ SELMAMEH-

MET

SER-

DARRECEP AYLIN

TAR-

KANYUNUS GAMZE NUR

Ein-Wort-

Antworten8 16 1 7 10 10 5 15 17 5 1

nonverbal 6 5 3 4 4 2 3 3 5 2 1

keine

Antwort3 2 0 0 0 1 0 1 0 2 0

Genitiv 3 1 8 5 2 3 3 2 2 2 5

Neben-

sätze1 0 6 6 3 2 5 3 1 4 8

deutsche

Wörter9 2 5 4 1 0 3 1 2 2 1

Tab. 5.2: Spontansprache Türkisch: 3. Schuljahr

5.3.3 Die Endphase

Am Ende der Volksschule wurden mit den türkischsprachigen Kindern im Dezember und im JuniSpontanspracheinterviews in ihrer L1 durchgeführt. Im Vergleich zu den vorigen Testjahren fiel eineSteigerung besonders in der Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit auf. Mit der Mehrheit verliefdie Kommunikation großteils problemlos, gelegentlich traten noch Schwierigkeiten bei vergleichsweiseanspruchsvollen Inhalten auf.

Am schwierigsten verlief die Kommunikation mit Ali, gefolgt von Ömer und Serda. Bei diesen dreiKindern war die Kommunikation nur mit starker Unterstützung der Interviewerin möglich. Bei kom-plizierten Satzkonstruktionen kamen bei allen Kindern durch das Fehlen von Satzteilen bzw. durch dieVerwendung falscher Personalpronomen unverständliche Sätze zustande. Das ist besonders auffälligbei jenen ProbandInnen, die überdurchschnittliche sprachliche Kompetenz aufweisen. Die anderenvermieden komplizierte Konstruktionen (siehe das folgende Beispiel):

(17)Nur: Antalya’da da izin yaptık, çok yapamadık Antalya’da. Beș hafta iznimiz vardı. Çok sı-

caktı. Hic birimiz dayanamadık. Arabayı o zaman sipariș vermiștik. Iște arabanın günügelmemiști de, arabının içinde kalorifer yoktu hava verecek yada soguk veryo, sogukhava yoktu. Çok sıcaktı așırı sıcaktı.(In Antalya haben wir Urlaub gemacht, aber nicht sehr lange. Wir haben fünf WochenUrlaub gehabt. Es war sehr heiß. Keiner von uns hat das ausgehalten. Da haben wir dasAuto bestellt gehabt. Also der Tag des Autos war noch nicht gekommen, aber im Autowar keine Heizung, die Luft bläst oder kalt bläst. Es war keine kalte Luft. Es war sehrheiß, extrem heiß.)

In dieser Aussage fallen neben semantischen Unsicherheiten (kalorifer Heizung für havalandırma Klima-anlage) auch morphosyntaktische auf. Arabanın günü gelmemisti (der Tag des Autos ist noch nicht gekom-men) ist ein unverständlicher Satz – das Kind meinte damit wahrscheinlich den Tag, an dem das Autohätte abgeholt werden sollen. Das hätte es jedoch in einem Satz mit Genitivkonstruktion ausdrückenmüssen, was aber anscheinend zu kompliziert war. Das Fehlen des Begriffs havalandırma (Klimaanlage)versucht es mit einer Erklärung zu überbrücken, die jedoch die morphosyntaktische Unsicherheit ver-deutlicht.

5. Spontansprache

55

(18)Aylin: Kindergärtnerin ağır bișey kaldırmıyorsun, çünkü çocukla yemeğini . . . Yani çocuklar

içinde kendi çocuğun gibi yașarsın mutlu.([Als] Kindergärtnerin trägst du keine schweren Sachen, weil du mit dem Kind dasEssen . . . Also unter den Kindern kannst du glücklich wie dein eigenes Kind leben.)

Mit dem Satz Yani çocuklar icinde kendi çocuğun gibi yașarsın mutlu. (Also unter den Kindern kannst duglücklich wie dein eigenes Kind leben.) meint das Kind wahrscheinlich wie mit dem eigenen Kind zusammen-

leben. In dem Satz fehlen das Bezugswort -la (çocuğunla statt çocuğun) und das Adverb beraber (zu-sammen).

Es kommen im Corpus aber auch komplizierte Sätze mit korrekter Syntax vor, wie Temporalsätze,Kausalsätze, Sätze mit Gerundien oder Vergleichsätze. In Beispielen soll das verdeutlicht werden:

(19)Nur: Ondan sonra Avusturya’ya geri geldik. Avusturya’ya geldiğimizden beș altı gün sonra

okula gittik. Okul eșyasını almıștık yani. Alıs veriș, okul esyası felan derkene ondan son-ra okula geldik iște. Okula gittik, ondan sonra Weihnachten oldu iște. Weihnacht tatilivar iki hafta. Oraya da hmm onu da Almanya’da geçirmek istiyoruz.(Dann sind wir nach Österreich zurückgekommen. Fünf Tage später, nachdem wirnach Österreich zurückgekommen waren, sind wir in die Schule gegangen. Wir habenalso die Schulsachen gekauft gehabt. Nachdem wir Einkaufen, Schulsachen usw. erle-digt hatten, sind wir dann in die Schule gekommen. Wir sind in die Schule gegangen,dann ist Weihnachten geworden. Weihnachtsferien sind zwei Wochen. Dorthin hmmdie wollen wir dann in Deutschland verbringen.)

Auch die sichere Verwendung der kettenartigen Genitivverbindungen ist anzutreffen:

(20)Reyhan: Ya bizim yengemgilin evinin arkası zaten dağ.

(Hinter dem Haus der Familie unserer Schwägerin ist sowieso der Berg.)

Im Allgemeinen ist die Feindifferenzierung der semantischen Felder noch nicht abgeschlossen, einigeFelder sind aber gut abgedeckt. Die Kinder machen viele bzw. einige Fehler in der Wortwahl. WenigeKinder können aus einem reichhaltigen lexikalischen Repertoire schöpfen, um sich versiert ausdrü-cken zu können.

Die Kinder bauen weiterhin Komposita aus deutschen und türkischen Elementen, übernehmenganze deutsche Elemente ins Türkische. Der Einfluss des Deutschen auf die Erstsprache zeigt sichauch in der Kombination von türkischen und deutschen Wörtern oder durch türkische Endungen beideutschen Wörtern, besonders im Bereich der Nomen. In diesem Testjahr wurde jedoch deutlich, dassdieses Phänomen auch themenspezifisch ist. Keines der Kinder nannte die Schularten auf Türkisch,was auch selbstverständlich ist. Die Kinder verwendeten die Begriffe, die zum Schulleben gehören,sehr oft auf Deutsch. Im Dezember wurden diese schulbezogenen Begriffe von zwölf Kindern aufDeutsch verwendet.

Da die türkischsprachigen Kinder Weihnachten zu Hause nicht erleben, ist es verständlich, dass siedie Begriffe, die Weihnachten betrafen, einfach auf Deutsch verwendeten. Sie benützten bei ihrenSchilderungen auch gängige, aber doch im Zusammenhang mit Weihnachten stehende Begriffe aufDeutsch, wie: Kekse, sammeln, Kokosnuss, Sack. Daher verwendeten sie in den Interviews im Dezemberwesentlich mehr deutsche Wörter (insgesamt 46) als im Juni (insgesamt 20 Wörter).

Teil I – Psycholinguistische Studie

56

Aynur verwendete in beiden Testphasen am meisten deutsche Wörter. Im Vergleich zu den erstenTestphasen im ersten Schuljahr ist die Zahl der auf Deutsch genannten Wörter – wie bei allen Kindern– aber auch bei Aynur leicht zurückgegangen.

Aus diesem Diagramm wird ersichtlich, dass hinsichtlich der Komplexität der morphosyntaktischenRelationen eine deutliche Steigerung erfolgte. Während am Anfang der Volksschulzeit Nebensätzenur 1,4 Mal pro Kind vorkamen, wurden diese in den letzten zwei Jahren öfters verwendet. Dass dieZahl der Nebensätze nicht kontinuierlich anstieg, zeigt, dass bei diesen Konstruktionen Unsicher-heiten bestanden. Die Zahl der auf Deutsch verwendeten Wörter stieg im Juni des dritten undDezember des vierten Schuljahres. Wir nehmen nicht an, dass die Kinder vermehrt deutsche Begriffein ihre L1 integrieren, sondern dass sie themenspezifisch mehr oder weniger deutsche Wörter ver-wenden.

5.4 Zusammenfassung

Nirgends anders als in den spontansprachlichen Äußerungen unserer ProbandInnen wird ihre kom-munikative Entwicklung dermaßen deutlich und lassen sich Strategien, die von den Kindern verwendetwerden, um sprachliche Barrieren zu überbrücken, so gut ablesen. Dem Leser/der Leserin sollen auchdie Turbulenzen sprachlicher Entwicklung anhand der Texte vermittelt werden. Der in Kapitel 2.2 vor-gestellte chaotische Pfad der Sprachentwicklung spiegelt sich in den spontansprachlichen Daten in al-len Sprachen wider. Strukturen, die in diesen Gesprächen richtig verwendet wurden, ebenso wie kor-rekt angewandtes Vokabular, können als sicher erworben angenommen werden.

Das abschließende Bild zeigt sowohl deutliche Trends in der sprachlichen Entwicklung der Kinderals auch die stark unterschiedlichen Sprachprofile am Ende der Volksschulzeit. Generell lässt sich sa-gen, dass alle Kinder im Lauf der vier Untersuchungsjahre deutliche Fortschritte sowohl in ihrer Erst-als auch in ihrer Zweitsprache erzielen konnten. Kinder mit deutscher Erstsprache verlassen die Volks-schule mit einem reichhaltigen lexikalischen Repertoire, das es ihnen ermöglicht, differenziert überverschiedenste Themen zu sprechen. Des Weiteren ist ihre Syntax dem Alter entsprechend ausgebildet.

Die Alltagskommunikation verläuft auch bei einem Großteil der Kinder mit den ErstsprachenBKS in ihrer Erst- und Zweitsprache problemlos ab. Die meisten ProbandInnen dieser Gruppe zeich-nen sich durch großes Engagement und Emotionalität in ihrer Kommunikation aus. Das morphologi-sche System der meisten Kinder ist aber nach wie vor instabil und die Feindifferenzierung vieler Wort-felder noch nicht abgeschlossen. In den erstsprachlichen Interviews ist auf allen linguistischen Ebenenein starker Einfluss des Deutschen spürbar.

5. Spontansprache

57

0

2

4

6

8

10

12

1. Schuljahr 3. Schuljahr 4. Schuljahr

Ein-Wort-Antwort

nonverbal

keine Antwort

Genitivverbindung

Nebensätze

deutsche Wörter

Mit

telw

erte

Fig. 5.7: Spontansprache Türkisch: Vergleich 1., 3. und 4. Schuljahr

Bei den türkischsprachigen Kindern sind die Fortschritte am deutlichsten spürbar (unter anderemauf Grund der niedrigen sprachlichen Kompetenz zu Schuleintritt). Die Zahl der Ein-Wort-Antwor-ten und der nonverbalen Äußerungen ging zwar in den vier Jahren stark zurück, dennoch geben dievergleichsweise noch immer hohe Zahl der Ein-Wort-Antworten und die geringe Zahl der komplizier-ten Satzkonstruktionen einiger ProbandInnen auch im vierten Schuljahr zu denken. Generell sind dieUnterschiede in der sprachlichen Kompetenz (L1 und L2) in dieser Gruppe am Ende des vierten Jah-res noch deutlicher hervorgetreten als zu Beginn der Schulzeit (siehe Abschnitt 14). Es fällt vor allembei den türkischen Interviews der letzten Untersuchungsphase auf, dass die Kinder weiterhin versu-chen, einfache Sätze zu bilden, da ihnen bei den komplizierten Satzkonstruktionen Fehler unterlaufen.Im Unterschied zum ersten Jahr, wo einige Kinder sogar Alltagsbegriffe auf Deutsch nannten, betrifftdies nun nur mehr die Terminologie bestimmter Themen, bei denen der Input stark von der Schule ge-prägt wird (vgl. Karasu 1995). Umgekehrt sind dies die Wortfelder, bei denen folglich im Deutschender größte Zuwachs an Einträgen zu verzeichnen ist. Die Anzahl der deutschen Wörter in den Inter-views der vierten Klasse kann – insgesamt gesehen und verglichen mit den BKS-Kindern – als geringbezeichnet werden.

Die spontansprachlichen Daten der vierten Klasse geben einen Einblick in das Sprachmaterial, mitdem unsere ProbandInnen ihren Bildungsweg fortsetzen werden. Es wird deutlich, dass bei den meis-ten Kindern mit anfänglich niedriger Kompetenz im Deutschen in vier Jahren Volksschule nur mode-rate Fortschritte erzielbar waren. Eine sprachliche Förderung dieser Kinder über das Ausmaß des Cur-riculums scheint daher notwendig.

Teil I – Psycholinguistische Studie

58

6. Tests auf Deutsch

6.1 Lexikon

Im Alter von sechs Jahren sollten Kinder in der Lage sein, Dinge aus ihrer unmittelbaren Umwelt zubenennen (vgl. Niedersächsisches Kultusministerium 2003). Bei einem Großteil der Migrantenkinderwar dies allerdings nicht der Fall. Bedingt durch stark begrenzten Input, ist ihr Lexikon zu Schuleintrittzum Teil wenig breit gefächert. Dadurch stehen diese Kinder in der Schule vor dem Problem, dass sieden Instruktionen des Lehrpersonals nur schwer folgen können und folglich Aufgaben falsch oder garnicht erledigen. Überdies können sie ihre Wünsche und Bedürfnisse teils nicht verständlich äußern.Wen wundert es da, dass etliche Kinder sich zurückziehen und kaum sprechen. Es bedarf zweifelsohneeines besonderen Geschicks seitens des Lehrpersonals, in dieser Situation richtig zu handeln und ad-äquat zu unterrichten.

Ein zumindest rudimentäres Lexikon bildet somit unweigerlich die Basis der Kommunikation (vgl.Meibauer und Rothweiler 1999) in der Schule. Die Größe des Wortschatzes korreliert mit der Lesefä-higkeit, dem Textverständnis und dem allgemeinen Schulerfolg (vgl. Beck, McKoewn und Omanson1987). Unter normalen Bedingungen passiert das Anspeichern neuer Einträge in das Lexikon automa-tisch. Der Wortschatz erweitert sich durch den Kontakt mit Sprache. Indem Kinder die neu gespei-cherten Begriffe verwenden, lernen sie deren Bedeutungsbandbreite kennen und können diese Ein-träge anderen zuordnen und vernetzen sie somit in ihrem mentalen Lexikon miteinander. Die Wichtig-keit, Erlebtes in Sprache umzusetzen, damit neu erlernte „Vokabel“ verankert werden, soll hier betontwerden. Unsere Ergebnisse zeigen, dass ein Unterricht, der sich an die Didaktik des Fremdsprachen-unterrichts anlehnt, Kinder mit einer anderen L1 als Deutsch am besten in ihrer sprachlichen Entwick-lung unterstützt.

Die folgenden speziell ausgewählten Beispiele sollen die Entwicklung der semantisch-lexikali-schen Kompetenz der untersuchten Kinder zeigen. Etliche Kinder konnten ihren Wortschatz trotzder anfänglich geringen Kompetenz beachtlich ausbauen. Eine Leistung, die sicherlich Bewunde-rung verdient. Andere wiederum konnten ihren Wortschatz nur begrenzt erweitern und verfügenselbst nach vier Jahren Volksschule über ein sowohl qualitativ als auch quantitativ stark begrenztesLexikon.

Da es in der Entwicklung der semantisch-lexikalischen Kompetenz einerseits um das Anspeichernvon Termini und andererseits um deren Verknüpfung und Strukturierung geht, wurden Beispiele ge-wählt, die eben diese Komponenten beleuchten.

6.1.1 Strukturierung und Klassifizierung

Wörter, die im Lexikon gespeichert werden, stehen zueinander in Beziehung. Daher ist es für die Ver-knüpfung der einzelnen Einträge wesentlich, dass Kinder wissen, in welcher Beziehung diese zueinan-der stehen. Semantische Relationen bieten Organisationsprinzipien innerhalb des mentalen Lexikons(vgl. Kuczaj 1982, Waxman, Shipley und Shepperson 1991, Meibauer und Rothweiler 1999). Als Ersteswerden die oppositionelle Relation sowie die Beziehung zwischen Teil und Ganzem erworben. ImLaufe der vier Jahre haben wir den Kindern verschiedenste Aufgaben gestellt, um festzustellen, inwie-weit ihr Lexikon korrekte Verknüpfungen aufweist. Konkret beobachteten wir die Entwicklung deroppositionellen, der paradigmatischen und der syntagmatischen Relation.

59

6.1.1.1 Oppositionelle Relation

Im Alter von sechs Jahren ist Kindern unter normalen Erwerbsbedingungen das Konzept der polarenOpposition bekannt (Peltzer-Karpf et al. 1994, Peltzer-Karpf und Zangl 1998). Dies traf zum Groß-teil auch auf unsere ProbandInnen zu, denen es im ersten Schuljahr meist gelang, Gegensätze zu be-nennen. Problematisch wurde es dort, wo Lücken im Lexikon auftauchten: Da halfen sich die Kindermit syntagmatischen Strategien weiter, so antworteten sie zum Beispiel nicht hell anstatt dunkel. Eine an-dere Strategie, um lexikalische Lücken zu überbrücken, bot die Nennung eines all-purpose-Adjektivs

(z. B.: klein für kurz).

Die im ersten Jahr untersuchten Antonyme (dick – dünn, lang – kurz, hell – dunkel, heiß – kalt) wurden im viertenJahr noch einmal getestet, und die Ergebnisse zeigen eine Steigerung bei allen Sprachgruppen. Am deut-lichsten ist der Zuwachs an korrekten Antworten bei den Kindern mit türkischer L1: Diese konnten sich umbeinahe 100% steigern. Generell handelt es sich bei diesen Gegensatzpaaren um stark prototypische Vertre-ter, die im alltäglichen Sprachgebrauch der Kinder häufig auftreten. Daher wurde in der dritten und viertenKlasse derselbe Test mit anderen, semantisch komplexeren, Adjektiven (fleißig, gut, frei, nass, süß) durchge-führt. Wie erwartet, fiel es den Kindern je nach Grad der Abstraktheit bzw. der Bedeutungskomplexitätschwerer oder leichter, ein Gegensatzpaar zu bilden. Einige ProbandInnen, speziell in Gruppe 1, gaben garkeine Antwort, da sie häufig den vorgegebenen Begriff oder das passende Antonym nicht kannten. Teil-weise behalfen sich die Kinder, indem sie Begriffe mit ähnlicher Bedeutung wählten (schlimm oder schlecht

anstatt faul). Diese Antworten zeigen uns, dass die Kinder die Konzepte hinter den Begriffen verstanden, ihrWortschatz aber Grenzen aufwies. Die Antworten der Kinder mit türkischer L1 divergierten am häufigstenvom Zielwort. Durch sie gewinnt man einen Einblick in die kindliche Semantik. So assoziierten die KinderKälte und Schmutz mit Nässe, der entsprechende Gegensatz fehlte ihnen jedoch noch in ihrem Lexikon. AlsGegensatz zu süß nannten sie schiach oder ekelig. (Fig. 6.2)

Vergleicht man die Endresultate des dritten mit jenen des vierten Jahres, so erkennt man, dass Kin-der der Gruppen 2, 3 und 4 Fortschritte verzeichnen konnten, während dies bei den Kindern derGruppe 1 leider nur marginal bzw. gar nicht der Fall war. Am allerdeutlichsten ist der Anstieg an kor-rekten Antworten bei den Kindern mit anderen Erstsprachen (nämlich von 65% auf 83%). Bei ge-nauer Betrachtung sieht man, dass die Gruppen 2, 3 und 4 die Anzahl der korrekten Nennungen vorallem bei den Adjektiven fleißig und frei steigern konnten, im Gegensatz zu den türkischsprachigen Kin-

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Türkisch BKS andereMuttersprachen

Deutsch

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Mit

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Fig. 6.1: Antonyme: Vergleich 1. und 4. Schuljahr

dern, bei denen der deutlichste Zuwachs an richtigen Antworten bei nass und süß zu verzeichnen ist.Diese Tatsache spiegelt auch den allgemeinen Unterschied im Erwerbsstadium der Sprachgruppen wi-der. Kinder der Gruppe 1 beginnen, auf prototypischen Einträgen (z. B. kurz – lang, groß – klein, heiß –

kalt) aufbauend ihren Wortschatz mit konkreten Adjektiven zu erweitern, während die anderen Kindergroßteils bereits auch abstrakte Begriffe in ihrem mentalen Lexikon abgespeichert haben.

Generell lässt sich die Entwicklung an der Abnahme externer Negationen ablesen. Ebenso tretensemantisch ähnliche Begriffe umso seltener auf, je feindifferenzierter der Wortschatz ist, da die einzel-nen Begriffe in ihrer Bedeutung stärker gegeneinander abgegrenzt sind.

6.1.1.2 Paradigmatische Relation

In frühen Erwerbsstadien zeigt sich, dass es Kindern primär leichter fällt, Begriffe innerhalb eines se-mantischen Feldes abzugrenzen. Die vertikale Strukturierung der Wortfelder verlangt von den Kinderneine fortgeschrittenere kognitive Reife. Dementsprechend schwierig war es für unsere ProbandInnen,im ersten Untersuchungsjahr die Überbegriffe zu diversen semantischen Feldern zu benennen.

Gemüse Möbel Kleidung

1. Jahr 4. Jahr 1. Jahr 4. Jahr 1. Jahr 4. Jahr

Türkisch 86% 42% 7% 44%

BKS 61% 97% 21% 77% 33% 93%

andere

Muttersprachen53% 82% 17% 81% 33% 78%

Deutsch 92% 100% 47% 88% 83% 100%

Tab. 6.1: Überbegriffe: prozentuelle Mittelwerte, Vergleich 1. und 4. Schuljahr

Auch in diesem Bereich zeigt die Entwicklung über vier Jahre merkbare Fortschritte. Obwohl es den-noch etliche Antworten gibt, vor allem bei weniger üblichen Überbegriffen, die Evidenz für Unsicher-heiten in der Klassifizierung von Begriffen liefern. Beim Wortfeld Toiletteartikel/Waschzeug konnte au-ßer den deutschsprachigen Kindern, und selbst die nur zu 20%, niemand einen passenden Überbegriff

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Türkisch BKS andereMuttersprachen

Deutsch

3. Schuljahr

4. Schuljahr

Proz

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elle

Mit

telw

erte

Fig. 6.2: Antonyme: Vergleich 3. und 4. Schuljahr

produzieren. Einige SchülerInnen versuchten, die Superordinate zu umschreiben: Sachen, die ins Bade-

zimmer gehören. Eine häufige Antwort anstelle des Überbegriffs war: Waschmittel – was uns zeigt, dass dieKinder die Objekte zwar teils richtig zuordnen konnten, die Feindifferenzierung des Begriffs Waschmit-

tel aber noch nicht abgeschlossen war, da er auf Toiletteartikel ausgeweitet wurde. Alle Bedeutungsver-änderungen, -erweiterungen und -einschränkungen weisen jedoch auf eine deutliche Bewegung imLexikon hin. Die Kinder bedienen sich verschiedenster Strategien, um Inhalte zu versprachlichen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass unsere ProbandInnen mit dem Konzept der Überord-nung und Unterordnung von Begriffen vertraut sind. Inkorrekte bzw. fehlende Antworten sind dahermeist auf lexikalische Lücken zurückzuführen. Diese treten auch nach vier Volksschuljahren auf allensemantischen Ebenen auf, sowohl bei den Superordinaten als auch bei den Basistermini. Die Kinderder Gruppen 2 und 3 sind in ihrer lexikalischen Entwicklung des Deutschen in vielen Bereichen bei-nahe ebenso fortgeschritten wie die Kinder mit deutscher Muttersprache. Bei den Kindern mit türki-scher L1 ist dies nur bei einzelnen ProbandInnen der Fall bzw. in speziellen Bereichen, bei denen derInput stark von der Schule geprägt ist.

6.1.1.3 Syntagmatische Relation

Wie vorhin erwähnt, können Kinder Wortfelder im Allgemeinen besser klassifizieren als hierarchisie-ren, was auch unsere Ergebnisse reflektieren, denn das Ausweichen auf syntagmatische Antworten istbei verschiedensten Aufgaben zu bemerken.

Bei der Abgrenzung von einzelnen Objekten innerhalb eines Wortfeldes orientieren sich Lernendezu Beginn häufig an perzeptuellen sowie okkasionellen Merkmalen. Anfangs sind Farbe, Form undGröße die wesentlichsten Merkmale für die Differenzierung. Auch die Funktion eines Objekts hilftKindern, es von anderen zu unterscheiden. (Nelson 1985)

Bereits im Laufe des ersten Untersuchungsjahres konnte hier ein Fortschritt beobachtet werden.Kinder mit anderen Erstsprachen konnten am Ende der ersten Klasse die untersuchten Wortfelder zuüber 20% besser voneinander abgrenzen als zu Beginn der Schulzeit. Bei Kindern mit türkischer L1war ein Anstieg der korrekten Antworten von ca. 15% zu sehen.

Abgrenzung eines semantischen Feldes bedeutet, die Gemeinsamkeiten der darin vorhandenenItems zu kennen. Im zweiten Schuljahr wurde eben diese Fähigkeit – nämlich auf Grund von Gemein-samkeiten zu vorgegebenen Begriffen, einen passenden anderen Begriff zu finden – beobachtet. Ge-nerell hatten die Kinder der Gruppen 2, 3 und 4 hierbei keine Probleme. Einmal mehr wurde aber of-fensichtlich, dass sowohl der produktive als auch der rezeptive Wortschatz der Kinder der Gruppe 1stark begrenzt ist, da ihre Ergebnisse um ungefähr 30% hinter jenen der anderen ProbandInnen lagen.Vielfach verstanden sie bereits die Angaben nicht.

6.1.2 Das Beschreiben von Begriffen

Die Beschreibungen einzelner Objekte lieferten uns ein reiches Repertoire an Daten, das uns sowohlEinblick in den Makrolevel, die Quantität des Lexikons, als auch in den Mikrolevel, die Qualität, bot.Uns wurde deutlich, auf welchen Ebenen der individuellen mentalen Lexika bereits Verknüpfungenzwischen einzelnen Einträgen existierten. Besonders interessant ist diese Beobachtung bei unserenzwei- bzw. dreisprachigen ProbandInnen, denn auch in der Zweitsprache müssen Kinder neu erwor-bene Wörter mit Bedeutungen belegen und Verknüpfungen zu anderen bereits gespeicherten Einhei-ten herstellen. Zusätzlich haben sie die Möglichkeit, neue Termini mit deren Äquivalenten in der Erst-sprache zu überprüfen und zu verbinden. In der Schule werden die Kinder nicht nur mit neuen Wör-

Teil I – Psycholinguistische Studie

62

tern und Konzepten konfrontiert, sondern auch mit neuen semantischen Relationen zwischen ebendiesen Wörtern und Konzepten (Verhallen und Schoonen 1993). Dieser Prozess geht je nach Sprach-stand schneller oder langsamer vor sich.

Ausgewählte Beispiele eines Aufgabenteils (Baum) sollen einen Einblick in die Qualität der Äußerun-gen der Kinder im dritten Untersuchungsjahr bieten (für Details vgl. Peltzer-Karpf et al. 2001, 2002).

Die Definitionen der Kinder weisen folgende Merkmale auf:

• Syntagmatische Relationen sind besser ausgeprägt als paradigmatische.

• Überbegriffe werden teilweise durch Umschreibungen ersetzt.

• Lücken im Lexikon werden zum Teil mit Wortkreationen gefüllt.

• Paraphrasen treten häufig auf.

Es muss hier bemerkt werden, dass die Verteilung der Äußerungen in die verschiedenen Kategorienauch vom Stimulus abhängig ist und folglich ein Vergleich nur einen Überblick bieten soll. Die fol-gende Tabelle zeigt jedoch einen deutlichen Zuwachs der durchschnittlichen Nennungen pro Kind imVergleich vom zweiten auf das dritte Schuljahr.

Vergleich der durchschnittlichen Nennungen eines Kindes pro Begriff

2. SchuljahrTürkisch BKS

andere

MuttersprachenDeutsch

Nase 2,9 4,6 4,4 5,7

Baum 4,4 5,4 4,4 6,6

3. Schuljahr

Baum 4,2 12,2 8,3 13,6

Messer 3,1 7,3 4,4 10,6

Tab. 6.2: Word Definition Task, Vergleich 2. und 3. Schuljahr

Einigen Kindern mit türkischer L1 fiel diese Aufgabe im dritten Schuljahr noch relativ schwer, obwohlsie die Objekte (Baum, Messer) kannten. Vorwiegend beschrieben sie Dinge über ihre Form und Funk-tion. Anhand von ausgewählten Leitfragen soll die Qualität und Bandbreite der Antworten der Kindermit türkischer Erstsprache dokumentiert werden:

(1) L1 Türkisch� Was ist ein Baum?

– Baum.– Hm, das hat so ein groß Stängl, braun und dann hat das Baum auch Blätter.– Mhm, wo Vögel Nester baun können.

� Wo wachsen Bäume?– In der Wiese.– Bäume wachsen . . . in Garten irgendwo oder in Park.– Draußen.– In äh Park . . . und Boden.– Schönbrunn . . . Donauinsel.

� Welche Arten von Bäumen kennst du?– Äpfelbäume, Birnenbäume, Zwetschkenbäume, Erdbeerbäume, ah nein Kirschen.– Ich kenne Fichtenbäume und dann kenne ich ahm Eichenbäume und dann keine so gut.– Nicht viele.

6. Tests auf Deutsch

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Das Aussehen der Bäume wurde von den Kindern größtenteils mit den Adjektiven groß, grün, rund und schön

beschrieben, selten gaben Kinder Teile der Bäume an, und wenn sie es taten, konnten sie nur die Blätter richtigbenennen. Für Stamm und Äste verwendeten sie manchmal Stängel. Die Zahl der Nennungen in der Katego-rie Subordinate ist vergleichsweise hoch, die Kinder konnten hier etliche Komposita anführen (Apfelbaum,

Birnenbaum, Bananebaum, Kirschenbaum, Zwetschkenbaum). Neben verschiedenen Obstbäumen konnten die Pro-bandInnen aber nur selten andere Laub- oder Nadelbäume benennen.

Die Sprache der Kinder mit den Erstsprachen BKS ist sehr lebhaft; die Kinder sind bestrebt, mög-lichst viel zu erzählen. Da ihr Wortschatz aber in einigen Bereichen noch Lücken aufweist, müssen siediese überbrücken, um die gewünschte Information kommunizieren zu können. Manche Kinder sindwahre Meister im Umschreiben von Begriffen, andere wieder verwenden semantisch ähnliche Begriffeoder konstruieren mit ihrem eigenen Wissen über die Sprache neue Wörter. Der folgende Interview-ausschnitt soll die Dynamik der Äußerungen dieser Kinder verdeutlichen.

(2) L1 BKSInt: Was ist ein Baum?Petar: Ein Baum ist mit viele Früchte.Int: Ja.Petar: Und mit viele Blättern.Int: Ja, wie sieht er noch aus?Petar: Alt kann er auch sein ohne Blättern.Petar: Und braun.Int: Wo wachsen denn Bäume?Petar: In Erde, in der [. . .?]Int: Genau! Welche Art von Bäumen kennst du denn?Petar: Apfelbaum, Apfelbaum, Birnenbaum und dann Orangenbaum, dann kommt noch

Kastanienbaum und dann Christbaum.Int: Christbaum, ja.Petar: Und dann noch diese auch Stachelbaum oder wie der heißt.Int: Was soll das sein?Petar: So ein Baum mit Stachel. Ja, mit dies grüne kleine Stachel, weißt du, für Weihnachten.Int: Ah, ach so, du meinst Nadelbäume.Petar: Ja, Nadelbäume.

Generell konnten die ProbandInnen dieser Gruppe verschiedene Merkmale eines Baumes benennen: Blät-

ter, Äste, Holz, und Knospen, für Stamm und Rinde fehlten den meisten Kindern die passenden Begriffe:

(3) L1 BKS– Er hat so ein Stock und er ist braun, hat grüne Blätter, hat kleine Äste.– Braun, er hat Äste, Blätter und . . . . . . und ein Fell.– Na, es hat so grüne Blätter und hat so einen dicken Stabel.

Der Unterschied der lexikalisch-semantischen Kompetenz der Kinder mit deutscher Erstsprache liegtsowohl in der Quantität als auch in der Qualität des Wortschatzes. Die Zahl der Nennungen in beinaheallen Kategorien ist höher als bei den anderen Gruppen, und die Streuung ist breiter. die deutschspra-chigen Kinder konnten die gewählten Begriffe bereits sehr differenziert beschreiben, aber dennochfindet man auch bei ihnen Übergeneralisierungen, Paraphrasen und lexikalisch-semantisch inkorrekteÄußerungen. Das Ausmaß der inkorrekten Antworten ist jedoch geringer.

Teil I – Psycholinguistische Studie

64

Bezeichnend für diese Kinder ist, dass sie meist mit einem Satz schon ein klares Bild des zu be-schreibenden Objekts geben können.

(4) L1 Deutscha. Ein Baum ist das, was uns Luft bringt, denn es ist groß, hat viele grüne Blätter und einen di-

cken braunen Stamm.b. Ein Baum ist eine Pflanze . . . und ist hat meistens Früchte.c. Ein Baum ist ein ganz großes Gewächs, manchmal wachsen Früchte drauf oder Obst und

die meisten Bäume haben viele Blätter außer im Herbst, weil da fallen sie ab.d. Ein Baum hat grüne Blätter, hat kleine Stäbe, also Äste oben und einen großen, dicken

Stamm, Hauptstamm und im Frühling trägt er dann bunte Blätter.

Im Beispiel (3.d) sieht man, dass auch deutschsprachige Kinder Äste mit Stäben assoziieren. Außerdemverwechselt dieses Kind (3.d) Herbst und Frühling, wobei schwer zu sagen ist, ob es die Begriffe ver-wechselt oder die Konzepte. In einem anderen Beispiel verwendet ein Kind Rossbäume anstelle von Na-

delbäumen. Das Lexikon ist auch bei dieser Gruppe in Bewegung und etliche Begriffe sind noch nichtklar getrennt von anderen, das heißt die Feindifferenzierung ist noch im Gange. Dass sich im Wort-schatz der Kinder mit deutscher L1 generell mehr Einträge befinden als bei den anderen Kindern, er-kennt man an der Bandbreite der genannten Subordinaten: Ahorn, Birke, Buche, Eiche, Fichte, Linde, Tan-

nenbaum, diverse Obstbäume. Die meisten ProbandInnen konnten auch Stamm, Rinde, Wurzel, Äste undBlätter benennen.

6.1.3 Semantische Felder

Zur Überprüfung der tatsächlichen individuellen Bandbreite des Lexikons bedarf es einer sehr inten-siven Beobachtung jedes einzelnen Kindes. Im Rahmen dieser Studie war es uns nur möglich, dieEntwicklung einzelner semantischer Felder zu verfolgen. Die Größe des jeweiligen Wortschatzeswird ebenso in den spontansprachlichen Interviews bzw. den von den Kindern produzierten Textenersichtlich.

Anfänglich hatten vor allem Kinder mit türkischer L1 selbst bei der Benennung alltäglicher Ob-jekte Probleme. So konnten sie die abgebildeten Kleidungsstücke (Pullover, Hose, Stiefel und Mütze) nurzu 42% richtig benennen. Im vierten Untersuchungsjahr gelang ihnen das bereits zu über 80%. DieUnterscheidung zwischen Stiefel und Schuh bzw. Mütze, Kappe und Hut fiel einigen SchülerInnen abernach wie vor schwer.

Im vierten Schuljahr konnten beinahe alle Kinder problemlos verschiedene abgebildete Früchtebenennen, einzig für die Ananas konnten manche keine Bezeichnung finden. Hingegen wiesen beimWortfeld Gemüse die meisten Kinder der Gruppen 1 und 3 noch Lücken auf, obwohl auch hier mehrereItems als zu Schuleintritt benannt werden konnten. Begriffe wie Erbsen, Mais, Zwiebel und Paprika sindnur knapp mehr als der Hälfte dieser Kinder bekannt. Bei den Möbelstücken gab es bis auf wenigeAusnahmen nur korrekte Antworten. Messer und Gabel wurden auch von den meisten Kindern richtigaufgezählt, manche kannten aber das Wort Löffel nicht. Trotz des Zuwachses in den einzelnen semanti-schen Feldern muss erwähnt werden, dass Kinder mit anderer L1 als Deutsch in keinem der untersuch-ten Felder gleich viele Items nennen konnten wie jene mit deutscher L1.

In einer Aufgabe, die Ähnlichkeiten mit dem Word Fluency Task aufweist, sollte die Bandbreitezweier Wortfelder (Schulsachen und Tiergarten) im vierten Schuljahr gemessen werden. Wir gingen vonder Annahme aus, dass Wortfelder, bei denen der Input vorwiegend von der Schule geliefert wird, bei

6. Tests auf Deutsch

65

allen ProbandInnen ähnlich gut ausgeprägt sein sollten, während semantische Felder, deren Inputstärker vom Elternhaus bzw. der Freizeitgestaltung gesteuert wird, bei den Kindern individuell entwi-ckelt sein würden.

Das Wortfeld Schulsachen ist vor allem durch die Schule geprägt, und hier bestätigte sich unsere Ver-mutung, denn es gab wenige Unterschiede zwischen den Kindern, die Anzahl der genannten Items be-treffend. Durchschnittlich zählten sie zwischen neun und zehn verschiedene Schulsachen auf. Auch dieQualität dieses semantischen Feldes sieht bei den meisten SchülerInnen sehr ähnlich aus. Die Kindernannten vorwiegend Dinge wie Federpennal, Füllfeder, Bleistifte, Buntstifte, Bücher, Hefte, Radiergummi, Schul-

tasche, Spitzer, Stifte. Einige unterschieden bei den Stiften genauer in Faserstift, Fineliner und Filzstift. Man-che Kinder zählten auch die Lehrerin zu den Schulsachen!

Wesentlich deutlichere Unterschiede zeigten sich beim Wortfeld Tiergarten, wo der Input offensicht-lich nicht nur von der Schule gesteuert wird, sondern auch vom Elternhaus. Kinder mit türkischer L1konnten häufig mit dem Begriff Tiergarten nichts verbinden, erst wenn man auf den Tierpark Schön-brunn verwies, verstanden sie, was gemeint war.

Türkisch BKS andere Muttersprachen Deutsch

8 11 9 15

Tab. 6.3: Tiergarten: durchschnittliche Anzahl der Nennungen

Bei diesem Wortfeld divergierte die Anzahl der Nennungen deutlich; Kinder mit deutscher L1 konntenmit Abstand am meisten Tiere nennen. Ein Mädchen zählte 26 Tierarten auf: Präriehunde, Leguane, Fisch-

otter, Braunbär, Schwarzbär, Puma, Tiger, Panther, Löwe, Krokodil, Pinguine, Seelöwen, Affen, Vögel, Großkatzen,

Raubkatzen, Fische, Bären, Bisons, Mäuse, Geier, Eichhörnchen, Schweine, Ziegen, Enten, Frösche. Ein Mädchenmit Erstsprache BKS nannte folgende Tiere: Vögel, Tiger, Löwe, Affe, Elefanten, Schlangen, Fische, Kühe,

Pferde, Säugetiere, Fledermäuse.Beide Kinder mischten Begriffe verschiedener semantischer Ebenen (Raubkatzen und Großkatzen

zusammen mit Löwe, Panther, Tiger, Puma bzw. Säugetiere gemeinsam mit Pferden, Fledermäusen und ande-ren). Häufig ist den Kindern noch nicht bewusst, dass einige Begriffe Superordinaten für andere Be-griffe sind. Für sie entstammen alle Items derselben Ebene, zumindest in der Produktion. Wenn manhingegen Kinder bittet, Einträge zu einem bestimmten Überbegriff zu nennen, dann fällt es ihnenleichter, die Ebenen eines semantischen Feldes zu trennen.

Betrachtet man die Anzahl der verschiedenen Tierarten, die innerhalb der einzelnen Gruppen auf-gezählt wurden, dann fällt ein wesentlicher Unterschied zwischen den Gruppen 2 und 4 (die 55 bzw. 48verschiedene Tierarten nannten) und den Gruppen 1 und 3 (21 bzw. 18 Nennungen) auf. Diese Zahlenlassen einen allgemeinen Rückschluss auf die Bandbreite dieses semantischen Feldes bei den Kindernzu. Bei Kindern mit Erstsprache Deutsch oder BKS weist zumindest dieses Wortfeld bereits eine Fein-differenzierung auf.

Bei Kindern mit türkischer L1 ist der Unterschied zwischen den einzelnen ProbandInnen nach wievor stark ausgeprägt. So konnten manche Kinder nur vier Items nennen (zum Beispiel: Hunden, Bär,Gorillen, Pferd ), während andere eine wesentlich höhere Zahl an Tierarten aufzählten (Zebra, Löwe, Tiger,

Affen, Gorilla, Vögel, Hunde, Nilpferd, Fledermäuse, Elefanten, Schlangen, Katzen).Zusammenfassend kann man sagen, dass sich unsere Annahme, dass der sprachliche Input der

Schule eine wesentliche Rolle für die Bandbreite des Lexikons im Deutschen spielt, in den Ergebnissendieser Aufgabe widerspiegelt. Daher wäre es wichtig, in der Schule verstärkt Wortschatzübungen zumachen bzw. zu versuchen, möglichst viele Wortfelder mit Input zu speisen, damit die lexikalische Ent-wicklung der Kinder gute Fortschritte machen kann.

Teil I – Psycholinguistische Studie

66

6.1.4 Der Erwerb der Verwandtschaftsbeziehungen

Die Klassifizierung und Benennung von Verwandtschaftsverhältnissen setzt flexible Perspektivenvoraus, die wiederum fortgeschrittenes semantisch-konzeptuelles Wissen erfordern (Zoom 1997: 55).Bei der Erwerbsreihenfolge der Verwandtschaftsbezeichnungen und -beziehungen kann man prinzi-piell davon ausgehen, dass semantisch komplexere Begriffe später als weniger komplexe erworbenwerden. Wenn es zutrifft, dass Kinder die Gesamtheit der Bedeutung eines Begriffes schrittweise er-fassen (vgl. Piaget 1927, Clark 1979), dann bieten sich Verwandtschaftsbezeichnungen an, diese An-nahme zu belegen, da komplexere Einträge dieses Wortfeldes erst später in ihrer Bedeutungsgesamt-heit erfasst werden.

In der vierten Klasse konnten unsere ProbandInnen bereits etliche Familienmitglieder aufzählen.

Türkisch BKS andere Muttersprachen Deutsch

7,7 11,5 9,5 11,7

Tab. 6.4: Verwandtschaftsbezeichnungen: durchschnittliche Anzahl der Nennungen

Die Kinder der Gruppe 2 konnten beinahe gleich viele Begriffe nennen wie die Kinder der Gruppe 4.In erster Linie wurden Mitglieder der Kernfamilie genannt: Mutter, Vater, Schwester, Bruder, Oma, Opa ge-folgt von Tante, Onkel und Cousin/e. Begriffe wie Sohn, Tochter, Schwager, Schwägerin, Nichte, Neffe kameneher selten vor. Für etliche Kinder gehörten auch Freunde und Nachbarn zur Familie. Manche Kinder er-wähnten Bezeichnungen wie Stiefmutter, -vater, -schwester, -bruder.

Die Schwierigkeit beim Erwerb dieses Wortfeldes stellen aber nicht die einzelnen Verwandtschafts-bezeichnungen dar, sondern die Beziehungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern. Dabeimüssen die Kinder die Fähigkeit beweisen, abstrakt zu denken. Bei der Überprüfung zeigte sich inter-essanterweise, dass bei etlichen Kindern das Problem nicht wie im ersten Untersuchungsjahr (vgl. Pelt-zer-Karpf et al. 2000) die Umsetzung der Angabe, sondern das Finden des passenden Begriffs ist, dasie offensichtlich Verwandtschaftsbezeichnungen eher in ihrer Erstsprache verwenden.

Türkisch BKS andere Muttersprachen Deutsch

37,4% 70,3% 68,7% 80%

Tab. 6.5: Verwandtschaftsbeziehungen: prozentuelle Mittelwerte der richtigen Nennungen

Allgemein kann man sagen, dass sich die Gruppen 2, 3 und 4 auf einem ähnlichen Entwicklungsstandin Bezug auf den Erwerb von Verwandtschaftsbeziehungen befinden. Das heißt, bei den Kindern mitden Erstsprachen BKS und jenen mit anderen Muttersprachen hat vom ersten bis zum vierten Schul-jahr in der semantisch-kognitiven Entwicklung ein großer Schub stattgefunden. Bei den Kindern mittürkischer Erstsprache ist der Unterschied zwischen den einzelnen ProbandInnen derart groß, dass einMittelwert nur wenig Aussagekraft hat. Für einen Teil der Kinder waren die Aufgaben zu komplex; siekonnten der Angabe selbst mit verstärkter Hilfestellung nicht folgen. Sie wiederholten lediglich einenBegriff der Angabe oder gaben gar keine Antwort. Anderen wiederum bereitete es ähnlich wie denKindern der Gruppen 2, 3 und 4 nur geringe Schwierigkeiten, die gefragten Verwandtschaftsbezeich-nungen zu nennen.

Die Ergebnisse dieses Aufgabenbereichs verdeutlichen einmal mehr, dass die semantisch-lexikali-sche Entwicklung der Kinder sehr unterschiedlich weit fortgeschritten ist.

6. Tests auf Deutsch

67

6.2 Morphologie

6.2.1 Flexion

Der Erwerb des ausgeprägten deutschen Flexionssystems stellt an Zweitsprachenlernende keine gerin-gen Anforderungen. Unsere Ergebnisse bestätigen, dass transparente, einfache und frequente Formenhäufiger übergeneralisiert werden als komplexe und weniger frequente Formen sowie dass besondersschwierige und unregelmäßige Formen (beispielsweise bei der Pluralbildung oder der Verbalflexion)im Erst- und vor allem im Zweitspracherwerb die gesamte Volksschulzeit noch Schwierigkeiten berei-ten können (vgl. Dressler 1987, Karpf 1990). Zunächst hängt der Morphologieerwerb aber von einerkritischen Masse lexikalischer Elemente ab, welche den Erwerbsprozess überhaupt erst in Gang bringt(siehe Abschnitt 4). Das Lexikon vieler Migrantenkinder, insbesondere in Gruppe 1, war jedoch zuSchuleintritt noch so stark begrenzt (siehe Kapitel 7.1), dass auch morphologische Markierungen nochkaum ausgeprägt waren.

6.2.1.1 Verbalflexion

Zu Beginn unserer Studie überprüften wir die Präsens- und Perfektbildung einiger Verben wie malen,kochen, fahren und singen. Der größte Teil der Kinder mit türkischer L1 machte zu diesem Zeitpunktnoch von unflektierten Formen (Infinitiven) Gebrauch oder konnte die auf Bildkarten gezeigten Akti-vitäten gar nicht beschreiben. In den Gruppen 2 und 3 wurde die Präsensbildung von der Mehrheit derKinder beherrscht; bei der Perfektbildung dominierten Übergeneralisierungen. Auch in der Gruppeder erstsprachlich deutschen Kinder zeigten sich vereinzelt noch lernersprachliche Perfektformen, da-neben war im Präsens syntactic baby talk (z. B. Er tut singen.) besonders auffällig.

Die folgende Aufstellung gibt einen kurzen Überblick über verschiedene entwicklungsbedingteStrategien bei der Präsens- und Perfektbildung:

Präsens

• unflektierte Form (Infinitiv: singen, malen, kochen etc.)

• morphologisch inkorrekte Formen/Übergeneralisierungen: er sing, er autobust, er köcht

• syntactic baby talk: er tut schwimmen, er tut Fußball spielen, sie tut laufen etc.

Perfekt

• Präsensform + Temporaladverb: gestern fahrt, gestern singt sie, er kocht gestern immer

• Übergeneralisierungen mit Suffix -t oder Suffix -en, gelegentlich mit zusätzlichem Umlaut:gefahrt, gesingt, gelauft, geläuft, geschwimmt, gekochen, getanzen

• richtiges Suffix, aber falscher Stammvokal: gesingen, geläufen

• Verwendung einer inkorrekten Präteritum- statt Perfektform: gestern sie singte, sie schwimmte

Obwohl sich bereits im Laufe des ersten Schuljahres bei den meisten Kindern ein großer Kompetenz-anstieg bemerkbar machte (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2000), zeigt die Sprachproduktion der Mehrheitder Kinder mit anderer L1 als Deutsch auch im vierten Schuljahr noch deutliche Merkmale der turbu-lenten Zwischenphase des Spracherwerbs, die von Fluktuationen und Übergeneralisierungen geprägtist (siehe Abschnitt 3). Einige Kinder, speziell jene mit türkischer L1, haben noch Schwierigkeiten mitunregelmäßigen Perfektformen. Die größte Zahl an lernersprachlichen Formen im Bereich der Verb-morphologie findet sich im letzten Untersuchungsjahr (in den Gruppen 1 bis 3) jedoch bei der Bildungvon unregelmäßigen Präteritumformen. Im Folgenden einige Beispiele aus unserem großen Daten-pool zur schriftlichen Textkompetenz (siehe Abschnitt 10):

Teil I – Psycholinguistische Studie

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Der Hans hat die rote fische gefangt er hat ancl gezieht.

Der andern fische hat auch geseht

Im Wasser schwammten groß und kleine Fische.Ich schmeiste den angelschnur.Später fällte seine Kübel in den Fluss.Dann valte ich nach hinten und das Kübel fallte runter.Ein kleiner roter Fisch sah das Angel und beiste.Und die Fische verschwindeten.

Die kliene fisch lasste denn wurm nicht.Die großen Fischen nemnten den kleinen Fisch.Der Mann gingte traurig nach Hause.

Die Kinder mit deutscher L1 verfügen nach vier Jahren Volksschule über ein deutlich stabileres System imBereich der Verbalflexion als ihre MitschülerInnen mit anderen Erstsprachen. Dennoch treten auch in dieserGruppe noch vereinzelt entwicklungsbedingte Formen (wie die oben angeführten) auf, allerdings eher inspontanen Äußerungen, wie beispielsweise beim mündlichen Erzählen der frog story (z. B.: Als sie weit entfernt

von dem Haus waren, ruften sie in den Wald hinein . . . siehe Abschnitt 11).

6.2.1.2 Pluralbildung

Die Tests enthielten unterschiedliche Typen der Pluralbildung (z. B. Apfel, Hund, Katze, Maus, Buch,Radio, Park), wobei der Test im vierten Schuljahr nicht nur länger, sondern auch variantenreicher war.Dies erklärt die beinahe gleichbleibenden Werte der Kinder mit deutscher L1, welche bereits zu Schul-eintritt hohe Gesamtmittelwerte erzielten. Grundsätzlich gilt die deutsche Pluralbildung als schwierig,da fünf Typen unterschieden werden, die im Grunde aber keiner produktiven Regel unterliegen (vgl.dazu auch Karpf 1990: 121).

Die zu Schuleintritt mit Hilfe von Bildkarten elizitierten Daten lassen sich folgendermaßen kategorisieren:

• keine Äußerung/lautmalerische Benennung: wau-wau, miau-miau

• Numeralie + Nomen im Singular: zwei Hund, zwei Katze, zwei Maus etc.

• Übergeneralisierungen:

Präferenz für das Suffix -n (Apfeln, Hunden, Mausen, Fischen), aber auch Auftreten der Suffixe -e und -er

(Mause, Baume, Blumer) sowie von Umlaut +Suffix (Kätzen, Äpfeln, Bäumen) und Umlaut ohne Suffix(Bäum)

• korrekte Formen

6. Tests auf Deutsch

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1. Schuljahr 4. Schuljahr

Pro

zen

tuel

leM

itte

lwer

te

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40

60

80

100

Türkisch

BKS

andereMuttersprachen

Deutsch

Fig. 6.3: Pluralbildung: Vergleich 1. und 4. Schuljahr

Ein großer Teil der Kinder mit anderer Erstsprache als Deutsch – in Gruppe 1 durchschnittlich sogar86%, was auf erstsprachlichem Einfluss beruhen dürfte – bediente sich Numeralien in Verbindung mitder Wiederholung der von der Interviewerin vorgegebenen Nomen im Singular. In Gruppe 1 gab essogar einzelne Kinder, die sich mit lautmalerischen Benennungen behalfen, da sie auf Grund ihres ru-dimentären Lexikons vermutlich weder die Aufgabenstellung verstanden, noch die auf den Bildkartenabgebildeten Tiere richtig benennen konnten, obwohl die Singularformen von der Interviewerin vor-gesprochen wurden. Übergeneralisierungen, welche bereits auf eine selbständige Regelextraktion hin-weisen, wurden durchschnittlich nur von 4,6% der türkischsprachigen Kindern verwendet, ebenso wiekorrekte Formen.

Demgegenüber betrug der Anteil an Kindern, der zu Schuleintritt auch richtige Pluralbildungenproduzierte, in Gruppe 2 bereits durchschnittlich 48,1% und in Gruppe 3 51,9%.

Wie Fig. 6.3 illustriert, stieg die Kompetenz aller Probandengruppen vom ersten bis zum viertenSchuljahr im Gesamtdurchschnitt stark an. Die größte Zahl an noch lernersprachlichen Formen (auchin der Gruppe der Kinder mit deutscher L1) findet sich im vierten Schuljahr bei den Nomen Park undBus bzw. in Gruppe 1 auch bei Radio: z. B. Parke, Pärke, Büsse, Radion. Einzelne Kinder sind sich der fal-schen Pluralbildung sogar selbst bewusst und weisen darauf hin, dass sie die richtigen Formen nichtkennen. Die Pluralformen der Nomen Baum, Apfel, Buch, Tasche und Mann beherrschen die meistenKinder ganz ausgezeichnet. Sie bereiten lediglich einzelnen Kindern, insbesondere jenen mit türki-scher L1, noch Schwierigkeiten, was sich in Übergeneralisierungen bzw. lernersprachlichen Formenmanifestiert: Büch, Büche, Buchen, Büchern, Baume, Baumen, Bäumen, Männern, Täsche. In Ausnahmefällenwird aber noch wie im ersten Jahr die vorgesprochene Singularform wiederholt, selbst bei so frequen-ten Substantiven wie Mann oder Apfel.

6.2.1.3 Adjektivsteigerung

Die beiden folgenden Grafiken zeigen die erreichten prozentuellen Gesamtmittelwerte in allen unter-suchten Gruppen im ersten und vierten Schuljahr. [Fig. 6.4, 6.5]

In beiden Jahren wurde sowohl die Graduierung mit Hilfe von Suffixen als auch jene mit Hilfe vonSuppletivformen überprüft. Anzumerken ist, dass die Graduierung mit Hilfe von Suppletiven imDeutschen sehr selten ist, während die Graduierung mit Suffixen (wie beispielsweise in schnell – schneller

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Fig. 6.4: Graduierung mit Hilfe von Suffixen: Vergleich 1. und 4. Schuljahr

– am schnellsten) die Regel darstellt. Unsere Ergebnisse bestätigen die Priorität frequenter und transpa-renter Formen (siehe Abschnitt 3) einmal mehr: So beherrschen die ProbandInnen die Steigerung vonschnell im ersten wie im vierten Jahr deutlich besser als von viel. Letztere bereitet auch am Ende unsererStudie einigen Kindern mit anderer Erstsprache als Deutsch noch Schwierigkeiten, insbesondere dieBildung des Superlativs am meisten:

mehrsten, am vielsten, mehrer, vielst, noch viel, noch mehr

Generell wird der Komparativ in beiden Testungen besser beherrscht als der Superlativ. Dies deckt sichmit den Ergebnissen früherer Untersuchungen (vgl. z. B. Zangl 1998). Eine Ausnahme bildet aller-dings die Gruppe der Kinder mit türkischer Erstsprache, möglicherweise deshalb, weil die Steigerungvon Adjektiven im Türkischen ausschließlich lexikalisch erfolgt11.

6.2.2 Wortbildung

Die Wortbildung umfasst im Deutschen ein breites Spektrum an Ableitungsregeln und bietet daher fürSprachlernende eine gewisse Herausforderung. Generell unterscheidet man zwischen Komposition(Schneckenhaus) und Derivation (Häuschen). Durch Konversion hat man zusätzlich die Möglichkeit aufder Basis eines Wortes ohne formale Markierung ein Wort mit einer anderen Wortklassenzugehörigkeitabzuleiten (Haus – hausen). Für den Erwerb der Ableitungsregeln gilt, dass transparente, frequente,leicht zu verarbeitende sowie markierte Formen zuerst erworben werden. Um in der Wortbildung aktivwerden zu können, müssen Kinder in der Lage sein, Wörter in kleinere Einheiten zu segmentieren.Des Weiteren bedarf es des Erkennens von Regeln, nach denen diese Einheiten/Morpheme aus einemWort ein anderes machen.

Die Bildung von Komposita, z. B. Apfelbaum, Regenschirm, Blumentopf und Sonnenblume, konnte be-reits zu Schuleintritt von der Mehrheit der Kinder problemlos bewältigt werden. Die Derivation stellteindeutig den komplizierteren Bereich der Wortbildung dar. Angefangen bei der Ableitung einesNomens von einem Verb (Ein Mann, der Brot bäckt ist, ein Bäcker.) bis zur Ableitung eines Adjektivs von

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viel – mehr – am meisten

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Fig. 6.5: Graduierung mit Hilfe von Suppletiven: Vergleich 1. und 4. Schuljahr

11 Das bedeutet, dass die Steigerungsformen keine Ähnlichkeit mit der Grundform haben und wie „neue“ Wörter (Lexeme)aussehen, z. B. gut – besser im Deutschen.

einem Nomen (Die Hose des Bären hat viele Karos. Sie ist also kariert.) wurden verschiedene Wortbildungs-muster untersucht. Prinzipiell verwenden Kinder zuerst Suffixe und erst danach Präfixe. Daher fiel esihnen auch leichter, vom Verb malen der Maler abzuleiten, als vom Nomen Streifen gestreift zu entwickeln.

Abbildung 6.6 soll den deutlichen Zuwachs an korrekt genannten Ableitungen im Laufe der Jahreanhand der folgenden Beispiele zeigen:

Obwohl die Wortbildung nach wie vor ein Gebiet ist, in dem die Kinder starken Aufholbedarf aufwei-sen, sieht man hier markante Steigerungen. Vereinzelt gibt es sogar Kinder der Gruppe 2, welche dieAbleitung aller drei Adjektive beherrschen. Kariert konnte im vierten Schuljahr von einem Großteil derKinder korrekt produziert werden, während geblümt noch immer eine Hürde darstellt. Die Frequenz,mit der das jeweilige Zieladjektiv im Input der Kinder auftritt, spielt hier bestimmt eine wesentlicheRolle. Im schulischen Alltag ist nun einmal häufiger die Rede von karierten Heften als von geblümtenVorhängen. Überdies müssen Kinder bei der Ableitung von geblümt auch Veränderungen im Wortinne-ren vornehmen, was sie weniger gerne bzw. erst später tun (siehe Abschnitt 3). Die Kreation neuerWörter durch Suffigierung ist hier sicherlich dominant, und wenn Kinder Veränderungen im Wortin-neren vornehmen, werden diese zuerst häufig übergeneralisiert (z. B. wölklich).

Auch in der vierten Klasse ist die Instabilität des sprachlichen Systems der Kinder noch deutlichspürbar. Die Kinder verwenden beliebig verschiedenste Ableitungsmorpheme.

windig: windischbewölkt/wolkig: wolknisch, wölklich, wolknerisch, wolkelig, bewolktregnerisch: regnig, regig, regenig

Die Fähigkeit, von einem Wort ein anderes abzuleiten, ist für die Expansion des Wortschatzes essenti-ell. Hierbei gilt es einerseits, die Ableitungsmuster zu erkennen und in weiterer Folge auch richtig anzu-wenden, und andererseits die abgeleiteten Wörter auch in ihrer Bedeutung zu erfassen.

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Karos – kariert, Streifen – gestreift, Blumen – geblümt

Fig. 6.6: Wortbildung (Derivation): Vergleich 2. und 4. Schuljahr

6.3 Syntax

6.3.1 Fragebildung und Negation

Die Gruppe der Kinder mit deutscher Erstsprache beherrschte die im Rahmen unserer Untersuchungelizitierten Entscheidungs- und w-Fragen (z. B. Hast du einen Bruder oder eine Schwester? Kannst du Fahrrad

fahren? Wie alt bist du? Was isst du gerne?) zum Zeitpunkt ihres Eintritts in die Volksschule erwartungsge-mäß sehr gut. Die Kinder der Gruppen 2 und 3 demonstrierten ein ähnlich fortgeschrittenes Niveau;den mit Abstand niedrigsten Entwicklungsstand wiesen im Durchschnitt die Kinder mit türkischerErstsprache auf (siehe Fig. 6.7). Im Schnitt produzierte mehr als die Hälfte der Kinder dieser Gruppe(57,4%) entweder Äußerungen, die mit den zu bildenden Fragen so wenig Ähnlichkeit aufwiesen, dasssie für sich genommen unverständlich waren, oder verstand die Aufgabenstellung noch nicht. (BeiGruppe 2 traf dies nur auf 5% zu.) Die für das Deutsche typische Subjekt-Verb-Inversion wurde inGruppe 1 lediglich von 24% der ProbandInnen durchgeführt, während es in der zweiten Gruppe82,5% und in der dritten 78,8% waren.

Insgesamt gesehen trat die Inversion in Entscheidungsfragen bereits häufiger auf als in w-Fragen;diese Entwicklungsreihenfolge bestätigt die Ergebnisse anderer Studien (vgl. Slobin 1985, Zangl 1998).

Die folgenden Beispiele sollen dem Leser/der Leserin einen Einblick in den teilweise sehr unter-schiedlichen Entwicklungsstand der Kinder zu Schuleintritt geben:

• keine Reaktion; kaum Ähnlichkeit mit der korrekten Form

• reine Imitation der Interviewerin: Frag Florian, wie alt er ist?Wie alt er ist?

• Fehlen von Subjekt oder Prädikat

Wie alt du?

Was isst?

Kannst Fahrrad?

• noch keine Subjekt-Verb-Inversion

Wie alt du bist?

Was du esst?

Du kannst Fahrrad?

• Inversion erfolgt, aber noch Inkorrektheiten (z. B. Wortstellungsfehler, falsche Fragewörteroder Auslassen/falsche Platzierung von freien Adverbien wie gerne etc.)Wieviel hast du Jahre? Wie hast du Jahre?

Was isst du? Was esst du?

Was gerne isst du?

Kannst du fahren? Kannst du Fahrrad?

Hast du Bruder oder Schwester?

• korrekte Fragebildung (teilweise noch morphologische Inkorrektheiten)

Was esst du gerne?

Hast du eine Bruder oder eine Schwester?

Da es das Ziel der Testung im vierten Schuljahr war, die Kompetenz der Kinder direkt mit jener im ers-ten Untersuchungsjahr zu vergleichen, wurden analog zu damals lediglich einfache Entscheidungs-und w-Fragen gewählt. Wie zu erwarten, beherrschen die Kinder aller Gruppen am Ende des viertenVolksschuljahres die getesteten Fragen nun sehr gut. (Jedes andere Ergebnis wäre auch mehr als be-sorgniserregend.) Durchgehend 100% wurden allerdings lediglich von der Gruppe der Kinder mitdeutscher L1 und jener mit anderen Erstsprachen erreicht, obwohl eventuelle morphologische Inkor-

6. Tests auf Deutsch

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rektheiten, sofern die Syntax richtig war, nicht in die Bewertung miteinbezogen wurden. Nicht uner-wähnt darf bleiben, dass einige wenige Ausreißer unter den nicht erstsprachlich deutschen ProbandIn-nen noch Fragen wie z. B.: Stefan, wie alt du bist? oder Wie viel Jahre hast du? produzierten.

Bei der Negation liegen die Ergebnisse in allen untersuchten Gruppen – sowohl zum Beginn als aucham Ende unserer Studie – etwas hinter jenen bei der Fragebildung zurück. Ferner sind die Unter-schiede im Entwicklungsstand zwischen den Kindern mit deutscher Erstsprache und den anderen Pro-bandInnen etwas stärker ausgeprägt (siehe Fig. 6.8).

Im Rahmen der Testung waren einfache Sätze zu verneinen, wie z. B.:

Ich gehe gerne in die Schule.Ich kann schwimmen.Ich muss heute zum Zahnarzt gehen.

Mit der Entwicklung der Negation im natürlichen Zweitspracherwerb des Deutschen befassten sichzahlreiche Studien (einen Überblick gibt Ellis 1994: 99 ff.). Die folgenden Entwicklungsstufen, die je-nen des Erstspracherwerbs ähneln, konnten dabei festgestellt werden (vgl. Ellis 1994):1. Externe Negation

nein helfen

2. Interne NegationIch das nicht mach.

3. Negationspartikel wird hinter das Verb gestelltIch fallst nicht runter.

4. Negationspartikel auch nach direkten Objekten bzw. freien AdverbienIch gehe gerne nicht in die Schule. [Fig. 6.8]

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Fig. 6.7: Fragebildung: Vergleich 1. und 4. Schuljahr

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Fig. 6.8: Negation: Vergleich 1. und 4. Schuljahr

Wie bei der Fragebildung gab es, insbesondere in Gruppe 1, zu Schuleintritt noch viele Kinder, die ent-weder nicht auf die Aufgabenstellung reagierten bzw. lediglich von der Interviewerin Gesagtes wieder-holten. 18,5% der türkischsprachigen Kinder bedienten sich noch externer Negationen (während esbeispielsweise in Gruppe 2 nur 8,3% waren).

z. B. Nein, ich gehe in die Schule.

Etwa dieselbe Anzahl an Kindern der Gruppe 1 verwendete bereits interne Verneinungen mit einemhinter das Verb gestellten Negationspartikel (wobei die Sätze noch stark simplifiziert waren):

Ich gehe nicht. Ich gehe nicht Schule. Ich liebe nicht Schule.

In den Gruppen 2 und 3 wurden intern korrekt negierte und syntaktisch vollständige Sätze im Schnittbereits von 75,8% bzw. 61,6% der Kinder gebraucht. Schwierigkeiten zeigten sich insbesondere im Zu-sammenhang mit Richtungspräpositionen sowie bei der Platzierung der Negationspartikel in Sätzenmit freien Adverbien:

Ich gehe gerne nicht in die Schule.Ich muss nicht heute zum Zahnarzt gehen.

Wie bei den Tests zur Fragebildung wurde der Schwierigkeitsgrad auch bei der Negation in der letztenTestung im vierten Jahr an jenen des ersten Untersuchungsjahres angeglichen, um den Entwicklungs-stand der Kinder zu Beginn und am Ende der Volksschulzeit optimal vergleichen zu können. Obwohlsich erwartungsgemäß alle Gruppen gegenüber dem ersten Schuljahr klar steigern konnten, am deut-lichsten jene der Kinder mit türkischer L1 (siehe Fig. 6.8), haben einige Kinder nach wie vor großeSchwierigkeiten mit der korrekten Platzierung der Negationspartikel bei freien Adverbien, insbeson-dere in den Gruppen 1 bis 3. Weiters erwähnenswert (obwohl im Rahmen der Negation nicht in dieEvaluation einbezogen) sind auch am Ende des vierten Schuljahres die auffälligen Unsicherheiten dernicht erstsprachlich deutschen ProbandInnen mit Richtungspräpositionen, was leider die Vermutungnahelegt, dass es sich hierbei zum Teil bereits um Fossilisierungen handeln könnte, d. h. um in der Ler-nersprache fest verankerte inkorrekte Formen, z. B.:

zu der Kino, zum Kino, in Kino, zu Arzt.

Auch das Auslassen der Präpositionen kann noch beobachtet werden:

Ich gehe nicht gerne Arzt.Ich darf nicht Kino gehen.

6.3.2 Passiv

Prinzipiell werden Aktivstrukturen früher erworben als Passivstrukturen und treten in der kindlichenSprachproduktion auch wesentlich häufiger auf. Da aber Passivstrukturen im Deutschen eine im Ver-gleich zu anderen Sprachen hohe Frequenz aufweisen (z. B. höher als in den anderen im Rahmen dieserStudie untersuchten Sprachen), liegt die Vermutung nahe, dass sie auch vergleichsweise früh erworbenwerden. Das Verständnis von Passivsätzen beispielsweise steigt bei muttersprachlich deutschen Kin-dern beachtlicherweise bereits zwischen dem fünften und siebenten Lebensjahr auf das Niveau vonErwachsenen an (vgl. Zangl in Peltzer-Karpf et al. 1994).

Wie Untersuchungen gezeigt haben, sind reversible Passiva (z. B. Susi wird von Anna gewaschen.) in derRegel schwieriger zu interpretieren als irreversible (z. B. Der Fisch wird vom Krokodil gefressen.) und daher

6. Tests auf Deutsch

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wesentlich fehleranfälliger (vgl. u. a. Grimm 1975, Peltzer-Karpf und Zangl 1998, Zangl 1998). Letz-tere werden auch von muttersprachlichen Kindern erst mit sieben Jahren zuverlässig beherrscht (vgl.Zangl 1998: 162 ff.).

Die Testung dieses Teilbereichs erfolgte in allen Untersuchungsjahren nach den Prinzipien desICP- Tests12. Das heißt die Kinder wurden aufgefordert, Passivsätze1) nachzusprechen,2) mit Hilfe von zur Verfügung gestellten Holzfiguren nachzuspielen und3) eine von der Testperson vorgespielte Handlung mit Hilfe eines Passivsatzes zu beschreiben.

Zur Überprüfung von Imitation und Comprehension wurden reversible Passivkonstruktion gewählt(z. B. Der Hund wird von der Katze gebissen.), zur Überprüfung der Production irreversible Konstruktionen(z. B. Die Maus wird von der Katze gefressen.). Bei der Produktion wurde der Satzbeginn, z. B. Die Maus

. . . immer vorgegeben, um die Versuchung, einen Aktivsatz zu produzieren, möglichst gering zuhalten. Obwohl die für die Produktion gewählten Sätze einfacher waren, wurden hier durchwegsdie deutlich niedrigsten Werte in allen Gruppen erreicht (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2000/2001/2003).Die freie Produktion von Passivsätzen tritt in der Alltagssprache der Kinder selten auf, weshalbdie starke Tendenz bestand, trotz des vorgegebenen Satzbeginns einen Aktivsatz zu bilden. Am bes-ten schnitten bei der Produktion von Passivsätzen erwartungsgemäß die erstsprachlich deutschenKinder ab.

Das Nachsprechen der Passivsätze fiel den Kindern leichter: Die Gruppen 2 bis 4 erreichten im viertenSchuljahr (2003) jeweils einen prozentuellen Mittelwert von 100%. Den größten Kompetenzanstieg imVergleich zu den vergangenen Jahren konnte jedoch Gruppe 1 (L1 Türkisch) verzeichnen: Sie steigertesich von 18% zu Beginn des zweiten auf 89% am Ende des vierten Schuljahres. Auch beim Verständ-nis steigerten sich alle Probandengruppen im Laufe der Grundschulzeit im Durchschnitt deutlich,wenngleich niedrigere Werte erzielt wurden als bei der Imitation (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2000/2001/2003). Hier könnte ein Echoeffekt zum Tragen kommen, d. h., dass es für die Kinder (bis zu einer ge-wissen Satzlänge) einfacher war, Modellsätze nachzusprechen als diese korrekt nachzuspielen (vgl.dazu auch Peltzer-Karpf und Zangl 1998).

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Fig. 6.9: Passiv: Imitation und Verständnis reversibler sowie Produktion

irreversibler Konstruktionen, Vergleich 1. und 4. Schuljahr

12 ICP: imitation – comprehension – production

6.3.3 Relativsätze

Im Rahmen unserer Studie wurden unterschiedlich komplexe Relativkonstruktionen überprüft. Diefolgenden Diagramme zeigen den Erwerbsverlauf von Relativsätzen in satzfinaler Position mit Sub-jektfokus (z. B. Michael schimpft mit dem Hund, der die Katze beißt.) sowie von eingebetteten Relativsätzenmit Objektfokus (z. B. Die Katze, die der Hund jagt, klettert auf den Baum.). Untersucht wurden in beidenFällen sowohl die Imitationsfähigkeiten als auch die Verständnisleistungen.13

Relativsätze am Satzende werden in der Regel früher erworben als eingebettete, weiters bestehteine Präferenz von Subjekt- gegenüber Objektfokus (vgl. de Villiers et al. 1979, Slobin 1985, Peltzer-Karpf und Zangl 1998, Zangl 1998). Dies wird im Wesentlichen auch durch die Ergebnisse unsererUntersuchung bestätigt. [Fig. 6.10, 6.11]

Im Gegensatz zu reversiblen Passivkonstruktionen, welche von den Kindern besser nachgesprochenals verstanden wurden, ist hier das Gegenteil der Fall. Die Verstehensleistung der ProbandInnen lag inallen Testphasen zum Teil ganz erheblich über der Imitationsfähigkeit. Der Grund hierfür dürfte in derTatsache liegen, dass eine Satzlänge von mehr als zehn Elementen in aller Regel das Kurzeitgedächtnisüberfordert, weshalb eine neue Enkodierung des Satzes erforderlich ist. Dabei kommen aktive kogni-tive Prozesse zum Tragen, welche die Beispielsätze dem bestehenden Regelsystem entsprechend filtern

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Fig. 6.10: Relativsätze in satzfinaler Position mit Subjektfokus:

Imitation und Verständnis, Vergleich 2. und 4. Schuljahr

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Mitte2. Schuljahr

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Fig. 6.11: Eingebettete Relativsätze mit Objektfokus:

Imitation und Verständnis, Vergleich 2. und 4. Schuljahr

13 Die Untersuchungen wurden nach den gleichen Prinzipien wie beim Passiv durchgeführt.

und adaptieren bzw. modifizieren (vgl. Peltzer-Karpf und Zangl 1997). Der im Zusammenhang mitund adaptieren bzw. modifizieren (vgl. Peltzer-Karpf und Zangl 1997). Der im Zusammenhang mitdem Passiv erwähnte Echoeffekt spielt hier folglich keine Rolle.

Relativsätze wurden in den Probandengruppen mit anderer Erstsprache als Deutsch (in den Grup-pen 1 bis 3) erstmals am Beginn des zweiten Schuljahres überprüft. Der Entwicklungsstand der Pro-bandInnen wies zu diesem Zeitpunkt eine enorme Bandbreite auf. Nur 8,3% der Kinder mit türkischerL1 konnten die vorgesprochenen Relativsätze richtig interpretieren; in den Gruppen 2 und 3 waren es56,8% bzw. 50%, bei den Kindern mit deutscher L1 bereits 96%. Bei der Imitation produzierten 75%der türkischsprachigen Kinder Sätze, die kaum Ähnlichkeit mit den nachzusprechenden Sätzen aufwie-sen, bzw. konnten noch gar nicht auf die Aufgabenstellung reagieren; in Gruppe 2 handelte es sichhierbei nur um 10,8% der Kinder, in Gruppe 3 um 25%. Kein einziges Kind in Gruppe 1 war schon inder Lage, die Sätze korrekt wiederzugeben. Demgegenüber waren es in den Gruppen 2 und 3 13,5%bzw. 33,3% und 80% in Gruppe 4.

Einige Beispiele aus dem zweiten Schuljahr illustrieren, wie die Kinder die Relativsätze ihrem eige-nen Regelsystem entsprechend adaptierten bzw. sie umformulierten, um den Komplexitätsgrad derKonstruktionen zu verringern:

Stimulus: Franz schimpft mit der Katze, die den Hund beißt.

(1) Franz schimpft Katze und beißt Hund.

Dieses Kind hatte noch große Probleme bei der Enkodierung von in Relativsätzen dargestellten Sach-verhalten. Es konzentrierte sich auf das erstgenannte Nomen und ließ es die gesamte Handlung aus-führen.

Einigen Kindern bereitete das Verb schimpfen noch große Schwierigkeiten. In vielen Fällen wurde esdurch ein anderes, den Kindern bekanntes Wort ersetzt (2), was gravierende Veränderungen der Satz-bedeutung nach sich zog, oft wurde es auch fehlerhaft reproduziert (3).

(2) Franz schießt Hund, Katze beißt.(3) Franz schimpst mit der Hund und Hund beißt Katze.

Außerdem illustriert letzteres Beispiel die häufig beobachtbare Strategie, Relativstrukturen in durch und

koordinierte Sätze umzuwandeln.

Sehr oft konnte auch ein Ersetzen des Relativpronomens durch wenn beobachtet werden.

(4) Franz schimpft auf die Katze, wenn der Hund sie beißt.

Folgende Äußerung ist ein Beispiel für die, auf Grund der fortgeschrittenen Kompetenz, von einigenKindern bei der Umformulierung gezeigte Kreativität. Die wurde hier durch ein anderes, sieht manvon der fehlerhaften Kasusmarkierung ab, korrektes Relativpronomen ersetzt.

(5) Franz schimpft die Katze, welchen den Hund beißt.

Einige Kinder verwendeten eine Kombination aus Relativpronomen und was, ein Phänomen, das auchin einigen Dialekten beobachtbar ist.

(6) Franz schimpft mit der Katze, die was den Hund beißt.

Um den Komplexitätsgrad des Satzes zu verringern, wurde im folgenden Beispiel der Zielsatz ver-kürzt, indem der Relativsatz eliminiert wurde.

Teil I – Psycholinguistische Studie

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Stimulus: Die Katze, die der Hund jagt, klettert auf den Baum.

(1) Die Katze und der Hund klettern auf den Baum.

Jedoch war in wenigen Fällen auch das Weglassen von Teilen des Hauptsatzes zu beobachten, wienachfolgendes Beispiel zeigt:

(2) Die Katze, der Hund jagt.

Im nächsten Beispiel wurde der Hauptsatz korrekt wiedergegeben, jedoch der Nebensatz verändert,wobei das Relativpronomen weggelassen wurde.

(3) Die Katze, der Hund sie jagt, klettert auf den Baum.

Die folgenden Beispiele illustrieren, dass inkorrekte Reproduktionen der Modellsätze häufig auf Ka-sus- bzw. Genuskongruenzverstöße zurückzuführen waren:

(4) Die Katze, das den Hund jagt, klettert auf den Baum.(5) Die Katze, der der Hund jagt, klettert auf den Baum.(6) Die Katze, der die Hund jagt, klettert auf den Baum.

Viele Kinder ließen das erstgenannte Nomen die gesamte Handlung ausführen, was für die oben er-wähnte Präferenz von Subjektfokus gegenüber Objektfokus und eine on-line-Verarbeitung der Infor-mation spricht.

(7) Die Katze, die den Hund jagt, klettert auf den Baum.(8) Die Katze, die jagt, die klettert in Baum.(9) Die Katze jagt Hund und klettert Baum.

Auffallend war, dass sich die Modifikationen – vor allem bei den eingebetteten Relativsätzen – haupt-sächlich auf den Nebensatz konzentrierten und der Matrixsatz meist unverändert blieb, was dafürspricht, dass Satzbaupläne sukzessive erweitert werden, wobei in den Anfangsphasen der Matrixsatzvorrangig ist.

Bis zum Ende des vierten Schuljahres stieg die Kompetenz aller Probandengruppen deutlich, ins-besondere bei satzfinalen Relativsätzen mit Subjektfokus: Hier erreichen die Gruppen 2 und 3 nahezudenselben Gesamtdurchschnittswert wie die Kinder mit deutscher Erstsprache (siehe Fig. 6.10). Beiden eingebetteten Relativsätzen mit Objektfokus, die als schwieriger gelten (siehe oben), bleiben dieAbstände zwischen den Sprachgruppen größer (siehe. Fig. 6.11). Auch wenn gerade Gruppe 1 einengroßen Entwicklungsschub zu verzeichnen hatte, so befand sich ihr Gesamtdurchschnittswert in derMitte des zweiten Schuljahres (im Februar 2001) dennoch unter jenem der Gruppen 2 und 3. VieleKinder mit türkischer L1 verarbeiteten die im Modellsatz gegebene Information noch immer on-line

und ließen das erstgenannte Nomen die gesamte Handlung ausführen (siehe die Beispiele oben) odersie vertauschten die Rollen von Hund und Katze zur Gänze. Beides führt zu einer massiven Verände-rung der Satzbedeutung:

(10) Die Katze jagt den Hund, klettert in den Baum.(11) Die Katze, die den Hund jagt, klettert auf den Baum.(12) Die Katze jagt, der die klettert auf den Baum.(13) Die Katze jagt Hund, dass er Baum klettert.

6. Tests auf Deutsch

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Die häufigste Ursache für inkorrekte Reproduktionen unter den Kindern der Gruppen 1 bis 3 warengenerell Kasus- bzw. Genusverstöße, wodurch die Rollenverteilung im Satz oftmals nicht klar zumAusdruck kam:

(14) Die Katze, der der Hund jagt, klettert auf den Baum.(15) Die Katze, der die Hund jagt, klettert auf den Baum.(16) Die Katze, der den Hund jagt, klettert auf den Baum.

Im Gegensatz zu (14) scheint die Rolle der „Jägerin“ in (15) und (16) eher der Katze zugedacht zu sein.

6.3.4 Temporalsätze

Wie bei den Relativsätzen wurde die Imitations- und Interpretationsfähigkeit14, nicht aber die freie Pro-duktion überprüft. Auch bei den Temporalsätzen wurden Konstruktionen unterschiedlichen Schwie-rigkeitsgrades gewählt, zum einen Sätze, in denen die Äußerungsabfolge mit der tatsächlichen Ereig-nisabfolge korreliert (z. B. Der Vogel setzt sich auf deine Hand, bevor er davonfliegt.) und zum anderen solche,in denen dies nicht der Fall ist (z. B. Bevor Michael den Apfel isst, wäscht er sich die Hände.) Aus der For-schung ist bekannt, dass Temporalsätze, die eine Übereinstimmung von Äußerungsabfolge und tat-sächlicher Ereignisabfolge aufweisen, in der Regel einfacher sind, und dass bevor-Sätze in der Regel we-niger fehleranfällig sind als nachdem-Sätze (vgl. Trosborg 1981/1982, Zangl 1998, Peltzer-Karpf undZangl 1998). Dies bestätigt sich durch unsere Ergebnisse zum Teil. So erwiesen sich nachdem-Sätze imersten Schuljahr noch als fehleranfälliger; im letzten Schuljahr war das aber nicht mehr der Fall. Sätze,die keine Korrelation der Äußerungsabfolge mit der tatsächlichen Ereignisabfolge aufweisen, wurdenzwar etwas schlechter interpretiert, bei der Imitation jedoch schien das keine Rolle zu spielen.

Wie in 6.3.3 schon erwähnt, überfordert eine Satzlänge von zehn Elementen normalerweise dasKurzzeitgedächtnis, weshalb eine neue Enkodierung des Satzes erforderlich ist. Dabei werden dieModellsätze dem bestehenden Regelsystem entsprechend gefiltert und adaptiert. Dies soll durch fol-gende Beispiele aus dem ersten Schuljahr veranschaulicht werden:

Stimulus: Der Vogel setzt sich auf deine Hand, bevor er davonfliegt.

Gröbere Abweichungen in der morphologischen Anpassung und in der Syntax:

(1) Vogel setzt sich in deinen Hand und fliegt in den oben.(2) Die Vogel sitzt dein Hand, wo Vogel fliegt.

Geringfügige Abweichungen in der morphologischen Anpassung und in der Syntax:

(3) Der Vogel setzt sich auf die Hand, bevor er von fliegt.(4) Der Vogel setzt sich auf deinen Hand, vor er davon fliegt.

Die starken Abweichungen von den Modellsätzen in (1) und (2) führen zu einer massiven Veränderungder Satzbedeutung, während jene in (3) und (4) eine nur geringfügige Bedeutungsveränderung nachsich ziehen.

Fig. 6.12 und 6.13 zeigen den Kompetenzanstieg aller Gruppen vom ersten bis zum vierten Schuljahrsowie den Entwicklungsstand aller Probandengruppen am Ende unserer Studie an Hand von prozen-tuellen Mittelwerten.

Teil I – Psycholinguistische Studie

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14 Wiederum wurden die Untersuchungen nach den gleichen Prinzipien wie beim Passiv und den Relativsätzen durchgeführt.

Die noch größten Schwierigkeiten demonstrieren die Kinder mit türkischer Erstsprache, wobei dieUnterschiede zu den anderen Gruppen bei der Imitation wesentlich stärker ausgeprägt waren als beimSatzverständnis. So weisen die Reproduktionen von durchschnittlich rund 27% noch massive Verände-rungen der Satzbedeutung auf (Beispiele 5 und 6), die Adaptionen von 47% führten im Schnitt zu ge-ringfügigen Bedeutungsveränderungen (Beispiele 7 bis 9):

Stimuli:

Der Vogel setzt sich auf deine Hand, bevor er davonfliegt.

Bevor Michael den Apfel isst, wäscht er sich die Hände.

(5) Der Vogel sitzt in seinem Hand, wo er dann fliegt.(6) Von der Michael isst, da wascht er seine Hände.

(7) Der Vogel sitzt auf den Hand vor er wegfliegt.(8) Michael wascht seine Hand vor er den Apfel isst.(9) Der Vogel setzt sich auf seine Hand und der Vogel fliegt weg.

Rund 25% der erstsprachlich türkischen Kinder können die vorgesprochenen Temporalsätze am Endedes vierten Schuljahres korrekt wiedergeben. In den Gruppen 2 und 3 trifft dies durchschnittlich auf74% bzw. 64% zu; Gruppe 4 beherrscht die Imitation der Modellsätze zu 100%.

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0

20

40

60

80

100

Türkisch

BKS

andereMuttersprachen

Deutsch

Fig. 6.13: bevor-Sätze (Äußerungsreihenfolge und tatsächlicher Ereignisablaufstimmen nicht überein):

Imitation und Verständnis, Vergleich 1. und 4. Schuljahr

1. Schuljahr 4. Schuljahr

Pro

zen

tuel

leM

itte

lwer

te

0

20

40

60

80

100

Türkisch

BKS

andereMuttersprachen

Deutsch

Fig. 6.12: Temporalsätze: Vergleich 1. und 4. Schuljahr

6.4 Zusammenfassung

Viele Kinder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch kommen in der ersten Klasse Volksschulezum ersten Mal mit Deutsch in Berührung. Die systemlinguistische Beobachtung über vier Jahre zeigt,dass gerade diese Kinder Beachtliches geleistet haben: von anfänglich noch überwiegend nonverbalerKommunikation bis hin zur Fähigkeit, einfache schriftliche Erzählungen zu verfassen.

Bei genauerer Betrachtung der Detailergebnisse wird allerdings eine große individuelle Variationersichtlich.

Die Ergebnisse in der Systemlinguistik zeigen, dass am Ende des vierten Jahres alle Kinder ein-fache morphosyntaktische Strukturen beherrschen und über einen soliden Grundwortschatz imDeutschen verfügen. Der Umgang mit komplexeren Aufgabenstellungen, die eine höhere Flexibilitätund Präzision verlangen, in der Morphosyntax wie im Lexikon, gibt einen genaueren Einblick in denEntwicklungsstand der einzelnen Kinder und verdeutlicht die zum Teil großen Kompetenzunter-schiede, sowohl zwischen den einzelnen ProbandInnen als auch zwischen den Sprachgruppen. DieGruppe der Kinder mit türkischer Erstsprache hat zwar insgesamt gesehen den bei weitem größtenWachstumsschub zu verzeichnen, erreichte aber dennoch in sämtlichen Untertests die niedrigstenWerte.

In Bezug auf die morphosyntaktische Kompetenz der Kinder ist besonders auffällig und ebenso er-freulich, dass sich der sprachliche Entwicklungsstand der untersuchten Sprachgruppen im Vergleich zuden ersten Untersuchungsjahren stark angenähert hat. Der Abstand vergrößert sich jedoch deutlichmit dem Schwierigkeitsgrad der getesteten Bereiche. In der Gruppe der Kinder mit türkischer Mutter-sprache liegt der sprachliche Entwicklungsstand einzelner Kinder immer noch erheblich hinter den an-deren zurück. Dies manifestiert sich auch in der Standardabweichung, die in dieser Gruppe deutlichhöher ist als in den anderen Probandengruppen (am geringsten ist sie in der Gruppe der erstsprachlichdeutschen Kinder).

Die vergleichsweise noch größten Schwierigkeiten haben die Kinder mit anderer L1 als Deutschbei schwierigen morphologischen Markierungen, wie beispielsweise im Zusammenhang mit Präposi-tionen. Hier dauert die turbulente Zwischenphase des Spracherwerbs schon so lange an, dass die Ver-mutung, es handle sich bereits um Stagnation und damit verbunden um fossilisierte Formen, leidernahe liegt.

Teil I – Psycholinguistische Studie

82

0

20

40

60

80

100

Pro

zen

tuel

leM

itte

lwer

te

Türkisch

BKS

andereMuttersprachen

Deutsch

1. Schuljahr 3. Schuljahr 4. Schuljahr2. Schuljahr

Fig. 6.14: Wachstumsschübe in Morphologie und Syntax:

Vergleich 1. bis 4. Schuljahr

Die erstsprachlich türkische Probandengruppe ist hinsichtlich der Beschaffenheit ihres Lexikonssehr heterogen; einige Kinder sind beispielsweise in der Lage, verschiedene Objekte problemlos zu de-finieren, Überbegriffe zu nennen, Verwandtschaftsbeziehungen zu beschreiben, andere wiederum ha-ben zum Teil noch immer Schwierigkeiten, selbst alltägliche Objekte oder Gegensatzpaare zu benen-nen. Ebenso scheint ihr passiver Wortschatz stark limitiert zu sein, da ihnen häufig das Verstehen vonArbeitsaufgaben Probleme bereitet.

Beim Großteil der Kinder mit den Erstsprachen BKS ist bis zum vierten Schuljahr ein deutlicherZuwachs an Einträgen im Lexikon zu beobachten. Semantisch komplexere Begriffe sind jedoch teilsnoch nicht in ihrer Bedeutungsgesamtheit erworben und werden daher gelegentlich übergeneralisiert.Die Gruppe der Kinder mit anderen Erstsprachen weist in manchen Bereichen ein gut entwickeltesLexikon auf, in anderen weniger (vgl. das Wortfeld der Tiere). Die Ergebnisse verdeutlichen die Unter-schiedlichkeit der einzelnen Kinder in dieser Gruppe einmal mehr. Der Großteil der Kinder ist jedochzu kompetenten SprecherInnen herangewachsen, die in der Lage sind, sprachliche Barrieren durchverschiedenste Strategien zu überbrücken. Bedenklich scheint uns aber dennoch die Tatsache, dass wirbei einigen wenigen Kindern eine gewisse Stagnation der lexikalischen Entwicklung feststellen muss-ten. Fossilisierte Formen treten hier besonders häufig auf.

6. Tests auf Deutsch

83

7. Tests auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch

7.1 Lexikon

Um einen Überblick über die lexikalische Entwicklung der Kinder im Verlauf der vier Testjahre zu ge-ben, werden die Teilbereiche Bildung von Überbegriffen, das Beschreiben von Begriffen und die Be-schreibung der Bildgeschichte Frog, where are you? herangezogen.

7.1.1 Paradigmatische und syntagmatische Relation

Zur Beurteilung des aktiven Wortschatzes wurde der Teilbereich Überbegriffe im ersten, zweiten undvierten Schuljahr untersucht und die Ergebnisse miteinander verglichen. Bei dieser Aufgabe sollten dieKinder die auf den Kärtchen befindlichen Abbildungen benennen und anschließend den entsprechen-den Überbegriff, der diese Gruppe von Kärtchen umfasst, finden. Im vierten Schuljahr wurden nocheinmal die Wortfelder povrće (Gemüse) und namještaj/nameštaj (Möbel) getestet, da die Kinder hier imersten Schuljahr die größten Lücken aufwiesen. Dabei wurden wiederum das Benennen der einzelnenObjekte sowie die Nennung der Überbegriffe ausgewertet.

7.1.1.1 Das Benennen von Objekten

In der folgenden Tabelle werden zunächst nur die Ergebnisse der Benennung der einzelnen Objektefür das Wortfeld namještaj/nameštaj (Möbel) im Vergleich präsentiert:

Objekte 1. Testjahr 76% 4. Testjahr 87%

0 1 2 0 1 2

stolica (Sessel) 17% – 83% – – 100%

ormar (Kasten) 51% 6% 43% 19% 32% 48%

stol (Tisch) 6% 3% 91% – – 100%

krevet (Bett) 11% – 89% – – 100%

Tab. 7.1: Das Benennen der einzelnen Objekte im Vergleich

Legende:0 = deutsches Wort1 = inkorrekte Nennung2 = korrekte Nennung

Vergleicht man die Ergebnisse der beiden Schuljahre, lässt sich insgesamt ein Fortschritt erkennen, al-lerdings beim Begriff ormar (Schrank/Kasten) nur in geringem Ausmaß. Dabei zeigt sich, dass die Kin-der im vierten Schuljahr vor allem auf semantisch ähnliche Worte ausweichen und dafür weniger häu-fig das entsprechende deutsche Lexem verwenden. Ähnliche Begriffe wie regal, kastlić wurden am häu-figsten bei der Benennung von ormar verwendet.

7.1.1.2 Nennung der Überbegriffe

Die folgende Tabelle stellt die Nennung verschiedener Überbegriffe im Verlauf der vier Jahre dar, wo-bei jedoch nicht alle durchlaufend getestet wurden:

84

Überbegriffeigračke

(Spielsachen)

životinje

(Tiere)

voće

(Obst)

povrće

(Gemüse)

namještaj/nameštaj

(Möbel)

1. Schuljahr 67% 58% 5% 13%

2. Schuljahr 82% 18%

4. Schuljahr 58% 35% 13%

Tab. 7.2: Korrekte Nennungen der Überbegriffe: Vergleich 1., 2. und 4. Schuljahr

Während beim Überbegriff povrće (Gemüse) ein kontinuierlicher Anstieg der richtigen Nennungennachzuweisen ist und auch für den Überbegriff životinje (Tiere) vom ersten zum zweiten Testjahr eindeutlicher Fortschritt zu beobachten ist, findet sich beim Überbegriff namještaj/nameštaj (Möbel) eineunverändert geringe Anzahl von korrekten Nennungen (13%) im ersten und vierten Jahr. Dabei wur-den lexikalische Lücken häufig mit deutschen Lexemen oder Ausdrücken wie soba (Zimmer), stvari (Sa-chen), uređaj (Gerät) für namještaj/nameštaj (Möbel) ausgefüllt.

Es zeigt sich, dass der Bekanntheitsgrad der Überbegriffe životinje (Tiere), igračke (Spielsachen) undvoće (Obst) hoch ist, während die Überbegriffe povrće (Gemüse) und insbesondere namještaj/nameštaj

(Möbel) den Kindern nur wenig geläufig sind.Insgesamt lässt sich sagen, dass es den Kindern leichter fiel, die einzelnen Objekte zu benennen, als

den entsprechenden Überbegriff zu finden, wobei der jeweilige Bekanntheitsgrad für die unterschied-lichen Ergebnisse mitbestimmend sein dürfte.

7.1.2 Das Beschreiben von Begriffen

Um einen differenzierteren Einblick in die Entwicklung der lexikalisch-semantischen Kompetenz zugewinnen, wurde wie im deutschen Test der Word Definition Task in Anlehnung an Verhallen undSchoonen (1993) im zweiten und dritten Schuljahr durchgeführt. Dabei wurden die Kinder gebeten,die von der Interviewerin vorgegebenen Begriffe möglichst genau zu beschreiben. Zusätzlich wurdendie Unterschiede im Lexikon zweisprachiger und einsprachiger Kinder verglichen.15 Die gewählten Be-griffe (zweites Schuljahr: Nase, Buch, Geheimnis; drittes Schuljahr: Baum, Messer) wurden der Erfah-rungswelt der Kinder entnommen.

Das Diagramm Fig. 7.1 zeigt die unterschiedliche Qualität des Lexikons der Test- und Kontrollgruppe.

Zu dem Begriff drvo (Baum) bildete nur eines von den 34 Kindern der Testgruppe die Superordinatebiljka (Pflanze). Je ein weiteres Kind nannte priroda (Natur) und biće (Wesen). Da viele Kinder denÜberbegriff biljka (Pflanze) nicht kannten, wurde häufig cvijet/cvet (Blume) oder cvijeće/cveće (Blumen)genannt. Neben der Verwendung des deutschen Lexems Pflanze und fehlender Reaktion assoziiertendie Kinder den Begriff drvo (Baum) auch mit Vogel, Motorsäge und scharf. Aus diesen Assoziationen lässtsich schließen, dass den Kindern das Konzept der Superordinate vermutlich unbekannt ist.

Auf die Frage, welche Baumarten es gäbe, erfolgte nur selten die Antwort durch einen Unterbe-griff. Meist wichen die Kinder der Testgruppe auf Paraphrasen aus, die häufig eine ausgeprägt norm-abweichende Morphosyntax aufwiesen:

� Ima tamo što raste jabuke, ondak što raste kivi, ima što rastu kastanije i još ima Birne.(Es gibt dort was, was wächst, (also) Äpfel, dann was, was wächst, (also) Kiwi, es gibt Kastanien,die wachsen, und dann gibt es noch Birnen.

7. Tests auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch

85

15 Als Kontrollgruppe wurden im 3. Laufjahr zehn gleichaltrige Kinder in Lukavac (Bosnien und Herzegowina) nach demModell der in Wien durchgeführten Tests untersucht.

� Ima trešnja, onda ima drvo za jabuke, onda ima drvo za kruške, drvo za šljive.(Es gibt die Kirsche, dann gibt es einen Baum für Äpfel, dann einen Baum für Birnen, einenBaum für Zwetschken.)

� Ähm, od jabuke, od banane, od Zwetschke, trešnje.(Ähm, vom Apfel, von der Banane, von der Zwetschke, Kirsche.)

� U drvo ima jabuke.(Im [!] Baum gibt es Äpfel.)

� Ima jabuka drvo.(Es gibt einen Apfel Baum.)(Versuch einer Kompositabildung wie im Deutschen)

Im Gegensatz zur Bildung von Super- und Subordinaten (Über- und Unterbegriffen) fiel es den Kin-dern leichter, Konstituenten (Bestandteile) von drvo zu finden. Mit größerer Häufigkeit wurden Blätterund verschiedene Fruchtarten und selten Rinde, Ast und Wurzel (meist auf Deutsch) genannt. WeitereTeile kamen nicht vor. Wo lexikalische Lücken bestanden, wichen die Kinder auf Paraphrasen aus:

(1)Int: Od čega se sastoji drvo? (Woraus besteht ein Baum?)Ivica: . . . od kao male, kao izgleda kao bombonica mala i tu i ovde staviš da kopašu zemlju i

onda će da raste.(. . . wie aus sowas Kleinem, wie, das schaut aus wie ein kleines Zuckerl, und da und hiersteckst du‘s her, um [es] in die Erde zu graben und dann wird es wachsen.)

Int: A šta ima još na drveću?(Und was gibt es noch auf den Bäumen?)

Ivica: Ima što ptice prave.(Es gibt, was die Vögel machen.)

Insgesamt ist der syntagmatische Bereich besser entwickelt als der paradigmatische. Am leichtesten fieles den Kindern, räumliche und visuelle Bezüge herzustellen, auch die Aufzählung von Produkten, dievon einem Baum hergestellt werden können, bereitete keine Probleme.

Teil I – Psycholinguistische Studie

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Mit

telw

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der

Nen

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en

Testgruppe

Kontrollgruppe

0

1

2

3

4

drvo/Baum

a b c d e f g h i j k ml

Fig. 7.1: Word Definition Task

Legende:

a = Superordinate e = räumlich h = Funktion k = Paraphrasenb = Subordinate f = visuell i = Produkt l = semantisch inkorrektc = Konstituenten g = Eigenschaft j = persönlich m= deutsche Wörterd = Kohyponyme

Neben besseren Ergebnissen der Kontrollgruppe auf der paradigmatischen Ebene finden sich imUnterschied zur Testgruppe erwartungsgemäß keine Paraphrasen, die zum Füllen der lexikalischen Lü-cken dienen, und nur wenige semantisch inkorrekte Äußerungen.

Beim Begriff nož (Messer) waren die Nennungen im paradigmatischen Bereich bis auf die Konstituen-ten sehr gering, was ungefähr dem Ergebnis bei drvo (Baum) entspricht. Im syntagmatischen Bereichhingegen waren sie besonders in den Kategorien visuell und funktional häufig:

(2)Sanja: Pa oštar je, ono dole mu je od drveta, pa ima jakih nožova što su puno oštri, pa nož

može da se upotrijebi da siječe, pa i za drvo, pa grančice ovake da sječu.(Es ist scharf, das da unten ist aus Holz, und dann gibt es kräftige Messer, die sehrscharf sind, und man kann ein Messer zum Schneiden verwenden, und auch fürs Holz,und um solche kleinen Äste zu schneiden.)

Int: Kakvih vrsta ima?(Was gibt es für Messerarten?)

Sanja: Puno oštrih, pa ima tupih, pa ima velikih, onih ovolikih debelih, pa dole špic, onda malihslabih, ima malih ali puno oštri, pa ima i čakija.(Viele scharfe, dann gibt es stumpfe, dann gibt es große, solche großen dicken, untenspitz, dann kleine schwache, es gibt kleine, aber sehr scharfe, und es gibt Taschen-messer.)

Lexikalische Lücken werden auch durch syntaktisch-semantische Paraphrasen gefüllt:

� Ima drvo gore pa se može držati i onda još se more to je flach i onda se more s tim da se kruhmaže s puterom.(Es hat ein Holz oben, da kann man es halten und dann kann man noch, das ist flach und mankann dann damit Brot mit Butter bestreichen.)

� Dolje se može držat a gore se može posjeći. (Unten kann es gehalten werden und oben kann esschneiden.)

7. Tests auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch

87

Mit

telw

erte

der

Nen

nu

ng

en

Testgruppe

Kontrollgruppe

0

0,5

1

1,5

2

no /Messerž

a b c d e f g h i j k l

Fig. 7.2: Word Definition Task

Legende:a = Superordinate d = Kohyponyme g = Eigenschaft j = Paraphrasenb = Subordinate e = räumlich h = Funktion k = semantisch inkorrektc = Konstituenten f = visuell i = persönlich l = deutsche Wörter

Die starke Dominanz der Zweitsprache lässt sich bei der Verwendung deutscher Wörter (z. B. Besteck,Taschenmesser, Ding, Silber, Geschirr usw.) und auch beim Versuch einer Kompositabildung wie imDeutschen beobachten:

(3)Int: Koje sve vrste noževa poznaješ?

(Welche Arten von Messern kennst du?)Marko: Mesni, mesni nož, pa voćni nož, pa povrćni nož.

(Ein Fleisch-, ein Fleischmesser, dann ein Obstmesser, dann einGemüsemesser.)

Die Bildung der Komposita ist im Serbokroatischen nicht so stark ausgeprägt wie im Deutschen. Diemeisten Komposita müssen durch komplexe Nominalphrasen wiedergegeben werden: nož za rezanje

voća (Messer zum Schneiden von Obst) statt voćni nož.Das Lexikon der einsprachigen Kinder in Lukavac ist sowohl qualitativ als auch quantitativ besser

entwickelt. Neben der syntagmatischen Ebene, die auch bei den zweisprachigen Kindern gut entwi-ckelt ist, bedienen sich die Kinder auch der paradigmatischen Ebene, um einzelne Begriffe zu beschrei-ben. Die Kontrollgruppe zeigt bessere Ergebnisse in Bezug auf die Bildung von Über- und Unterbe-griffen. Paraphrasen und semantisch inkorrekte Äußerungen treten seltener auf.

Vergleicht man diese Ergebnisse mit jenen des zweiten Schuljahres, so fällt auf, dass die Kinder derTestgruppe bereits häufiger über Super- und Subordinaten verfügen, allerdings unter Verwendungdeutscher Lexeme, was auf die Dominanz des deutschsprachigen Unterrichts zurückzuführen ist.Außerdem ist eine Zunahme an Paraphrasen und an semantisch inkorrekten Antworten festzustellen.

7.1.3 Die Qualität des Wortschatzes

Anhand der frog story wurde auf der lexikalischen Ebene untersucht, über welche sprachlichen Mitteldie Kinder verfügen, um einzelne Szenen zu beschreiben. Mit Hilfe einiger Szenenbeschreibungen sol-len verschiedene Charakteristika in der lexikalischen Entwicklung herausgegriffen werden.

In der Versprachlichung der Szenen werden Unterschiede in der individuellen Entwicklung des Le-xikons deutlich. Einige Kinder sind in ihrer lexikalischen Entwicklung bereits weiter fortgeschritten,was man an der differenzierteren Wortwahl erkennen kann. Besonders auffällig ist das bei der Benen-nung der Tierarten.

Bienen werden dabei richtigerweise als pčele (Bienen) oder aber als ose (Wespen) bezeichnet. In eini-gen Fällen müssen sich Kinder jedoch mit Paraphrasen behelfen, um lexikalische Lücken zu füllen:

� Kuca skoči, nešto šta bodaju, šta radu med.(Der Hund springt, etwas, die stechen, die Honig machen.)

Sehr oft wurde die Verwendung semantisch ähnlicher Begriffe wie z. B. bube (Käfer), mušice (Fliegen)oder zuje (Summchen) beobachtet. Eine weitere Strategie war die Verwendung der aus der deutschenSprache übernommenen Lexeme:

� . . . đe ima puno onih Wespenen, Bienen, to je ko oni tamo.(. . . wo es viele Wespen gibt, Bienen, das ist wie die dort drüben.)

Anders als bei pčele (Bienen) ist der Begriff krtica (Maulwurf) den meisten Kindern jedoch noch unbe-kannt. Nur ein Kind unter den ProbandInnen konnte dieses Tier richtig benennen. Die Mehrheit derKinder verwendet anstelle von krtica (Maulwurf) Begriffe für ähnlich aussehende Tiere wie miš (Maus)

Teil I – Psycholinguistische Studie

88

und hrčak (Hamster). Manche Kinder haben den noch nicht erworbenen Begriff krtica (Maulwurf)durch den Oberbegiff životinja (Tier) ersetzt. Der Begriff sova (Eule) wurde nur von wenigen Kindernin der Muttersprache genannt: Ein Kind bezeichnete sova (Eule) als ptica (Vogel), aber am häufigstenverwendeten sie das deutsche Lexem Eule. Es gab aber auch Kinder, die diese Szene einfach ausließen.

Neben den deutschen Wörtern Hirsch, Reh, Rentier, Pferd, Stier, Bock für den Begriff jelen (Hirsch)fanden sich hier häufig auch korrekte muttersprachliche Benennungen. Vereinzelt wurde der fehlendeBegriff durch den Überbegriff velika životinja (großes Tier), jedna životinja (ein Tier) ersetzt. Ein Kindbezeichnete den Hirsch (jelen) als majmun (Affe).

Während der Begriff pčelinjak (Bienenstock) im Lexikon der Kinder fehlt, wurde šuma (Wald) häufi-ger genannt, wobei auch hier die Strategie der Umschreibung zur Anwendung kommt:

� Pas oborio kuću od pčele.(Der Hund hat das Haus von den Bienen umgeworfen.)

� I onak je ono palo đe su osovi unutra.(Und dann ist das umgefallen, wo die Wespen drinnen sind.)

� Filip je išo, Filip je otišo . . . di ima puno drve i cvijeća i cuko isto.(Filip ist gegangen, ist dorthin gegangen, . . . wo es viele Bäume und Blumen gibt.)

In der Szene mit den Bienen sollte das Verb letjeti/leteti (fliegen) mit steigendem Sprachniveau zuneh-mend die Basisbewegungsverben ići (gehen) bzw. trčati (laufen) ersetzen. Dieses Verb wurde allerdingssehr selten in diesem Zusammenhang verwendet. Hier verwendet das Kind trčati (laufen) anstelle vonletjeti/leteti (fliegen).

� Bienen trče po kucu.(Die Bienen laufen dem Hund nach.)

Im folgenden Beispiel kann man erkennen, dass die Feindifferenzierung in manchen Bereichen nochnicht abgeschlossen ist. Oft wurde auch das Verb izaći (herauskommen) anstelle von izletjeti/izleteti

(herausfliegen) verwendet:

� Sve pčele izađu i hoćeju da ga teraju.(Alle Bienen kommen heraus und wollen ihn jagen.)

Es zeigt sich, dass sich die Kinder große Mühe gegeben haben, die Bildgeschichte in ihrer Mutterspra-che zu erzählen. Da ihr Wortschatz aber noch etliche Lücken aufweist, hatten sie bei anspruchsvollerenInhalten Schwierigkeiten, die gewünschten Informationen zum Ausdruck zu bringen. Sie verwendetendabei am häufigsten die Strategie der Umschreibung, wobei jedoch durch zusätzliche morphosyntakti-sche Abweichungen Verständnisschwierigkeiten auftraten. In weiterer Folge wurde auch das Ersetzenfehlender Begriffe in ihrem Lexikon durch entsprechende deutsche Lexeme vielfach beobachtet. Eineweitere Strategie war das Auslassen einzelner Handlungssequenzen. Die Unterschiede in der indivi-duellen Entwicklung des Lexikons sind besonders bei der Benennung der einzelnen Tiere und bei derVerwendung von Bewegungsverben sichtbar, wobei bei allen Kindern die Feindifferenzierung in man-chen Bereichen noch nicht zur Gänze abgeschlossen ist.

Insgesamt lässt sich sagen, dass sich die Kinder im Verlauf unserer Untersuchung in den getestetensystemlinguistischen Teilbereichen Überbegriffe und Begriffsbeschreibung verbessert haben, währendmittels der frog story im vierten Schuljahr die aktuelle lexikalische Kompetenz beurteilt werden sollte. Dabeistellte sich heraus, dass ihnen die Benennung einzelner Objekte leichter fiel als die Bildung der entspre-chenden Überbegriffe. Dabei dürfte der jeweilige Bekanntheitsgrad für die unterschiedlichen Ergebnissemitbestimmend sein. Bei der Beschreibung von Begriffen sind die syntagmatischen Relationen besser aus-

7. Tests auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch

89

geprägt als die paradigmatischen. Weiters zeigte die Auswertung der frog story, dass die Kinder bei einer aus-geprägten Erzählmotivation große Lücken im Lexikon aufwiesen, welche in erster Linie durch Umschrei-bung oder Verwendung deutscher Lexeme ausgefüllt wurden, wobei letzteres auf den deutschsprachigenInput im Unterricht zurückzuführen ist. Wenngleich größere individuelle Unterschiede auftraten, wurdedoch sichtbar, dass bei den meisten Kindern die Feindifferenzierung im Lexikon noch nicht gegeben ist.

7.2 Morphologie

Von den im Laufe unserer Studie getesteten morphologischen Teilbereichen sollen hier nur die Deriva-tion und die Pluralbildung einer näheren Betrachtung unterzogen werden.

7.2.1 Derivation

In diesem Testbereich wurde überprüft, inwieweit die Kinder in der Lage sind, Wörter von einer Wort-art in eine andere abzuleiten, d. h. ausgehend von einer durch ein Verb bezeichneten Handlung denProtagonisten dieser Handlung sprachlich zu benennen. Da im ersten Schuljahr die Ergebnisse in die-sem Teilbereich besonders schlecht ausgefallen waren, wurde dieser Bereich im vierten Jahr nochmalsgetestet. Dazu wurden dieselben Bildkarten gezeigt, auf denen eine Verkäuferin, eine Sängerin, einMaler, ein Maurer und ein Schauspieler bei ihrer Tätigkeit dargestellt sind. Zuerst wurden die Kindernach der Handlung und anschließend nach der Bezeichnung für die Frau/den Mann, die/der die ent-sprechende Tätigkeit ausführt, befragt. Dabei wurden die Wortbildungsmorpheme -ac und -ar für dasmännliche und -ica für das weibliche Geschlecht herausgegriffen. Bei glumac (Schauspieler) wird vomPräsensstamm (3. Person Plural) die Endung -e abgeworfen (glum-e) und das Suffix -ac angefügt, hinge-gen bei zidar (Maurer) das Suffix -ar an den Infinitivstamm angehängt. Bei prodavačica (Verkäuferin)bzw. pjevačica/pevačica (Sängerin) wird die Infinitivendung des Verbs abgeworfen und die Endung -ač fürdas männliche Geschlecht und zur Kennzeichnung der weiblichen Person das Suffix -ica hinzugefügt(vgl. Babić 1986).

Die folgende Tabelle zeigt die erreichten prozentuellen Mittelwerte bei der Aufgabe, von vorgegebe-nen Verben Nomen abzuleiten:

0 1 2 3

1./4. Schuljahr 1. Jahr 4. Jahr 1. Jahr 4. Jahr 1. Jahr 4. Jahr 1. Jahr 4. Jahr

Derivativa 58% 21% 14% 8% 10% 20% 18% 34%

Tab. 7.3: Derivativa: Prozentuelle Gesamtmittelwerte, Vergleich 1. und 4. Schuljahr

0 = deutsches Wort; Wiederholung des Verbs: pjeva/peva (singt)1 = semantische Ähnlichkeit mit dem Zielwort: majstor (Meister) statt zidar (Maurer)2 = morphologische inkorrekte Produktion des Zielwortes: pevača, predačica, glumar

3 = korrekte Produktion

Im vierten Schuljahr waren 34% der Kinder in der Lage, die gefragten Derivativa zu bilden; in einembesonders hohen Ausmaß von 90% für pjevačica/pevačica (Sängerin). Weitere 30% benötigten zurLösung der Aufgabe Hilfestellung bzw. die Bezeichnung der dargestellten Tätigkeit. Vergleicht man dieErgebnisse des ersten und vierten Schuljahres miteinander, so ergibt sich in Bezug auf die korrekteAbleitung insgesamt eine Verbesserung um ca. 16%, die bei pjevačica/pevačica (Sängerin) mit nahezu50% am auffallendsten erscheint. Im Falle von slikar (Maler) und prodavačica (Verkäuferin) fand sicheine korrekte Bildung der Derivativa zu einem geringen Prozentsatz erst am Ende der Studie. Lediglich

Teil I – Psycholinguistische Studie

90

bei dem Wort glumac (Schauspieler) zeigte sich im Vergleich zum Anfang der Studie nun ein schlechte-res Ergebnis. Gleichzeitig findet sich hier im Gegensatz zu den übrigen Wörtern eine Zunahme se-mantisch ähnlicher Wörter, z. B. pjevač/pevač (Sänger), princ (Prinz). Im Fall von prodavačica (Verkäuferin)fällt auf, dass die ProbandInnen vermehrt versuchen, das Zielwort vom vorgegebenen Verb abzulei-ten, wenn auch in Form morphologisch inkorrekter Morphembildungen:

� prodavačica: prodavanica, prodača, prodavica, prodajka, prodajnica, predačica, prodavčica,prodajica, prodrovnica, prodejica, prodakinja

Diese Tendenz lässt sich auch bei slikar (Maler) und zidar (Maurer) feststellen:

� slikar: bojac, slikavač, farbačzidar: zidač, zidarč, zidac, zazidavač

Außerdem fällt auf, dass im vierten Schuljahr im Vergleich zum ersten Schuljahr die Strategie der Wie-derholung oder Verwendung deutscher Wörter um 37% weniger angewandt wird. Dafür findet sichentsprechend häufiger die Strategie morphologisch inkorrekter bzw. korrekter Produktion des Ziel-wortes mit der oben angeführten Ausnahme glumac (Schauspieler).

Insgesamt hatten die Kinder mit Ausnahme von pjevačica/pevačica (Sängerin) doch erheblicheSchwierigkeiten, das entsprechende Wort mit Hilfe eines Ableitungsmorphems zu bilden.

7.2.2 Pluralbildung

Die Pluralbildung wurde im ersten Schuljahr mit Hilfe von Bildkarten auf zwei verschiedene Arten ge-prüft: in Verbindung mit den Zahlen und ohne.

Im Serbokroatischen verlangen alle auf 2, 3, 4 endenden Zahlen (außer 12, 13, 14) den Genitiv Singu-lar des quantifizierten Nomens. Aber alle auf 5, 6, 7, 8, 9, 0 endenden Zahlen sowie 12, 13, 14 verlan-gen den Genitiv Plural des quantifizierten Nomens (vgl. Engel & Mrazović 1986).

Von den getesteten Substantiven wie jabuka (Apfel), mačka (Katze), miš (Maus), pas (Hund) erzieltendie Kinder die besten Ergebnisse bei der Pluralbildung von mačka (94%) und jabuka (90%).

Bei mačka (Singular) – mačke (Plural) gab es keine falsche Pluralbildung außer vereinzelt die Wieder-holung der Singularform. Dabei ist zu beachten, dass die Endung -e in Verbindung mit der Zahl zweiunverändert bleibt: z. B. Singular: mačka – Dual: dvije/dve mčake. Bei den Zahlen unter zwanzig wird vonzwei bis vier der Genitiv Singular verwendet, ab der Zahl fünf der Genitiv Plural; ab zwanzig wiederholtsich dieses Prinzip.

Bei jabuka (Singular) – jabuke (Plural), pet jabuka (Genitiv Plural) gab es Inkorrektheiten nur in Ver-bindung mit der Zahl fünf: pet jabuke, pet jabuku.

Im Fall von miš (Maus) wird bei der Pluralbildung der Wortstamm um das Infix -ev erweitert: miš

(Singular) – miševi (Plural) (vgl. Barić et al. 1997; Engel & Mrazović 1986). Das Ergebnis der erstenTestphase zeigt, dass die Kinder die Pluralbildung des Wortes miš großteils erworben haben (78%),aber teilweise inkorrekt anwenden: mišovi, mišove. In der zweiten Testphase wurde dieses Wort in Ver-bindung mit der Zahl zwei nochmals getestet, wobei sich eine geringe Verbesserung um ca. 8% ergab.

Relativ schwer (68%) fiel den Kindern die Pluralbildung des Wortes pas. Die besondere Schwierig-keit bei dem Wort pas liegt in der Stammkürzung, d. h., alle Nomina mit „flüchtigem“ -a in der letztenStammsilbe verlieren dieses „flüchtige“ -a in allen Kasus außer im Nominativ Singular. Nur im GenitivPlural bleibt zum Zweck der leichteren Aussprache dieses -a erhalten: pasa (vgl. Engel & Mrazović1986; Težak & Babić 2000). In den zwei letzten Testphasen des ersten Schuljahres wurde ausschließlich

7. Tests auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch

91

die Pluralbildung von pas in Verbindung mit der Zahl zwei (dva psa) getestet und dabei eine geringfügigeVerschlechterung des Ergebnisses festgestellt. In der zweiten Testphase wurden noch mehrfach Singu-larformen beibehalten, was auf eine Nichtrealisierung des Plurals schließen lässt. Die Kinder wandtenin der dritten Testphase, die eine geringfügige Verbesserung aufwies, bereits häufiger die Pluralbildung,wenn auch überwiegend inkorrekt (dva pasa, dva pase) an. Auffallend ist, dass die Pluralbildung des Wor-tes pas von keinem der getesteten Kinder korrekt ausgeführt wurde.

Im zweiten und dritten Schuljahr wurde die Pluralbildung im Rahmen der Sprachaufmerksamkeit

überprüft, und die Resultate wurden mit der Kontrollgruppe verglichen. In diesem Teilbereich solltendie Kinder morphosyntaktische Fehler bzw. in diesem Fall inkorrekte Pluralbildungen in Verbindungmit Zahlen innerhalb der folgenden Sätze erkennen und richtig stellen:

2. Testjahr: Goran ima pet lopta. (Goran hat fünf Ball.)korrekt: Goran ima pet lopti. (Goran hat fünf Bälle.)

3. Testjahr: Mi imamo tri maca. (Wir haben drei Katze.)korrekt: Mi imamo tri mace. (Wir haben drei Katzen.)

PluralbildungGoran ima pet lopti. Mi imamo tri mace.

erkennen verbessern erkennen verbessern

Testgruppe 77% 40% 97% 97%

Kontrollgruppe 100% 100% 100% 100%

Tab. 7.4: Pluralbildung: Vergleich Testgruppe und Kontrollgruppe

Wie die Tabelle zeigt, erkannten und verbesserten die Kinder der Kontrollgruppe zu 100% die falschePluralbildung. Den Kindern der Testgruppe fiel das Wahrnehmen der Fehler leichter als deren Korrek-tur. Am leichtesten fiel ihnen die korrekte Bildung des Plurals in Verbindung mit der Zahl drei (maca –

tri mace). Sie haben korrekterweise den Genitiv Singular (mace) anstelle des Nominativ Singular/Genitiv Plural

(maca) verwendet. Relativ schwer fiel den Kindern aber die richtige Pluralbildung in Verbindung mit derZahl fünf. Dabei verwendeten die Kinder häufig statt der Plural- die Singularform des Genitivs bzw.Nominativ Plural: Goran ima pet lopte.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die Kinder im Bereich der Pluralbildung grundsätzlich über die not-wendigen Strukturen verfügen, sie aber nicht korrekt durchführen, wenn bei der Pluralbildung eineStammerweiterung um das Infix -ev bei miš – miševi, eine Stammkürzung um das „flüchtige“ -a bei pas

(Singular) – psi (Plural) oder die Pluralbildung mit der Zahl fünf auftreten (vgl. Kunzmann-Müller 2002).Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kinder am Ende der vierjährigen Studie im Allgemei-

nen mit den morphologischen Regeln der Muttersprache vertraut sind, wie dies die getesteten Teilbe-reiche Derivation und Pluralbildung zeigen. Bei der Wortbildung mit Hilfe eines Ableitungsmorphemsnimmt immerhin die Tendenz zur Ableitung des Zielwortes vom vorgegebenen Verb zu. Allerdingstreten teils erhebliche Schwierigkeiten auf, vermutlich in Abhängigkeit vom Bekanntheitsgrad desjeweiligen Wortes. Grundsätzlich bereitet den Kindern die Pluralbildung keine größeren Schwierigkei-ten, abgesehen von Phonemalternationen und der Pluralbildung mit der Zahl fünf, wo vermehrt Norm-verstöße oder Übergeneralisierungen auftreten. Die Beseitigung dieser Regelverletzungen wäre amehesten durch die Förderung der Schriftsprache im Rahmen des muttersprachlichen Unterrichtsmöglich.

Teil I – Psycholinguistische Studie

92

7.3 Syntax

Zur Überprüfung der syntaktischen Fähigkeit werden die Satzbildung und das Auftreten von syntakti-schen Interferenzen herausgegriffen und genauer dargestellt.

Während im Bereich der Sprachaufmerksamkeit in den ersten drei Jahren (vgl. Peltzer-Karpf et al.2001; Peltzer-Karpf et al. 2002) das Erkennen und Richtigstellen von Inkonsistenzen im morphosyn-taktischen Regelsystem untersucht wurde, stand am Ende der Studie ausschließlich die Produktion(produktive Satzbildung) im Vordergrund. Dabei wurden die Kinder aufgefordert, aus vorgegebenenWörtern eine sinnvolle sprachliche Äußerung zu erzeugen.

(Satz 1)

djeca/deca – igrati se – soba (Kinder – spielen – Zimmer)

Bei Satz 1 sollten die Kinder die 3. Person Plural Präsens/Perfekt/Futur anstelle des Infinitivs verwen-den, außerdem die fehlende Präposition ergänzen und das Substantiv mit der Präposition in Kasus undNumerus übereinstimmen.

39% der Kinder waren in der Lage, den ersten Satz korrekt zu bilden (Djeca/deca se igraju u sobi.).Auffallend ist, dass die fehlende Präposition von allen Kindern erkannt und ersetzt wurde, wobei 61%der Kinder zu der Präposition u (in) den richtigen Kasus (Lokativ) gewählt haben (u sobi). 23% habendie falsche Abstimmung von Präposition und Substantiv im Kasus bzw. anstelle des Lokativs den Ak-kusativ verwendet (u sobu). Zu 16% übernahmen die Kinder die vorgegebene Nominativform des Sub-stantivs bei einer Kongruenzabweichung zwischen Präposition und Substantiv (u soba). 26% der Kin-der haben die Infinitivform des Verbs wiederholt, wobei die Hälfte davon das Reflexivpronomen se

falsch platziert hat. Beim richtig flektierten Verb waren es 32%. Außerdem ist auch zu erwähnen, dass71% die Präsensform von igrati se (spielen) vorzogen und nur 3% der Kinder versuchten, die Futur-bzw. Perfektform zu bilden:

� Djeca će igrati se u soba. (Die Kinder werden spielen in das Zimmer.)� Djeca se igrali u soba. (Die Kinder haben in das Zimmer gespielt.)

Beim zweiten Satz sind außerdem folgende Verstöße auf der morphosyntaktischen Ebene aufzu-zeigen:1. Bei der Bildung des Perfekts wird die obligatorische Angleichung an das Genus des Subjekts in der

Pluralform nicht realisiert (Djeca su se igrala.).2. Bei der Bildung des Perfekts fehlt die enklitische Form des Hilfsverbs biti (su), was allerdings in der

Umgangssprache üblich ist.3. Verwendung des Nominativs (soba) anstelle des Lokativs (sobi) in Verbindung mit der Präposition u.

Es folgen noch ein paar Beispiele für normabweichende Satzkonstruktionen:

� Deca igraju se u sobi. (falsche Platzierung des Relativpronomens se)� Djeca se igraju u sobu. (Akkusativ Singular anstelle des Lokativs Singular)� Djeca se igrati u sobu. (Infinitiv anstelle der 3. Person Plural, Akkusativ Singular anstelle des Lo-

kativs Singular)� Djeca se igraju u soba. (Nominativ Singular anstelle des Lokativs Singular)� Djeca će igrati se u soba. (falsche Platzierung des Relativpronomens se, Nominativ anstelle des

Lokativs Singular)

7. Tests auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch

93

(Satz 2)

Marko i Ana – juče(r) – penjati se – brdo (Marko und Ana – gestern – hinaufklettern – Berg)

Satz 2 wurde durch Zugabe neuer Elemente bzw. einer Subjektgruppe verschiedener Genera (Marko undAna), eines Adverbs und durch das Auftreten mehrerer unterschiedlicher Arten von Enklitika erschwert.

Im BKS gilt als Grundregel, dass in einer Subjektgruppe verschiedener Genera das maskuline Ge-nus überwiegt (vgl. Kunzmann-Müller 1994). Außerdem sollte durch das Adverb juče(r) (gestern) diePerfektbildung signalisiert und die fehlende Präposition ergänzt werden. Diese Satzbildung bereiteteden Kindern große Schwierigkeiten; nur 26% konnten den richtigen Satz (Marko i Ana su se jučer penjali

na brdo.) bilden. Trotz der Signalisierung des Vergangenen mit dem Adverb gestern wurde das Perfektnur zu 52% gebildet. Auffallend ist, dass bei der richtigen Perfektbildung (46%) auch die obligatorischeAngleichung des Prädikats an das Genus des Subjekts in der Pluralform realisiert wurde. Sehr häufig(48%) wurde die für die Perfektbildung notwendige enklitische Präsensform von biti (= su) ausgelas-sen, was in der Umgangsprache jedoch durchaus gebräuchlich ist.

� Marko i Ana se penjali juče na brdu. (Marko und Anna [sind] gestern auf dem Berg geklettert.)� Marko i Ana se jučer penjali na brdo. (Marko und Anna [sind] gestern auf den Berg geklettert.)

Bei der erfolgten Perfektbildung wurde auch vereinzelt das Reflexivpronomen se falsch plaziert:

� Marko i Ana su jučer se penjali na brdo. (Marko und Anna gestern sind auf den Berg geklettert.)

35% wiederholten einfach die vorgegebenen Wörter bis auf das Einsetzen der Präposition. Die Präpo-sition na (auf/an) wurde zu 84% richtig ergänzt, davon zu 74% mit der richtigen Abstimmung von Prä-position und Substantiv im Kasus (Akkusativ). Vereinzelt (13%) wurde eine falsch verwendete Präpo-sition u (in) gewählt:

� Marko i Ana jučer penjati se u brdi. (Marko und Anna gestern klettern [= Infinitiv!] in Berg.)� Marko i Ana se jučer upenjati se u brdo. (Marko und Anna gestern hineinklettern [= Infinitiv!]

in den Berg.)� Marko i Ana penjati se jučer u brdo. (Marko und Anna klettern [= Infinitiv!] gestern in den Berg.)

Wenn eine Subjektgruppe nur aus femininen Nomina besteht, steht das Prädikat in der Pluralform desjeweils entsprechenden Genus (vgl. Kunzmann-Müller 1994). Daher wurde der Satz 2 nur um die Sub-jektgruppe Mira i Maja verändert, um herauszufinden, ob die Kinder bei der Perfektbildung die obliga-torische Angleichung des Prädikats an das Genus des Subjekts in der Pluralform realisieren, wenn diebeiden Subjekte das gleiche Genus (Feminin) aufweisen. Erstaunlicherweise wurde von keinem Kinddiese Anpassung durchgeführt. Alle haben die Pluralform des Prädikats für das maskuline anstatt fürdas feminine Genus verwendet. Dies könnte auf eine Art der Übergeneralisierung zurückzuführensein. (Im Präsens Plural ist das Prädikat, unabhängig von den Genera in der Subjektgruppe, gleich.)

(Satz 3)

Ivan – davati – mama – lopta (Ivan – geben – Mama – Ball)

Bei Satz 3 sollten die Kinder die 3. Person Singular Präsens/Perfekt/Futur anstelle des Infinitivs ver-wenden. Außerdem waren zwei Objekte vorgegeben, die in Verbindung mit dem Verb davati (geben),den Dativ und den Akkusativ verlangen: Ivan daje mami loptu.

Bei diesem Satz waren es 23%, die den richtigen Satz im Präsens bzw. Perfekt bilden konnten. Nur13% der Kinder haben die 3. Person Singular Präsens (daje/gibt) richtig gebildet. 26% der Kinder habendas Perfekt gebildet oder die vorgegebene Infinitivform übernommen (33%). Das Verb davati gehört zuden so genannten -a-Verben. Diese haben im Infinitivstamm den Auslaut -a, der allerdings im Präsenswegfällt. Gleichzeitig findet hier auch eine Konsonantenveränderung (v > j) statt, was bei davati für die

Teil I – Psycholinguistische Studie

94

1. Person Singular dajem ergibt (vgl. Engel & Mrazović 1986). Vereinzelt waren Wortkreationen wie do, davo,

dava, davaita, die nicht der normgerechten Bildung der 3. Person Singular Präsens bzw. des Partizips PerfektII entsprechen, zu beobachten. Bei 16% der Kinder wurde die für die Perfektbildung notwendige enkliti-sche Präsensform von biti ausgelassen, was – wie erwähnt – in der Umgangssprache zulässig ist.

� Ivan dao mami loptu. (Ivan Mama den Ball gegeben.)

60% der Kinder waren in der Lage, die richtige Kasuswahl beider Objekte in Verbindung mit dem Verbdavati (geben) zu treffen.

Das erste Objekt im Dativ (mami) wurde zu 67% richtig verwendet. 30% der Kinder wiederholtendie vorgegebene Nominativform (mama) und ein Kind (3%) verwendete den Akkusativ (mamu) anstelledes Dativs. Beim zweiten Objekt (lopta) waren es 70%, die die richtige Kasuszuweisung, nämlich denAkkusativ (loptu) trafen. 27% der Kinder wiederholten die vorgegebene Nominativform und nur einKind (3%) verwendete den Genitiv (lopte) anstelle des Akkusativs.

Insgesamt zeigt sich, dass über 90% der Kinder die fehlende Präposition erkannt und ersetzt ha-ben. Richtig ersetzt wurde sie zu ca. 70%, wobei die Kinder die Produktion der Präposition na (auf)besser beherrschten als die der Präposition u (in). Die Kongruenz von Kasus und Präposition, lautlicheKonsonantenveränderungen bei der Präsens- und Perfektbildung, feminine Nomina in der Subjekt-gruppe und die richtige Kasuszuweisung machen den Kindern noch immer große Schwierigkeiten, so-dass die Satzbildung nur zu rund 29% gelungen ist.

7.3.1 Interferenzen

In den vergangenen Jahren war das vermehrte Auftreten von Interferenzen beobachtbar, was aufeinen zunehmenden Einfluss des Deutschen auf die muttersprachliche Entwicklung der Kinderschließen lässt. Es wurde versucht, diese Beobachtung durch einen entsprechenden Test zu belegen.Dazu wurden spontansprachliche Interviews der Kinder herangezogen und auf das Auftreten von In-terferenzerscheinungen hin untersucht. Es wurden fünf Fälle des negativen Einflusses der deutschenSprache auf die Muttersprache im Bereich der syntaktischen Strukturen herausgegriffen. Den Kindernwurden neben den Interferenzen die jeweilige Richtigstellung und als dritte Möglichkeit ein inhaltsglei-cher Satz mit einer anderen morphosyntaktischen Abweichung angeboten, wobei sie von diesen dreiMöglichkeiten die jeweils richtige auswählen und bezeichnen sollten:16

1) *(a) Marko ima strah od psa.*(b) Marko se boji psa.*(c) Marko se boji od psa.*(Marko hat Angst vor dem Hund.)

2) *(a) Možeš li ti engleski?*(b) Znaš li ti engleski?*(c) Možeš li ti engleski govoriti?*(Kannst du Englisch?)

3) *(a) Radujem se na mamu.*(b) Radujem se mami.*(c) Radujem se za mami.*(Ich freue mich auf die Mama.)

7. Tests auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch

95

16 Aus Gründen der Übersicht (siehe Tab. 7.5) ist in dieser Darstellung immer Satz (b) richtig. Bei der Testung wurden die Sätzeselbstverständlich in gemischter Reihenfolge vorgelegt.

4) *(a) Mačka čeka na pticu.*(b) Mačka čeka pticu.*(c) Mačka čeka ptica.*(Die Katze wartet auf den Vogel.)

5) *(a) Ana ima glad.*(b) Ana je gladna.*(c) Ana je gladan.*(Anna hat Hunger.)

Bei der Fehleranalyse wurde die Methode der kontrastiven Theorie in Anlehnung an Djordjević, Zilić(2002) angewendet, welche die Möglichkeit der konkreten Gegenüberstellung von Muttersprache undFremdsprache erlaubt.

Schauen wir uns nun die von den Kindern ausgewählten und bezeichneten Sätze an:

Satz a b c

1 45% 13% 42%

2 10% 48% 39%

3 65% 29% 6%

4 77% 23% 0%

5 3% 97% 0%

Tab. 7.5: Verteilung der gewählten Sätze

Aus der Tabelle ist ersichtlich, dass die Kinder zu einem hohen Prozentsatz die syntaktischen Struktu-ren aus dem Deutschen in die Muttersprache übertragen. Dabei ist auffallend, dass sie sich häufig fürdie durch die Fremdsprache negativ beeinflussten Sätze mit Präpositionen (Satz 1, 3 und 4), die in derMuttersprache nicht vorkommen, entschieden haben. Bei diesen und den übrigen zwei Sätzen handeltes sich um verschiedene Satzbaupläne der Verben im Deutschen und im BKS bzw. dem deutschen Prä-positivkomplement entspricht im BKS jeweils ein Akkusativ-, Dativ-, Genitivkomplement (ohne Prä-position):

(Satz 4: 77% Antwort a)Deutsch: warten auf

BKS: čekati + AkkusativAuf etwas warten erscheint im BKS meistens mit dem Akkusativkomplement:z. B.: Čekam prijatelja. (Ich warte auf den bzw. einen Freund.)

(Satz 3: 65% Antwort a)Deutsch: sich freuen auf/über

BKS: radovati se + Dativ

Ein Merkmal des Verbs radovati se (sich freuen) besteht darin, dass es keinen Unterschied in der Wieder-gabe des Präpositivkomplements mit verschiedenen Präpositionen wie im Deutschen (sich auf etwas

freuen und sich über etwas freuen) gibt.Sich über etwas freuen (Gegenwart) wird im BKS meistens mit dem Dativkomplement in Form eines

Nebensatzes ausgedrückt.

Radujem se da/što si me posjetio. (Ich freue mich, dass du mich besucht hast.)

Teil I – Psycholinguistische Studie

96

Sich auf etwas freuen (mit Zukunftsbezug) erscheint aber meist mit dem Dativkomplement in Form einerNominalphrase:

Radujem se njenoj sutrašnjoj posjeti. (Ich freue mich auf ihren morgigen Besuch.)

(Satz 1: 45% Antwort a)Deutsch: sich fürchten vor

BKS: bojati se + Genitiv

Grundsätzlich sind Genitivverben im BKS wesentlich zahlreicher als im Deutschen. Das sind vor al-lem Verben mit dem Element se (sich), die eine Berührung, eine Trennung oder wie beim Verb bojati se

(sich fürchten) einen emotionalen Zustand oder Vorgang bezeichnen.Hingegen wurde Satz 5 zu 97% richtig erkannt, was wahrscheinlich auf die häufige Verwendung zu

Hause zurückzuführen ist.Es konnte somit gezeigt werden, dass der Eindruck der Dominanz der deutschen Sprache mit dem

gehäuften Auftreten von Interferenzen durchaus zutreffend ist.Betrachtet man die Untersuchungsergebnisse der syntaktischen Fähigkeiten der Kinder am Ende

der Studie, so sieht man, dass die Kinder über grundlegende syntaktische Strukturen verfügen. Da aberder zur weiteren Feindifferenzierung erforderliche muttersprachliche Input nahezu fehlt und zusätz-lich die Zweitsprache zunehmend dominant wird, zeigen sich große Unsicherheiten im syntaktischenBereich. Der zunehmende Einfluss der Zweitsprache äußert sich auch im vermehrten Auftreten vonInterferenzen. Die Auswertung zeigt, dass die Anzahl von Interferenzen auf der syntaktischen Ebeneungefähr gleich hoch liegt wie jener der syntaktisch korrekten Sätze. Um diesen hohen Anteil an nega-tivem Transfer zu vermeiden, wäre der Einsatz spezieller Übungen im Rahmen des muttersprachlichenUnterrichts zu empfehlen.

7.4 Zusammenfassung

Die systemlinguistische Beobachtung über vier Jahre unserer Studie zeigt, dass sich – abgesehen vonindividuellen Unterschieden – der Großteil der Kinder mit Erstsprache BKS in ihrem muttersprachli-chen System in einer turbulenten Phase befindet. Der zunehmende Einfluss der Zweitsprache bewirktdie Übernahme von Elementen in die Muttersprache: Die Lücken im Lexikon werden durch deutscheLexeme gefüllt, welche auch teilweise (Verben und Substantive) nach den morphologischen Regeln derMuttersprache markiert werden. Weiters werden syntaktische Strukturen (Wortstellung, Präpositionenetc.) sowie das Orthographiesystem aus dem Deutschen übernommen.

Die Resultate in der Systemlinguistik zeigen, dass viele Kinder über grundlegende morphosyntakti-sche Strukturen verfügen, dass aber ihr Wortschatz noch große Lücken aufweist. Die Feindifferenzie-rung im lexikalischen Bereich ist bei Weitem noch nicht abgeschlossen. Bei anspruchsvolleren Inhaltenhaben die Kinder noch erhebliche Schwierigkeiten, die gewünschten Informationen zum Ausdruck zubringen. Sie verwenden dabei am häufigsten die Strategie der Umschreibung, wobei jedoch durch zu-sätzliche morphosyntaktische Abweichungen Verständnisschwierigkeiten auftreten. Hinsichtlich dermorphosyntaktischen Kompetenz sind besonders Turbulenzen bei der Derivation auffällig. Normver-stöße und Übergeneralisierungen kommen bei der Pluralbildung vor, wenn Phonemalternationen wieStammerweiterung und Stammkürzung auftreten. Mit zunehmend komplexen Sätzen sind beim größ-ten Teil der Kinder am Ende des vierten Schuljahres große Unsicherheiten im Bereich der Kongruenzverbunden.

7. Tests auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch

97

8. Tests auf Türkisch

Im ersten Schuljahr waren die Unsicherheit und Schüchternheit der türkischsprachigen Kinder sehrauffällig. Die Sprachkompetenz der türkischsprachigen Kinder war durch große Probleme in den Be-reichen Lexikon, Semantik, Pragmatik und Textkompetenz gekennzeichnet. Im ersten Schuljahr konn-ten manche Kinder gewöhnlichste Gegenstände nicht benennen, sondern umschrieben sie, z. B. denRegenschirm:

Yağmur yağar, kafanı örter. (Es regnet, es deckt deinen Kopf.)

Es war auffallend, dass viele Kinder oft zuerst deutsche Begriffe verwendeten oder sie zu den türki-schen Begriffen dazu nannten (z. B. bei Pluralbildung oder Komposita). Erst nach mehrmaligemNachfragen gaben die Kinder den türkischen Ausdruck von sich, z. B. fare (die Maus). Auch nachdemsie darauf aufmerksam gemacht wurden, dass sie jetzt Türkisch sprechen sollten, nannten sie die deut-schen Begriffe mit Stolz, so als ob sie ein Lob oder eine Bestätigung erwarteten. Im Laufe der vierVolksschuljahre wurden die Kinder zwar sicherer und versuchten – so weit es ihnen möglich war – mitder türkischsprachigen Interviewerin in ihrer L1 zu kommunizieren. Trotzdem fielen auch am Endeder Volksschule große Unsicherheiten, vor allem im Bereich des Lexikons, auf. Im Folgenden werdeneinige ausgewählte Teilbereiche unseres großen Datenpools beschrieben, die die erstsprachliche Ent-wicklung der ProbandInnen besonders deutlich unterstreichen.

8.1 Lexikon

8.1.1 Oppositionelle Relation

Das Prinzip der Opposition war unseren ProbandInnen bereits zu Schuleintritt vertraut, wie die Er-gebnisse zeigen. Im ersten Schuljahr getestete Antonyme (hell – dunkel, dick – dünn, lang – kurz, heiß –

kalt) wurden von den Kindern in ihrer L1 relativ gut beherrscht (über 80%). Beim Gegensatzpaar hell

– dunkel traten jedoch Unsicherheiten auf. Dieses Gegensatzpaar wird im Türkischen substantivischausgedrückt – im Unterschied zu den anderen Gegensatzpaaren, wo es sich eindeutig um Adjektivahandelt. Daher halfen sich die Kinder hier mit syntagmatischen Strategien weiter: So wurde die Ver-neinung mit dem Partikel değil gebildet (aydınlık değil = nicht hell). Im dritten Schuljahr wurde die Fä-higkeit, Antonyme zu bilden, mit komplexeren Adjektiven çalıșkan (fleißig), iyi (gut), boș (leer/frei), ı-

slak (nass), tatlı (süß/wohlschmeckend) erneut getestet. Trotz der semantischen Komplexität der ge-wählten Begriffe konnten die Kinder außer beim Adjektiv çalıșkan (fleißig) leicht Gegensatzpaar fin-den. Das Adjektiv çalıșkan ist vom Verb çalıșmak (arbeiten) abgeleitet. Vier der Kinder gaben als Ant-wort das Partizip 1 çalıșmayan (der/die/das nicht Arbeitende). Der Grund für diese syntagmatischeAntwort könnte in der Verwechslung des Adjektivs çalıșkan mit dem Partizip çalıșan (der/die/das Ar-beitende) liegen.

8.1.2 Paradigmatische Relation

Der Aufgabenteil der Überbegriffe wurde im letzten Volksschuljahr mit denselben Items wie im erstenTestjahr wiederholt. Der Grund für diese Wiederholung war, dass die Kinder in diesem Bereich derUntersuchung im ersten Schuljahr unerwartet niedrige Werte erzielten (25% bis 58%). Erfreulicher-weise zeigen die Resultate aus der vierten Klasse eine deutliche Entwicklung. Der Grossteil der Kinderkonnte die Superordinaten ohne Schwierigkeiten benennen.

98

Überbegriffe1. Schuljahr

Oktober 1999

4. Schuljahr

Juni 2003

Tiere 38% 95%

Bekleidung 35% 86%

Gemüse 25% 45%

Getränke nicht erhoben 68%

Vögel nicht erhoben 59%

Fahrzeug nicht erhoben 5%

Tab. 8.1: Überbegriffe: Vergleich 1. und 4. Schuljahr

Wie die obige Tabelle zeigt, ist der Zuwachs an korrekten Antworten beim Überbegriff Tiere enorm,beim Überbegriff Gemüse ist der Fortschritt jedoch als gering zu bezeichnen. Für den ÜberbegriffKleidung verwendeten die Kinder verschiedene türkische Synonyme: giyim (Kleidung), giysi (Kleidungs-stück, Kleid), giyecek (Bekleidung), üst (Kleider, Kleidung). Bei dem Überbegriff Getränke tratenSchwierigkeiten und Unsicherheiten auf. 32% der Kinder konnten auch im vierten Jahr den passen-den Überbegriff nicht finden und gaben stattdessen folgende Antworten: Cola, su (Wasser), içme suyu

(Trinkwasser), içme bir șey (irgendwas zum Trinken), yiyecek (Nahrungsmittel). Die einzelnen Vögel(Rabe – Taube – Spatz – Adler) wurden von 36% der Kinder mit dem Wort Tiere zusammengefasst.Dieses Ergebnis ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass die Kinder manche Vogelnamennicht kannten und folglich nicht wussten, dass es sich hierbei um lauter Vögel handelte. Am meistenProbleme bereitete den Kindern der Überbegriff Fahrzeuge. Hier konnte lediglich ein Kind den richti-gen Begriff benennen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Kinder zwar einige wenige Überbegriffe wirklich er-worben haben, dass jedoch bei vielen getesteten Items dieser Erwerb noch nicht abgeschlossen ist.

8.1.3 Syntagmatische Relationen

Am Anfang unserer Langzeitstudie wurden im Bereich des Lexikons Wortschatz und Feindifferenzie-rung getestet, wobei die Kinder aufgefordert wurden, Objekte auf Bildkarten zu benennen, das nichtdazu passende Objekt zu finden und ihre Wahl zu begründen. Folgende Wortfelder kamen zumEinsatz:

Wortfeld

Säugetiere

Differenzierung/

prozentueller

Mittelwert

Wortfeld

Obst

Differenzierung/

prozentueller

Mittelwert

Wortfeld

Besteck

Differenzierung/

prozentueller

Mittelwert

Giraffe, Kuh,Zebra, Elefant,

Vogel26%

Apfel, Birne,Trauben,

Wurst57%

Messer,Löffel, Gabel,

Hammer57%

Tab. 8.2: Feindifferenzierung Wortfelder

Das Benennen einzelner Objekte fiel den Kindern zu Schuleintritt deutlich leichter als die Zuord-nung zu dem entsprechenden Wortfeld – eine Aufgabe, die sie nur zu 47% lösen konnten. Bei dergleichen Aufgabe in ihrer L2 erreichten diese Kinder 41%, wobei auffällt, dass der Unterschied zu ih-rer L1 interessanterweise nicht sehr groß ist. Bei der Abgrenzung einzelner Objekten innerhalb einesWortfeldes orientierten sich die Kinder an perzeptuellen Merkmalen wie Größe und Farbe. Als sie

8. Tests auf Türkisch

99

aufgefordert wurden, aus einer Gruppe von abgebildeten Tieren eines auszuwählen, das nicht dazupasste, gaben sie häufig folgende Erklärungen ab:

� Giraffe, weil sie ganz groß ist.� Vogel und Elefant, weil sie nicht die gleiche Farbe haben.

Nur selten waren die Kinder in der Lage, entsprechend der Tierarten (also auf Grund von Taxono-mien) zu differenzieren.

8.1.4 Wortfelder

Zu Beginn unserer Langzeitstudie kamen verschiedene Wortfelder zum Einsatz, um den Wortschatzder Kinder in unterschiedlichen Lebensbereichen zu testen. Die Kinder wurden dabei aufgefordert,Objekte auf Bildkarten zu benennen. Die Ergebnisse zeigen, dass die türkischsprachigen Kinder beimWortfeld Tiere große Lücken in ihrem muttersprachlichen Wortschatz aufwiesen. Zu Schuleintrittschafften es nur 43% der Kinder, die einzelnen Tiere korrekt zu benennen. Acht Monate später, amEnde des Schuljahres, gelang ihnen das bereits zu 77%. Es war auffällig, dass sie einzelne Begriffe, etwaElefant (fil), zu einem hohen Prozentsatz (64%) nur auf Deutsch nannten. Bei anderen Wortfeldern warder Wortschatz deutlich besser ausgeprägt. So konnten im Februar 2000 92% der Kinder die abgebil-deten Möbelstücke richtig benennen.

Erstes Schuljahr: Abdeckung semantischer Felder

Tiere Kleidung Möbel Gemüse Spielzeug

Oktober 1999: 43% Oktober 1999: 36% Februar 2000: 92% Februar 2000: 74% Juni 2000: 87%

Juni 2000: 77% Februar 2000: 51% Juni 2000: 94%

Tab. 8.3: Semantische Felder: Entwicklung im 1. Schuljahr

Der niedrige Wert des Wortfeldes Kleidung (giyecek) sticht in der obigen Tabelle ins Auge. Problemeentstanden vor allem bei jenen Begriffen, die bereits eine gewisse Feindifferenzierung erforderten, z. B.Mütze (bere) oder Stiefel (çizme). Hier gaben die Kinder häufig frequentere Termini wie Hut (șapka) oderden Basisterminus Schuh (ayakkabı) zur Antwort. Das Wortfeld Gemüse (sebze) wurde von den Kindernebenfalls gut realisiert, nur einzelne Gemüsesorten, z. B. Paprika (biber) konnten nicht richtig benanntwerden.

Das Körperschema schien den Kindern bereits zu Schuleintritt vertraut zu sein. Die Ergebnisse la-gen hier zwischen 96% und 60%, lediglich einzelne Körperteile, wie zum Beispiel Rücken (sırt) bzw. spe-zielle Gesichtmerkmale Stirn (alın) konnten nur von einigen wenigen Kindern korrekt benannt werden.Im Oktober des ersten Schuljahres konnten die Kinder mit deutscher L1 durchschnittlich 90% der ge-fragten Körperteile benennen, die türkischsprachigen Kinder kamen in ihrer L1 mit 89% diesem Wertsehr nahe.

Arm Hand Finger Fuß Bein Rücken Stirn WimpernAugen-

braueWange Kinn

Anfang

1. Schuljahr84% 96% 76% 84% 72% 60%

Ende

1. Schuljahr40% 58% 65% 62% 62%

Tab. 8.4: Wortfeld Körperteile: prozentuelle Mittelwerte der richtigen Nennungen, 1. Schuljahr

Teil I – Psycholinguistische Studie

100

Ein Wortfeld, bei dem die Kinder auch in der zweiten Klasse noch große Lücken aufwiesen, ist jenesdes Straßenverkehrs, wie die folgende Tabelle verdeutlicht:

Zebra-

streifen

Verkehrs-

ampelGehsteig

Verkehrs-

polizistStraße Motorrad

Straßen-

bahnLastwagen

32% 36% 37% 69% 77% 85% 84% 95%

Tab. 8.5: Wortfeld Verkehr: prozentuelle Mittelwerte der richtigen Nennungen

Während die ProbandInnen mit den Nomen Zebrastreifen (yayageçidi), Verkehrsampel (trafik lambası), Geh-

steig (kaldırım) Probleme hatten, konnten viele Straßenbahn (tramvay), Lastwagen (kamyon) und Motorrad (mo-

tosiklet) richtig benennen. Ein möglicher Grund wäre, dass Kraftfahrzeuge auf Kinder einen besonde-ren Reiz ausüben und auch als Spielzeuge verfügbar sind. Den Zebrastreifen hingegen konnte nur eineinziges Kind auf Türkisch richtig bezeichnen. Ein Kind kreierte für Verkehrspolizist einen eigenen Be-griff geçtirme polis, der ungefähr mit Überquerungspolizist ins Deutsche übersetzt werden kann, wobei demKind bei dieser Genitivkonstruktion ein morphologischer Fehler unterlief (es fehlt das Possessivsuffixder 3. Person). Große Probleme hatten die Kinder auch mit dem Begriff Ampel, ein deutlicher Hinweisfür die Beschränktheit dieses Wortfeldes. Nur ein einziges Kind konnte trafik lambası (Ampel) richtigbenennen. 20% der Kinder kannten den Begriff im Türkischen nicht. Die übrigen Kinder schufen ihreeigenen Kreationen oder paraphrasierten dieses Lexem:

araba lambası (Autoampel), lamba (Lampe), durmak-geçmek lambası (stehen-gehen Lampe),araba ıșığı (Autolicht), araba lambası, araba dursun diye (Autolampe, damit das Auto stehenbleibt)

Wenn man bedenkt, dass der Verkehr im Alltag einen sehr wichtigen und auch praktischen Stellenwerthat, erscheint diese große Lücke im aktiven Wortschatz der Kinder besorgniserregend.

8.1.5 Verwandtschaftsbezeichnungen

Es wurden die Bezeichnungen der erweiterten Kern- und Großfamilie getestet. Bei der erweitertenKernfamilie erzielten unsere ProbandInnen über 92%, aber überraschenderweise konnten viele Kin-der die Mitglieder der Großfamilie nicht richtig bezeichnen oder brachten sie durcheinander.

teyze

(Tante mütter-

licherseits)

eniste

(Onkel/

Schwager)

amca

(Onkel

väterlicherseits)

yenge

(Ehefrau des Onkels

väterlicherseits)

kuzen

(Cousin)

41% 17% 34% 18% 21%

Tab. 8.6: Verwandschaftsbezeichnungen: prozentuelle Mittelwerte der richtigen Nennungen

Die verhältnismäßig niedrigen Ergebnisse für die Großfamilie (siehe Tabelle) sind vermutlich auf dieTatsache zurückzuführen, dass die Kinder noch Schwierigkeiten bei der Abstraktion hatten. Sie konn-ten die vorgelegten Bilder nicht mit den Verwandtschaftsbezeichnungen verbinden. Interessant istaber, dass sie die erfragten Begriffe in den spontansprachlichen Interviews vier Jahre lang tadellos ver-wendeten. Offensichtlich konnten sie der gestellten Aufgabe nicht Folge leisten.

8. Tests auf Türkisch

101

8.1.6 Adjektive

Mit Hilfe der Testmethoden Feely Bag und Blinde Kuh wurden Qualität und Quantität des Lexikons imBereich der Adjektive untersucht. Beim Feely Bag mussten die Kinder „blind“ Objekte in einem Beutelertasten und diese nach Form und Beschaffenheit beschreiben. Die „ungeduldigen“ Kinder wurdenmit gezielten Fragen motiviert, das zu ertastende Objekt genauer zu beschreiben.

Die Kinder benützten bei der Beschreibung folgende Strategien: (1) Adjektive, (2) Adjektive, diemit dem Suffix -li von einem Substantiv abgeleitet werden, (3) Passivkonstruktionen in adjektivischerFunktion, (4) Umschreibungen wie taș gibi (wie ein Stein).

genannte

Begriffe

Verwendung von

Adjektiven

richtig verwendete

Passivkonstruktionen

richtige

Umschreibungen

Anzahl Mittelwert der Nennungen

2. Schuljahr 289 6,3 0,3 2

4. Schuljahr 305 9 0,33 0,67

Höchste Punkteanzahl

2. Schuljahr 18 9 4 5

4. Schuljahr 21 16 4 4

Tab. 8.7: Adjektive: Vergleich 2. und 4. Schuljahr

Wie die Tabelle zeigt, war die häufigste Strategie das Einsetzen von Adjektiven. Es ist deutlich zusehen, dass die Kinder in ihrer L1 vom zweiten auf das vierte Schuljahr neue Adjektive in ihren Wort-schatz integrieren konnten.

Die Strategie der Umschreibungen wurde vergleichsweise weniger angewendet. Einige Adjektive,wie z. B. kaygan (glatt), bereiteten auch noch im letzten Volksschuljahr Schwierigkeiten. Entwederfehlte dieses Adjektiv im Wortschatz der Kinder, oder es herrschte noch Unsicherheit über seine ge-naue Bedeutung. Sie verwendeten dann akustisch ähnliche Wörter wie kayak gibi (wie ein Schi) oderersetzten kaygan (glatt) durch yumușak (weich) bzw. durch die deutsche Entsprechung. Auch hafif

(leicht) gehörte zu den für die Kinder schwierigen Adjektiven. Hafif bedeutet leicht im Bezug auf dasGewicht eines Objekts oder einer Person. Anstelle dieses Adjektivs wurde vielfach kolay genannt, wasim Deutschen leicht in Bezug auf die Schwierigkeit einer Aufgabe oder eines Problems bedeutet. Hierzeigte sich der semantische Einfluss der deutschen Sprache auf die L1 der Kinder. Anstelle von kay-

gan wurden auch yavaș (langsam) und yumușak gibi (wie weich) verwendet. Auf Deutsch nannten dieKinder folgende Wörter: holprig, glatt, Quadrat, schief, Viereck und kombiniert mit der türkischen Zahlvier: dörteckig.

8.1.7 Das Beschreiben von Begriffen

Indem wir unsere ProbandInnen baten, verschiedene Begriffe zu beschreiben, konnten wir einen rei-chen Datenschatz sammeln, der uns die individuellen Entwicklungsstadien sowie die allgemeinen Ent-wicklungstendenzen der Sprachgruppe insgesamt zeigte.

Bei dieser Aufgabe waren die Kinder aufgefordert, im 2. Schuljahr burun (Nase) und kitap (Buch)und im 3. Schuljahr ağaç (Baum) und bıçak (Messer) zu beschreiben. Ağaç konnte von den Kindern amvielfältigsten beschrieben werden. Die folgende Tabelle zeigt die durchschnittlichen Nennungen dertürkischsprachigen Kinder in ihrer L1 und L2 und auch der Kinder mit deutscher L1.

Teil I – Psycholinguistische Studie

102

2. Schuljahr L1 Türkisch L2 Deutsch L1 Deutsch

Nase 4,4 2,9 5,7

Buch 6 4,4 6,6

3. Schuljahr

Baum 13,5 4,2 13,6

Messer 6,6 3,1 10,6

Tab. 8.8: Beschreiben von Begriffen: Vergleich 2. und 3. Schuljahr

Wie aus dieser Tabelle deutlich hervorgeht, konnten die türkischsprachigen Kinder in ihrer L1 ähnlichviele Begriffe nennen wie die Kinder der Gruppe 4 in ihrer L1 (mit Ausnahme des Begriffs Messer). An-scheinend ist die Beschreibung eines Gegenstands, bei der sie ihre Assoziationsfähigkeit einsetzenkonnten, eine ideale Testmethode für die türkischsprachigen Kinder. Sie nannten in ihrer L1 viel mehrAssoziationen als die anderen Testgruppen. Wie bei den anderen Sprachgruppen sind auch bei denKindern mit türkischer L1 syntagmatische Relationen besser ausgeprägt als paradigmatische. Aller-dings verwendeten die Kinder für ihr Alter sehr wenige Über- und Unterbegriffe.

Neben den oben genannten konkreten Begriffen wurden die Kinder auch aufgefordert, den Be-griff Geheimnis zu beschreiben, wobei nur ein Drittel der Kinder diesen Begriff auf Türkisch kannte.Einigen Kindern war dieser Begriff nur auf Deutsch geläufig. Ein Kind verwechselte sır (Geheimnis)mit dem phonetisch ähnlichen Wort sığır (Kalb).

(1) L1 TürkischAylin: Sır inektir. (Das Geheimnis ist eine Kuh.)Int: Sır inek midir? (Ist das Geheimnis eine Kuh?)Aylin: Aha sır yok. (Oh, es gibt kein Geheimnis.)Int: Sığır değil sır. (Nicht das Kalb. Das Geheimnis.)Aylin: Sır birșey söylemek. (Das Geheimnis ist irgendwas sagen.)

Allgemein fiel es den Kindern am leichtesten, freie Assoziationen zu den zu beschreibenden Begriffenzu nennen. Zum Teil waren sie auch durchwegs in der Lage, Teile der einzelnen Objekte (z. B. des Bau-mes) zu benennen. Die Lexeme ağaç gövdesi (Stamm) und dal (Ast) waren in ihrem Wortschatz nicht in-tegriert. Die Verwechslung des Begriffes dal (Ast) mit değnek (Stab) und odun (Holz) ist für dieseGruppe charakteristisch, was auch in der Spontansprache und in der Frog Story beobachtet wurde. DieLücken in der L1 führten die Kinder etwa zu folgenden nicht passenden Äußerungen:

� Hmm, kolları var, saçları var. (Hmm, er hat Arme und Haare.)� Șey șey uzun böyle șeyi var [schwer verständlich], uzun dalları, orda da șeyi.

(Es hat Dings, so lange Dinge, lange Äste und dort auch Dings.)� Çok yapraklı o en önemlisi. Bide yaprakları düșmesin diye șeyleri var odunları.

(Viele Blätter, das ist das Wichtigste. Und damit die Blätter nicht runterfallen, hat es Dings,Hölzer.)

Die Hierarchisierung innerhalb der Taxonomien gelang ihnen jedoch nur selten, so nannten sie kaumSuper- oder Subordinaten.

Im Vergleich zu den anderen Sprachgruppen erzählten die türkischsprachigen Kinder detailliertüber den Einsatzbereich verschiedener Objekte, so zum Beispiel der Bücher. Der Grund dafür kannsein, dass die sozialen Kontakte in dieser Gruppe besonders stark gepflegt werden, daher wurde oft er-zählt, wo überall gelesen wird, z. B. bei der Großmutter, beim Picknicken, am Abend auf Besuch:

8. Tests auf Türkisch

103

Böyle okulda ya da evde. Bir yere gittiğin zaman. Pikniğe gittiğin zaman orda bi de böle Haupt-schuleye gittiğin zaman . . . bi de böle akșam oturmak ya da anneannenlere de lazım olur.(Du brauchst das Buch in der Schule oder zu Hause. Wenn du irgendwohin gehst, dort beimPicknicken oder in der Hauptschule, . . . und auch wenn du am Abend auf Besuch gehst oderbei der Großmutter.)

Kitap evde, okulda, gezmede . . . çok uzun sürerse Ubahn’a binen ya da otobüste ya da trende yada taksi de okunur.(Das Buch wird zu Hause, in der Schule, . . . beim Besuch, wenn es sehr lang dauert, dann in derU-Bahn oder im Bus oder im Zug oder im Taxi gelesen.)

Bei einigen Kindern aus der Testgruppe ist der Einfluss der deutschen Sprache so stark, dass es ihnenschwer fällt, die Namen der Bäume auf Türkisch zu nennen.

(2) L1 TürkischAli: . . . Apfel Apfelbaum var. (Es gibt einen Apfelbaum.)Int: Tamam türkçe söylüyorsun. (Gut, du sagst das auf Türkisch.)Ali: Apfelbaum.Int: Türkçe. (Auf Türkisch.)Ali: Kirschenbaum.Ali: Türkçe. (Auf Türkisch.)Ali: Kirsche.

8.2 Spracherwerb und morphosyntaktische Merkmale des Türkischen

Untersuchungen zum Spracherwerb türkischer Kinder in einer monolingualen Situation werden vonAksu-Koç und Slobin (1985) zusammengefasst. Sie kommen zu der folgenden bemerkenswertenSchlussfolgerung (S. 854): With the exception of the marginal early and late errors, Turkish child speech is almost

entirely free of error (. . .).Was diese Feststellung veranschaulichen soll, ist die Leichtigkeit, mit der die türkischen Kinder die

Flexions- und Wortbildungsmorphologie der Sprache erwerben. Dieses Phänomen kann mit der extre-men Regelmäßigkeit des türkischen Morphologiesystems erklärt werden. Boeschoten (1990: 5) wie-derum weist darauf hin, dass dieses Argument leicht umgedreht werden kann: Die Regelmäßigkeit desMorphologiesystems macht die Grenze zwischen einem Systematisieren des Wissens und einem me-chanischen Auswendiglernen grammatikalischer Muster unklar.

Ekmekçi (1979, 1986, 1987), der Kinder im Alter von fünf bis sieben Jahren im ländlichen Raum inAnatolien untersucht hat, stellt fest, dass die agglutinative Morphologie des Türkischen sehr früh er-worben wird. Im Alter von zwei bis drei Jahren sind die Vokalharmonie und die Konsonantenassimila-tion bereits vorhanden. Bis zum Alter von 2;4 wird die richtige Reihenfolge der Suffixe erworben, dieKinder sind bereits in der Lage, an ein Wort mehr als fünf Suffixe anzuhängen. Stabil waren sowohl dieMorpheme für Dativ, Akkusativ, Ablativ, Genitiv und Instrumental, die Zahl sowie die Verbsuffixe fürdas Tempus, den Aspekt, die Person, die Negation und die Interrogation.

Die Wortstellung in einfachen türkischen Sätzen ist fast vollständig frei. Sie hat eine pragmatischeund keine syntaktische Funktion, mit Ausnahme der obligatorischen, präverbalen Platzierung des un-spezifischen, direkten Objekts.

Teil I – Psycholinguistische Studie

104

Aus den oben genannten Gründen ist es verständlich, dass unsere ProbandInnen bereits zu Beginnder Volksschule bei der Verbalflexion, der Fragebildung, der Negation und der Pluralbildung hoheKompetenzen besaßen.

Daher wird hier auf diese Bereiche unserer Untersuchung nicht eingegangen.

8.2.1 Passiv

Hinsichtlich des Gebrauchs des Passivs gibt es einen wichtigen Unterschied zum Deutschen. Aussagenim Passiv, in denen der/die UrheberIn der Handlung genannt wird, treten im Türkischen sehr viel sel-tener als im Deutschen auf. Auch bei unpersönlichen Aussagen wird eine aktive Form in der 3. PersonPlural eingesetzt. Daher wurde im ersten Testjahr nur das Nachsprechen überprüft, was die Kinder be-herrschten, während auf die Produktion und das Nachspielen verzichtet wurde.

8.2.2 Derivativa

Die türkische Sprache besitzt zahlreiche der Wortbildung dienende Suffixe, mit denen durch Anfü-gung an den unveränderten Wortstamm neue Wörter gebildet werden. Das Türkische weist vieleSuffixe auf, die Berufs- und Personenbezeichnungen ableiten, z. B. die Suffixe -cı (-ci, -cü, -cu), -men,

(-man), -en (-an), -ıcı (-ici, -ucu, -ücü), die in unseren Beispielen vorkamen, z. B. öğretmen (Lehrer), satıcý

(Verkäufer). Bei den Ableitungen mit -cı bleibt die Wortart gleich, aber die Bedeutung des Wortesändert sich (von Dingen, Begriffen, Pflanzen zu Personenbezeichnungen), bei den Ableitungen mit-men und -ıcı ändert sich auch die Wortart (vom Verb zum Nomen).

Anfang des

1. Schuljahres

Mitte des

1. Schuljahres

Ende des

1. Schuljahres

durchschnittlicher

Gesamtwert43% 84% 88%

Tab. 8.9: Derivativa: die Ergebnisse in prozentuellen Mittelwerten

Die Ableitung von aș (Speise) bereitete am meisten Schwierigkeiten. Der Grund dafür ist, dass das Le-xem aș im Wortschatz der Kinder – außer bei zwei Kindern – nicht vorhanden war. Durch die Antwor-ten der Kinder wurde deutlich, dass sie über das Wissen verfügen, dass das Suffix -cı Berufs- und Per-sonenbezeichnungen ableitet. 18% der Kinder gaben hier als Antwort hizmetci (BedienerIn). Trotz derLücken im Wortschatz versuchten sich die Kinder mit dem Suffix -cı zu helfen, indem sie es an dasWort anhängten. So gaben die Kinder als Antwort yemekci oder otobüscü und schufen dadurch eigeneWortkreationen.

Eigene Wortkreationen bringen auch die kindliche Sichtweise zum Ausdruck:

Șarkı söylüyor, anne denir. (Sie singt, sie wird Mutter genannt.)Otobüs sürüyor, polis derler. (Er fährt einen Autobus, er wird Polizist genannt.)

Im Februar desselben Schuljahres zeigte sich eine deutliche Verbesserung von 43% auf rund 84%.Am Ende des ersten Schuljahres waren die Kinder zu 88% in der Lage, die gefragten Derivativa zubilden.

8. Tests auf Türkisch

105

8.2.3 Genitivverbindung

Eine der wichtigsten Formen der inhaltlichen Verbindungen zweier Wörter erfolgt im Türkischendurch eine Genitiv-Possessiv-Konstruktion. Die meisten Schwächen der von Ekmekçi (1979, 1986,1987) untersuchten Gruppe im Alter von vier bis fünf Jahren waren Fehler in der Markierung von Fäl-len, z. B. die doppelte Markierung des Genitivs bu-nun dolab-ı-sı (dieses Kastens) statt bu-nun dolab-ı.

Auch Aydin Aytemiz (1990: 70) weist bei seiner Untersuchung von Nacherzählungen, die in der Türkeiund in Deutschland erstellt wurden, auf die Abweichungen bezüglich des Possessivsuffixes innerhalbder Konstruktion hin. Bei unserer Untersuchung der Genitivverbindungen konnten alle Kinder dieseAufgabe problemlos, d. h. zu 100% bewältigen. Die oben erwähnten Fallfehler waren jedoch bei unse-ren Spontanspracheinterviews häufig festzustellen. Die Fehler in der Morphosyntax vermehrten sichauch mit der Komplexität der angewendeten Strukturen und des Gesprächsthemas.

8.2.4 Gerundien

Gerundien (Verbaladverbien) sind verbale Bildungen in adverbialer Funktion. Sie beinhalten tempo-rale Angaben ohne personale Bestimmtheit. Gerundien sind feststehende Formen und dienen gewis-sermaßen der näheren Beschreibung des finiten Verbs (Witzel, 1992: 173). Von der Bedeutung her un-terscheidet man fünf Gruppen: Gerundium zur Satzverkürzung, des Zustands, der Zeit, des Grundes,des Vergleichs.

Die Tests wurden im zweiten Schuljahr mit Bildkarten und in zwei Etappen durchgeführt. In derersten Phase wurden dem Kind Bilder beschrieben und zwei Fragen gestellt, z. B.: Burada kar yağmıs.

Kar yağýnca ne yapılır? (Hier hat es geschneit. Was macht man, wenn es schneit?), bei der zweiten wurdedas Kind animiert, die Frage selber zu stellen. Die Interviewerin verwendete bei der Beschreibung derBilder das Verbaladverb -ince.

Erwartungsgemäß erzielten die Kinder in der ersten Phase höhere Werte. Auffallend bei dieser Un-tersuchung war, dass die Kinder mit der Aufforderung Șimdi de sen bana sor! (Jetzt frag du mich nach die-sem Bild!) überfordert waren, was auch den starken Rückgang bei den Werten erklärt. Im Juni wurdeder Test wiederholt. Die Methode war gleich, der Unterschied lag darin, dass die Kinder die zweite unddritte Frage selbst bilden sollten. Eine von diesen Aufgaben im Juni war ein Satz, der im Februar be-reits getestet worden war. Während die Kinder bei der Antwort auf die Frage Hasta alunca ne yapılır?

(Was macht man, wenn man krank ist?) einen Wert von 97% erreichten, erzielten sie im Juni bei derFragebildung mit Gerundien nur 73%.

Antworten Fragen

2. Schuljahr, Februar 94% 77%

2. Schuljahr, Juni 82% 79 %

Tab. 8.10: Gerundien: Vergleich der Werte vom Februar und Juni im 2. Schuljahr

Das zeigt, dass die Kinder Gerundien zwar kennen und auf die mit Gerundialformen gebildeten Fra-gen auch mit diesen Konstruktionen antworten, bei den selbst gebildeten Sätzen jedoch eher dazu nei-gen, einfachere Formen einzusetzen, z. B.: Erdal hasta oldu, ne yapıyor? (Erdal ist krank geworden, wasmacht er?) statt Erdal hasta olunca ne yapıyor? (Was macht Erdal, wenn er krank wird?).

Der Unterschied zwischen den Gerundiumsformen ist sehr fein. Da es sich bei Gerundien umziemlich komplexe grammatische Formen handelt, wurden alle Sätze, die ein Verbaladverb enthielten,mit der Höchstpunktezahl bewertet. Es war auffallend, dass die Kinder bei der Produktion den Loka-tiv, der eine einfachere Form ist, häufiger einsetzten.

Teil I – Psycholinguistische Studie

106

8.2.5 Relativsätze

Im Türkischen sind Relativsatzkonstruktionen keine Nebensätze, sondern in den Hauptsatz integriert.Dennoch können, wie Sari (1995: 134) betont, in beiden Sprachen – im Deutschen wie im Türkischen– die gleichen Sachverhalte ausgedrückt werden, obwohl die dafür im Einzelnen verwendeten Aus-drucksmittel äußerst unterschiedlich sind. Im Türkischen existieren weder Gliedsätze noch Relativpro-nomen. Das Relativpronomen ki, das im Osmanischen oft vorkam, wird im Türkischen sehr selten ge-braucht. Sari (1995: 15) weist darauf hin, dass die türkischsprachigen Kinder in Deutschland das Rela-tivpronomen ki öfter verwenden, was durch die Interferenz mit der deutschen Syntax verursacht wird.Solche Interferenzfehler traten auch bei unserer Untersuchung im Bereich der Wortdefinitionsaufgabeund Textkompetenz auf:

O kușu tüșündü ki o kedi yaramas. (statt: O kuș kedinin yaramaz olduğunu düșündü.)(Der Vogel hat sich gedacht, dass diese Katze schlimm ist.)

Eine andere Möglichkeit ist jedoch, dass dieses Relativpronomen ki aus dem Dialekt oder aus demKurdischen übernommen wird. Da die dialektologische Forschung in der Türkei wenig entwickelt ist,kann über diesen Sprachkontakt nichts Genaueres gesagt werden. Das kurdischsprachige Kind, vondem der unten zitierte Satz stammt, verwendete die ki-Konjunktion besonders häufig, was die oben er-wähnte Annahme unterstützen würde:

Yani söylüyor ki benim adım Hizbi. (statt: Benim adımın Hizbi olduğunu söylüyorlar.)(Sie sagen, dass ich Hizbi heiße.)

Beim Relativsatz wurden die Kinder im ersten Testjahr aufgefordert, einen Satz zu wiederholen und dieHandlung mit Holzfiguren nachzuspielen, z. B. Kedi peynir yiyen fareyi ısırıyor. (Die Katze beißt die Maus, dieden Käse frisst.) Interessanterweise sind hier die prozentuellen Mittelwerte bei der Imitation deutlich höherals jene bei der Verständnisleistung. Beim Nachsprechen erreichten die Kinder 78%, beim Nachspielen nur69%. Dieser Rückgang beim Wert des Nachspielens weist auf Verständnisprobleme hin. Einige Beispieledemonstrieren die morphosyntaktischen Unsicherheiten und Verständnisprobleme der Kinder:

Kedi yiyen fareyi ısırıyor. (Die Katze beißt die Maus, die frisst.)Kedi fareyi peynir yerken ısırıyor. (Die Katze beißt die Maus, während sie den Käse frisst.)

Bei der vorgespielten Situation ließen manche Kinder die Maus einfach weglaufen oder sie ließen dieKatze erst den Käse und dann die Maus fressen.

Im zweiten Schuljahr wurden die Relativsätze erneut in drei Phasen getestet. In allen drei Testpha-sen konnten die Kinder die Sätze problemlos nachsprechen. In der ersten Testphase wurden die Kin-der aufgefordert, bestimmte Personen im Bild zu suchen (Verständnisleistung), z. B.: Oturan çocuk nerde?

(Wo ist das Kind, das sitzt?). Danach sollten sie versuchen, Sätze wie Kitap okuyan kız nerde? (Wo ist dasMädchen, das ein Buch liest?) zu bilden (Produktion). Es handelt sich hier um nicht lexikalisierte Be-griffe, die im Türkischen durch Relativsätze oder Partizipialkonstruktionen gebildet werden. Der Rela-tivsatz mit dem Bezugsnomen stellt den neuen Begriff dar, z. B. resim yapan çocuk (das Kind, das malt).Der durch die Attribution eines Relativsatzes zu einem Nomen gebildete Begriff wird im Satz anstelleeines Nomen verwendet (Fittschen und Ileri 1994: 55). Die Verständnisleistung wurde von allen er-bracht, und auch bei der Produktion wurde ein relativ guter Wert erzielt (85%).

In der zweiten und dritten Testphase desselben Jahres wurden die Kinder beim Verständnistestaufgefordert, einen gehörten Satz, z. B. Ayșe kokladığı çiceği masaya koydu. (Ayșe legte die Blume, an dersie gerochen hatte, auf den Tisch.), zu wiederholen und die Ereignisabfolgen zu zeigen, wobei sie eine

8. Tests auf Türkisch

107

hohe Kompetenz zeigten (97%). Bei der Produktion hatten die Kinder die Aufgabe, die vorgespielteSituation mündlich auszudrücken. In beiden Testphasen fielen die Werte bei der Produktion deutlichzurück. Im Februar bildeten 50% der Kinder einen Relativsatz: Ahmet açtığı dolabı kapatıyor. (Ahmetmacht den Kasten zu, den er aufgemacht hat.).

Im Juni waren es beim ersten Satz (Ayșe ısırdığı elmayı yere attı. – Ayșe warf den Apfel, den sie ange-bissen hatte, auf den Boden.) 55% und beim zweiten Satz (Adam çıkardığı ceketini çekmeceye koydu. – DerMann legte die Jacke, die er ausgezogen hatte, in die Schublade.) nur 22%.

Der Grund dafür kann eine Überforderung des kindlichen Kurzzeitgedächtnisses oder die relativkomplizierte Ereignisabfolge (die Jacke ausziehen, den Kasten aufmachen, die Jacke hineingeben undden Kasten zumachen) sein. Die anderen wandelten die Relativsätze teils in einfache oder in durch ve

(und) koordinierte Sätze oder in Temporalsätze um. 12% der Kinder beschränkten sich bei der Umfor-mulierung im Februar nur auf den Hauptsatz, im Juni galt dies hingegen nur für ein Kind. Bei der Pro-duktion wurden auch Gerundialformen verwendet, wodurch sich die Satzbedeutung veränderte:

Adam ceketini çıkarıp çekmeceye koydu.(Der Mann zog seine Jacke aus und legte sie in die Schublade.)Ayșe ısırırkene elmalı șekeri düșürdü.(Während Ayșe biss, ließ sie den kandierten Apfel fallen.)

8.2.6 Temporal- und Kausalsätze

Temporal- und Kausalsätze werden im Türkischen durch Gerundien (Verbaladverbien) gebildet. Ver-baladverbien sind verbale Bildungen in adverbialer Funktion, sie sind personal unbestimmt und neh-men keine Personalsuffixe an (Witzel 1992: 173). Die gerundialen Bildungen, die in unseren Beispielenvorkommen, sind -meden önce (bevor), -dikten sonra (nachdem) und -dığından bzw. dığı için (weil).

Im zweiten Schuljahr wurden die Kausalsätze mit Hilfe von Scenotestfiguren in zwei Stufen getes-tet. Den ProbandInnen wurden Szenen vorgespielt, danach wurden sie nach den Handlungszusam-menhängen gefragt.

1) Bak, burada Cevat ve annesi var. Cevat bir bardak su içerken bardağı yere düșürüyor. Cevat’ın annesi ona

kızıyor. Neden? (Schau, das sind Cevat und seine Mutter. Cevat trinkt ein Glas Wasser undlässt das Glas auf den Boden fallen. Cevats Mutter schimpft mit ihm. Warum?)

2) Aylin yere düșüp yaralan iyor ve ağlıyor. Aylin neden ağlıyor? (Aylin fällt auf den Boden, verletztsich und weint. Warum weint Aylin?)

Hier erreichten die Kinder einen Wert von 70%. Es kam nur dreimal vor, dass die Antworten ohnekausale Konjunktionen wie için, diye, çünkü erfolgten. Im Allgemeinen konnten die Kinder Kausalkon-struktionen anwenden, wenngleich die Einfachheit der Antworten auffiel. Obwohl – wie erwähnt –türkischsprachige Kinder die Morphologie früh erwerben, kommen bei solchen komplizierten Kon-struktionen Fallfehler vor, was auf eine Überforderung der Kinder hinweist. Einige Kinder verwende-ten statt der 3. die 2. Person, z. B.:

bardağı kırd n diye (weil du das Glas zerbrochen hast)statt: bardağı kırdý diye (weil er das Glas zerbrochen hat)

Die Komplexität der Aufgabenstellung wurde dem Alter entsprechend erhöht. Im 3. und 4. Jahr beka-men die Kinder Kärtchen, auf denen Teile eines Satzes klein geschrieben waren. Die Aufgabe bestanddarin, aus den Kärtchen einen Satz zu bilden. Die Überprüfung der Kausal- und Temporalsätze vom

Teil I – Psycholinguistische Studie

108

dritten Testjahr wurde im vierten Jahr wiederholt, da die Kinder im dritten Schuljahr bei dieser Aufga-benstellung relativ niedrige Werte erzielt hatten. Die Sätze wurden jedoch leicht abgeändert.

Das folgende Diagramm verdeutlicht, wie sehr die Kinder sich in diesem Bereich im Vergleich zumvorangegangenen Jahr verbessert haben:

Kausalsätze: Temporalsätze:

Satz 1

3. Schuljahr: Dün çok yağmur yağdığındanpikniğe gidemedik. (Gestern konnten wir nichtpicknicken fahren, weil es viel geregnet hat.)

4. Schuljahr: Bugün hava çok sıcak olduğundanyüzmeye gideceğiz. (Wir gehen heute schwimmen,weil es sehr heiß ist.)

Satz 2

3. Schuljahr: Ali topunu kaybettiği için çok ağladı(Ali weinte sehr, weil er seinen Ball verloren hatte.)

4. Schuljahr: Esra bebeğini kaybettiği için bütüngün çok ağladı.(Esra hat den ganzen Tag geweint, weil sie ihrePuppe verloren hatte.)

Satz 3

3. Schuljahr: Ayşe ancak misafirler gittikten sonrauyuyabildi. (Ayşe konnte erst schlafen, nachdem dieGäste gegangen waren.)

4. Schuljahr: Küçük çocuk ancak misafirler gittiktensonra uyuyabildi. (Das kleine Kind konnte erstschlafen, nachdem die Gäste gegangen waren.)

Satz 4

3. Schuljahr: Abisi okula gitmeden önce küçük Ahmetonunla oynadı. (Bevor sein älterer Bruder in die Schuleging, hatte der kleine Ahmet mit ihm gespielt.)

4. Schuljahr: Ablası okula gitmeden önce küçükMurat onunla oynadı. (Bevor seine ältere Schwester indie Schule ging, hatte der kleine Ahmet mit ihrgespielt.)

Während die erzielten Werte im dritten Jahr zwischen 59% und 41% lagen, lag der Mindestwert imvierten Jahr bei 74%. Die Verbesserung der Werte ist bei dem dritten Satz mit 5% sehr gering. DerTemporalsatz Ayșe ancak misafirler gittikten sonra uyuyabildi. (Ayșe konnte erst schlafen, nachdem dieGäste gegangen waren) konnte mit relativ guten Werten (82%) bewältigt werden. Im vierten Testjahrwurde Ayșe als Subjekt durch küçük çocuk (kleines Kind) ersetzt und durch die Kombination eines Ad-jektivs (klein) mit einem Nomen (Kind) die Aufgabe erschwert. Das mag auch der Grund für die ge-ringe Verbesserung sein.

Bei den restlichen Sätzen konnten die Werte um 20 bis 40% verbessert werden. Auf der syntakti-schen Ebene wird das Türkische durch eine Subjekt-Objekt-Verb-Reihenfolge charakterisiert. Aller-dings wird diese Reihe nicht immer beachtet. Ein Satz, der nicht mit einem Verb endet, wird devrik cümle

(wörtlich: umgekippter Satz) genannt. Diese flexible Art der Satzstellung ermöglicht es den Kindernauch, viele verschiedene und dennoch richtige Sätze zu bilden.

8. Tests auf Türkisch

109

80

20

100

40

0

60

Satz 1 Satz 2 Satz 3 Satz 4

3. Schuljahr

4. Schuljahr

Pro

zen

tuel

leM

itte

lwer

te

Fig. 8.1: Temporal- und Kausalsätze: Vergleich 3. und 4. Schuljahr

Die deutliche Verbesserung der erzielten Werte bei dieser komplizierten Aufgabenstellung (Lesen+ Verstehen + die Satzteile richtig platzieren) zeigt, dass die Kinder in ihrer L1 eine morphosyntakti-sche Sicherheit haben, vorausgesetzt, sie haben genug Zeit, sich mit den Sätzen bzw. Satzteilen ausein-ander zu setzen.

8.2.7 Sprachaufmerksamkeit

Tests zur Sprachaufmerksamkeit wurden in den letzten drei Schuljahren durchgeführt. Die Aufgaben-stellung bestand darin, vorgelesene, fehlerhafte Sätze zu korrigieren. Das Kind musste erkennen, dassder Satz inkorrekt war und diesen dann richtig stellen. Im zweiten Schuljahr wurde ein häufiger Fehlergetestet, den Aksu-Koç und Slobin beschreiben:

Most common errors up to age 4 are attributives (. . .) the nominalizing suffix -mE17, in con-texts where the stative -mIș participle would be appropriate. (Aksu-Koç und Slobin 1985: 852)

Im Oktober des dritten Schuljahres wurden fünf abweichende Sätze, bei welchen es sich um längereund kompliziertere Satzkonstruktionen handelte, den Spontansprachinterviews aus dem ersten Test-jahr entnommen. Diese Aufgabe wurde im Juni desselben Jahres mit drei Sätzen wiederholt. Im letztenSchuljahr kamen zwei der Sätze aus der zweiten Klasse und drei Sätze aus der dritten Klasse neuerlichals Aufgabe zum Einsatz.

A) Tabakta soyulma portakal var. (Auf dem Teller ist eine geschälte Orange.):Nominalsuffix -mE statt Partizip Perfekt -mIș, richtig: soyulmuș

B) Çocuk yarısı kesilme elmayı istemiyor. (Das Kind mag den in die Hälfte geschnittenen Apfelnicht.): Nominalsuffix -mE statt Partizip Perfekt -mIș, richtig: kesilmiș

C) Anne ısırılma elmayı çöpe attı. (Die Mutter hat den abgebissenen Apfel in den Mist geworfen.):Nominalsuffix -mE statt Partizip Perfekt -mIș, richtig: ısırılmıș

D) Ahmet’in küçük bir kardeș- var. (Ahmet hat einen Bruder.): Possessivsuffix fehlt, richtig: kardeși

E) Okula gelmediğim günü hastaydım. (An dem Tag, an dem ich nicht in die Schule ging, war ichkrank.): überflüssiges Possessivsuffix, richtig: gün

F) Anne çocuğa bardağı kırd n diye kızıyor. (Die Mutter schimpft mit dem Kind, weil es das Glaszerbrochen hat.): falsche Personalendung, richtig: kırdı

G) Parkta bisikletle geçiyorum. (Ich fahre mit dem Fahrrad im Park oder: durch den Park.): falschePostposition oder falsches Verb

H) Ayșe pastasını yere düștü diye ağlıyor. (Ayșe weint, weil ihr Kuchen auf den Boden gefallen ist.):überflüssige Akkusativendung oder falsches Verb

In der folgenden Liste werden die Prozentsätze der richtig korrigierten Sätze aller Testphasen angege-ben (Angaben in Prozenten):

Teil I – Psycholinguistische Studie

110

17 Im Türkischen werden auf Grund der Vokalharmonie die Vokale innerhalb eines Wortes lautlich aneinander angepasst,d. h. dass ein Suffix, je nachdem, an welches Wort es angehängt wird, verschiedene Formen annimmt, also z. B. -ma, -meoder -miș, -mıș. Die Konvention der Großschreibung versucht, diesem Umstand Rechnung zu tragen. (Der groß geschrie-bene Vokal ist Veränderungen unterworfen.)

Sätze A B C D E F G H

2. Schuljahr, Februar 30% 54% 54%

3. Schuljahr, Oktober 91% 47% 30% 56% 52%

3. Schuljahr, Juni 72% 36% 81%

4. Schuljahr, Juni 86% 90% 59% 55% 82%

Tab. 8.11: Sprachaufmerksamkeit: Vergleich 2., 3. und 4. Schuljahr

Wie aus dieser Tabelle ersichtlich ist, konnten die Kinder ihre Kompetenz, morphosyntaktische Inkon-sistenzen richtig zu stellen – ausgenommen die Sätze F und G – mit jedem Jahr steigern.

Bei Satz F hatten die Kinder große Probleme, den Fehler überhaupt zu erkennen und ihn zu korri-gieren. Es handelt sich bei diesem Satz um eine Bildung mit diye. Diye ist eine von demek (sagen) abgelei-tete Form und tritt sehr oft auf. In diesem Satz wird durch diye ein Adverbialsatz des Grundes um-schrieben. Auch in anderen Adverbialsätzen findet diye Anwendung. Diye wird auch in der wörtlichenRede gebraucht. In unserem Satz liegt der Fehler an der Personalendung. Kırmak (zerbrechen) sollte inder 3. Person Singular sein, weil die Handlung vom Kind durchgeführt wird (siehe Kapitel 8.2.6: Tem-poral- und Kausalsätze). In dem nicht korrekten Satz ist die Personalendung in der 2. Person, was derdirekten Rede entspricht. Um die Ähnlichkeit der beiden Formen zu verdeutlichen, sollen diese vergli-chen werden:

Anne çocuğa bardağı kırdı diye kızıyor.(Die Mutter schimpft mit dem Kind, weil es das Glas zerbrochen hat.)

Anne çocuğa: Bardağı neden kırdın, diye kızıyor.(Die Mutter schimpft mit dem Kind: Warum hast du das Glas zerbrochen?)

Die Richtigstellung des Satzes sollte entweder durch die Änderung der Personalendung (Adverbialsatz)oder durch das Hinzufügen des Fragepartikels neden, niye (warum) (wörtliche Rede) erfolgen. Die dritteMöglichkeit der Richtigstellung erfolgt mit -diği için, die mit einem Kausalsatz (weil) ins Deutsche über-setzt wird. Acht Kinder erkannten bzw. korrigierten den Fehler im vierten Jahr nicht. Die restlichen 13Kinder verbesserten den Fehler richtig.

Bei Satz G gingen die Werte im Juni des dritten Jahres deutlich zurück, während sie im Juni desvierten Jahres wieder fast den gleichen Prozentsatz wie im Februar des zweiten Schuljahres erreichten.Dieser Satz hat zwei Möglichkeiten: Entweder ist die Postposition falsch oder das Verb. Die Lokativen-dung -DE (hier nach Vokalharmonie und Konsonantenwandel: -ta) gibt den Ort an, wo jemand oderetwas sich befindet. Das Verb geçmek (durchfahren) ist ein Bewegungsverb. Durch diese unterschiedli-che Semantik ist der Satz in sich widersprüchlich, was die Kinder deutlich irritierte. Im letzten Schul-jahr erkannten neun der Kinder den Fehler nicht, ein Kind korrigierte den Fehler falsch. Zwölf Kinderverbesserten den Satz richtig.

8.3 Zusammenfassung

Zusammenfassend kann man sagen, dass die türkischsprachigen Kinder im lexikalischen Bereich Fort-schritte verzeichnen konnten. Jedoch verwendeten sie auch im dritten Schuljahr sehr wenige Über-begriffe für ihr Alter. Sie hatten Schwierigkeiten, sich auf der paradigmatischen Ebene zu äußern.Die Kinder verwendeten Umschreibungen, die ihnen nicht immer gelangen. Im Lauf der vierjährigenUntersuchung wiesen die türkischsprachigen Kinder im Bereich des Lexikons eine besondere Schwä-

8. Tests auf Türkisch

111

che auf. Je differenzierter ein Begriff ist, desto schwieriger ist es für sie, die Entsprechung in ihrer L1zu benennen (zu den Gründen siehe Teil II: Soziolinguistische Begleitstudie).

Im dritten Schuljahr wurde parallel zu der Testgruppe in Wien eine Kontrollgruppe in einem Vor-ort in Ankara getestet. Die großen Unterschiede in der Sprachkompetenz zwischen den Migrantenkin-dern in Wien und den in der Türkei lebenden Kindern zeigten sich besonders darin, dass die Kontroll-gruppenkinder Über- und Unterbegriffe und Begriffe aus der paradigmatischen Ebene verwendeten.

Obwohl die Kinder im systemlinguistischen Test die Genitivverbindungen zu 100% beherrschten,kamen in der Spontansprache Fehler bei der Markierung von Fällen vor. Neben der Tatsache, dass dieKinder die türkische Flexions- und Wortbildungsmorphologie mit Leichtigkeit erwerben, zeigte auchdie deutliche Verbesserung bei komplizierten Aufgabenstellungen wie Temporal- und Kausalsätze(durchschnittlich 81%), Sprachaufmerksamkeit (durchschnittlich 72%) oder Gerundien (durchschnitt-lich 84%), dass unsere ProbandInnen in ihrer L1 eine morphosyntaktische Sicherheit haben, vorausge-setzt, dass sie sich nicht überfordert fühlen und dass ihnen ihre großen Lücken im Lexikon nicht imWeg stehen. In jenen Situationen, in welchen sie sich überfordert fühlen, z. B. bei einer mündlichenoder schriftlichen Erzählung oder auch in der Spontansprache, unterlaufen ihnen bei solchen kompli-zierten morphosyntaktischen Konstruktionen mehr Fehler.

Teil I – Psycholinguistische Studie

112

9. Textkompetenz

Kinder kommen meist mit einer relativ hohen mündlichen Alltagskompetenz in der Erstsprache in dieSchule (wobei auch das nicht immer der Fall ist). Textkompetenz muss jedoch erst schrittweise in derSchule erworben werden – im Idealfall mit Unterstützung durch das Elternhaus (vgl. u. a. Portmann1998). Bekannt ist in diesem Zusammenhang insbesondere Cummins’ (1979; 1981; 1991) Unterschei-dung zwischen den „basic interpersonal skills“ (BICS) und der „cognitive academic language profi-ciency“ (CALP). Der Erwerb der kognitiv-akademischen Sprachfähigkeit, welche nicht nur Textkom-petenz in der jeweiligen Muttersprache, sondern auch sachbezogene, logische Denkfähigkeit im Allge-meinen umfasst, ist nicht nur eines der Ziele des Unterrichts, sondern zweifellos auch einer der wich-tigsten Faktoren für schulischen Erfolg, insbesondere ab der vierten Klasse Volksschule (vgl. auchPortmann 2000; 2001). Eine hohe/geringe Textkompetenz wirkt sich nicht nur auf den GegenstandDeutsch, sondern auch auf den Erwerb anderer Fremdsprachen, den Gegenstand Mathematik (Text-aufgaben!) sowie auf sämtliche „Lerngegenstände“ aus.

Die Bilingualismusforschung weist stark darauf hin (vgl. Cummins 1991; Ehlers 2000), dass dieAneignung von Textkompetenz grundsätzlich am leichtesten in der jeweiligen Erstsprache erfolgt undin weiterer Folge „als Ausdruck ein und derselben zugrundeliegenden Dimension“ (Cummins 1979;1991) auf andere Sprachen transferiert werden kann. Kinder mit einer anderen Erstsprache alsDeutsch, wie die Mehrheit unserer ProbandInnen, befinden sich hier in einer denkbar schwierigenAusgangssituation: Sie sollen schriftsprachliche Fähigkeiten in einer Zweitsprache erwerben, die sie beiSchuleintritt häufig nur auf einem niedrigen Niveau oder gar nicht beherrschen. Gleichzeitig könnensie – im Gegensatz zu älteren Lernenden – nicht auf entsprechende Fertigkeiten aus der Erstsprachezurückgreifen, und auch ihre mündliche Alltagskompetenz in der jeweiligen Erstsprache ist zu Schul-eintritt, wie oben bereits angedeutet, nicht unbedingt altersgemäß entwickelt. Dies wird auch durch dieErgebnisse unserer Studie (vgl. Details in Peltzer-Karpf et al. 2000, 2001) bestätigt.

Auf Grund ihrer außerordentlichen Bedeutung verfolgten wir die Textkompetenz unserer Proban-dInnen kontinuierlich vom zweiten bis zum vierten Schuljahr. Während im zweiten und vierten Schul-jahr der Schwerpunkt auf der schriftlichen Textproduktion lag, wurde im dritten Untersuchungsjahrdas Verstehen von Sachtexten sowie von mathematischen Textaufgaben ins Blickfeld genommen.

9.1 Schriftliche Textproduktion

9.1.1 Methode

Als probates Mittel zur Untersuchung von Erzähl- und Textkompetenz hat sich im Zweit-/Fremd-sprachenerwerb der Einsatz von Bildgeschichten erwiesen. Zahlreiche aktuelle Studien bedienen sichdieses praktikablen Datenerhebungsinstruments (u. a. Akinci 2001; Hendriks 2001; Janssens/Housen2001). Bildgeschichten geben die Gestalt des zu produzierenden Textes zwar stark vor, garantieren aufdiese Weise aber optimale Vergleichbarkeit. Letzteres war auch für uns das entscheidende Kriteriumbei der Wahl der Untersuchungsform. Sowohl im zweiten als auch im vierten Schuljahr kam als Stimu-lus eine Bildgeschichte zum Einsatz, welche von den ProbandInnen ohne Hilfestellung des Lehrperso-nals schriftlich erzählt wurde. Dem fortgeschrittenen Alter der Kinder angemessen, wurde im viertenJahr eine – im Vergleich zur Testung im zweiten Jahr – etwas anspruchsvollere Bildgeschichte gewählt,die sich aber für einen Vergleich dennoch gut eignete (siehe Anhang). Die Erzählungen der Kinderwurden transkribiert und – um die Authentizität zu erhalten – durchwegs unkorrigiert wiedergegeben.Im Mittelpunkt unserer Analyse standen in beiden Testphasen folgende Kategorien:

113

(1) Erzählstruktur und Kohärenz (logische Verknüpfung),(2) Kohäsion (sprachliche Verknüpfung),(3) Erzähllänge (Anzahl der Wörter).

In den einzelnen Kategorien wurden verschiedene Entwicklungsstufen unterschieden, welchen Punkt-werte zugeordnet wurden: 0 (punktuelle Beschreibung) bis 7 (kohärente Erzählung) in (1) sowie 0(nicht kohäsiv) bis 4 (weitgehend kohäsiv) in (2). Zur Erfassung von Erzählstruktur und Kohärenz ori-entierten wir uns einerseits an Berman/Slobin (1994), griffen aber auch auf ein älteres, jedoch sehrpraktikables Modell von Applebee (1978) (basierend auf Vygotsky 1962) zurück, das wir für unsereZwecke adaptiert und erweitert hatten.

9.1.1.1 Deutsch

Erzählstruktur und Kohärenz

In der ersten Testphase in der Mitte des zweiten Schuljahres waren über 40% der von den Kindern mittürkischer L1 produzierten Texte als punktuelle Beschreibungen einzustufen bzw. lediglich mit viel Einfüh-lungsvermögen der LeserInnen bei gleichzeitiger Kenntnis der zu erzählenden Bildgeschichte als deut-sche Texte zu erkennen:

(1) (2)2. Schuljahr 2. Schuljahr

L1 Türkisch

Die Kaztse und Vogel.Ich zeche eine baum und kaztse und einen Vogel.Ich zeche einen Kaztse und Vogel.Ich zeche nur ein Kaztse.(24 Wörter)

L1 Türkisch

teja kaste wil foel esten.teja fuel eeist bam.kaste sterk inten ban.fugl get kaste.kast nig siwen.fugel get intera kae.fugels at intem kaste.(27 Wörter)

In (1) werden die Akteure (Katze, Vogel) lediglich aufgezählt und ein wesentliches Element des Handlungs-schauplatzes (Baum) genannt. Die Texte enthalten jedoch ausschließlich das Verb „sehen“, kein einzigesVerb, das die Handlung der Bildgeschichte beschreiben würde, ist vertreten. Das zweite Textbeispiel ist aufden ersten Blick kaum verständlich; das Kind hat noch sehr große Probleme mit der Schriftsprache.

Auch in Kategorie 1 (Sequenzen) war der Anteil der Kinder mit türkischer Erstsprache mit fast 27%mit Abstand am größten.

(3) (4)2. Schuljahr 2. Schuljahr

L1 Türkisch

Wir üben.Die Katze legt siech in die Wiese.Die Katze fliegt.Die Katze schwimmt.Die Katze springt ins Wassa hinein.(21 Wörter)

L1 Türkisch

Die Katze schleft.Die Katze schleft in den Baum.Der Vogel flieg.Die Katze falt.(15 Wörter)

Wie die Beispiele (3) und (4) deutlich machen, sind in Sequenzen im Vergleich zu punktuellen Beschreibungen

zumindest bereits Verben vertreten, die mit der Handlung der Geschichte in Verbindung stehen (z. B.fliegen, springen, fallen).

Teil I – Psycholinguistische Studie

114

Kaum verständliche Texte und punktuelle Beschreibungen treten im vierten Schuljahr nicht mehr auf,Sequenzen ausnahmslos in Gruppe 1 und auch hier stark vermindert.

2. Schuljahr 0 1 2 3 4 5 6 7

Türkisch 40% 26,7% 6,7% 0 % 6,7% 13,3% 6,7% 0%

BKS 0% 3,7% 7,4% 3,7% 44,4% 29,6% 11,1% 0%

andere

Muttersprachen0% 12,5% 12,5% 0 % 25 % 37,5% 12,5% 0%

Deutsch 0% 0 % 0 % 0 % 0 % 28,6% 52,4% 19%

Tab. 9.1: Erzählstruktur und Kohärenz: prozentuelle Anteile auf einer Skala von 0–7

(siehe dazu Legende Fig. 9.1)

Der folgende Text stammt von demselben Autor wie (2) und zeigt eine sehr deutliche Entwicklungs-steigerung:

(5)L1: Türkisch

4. Schuljahr

Es war ein mal ein mänc du heist Erdinc geht in dem Fisch fangen mit seinem kübel er will mitseiner Angel Fisch fangen und die Erdinc hat so viel gewartet. Und dort war es ein rote Fischund Erdinc hat diese Fisch gefangen kleine Fisch will den kleinen Fisch essen und die Fischehaben runde gemacht weil die wollen dem kleinen Fisch helfen. Und ist es so Erdinc kann nichtdenn Fischen und die Erdinc felt runder mit seinem kübel runtergefalen Und Die Fischeschwimmen weg. (89 Wörter)

Auch wenn dieser Text noch große Unsicherheiten in der Morphosyntax sowie Lücken im Lexikonverdeutlicht (was sich in gravierenden Kohärenz- und Kohäsionsstörungen manifestiert), weist erdoch erzählerische Elemente auf und enthält einen Erzählkern, der allerdings schwer verständlich ist.Der Mangel an logischen Verknüpfungen bedingt, dass es noch am Leser/an der Leserin liegt, die Zu-sammenhänge intuitiv herzustellen. Es handelt sich um eine einfache Erzählung mit Kern und somit umeinen Entwicklungsschub von 0 auf 5.

9. Textkompetenz

115

0

10

20

30

40

50

60

0 1 2 3 4 5 6 7

Kategorien

Proz

entu

elle

Ant

eile

Türkisch

BKS

andereMuttersprachen

Deutsch

Fig. 9.1: Erzählstruktur und Kohärenz: Ergebnis 4. Schuljahr

Legende:0 = keine deutschen Wörter/

= punktuelle Beschreibung1 = Sequenzen2 = Ketten ohne Erzählkern3 = einfacher Text ohne Erzählkern

4 = Ketten mit Erzählkern5 = einfache Erzählung mit Erzählkern6 = Erzählung mit geringfügiger

= Kohärenzstörung7 = kohärente Erzählung

Ketten ohne/mit Erzählkern (Kategorie 2/4), welche im zweiten Schuljahr noch einen beträchtlichenprozentuellen Anteil ausmachten, speziell in Gruppe 2 (BKS), sind im vierten Jahr nur noch eineRanderscheinung.

(6)L1 BKS

2. Schuljahr 4. Schuljahr

Kaze schlaff neben den Baum. Kaze will denvogel fangen und der vogel vligt weg. Kaze istvon Baum runtage valen. Kaze ist von Baumruntage valen in wasa.(29 Wörter)

Der Mann Angeld.Der Mann Angeld.Der Fisch wurde gefangen.Die anderen Fische ziehen in.Der Mann zieht zu sich.Die Fische ziehn sich die Angel zu sich und derMann fällt ins Wasser.(34 Wörter)

Dieses Kind konnte seine erzählerischen Fertigkeiten lediglich sehr moderat steigern. Es springt zwarsofort ins Auge, dass die Autorin im vierten Jahr Artikel wesentlich häufiger verwendet und auch inpunkto Orthographie große Fortschritte erzielte, dennoch handelt es sich in beiden Fällen um Ketten

mit Erzählkern. Die sprachliche Verknüpfung (Kohäsion) ist noch immer sehr dürftig und erzählerischeElemente fehlen zur Gänze.

Die deutliche Mehrheit der Kinder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch befindet sich imvierten Schuljahr auf den Stufen 3 bzw. 5 (einfache Texte ohne Kern bzw. einfache Erzählungen mit Kern). Diesbedeutet, dass die Texte im Gegensatz zu Ketten bereits erzählerische Elemente (Namensgebung, for-melhafte Wendungen, spannungssteigernde Elemente u. Ä.) enthalten, jedoch noch deutliche Kohä-renzstörungen aufweisen.

Der Unterschied zwischen der Kompetenz von Kindern mit deutscher L1 und nicht deutscher L1 kris-tallisierte sich im zweiten Volksschuljahr ab Stufe 6 (Erzählung mit geringfügiger Kohärenzstörung) besonders deut-lich heraus. In diese Kategorie fielen rund 52% der Texte der Kinder mit deutscher Erstsprache. In den ande-ren Probandengruppen waren es nur rund 11% (Kinder mit den Erstsprachen BKS), rund 13% (Kinder mitanderen Erstsprachen) und rund 7% (Kinder mit türkischer L1) der Texte. In Kategorie 7 (kohärente Erzählun-

gen) waren im zweiten Jahr überhaupt nur Geschichten von Kindern mit deutscher L1 vertreten.

(7) (8)L1 Türkisch

2. Schuljahr

L1 Deutsch

2. Schuljahr

Der Kater und die Vogel.Der Kater liegt in der Wiese. Er hat viel hunger.Auf einmal kommt der Kater weil er die Vogelfressen will. Die Vogel ist schnella als Kater.Der Kater ist böse weil er nicht schnella ist.Er fällt vom Baum herunter. Er fällt in der See.Oje!der Kater ist arm.(56 Wörter)

Eine Katze schlich durch dem Wald.Sie sah einem Vogel auf dem Baum sitzen.Die Katze Hüpfte auf den Baum.Sie wollte sich gerade Auf dem Vogel stürtzen.Der Vogel hat es bemerkt und ist davon geflogen.Die Katze Sprung ins Lehre die Katze ergerte sichsehr. Die Katze hatte sich so über den Leckerbissengefreut. Das sie nicht bemerkt hat das der Ast übereinem großen See hang. Aber es war zu spät.Sie landete im Wasser die Katze war sehr Böse.(83 Wörter)

Als kleine Störung in der Kohärenz muss in (7) die Tatsache bezeichnet werden, dass nicht erwähntwird, dass der Baum neben einem Teich steht. Denn an sich wäre es logischer, auf den Boden (anstattins Wasser) zu fallen, wenn man von einem Baum stürzt. Erzählerisch war dies im zweiten Jahr aber der

Teil I – Psycholinguistische Studie

116

eindeutig beste Text in der Gruppe der Kinder mit türkischer Erstsprache. Er weist spannungsstei-gernde Elemente auf, wie die Markierung der Plötzlichkeit durch auf einmal, berichtet über die innerenZustände und Reaktionen der Akteure (der Ausruf Oje) und enthält einen Schluss.

Im vierten Schuljahr ist der Anteil der Kinder mit deutscher Erstsprache in diesen beiden Katego-rien noch immer mit Abstand am größten.

(9) (10)L1 BKS

4. Schuljahr

L1 Deutsch

4. Schuljahr

Tomi und die sechs unhöflichen Fische!An einem sonnigen Tag ging Tomi mit seinerAngel und einengeben Eimer fischen. Tomi warüberglücklich, er hatte seinen hellbraunen HutAuf seinem Kopf, denn er glaubte das der Hut imGlück branng. Der Bub setzte sich auf den Stegund begann zu angeln. Im Wasser schwammtengroß und kleine Fische. Da schwamm ein kleinerroter Fisch hinterher. Dieser intersierte sich fürdas stück Brot am Haken. Der rote Fisch wolltegrade das Stück Brot auf essen, aber er wurdeam Haken gefangen. Da sahen es die Freudevom kleinen roten Fisch wie er am Haken armgefangen war. Aber Tomi hatte großen Pech deneiner von den Fischen hatte eine sehr gute Idee,alle fünf Fische zogen doch der große amSchwanz vom rotem kleinen Fisch. Tomi fiel aufden Rücken und dann fiel er ins Wasser mit seinerAngel natülich fiel der Eimer mit. Die glücklichenFische ließen sich los und schwammen fröhlichweg. Tomi und seine Sachen waren total nass.Da war Tomi sehr auf die Fische böse.Ende!(179 Wörter)

Pech gehabt, mein Lieber!Der kleine Franz soll heute Fische fürs Mittagessenfangen. Er setzt sich auf den Steg der weit insWasser führt. Franz wirft seine Angel aus. Daschwimmt plötzlich ein großer Schwarm Fischevorbei. Die Fische achten gar nicht auf denleckeren Wurm der auf dem spitzen Angelharkenhängt. doch ein roter kleiner Fisch schaut auf undhap ist der Wurm verschluckt und der Angelharkenim Mund. Der Kleine zappelt hilfesuchend hin undher. Schon bald bemerken die anderen Fische, dassein Fisch fehlt! Franz bemerkt natürlich, dass einFisch an der Angel hängt! Er ruft: Juchu enddlichhab ich einen! Schnell schnappen die Fische, vonden anderen die Schwanzflosse und ziehen undziehen. Franz ächzt: Toll! Das ist ein ganz großer!Franz zieht und zerrt und die Fische ziehen undzerren. Franz‘ Eimer fällt runter. Plötzlich kipptFranz und landet mit einem harten Bauchklatscherim Wasser. Die Fische lachen und der kleine roteFisch bedankt sich bei den anderen Fischen fürihre Heldentat.Pech gehabt, mein Lieber!(171 Wörter)

In beiden Geschichten wird auf Details eingegangen, die auch mit eigenen Gedanken ergänzt und ge-schickt in die Erzählungen eingebaut werden:

Tomi war überglücklich, er hatte seinen hellbraunen Hut Auf seinem Kopf, denn er glaubte dasder Hut im Glück branng. (K28)Der kleine Franz soll heute Fische fürs Mittagsessen fangen. Er setzt sich auf den Steg der weitins Wasser führt. (K75)

Beide Texte wirken durch den häufigen Einsatz von Adjektiven bzw. Adverbien sehr lebendig, insbesondere10, wobei sich hier ein deutlicher Unterschied zwischen der Erzählung des Kindes mit deutscher L1 und je-nem mit Erstsprache BKS insofern festmacht, als Letzteres diese zum Teil auch unpassend bzw. falsch ver-wendet (z. B. . . . wie er am Haken arm gefangen war). Ferner hat die Autorin mit Erstsprache BKS gelegentlichauch noch Schwierigkeiten mit dem korrekten Einsatz von Adverbien und Konjunktionen. Dies schlägt sichimmer wieder in kleineren Störungen der Kohärenz und Kohäsion nieder, weshalb ihre Geschichte auch mit6 (Erzählung mit geringfügigen Kohärenzstörungen) eingestuft wurde, im Gegensatz zu jener des erstsprachlichdeutschen Kindes (kohärente Erzählung). Erwähnenswert ist in (10) auch die Einrahmung der Geschichtedurch die Wiederholung des (zudem vergleichsweise originellen) Titels am Ende des Textes.

9. Textkompetenz

117

Kohäsion

Obwohl auch in Hinblick auf diese Bewertungskategorie im vierten Schuljahr deutlich höhere Werteerzielt wurden als im zweiten Jahr (siehe dazu Tab. 9.2), haben dennoch noch viele Kinder ganz be-trächtliche Schwierigkeiten mit der sprachlichen Verknüpfung von Texten. Ein Großteil der Kindermit einer anderen Erstsprache als Deutsch ist nach wie vor mit 2 einzustufen, einzelne Ausreißer sogarmit 1. Stufe 4 wurde, wie zwei Jahren zuvor, lediglich von Kindern mit deutscher L1 erreicht.

0 1 2 3 4

2. Jahr 4. Jahr 2. Jahr 4. Jahr 2. Jahr 4. Jahr 2. Jahr 4. Jahr 2. Jahr 4. Jahr

Türkisch 53,3% 0% 26,7% 6,7% 13,3% 73,3% 6,7% 20 % 0 % 0 %

BKS 0 % 0% 40,7% 3,7% 44,4% 51,9% 14,8% 44,4% 0 % 0 %

andere

Muttersprachen0 % 0% 30 % 0 % 70 % 37,5% 0 % 62,5% 0 % 0 %

Deutsch 0 % 0% 0 % 0 % 19 % 0 % 38,1% 33,3% 42,9% 66,7%

Tab. 9.2: Kohäsion: prozentuelle Anteile auf einer Skala von 0 (gar nicht kohäsiv) bis 4 (kohäsiv)

Legende:0 = keine deutschen Wörter/die unter 1 beschriebenen

Kriterien sind nicht erfüllt3 = größtenteils richtige Verwendung von Artikeln, Verwen-

dung von Adjektiven, Antonymen, komplexere Syntax1 = Wortwiederholungen, keine/vereinzelte Konjunk-

tionen (und), teils Artikel (immer wieder falscheÜbereinstimmung), gar keine/sehr seltene, größten-teils inkorrekte Verwendung von Pronomen

4 = verstärkt Kollokationen (Adjektive), Konjunktionen/Temporaladverbien kommen häufiger vor (größereVariation), Artikel werden richtig verwendet, die Ver-wendung von Pronomen nimmt deutlich zu

2 = einzelne korrekte Pronomen, mehr Artikel undhäufiger richtig verwendet, erste andere Konjunk-tionen außer und (z. B. aber) und/oder Verwendungvon Adjektiven, einzelne Temporaladverbien

Erzähllänge

Der größte Zuwachs vom zweiten bis zum vierten Schuljahr ist in allen Gruppen bei der Länge der Ge-schichten zu verzeichnen. Betrug der längste Text im zweiten Jahr 87 Wörter, so ist die längste Erzäh-lung zwei Jahre später mit stolzen 284 Wörtern mehr als drei Mal so lang. In diesem Zusammenhangsollte vielleicht betont werden, dass die Textlänge allein selbstverständlich kein Kriterium für die Qua-lität eines Textes darstellt. [Fig. 9.2]

2. Schuljahr 0 1–3 4–6 7–9

Türkisch 20% 53,4% 26,6% 0 %

BKS 0% 40,7% 59,3% 0 %

andere Muttersprachen 0% 25 % 75 % 0 %

Deutsch 0% 4,8% 52,3% 42,9%

Tab. 9.3: Erzähllänge (Anzahl der Wörter) (siehe Legende Fig. 9.2)

Wie im zweiten Jahr ist die individuelle Variation auch noch am Ende der Volksschulzeit in allen Grup-pen sehr groß. In Gruppe 1 (Türkisch) variiert die Texlänge zwischen 48 und 163 Wörtern, inGruppe 2 (BKS) zwischen 34 und 167, in Gruppe 3 (andere Erstsprachen) zwischen 59 und 97 und inGruppe 4 (Deutsch), in der sie besonders auffällig ist, gar zwischen 52 und 284 Wörtern.

Teil I – Psycholinguistische Studie

118

9.1.1.2 Bosnisch/Kroatisch/Serbisch

Bei der Aufgabenstellung, eine Geschichte anhand von vier Bildern zu schreiben, wurden im drittenSchuljahr, um die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Kinder bei der Verfassung schriftlicherTexte aufzuzeigen, die schriftlichen Produktionen der Kontrollgruppe in Lukavac herangezogen.

Insgesamt konnte gezeigt werden, dass die Kinder der Testgruppe sehr große Schwierigkeiten hat-ten, die vorgegebene Bildgeschichte auf Bosnisch, Kroatisch bzw. Serbisch zu schreiben. Auf Grunddes starken Einflusses der deutschen Sprache auf die Muttersprache lassen sich Normverstöße aufallen Ebenen der sprachlichen Realisierung feststellen. Am häufigsten sind diese Abweichungen imorthographisch/phonologischen Bereich zu finden. Während in BKS jedem Phonem jeweils ein Gra-phem entspricht („Schreib, wie Du sprichst, und sprich, wie es geschrieben steht.“18) übernehmen dieKinder bei der schriftlichen Realisierung der Bildgeschichte das deutsche Orthographiesystem, beiwelchem mehr als die Hälfte der Phoneme mit zwei oder mehr Graphemen korreliert:

• Das Graphem č wird durch die deutsche Graphemverbindung tsch ersetzt:mačka (matschka)

• Das Graphem š wird durch die deutsche Graphemverbindung sch ersetzt:došla (doschla), uplašila (uplaschila)

• Das Graphem z wird durch das deutsche Graphem s ersetzt:zemlja (semla), brzo (brso), uzme (usme)

• Das Graphem c wird durch das deutsche Graphem z bzw. tz ersetzt:maca (maza, matza)ptica (ptiza, tiza, Tietza)

• Das Graphem v wird durch das deutsche Graphem w ersetzt:voda (woda), drvo (Drwo), videla (widela), spavala (spawala), trava (Trawa), mrtva (mrtwa),ova (owa), hvata (hwata, wata)

Die häufigste Abweichung im orthographischen Bereich betraf die Großschreibung der Substantive.Die konsequente Großschreibung der Substantiva wie im Deutschen gibt es im BKS nicht (vgl. Kunz-mann-Müller 1999). Bis auf Ausnahmen, wie Eigennamen, das erste Wort im Satz, das erste Wort einer

9. Textkompetenz

119

0

10

20

30

40

50

60

70

0–3 4–6 7–9 10–12 13–15 16–18 19–21 22–24 25–27 28–30

Kategorien

Pro

zen

tuel

leA

nte

ile

Türkisch

BKS

andereMuttersprachen

Deutsch

Fig. 9.2: Erzähllänge: Ergebnis 4. Schuljahr

Legende:0–3 = 1–30 Wörter4–6 = 31–60 Wörter7–9 = 61–90 Wörter

10–12 = 91–120 Wörter13–15 = 131–150 Wörter16–18 = 151–180 Wörter

19–21 = 181–210 Wörter22–24 = 211–240 Wörter

25–27 = 241–270 Wörter28–30 = 271–300 Wörter

18 Zitiert nach Kunzmann-Müller 1999.

Überschrift (z. B. Buch, Zeitung, Artikel) sowie Höflichkeitsformen wird stets klein geschrieben (vgl.Anić & Silić 2001, Halilović 1996). Im Folgenden sind einige Beispiele angeführt, in denen die Sub-stantive groß geschrieben wurden:

mačka (Mačka), ptica (Ptiza), drvo (Drwo), u travi (u Trawi), u vodu (u Wodu),pile (Pile), braco (Bratzo)

Neben den Substantiven werden auch die Verben groß geschrieben, was auf eine Unsicherheit sowohlin der deutschen als auch in der Orthographie des BKS hinweist:

Ta Mačka Hoće Ptizu da Pojede. (statt: Ta mačka hoće da pojede pticu.)(Diese Katze will den Vogel fressen.)

Nach dem Modell des deutschen Tests wurde die Bildgeschichte auch nach den Kategorien Erzähl-struktur und Kohärenz, Kohäsion und Erzähllänge untersucht. Die folgende Tabelle bietet einenÜberblick über die durchschnittlichen Mittelwerte der getesteten Kategorien.

Erzählstruktur/

KohärenzKohäsion Erzähllänge

Testgruppe 3,4 1,6 2,8

Kontrollgruppe 5,5 3,5 5,1

Tab. 9.4: Vergleich der Mittelwerte der Test- und Kontrollgruppe

Bei der Erzählstruktur und Kohärenz zeigt sich bei der Testgruppe eine Bandbreite von nicht identi-fizierbaren Texten, die nicht als als Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch (6%) identifiziert werdenkonnten, bis zu Erzählungen mit geringfügiger Kohärenzstörung (3%). Die Kategorien 4 (Ketten mit Erzähl-

kern) und 5 (einfache Erzählung mit Kern) waren bei den Kindern am häufigsten (je 29%) anzutreffen.Die Texte beider Kategorien enthalten einen Erzählkern (Maca hoće da uhvati pticu. Die Katze will denVogel fangen). Bei der Kategorie 4 handelt es sich um „Ketten“, um einen immer gleichen Satzbe-ginn mit mačka (Katze):

(11)Mačka spava kod Drva. Mačka hoće Da uvati Ticu. Mačka je pala na zemlji. Mačka je pala odDrva u vodu.(Die Katze schläft beim Baum. Die Katze will den Vogel fangen. Die Katze ist auf der Erde ge-fallen. Die Katze ist vom Baum ins Wasser gefallen.)

Beim folgenden Textbeispiel handelt es sich um eine einfache Erzählung mit Erzählkern. Hier wird die Er-zählstruktur im Unterschied zu Ketten mit Erzählkern durch Erzählelemente erweitert, der Satzanfangvariiert, die nötigen Erzählschritte wie Der Vogel sitzt auf dem Ast, die Katze klettert auf den Baum, der Vogel

fliegt weg usw. werden jedoch ausgelassen:

(12)Pala Maca u vodu. Maca Hoće da uvati pticu. Ptica gleda kako je Maca upala u vodu. Maca seljuti što nije pticu uvatila.(Die Katze ist ins Wasser gefallen. Die Katze will den Vogel fangen. Der Vogel schaut, wie dieKatze ins Wasser gefallen ist. Die Katze ärgert sich, weil sie den Vogel nicht gefangen hat.)

In die Kategorie 6 (Erzählung mit geringfügigen Kohärenzstörungen) konnte nur ein Text eingeordnet werden:

Teil I – Psycholinguistische Studie

120

(13)Ta maćka je widila Pticu. Taput je popela se ne drwo i skoćila je na Pticu. Ptica je Poletela.I maćka je pala i se naljutila što nije ufatila pticu. I pala je u wobu.(Diese Katze sah den Vogel. Plötzlich kletterte sie auf den Baum und sprang auf den Vogel.Der Vogel flog weg. Und die Katze fiel und ärgerte sich, weil sie den Vogel nicht gefangenhatte. Und sie sprang ins Wasser.)

Ab Kategorie 6 wird der Unterschied zwischen der Test- und Kontrollgruppe besonders auffällig. Indiese Kategorie fallen sechs von insgesamt neun Texten der Kontrollgruppe. Außerdem ist nur bei die-ser Gruppe die Kategorie 7 (Kohärente Erzählungen) vertreten. Hier sei ein Beispiel einer kohärentenErzählung eines gleichaltrigen Kindes aus der Kontrollgruppe angeführt, welche sich nicht nur durcherzählerische Elemente, sondern auch durch die „Moral der Geschichte“, den komplexen Satzbau,die gute Ausdrucksfähigkeit und die phantasievolle Beschreibung bei korrekter Morphosyntax aus-zeichnet:

(14)Bilo je sunčano popodne. Mačak je krenuo u lov. Odjednom naiđe na pticu koja se odmarala nadrvetu. On se polako pope na granu na kojoj se odmarala ptica. Odjednom mačak skoči, pticase prepade i odleti, A mačak pade u more. Budući da je znao plivat on se izvuče iz mora ipobježe kući, od tada više nikad nije lovio ptice niti je kad lovio kod mora.(Es war ein sonniger Nachmittag. Der Kater machte sich auf die Jagd. Plötzlich traf er aufeinen Vogel, der sich auf einem Baum ausruhte. Langsam kletterte er auf den Ast, auf dem sichder Vogel ausruhte. Plötzlich sprang der Kater, der Vogel erschrak und flog davon. Und derKater fiel ins Meer. Da er schwimmen konnte, kroch er aus dem Meer heraus und rannte nachHause, seitdem hat er nie wieder Vögel gefangen noch je wieder am Meer gejagt.)

In Bezug auf die Kohäsion zeigt sich, dass sich die Texte der Testgruppe auf der Stufe 1 und 2 befin-den. Die Kinder verwenden kaum Satzgefüge. Von den Wortarten werden am häufigsten Substantiveund Verben, gefolgt von Pronomen und Adverbien verwendet. Vereinzelt findet sich auch die Verwen-dung von Adjektiven. Die Texte der Kontrollgruppe befinden sich auf Stufe 3 und 4. Die Syntax istkomplexer und Adjektive werden oft verwendet.

Die Textlänge bei der Testgruppe bewegt sich zwischen vier und 49 Wörtern (im Durchschnitt24 Wörter). Die Textlänge „ist ein Kriterium für den Einfallsreichtum, sofern der größere Wortum-fang nicht auf häufige Wiederholungen zurückzuführen ist oder auf einer nichtssagenden Wortfülleberuht“ (zit. nach Stölting 1980). Bei der Kontrollgruppe bewegt sich die Textlänge zwischen 26 und68 Wörtern (im Durchschnitt 46 Wörter). Die Unterschiede in der Textlänge zwischen den Gruppenbei der Erzählung der Bildgeschichte reflektieren den Grad der Vertrautheit mit schriftlicher Produk-tion. Die schriftliche Kompetenz der Testgruppe liegt unter der schriftlichen Textkompetenz der Kon-trollgruppe, weil die in Wien zweisprachig aufwachsenden Kinder keinen institutionalisierten mutter-sprachlichen Unterricht erhalten.

9.1.1.3 Türkisch

Die schriftliche Textkompetenz wurde im Februar des zweiten und im Oktober des vierten Schuljahresmit zwei unterschiedlichen Bildgeschichten getestet. Im Unterschied zum zweiten Schuljahr wurde dieAufgabe zur schriftlichen Textproduktion im vierten Jahr von den KlassenlehrerInnen bzw. Türkisch-lehrerInnen gestellt. Erstens sollte der Zeitdruck, den die Kinder beim Schreiben der Texte hatten, ver-

9. Textkompetenz

121

mindert werden. Zweitens hatten wir Unterschiede in der Motivation der Kinder bemerkt, je nachdemfür wen sie ihre Texte verfassten. Die Kinder wollen für ihre LehrerInnen das Beste schreiben, auch inder Erwartung, von ihnen Anerkennung und Lob zu bekommen. Diese Annahmen werden durch dieTexte jener Kinder bestätigt, die die Bildgeschichte von den TürkischlehrerInnen bekamen. Bei denKindern, die die Aufgabe von der Klassenlehrerin gestellt bekamen, veränderten sich die Texte in Be-zug auf die oben genannten Aspekte jedoch kaum. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Kin-der wohl genau wissen, dass sie mit der Kompetenz in ihrer L1 keine Anerkennung bzw. kein Lob be-kommen können oder ihre Kompetenz in ihrer L1 in der Schule bedeutungslos ist. Bei der letzterenGruppe hörten gerade jene Kinder, die in ihrer L1 zu den sprachlich kompetentesten gehören, nachzwei Sätzen auf, die Geschichte weiter zu schreiben und schrieben demonstrativ sehr groß bzw. inFarbe: „Besser kann ich nicht.“ oder „Besser geht es nicht!“ Diese Kinder wurden von der Interviewe-rin aufgefordert, die Geschichte noch einmal zu schreiben. Die danach produzierten Texte dieser dreiKinder weisen eine qualitativ und quantitativ bessere Textkompetenz auf.

Im Folgenden werden die Produktionen beider Testphasen verglichen, um die Entwicklung in derschriftlichen Textkompetenz veranschaulichen zu können.

Die erste Testphase in der schriftlichen Textkompetenz war gekennzeichnet von orthographischenFehlern, die den Text unverständlich und unleserlich machten, und von Sätzen, die als Ketten aneinan-der gereiht waren. Im Türkischen werden mit Ausnahme von Eigennamen nur Wörter groß geschrie-ben, die am Satzanfang stehen. Im zweiten Schuljahr versuchten manche Kinder, die Großschreibungdem deutschen Regelsystem anzupassen. So wurden entweder alle Wörter oder manche Wörter belie-big ohne erkennbares System großgeschrieben. Der Vokal ı, den es im Deutschen nicht gibt, schienvielen Kindern Probleme zu bereiten. Sie verwendeten i statt ı. Ein Kind schrieb diesen Vokal mittenim Wort einfach groß, um den Unterschied zwischen i und ı zu unterstreichen, wie in baklb, açl, slblamlş

(richtig: bakıp, açı, sıplamış). Eine weitere Fehlerquelle für graphematische Lautersetzungen ist derKonsonant v. Viele der Kinder setzten anstatt v den deutschen Konsonanten w ein. Zusammenfassendkann man sagen, dass Fehler wie Lautersetzungen und Großschreibung durch Einflüsse der deutschenSprache hervorgerufen werden. 17% der Texte waren entweder völlig unverständlich oder konnten nurmit Mühe und Phantasie sowie Kenntnis der Bildgeschichte seitens der LeserInnen interpretiert wer-den. Bei vielen Texten in dieser Testphase war die Zusammenschreibung von Wörtern ohne jeglicheBerücksichtigung der Segmentierung auffällig. Im vierten Jahr sind die Texte jedoch zum größten Teilsehr gut leserlich und verständlich.

Erzählstruktur und Kohärenz [Fig. 9.3]

Die schriftlichen Produkte von 17% der Kinder mussten im zweiten Schuljahr mit 0 bewertet werden,da sie entweder gar nicht oder nur mit Mühe zu entschlüsselt waren. Zwei der Kinder weigerten sichüberhaupt, irgendwas zu schreiben, mit der Begründung, dass sie nicht Türkisch schreiben könnten.Manche Kinder verließ nach knapp zwei Zeilen die Geduld, die Geschichte fertig zu schreiben, wasauch eine Überforderung ausdrückt. Während sich 43% der Kinder im zweiten Schuljahr in den beidenersten Kategorien befanden, musste kein im vierten Schuljahr produzierter türkischer Text mit 0 oder1 bewertet werden. Der hohe Anteil der in diesem Schuljahr produzierten Texte in der Kategorie 3(52%) springt ins Auge. Die Schwierigkeit dieser Geschichte war, dass der Text einen komplexen Er-zählkern hatte. Viele Kinder erwähnten nur einen Teil des Kerns, was als einfacher Text ohne Erzähl-kern eingestuft wurde. Ketten mit Erzählkern, welche im zweiten Schuljahr einen Anteil von 43% aus-machten, waren im vierten Schuljahr nur mit einem Text vertreten.

Teil I – Psycholinguistische Studie

122

Der folgende Text vom zweiten Schuljahr ist zwar als türkisch identifizierbar, aber trotz Kenntnisder Bildgeschichte nicht interpretierbar. Dem Kind ist es nicht gelungen, die Wörter getrennt zuschreiben. Es handelt sich eher um eine „Buchstabenwurst“. Nur drei Wörter sind verständlich: kedi

(Katze), kuş (Vogel) und bak (schau):

(15)2. Schuljahr

KEDI KULURINKISTDURUKEDI AŞAKATLUKUSUSURUKEDIRSMERTÜRURKUSBAKRUUKEDRG19

In der Kategorie Sequenzen versuchten 26% der Kinder, einzelne Bilder zu beschreiben. Das folgende Beispielfür die Kategorie Sequenzen kann nur mit Mühe identifiziert werden, wobei man dennoch unsicher bleibt, obder Text richtig verstanden wurde. Jakaldrum ist kein türkisches Wort. Das Kind meint hier yakalamak (fan-gen), wobei man aber die Zeitform nicht entziffern kann. Das gilt auch für andere verwendete Verben.

(16)2. Schuljahr

Dein burda bietane Kusch görürunm. Kedi Kuschu jakaldrum. Kedi Atja we düschjot. WheSona Suja düschr(Ich sehe hier einen Vogel. Die Katze fing den Vogel. Die Katze springt und fällt. Und dannfällt sie ins Wasser)

Die Entwicklungsstadien Ketten ohne Erzählkern und einfacher Text ohne Erzählkern sind bei den türkisch-sprachigen Kindern im zweiten Schuljahr nicht anzutreffen. Im vierten Schuljahr hingegen beginnt dieEinstufung der Texte mit der Kategorie Ketten ohne Erzählkern, wo sich nur zwei der Kinder befinden.

(17)4. Schuljahr

Bu Adam Balik dutmag istiyor. Büyükler kaciyor Balik dutamiyor. AdamBalik tutmlin. Enbüyug ortancidutmus ota gücünü dumus oda en kücünü dutmus. sonra Adam düsdü. Birbirnenicekiyolar Adam düsiyor. Adamsuya düsüyor.

9. Textkompetenz

123

Proz

entu

elle

Ant

eile

0

20

40

60

0 1 2 3 4 5 6 7

Kategorien

2. Schuljahr

4. Schuljahr

Fig. 9.3: Erzählstruktur und Kohärenz: Vergleich 2. und 4. Schuljahr

Legende:0 = keine türkischen Wörter/

= punktuelle Beschreibung4 = Ketten mit Erzählkern5 = einfache Erzählung mit Erzählkern

1 = Sequenzen 6 = Erzählung mit geringfügiger= Kohärenzstörung2 = Ketten ohne Erzählkern

3 = einfacher Text ohne Erzählkern 7 = kohärente Erzählung

19 Dieses Kind hat ausschließlich Großbuchstaben verwendet.

(Dieser Mann will Fische fangen. Die Großen flüchten [Er] kann keinen Fisch fangen. DerMann hat einen Fisch gefangen. Der Größte hielt den Mittleren, der Mittlere hielt den Kleinen,der Kleine hielt den ganz Kleinen. Dann fällt der Mann um. Sie ziehen einander. Der Mannfällt. Der Mann fällt ins Wasser.)

In diesem Text versucht das Kind, die Handlung sprachlich wiederzugeben, was ihm jedoch nicht ge-lingt. Es setzt Vorkenntnisse des Lesers voraus, z. B. wird nicht erwähnt, wer die Großen sind, wo siesind und warum sie einander halten.

Der Anteil der Texte in der Kategorie einfache Erzählung ohne Erzählkern ist im vierten Jahr mit 52%am größten, wogegen sich kein Text vom zweiten Jahr in dieser Kategorie befindet. Die Schwierigkeitbei dieser Geschichte war, wie oben erwähnt, die Komplexität des Erzählkerns. (Der Fisch beißt anund kommt mit Hilfe der Fischfamilie frei.) Die Erzählungen vieler Kinder enthielten den Kern nichtvollständig, weshalb sie als einfache Texte ohne Erzählkern eingestuft wurden.

Der Anteil in der Kategorie Ketten mit Erzählkern ist mit 43% im zweiten Schuljahr am größten, im vier-ten Jahr hingegen befindet sich nur ein Text in dieser Kategorie. Der Text (18) vom zweiten Jahr ist durchgraphemische Fehler nur mit Phantasie zu identifizieren. Mit eme meint das Kind yemek (essen/fressen); mitKsior ist kızıyor (wird wütend) gemeint; mit sua steht für suya (ins Wasser) und Dşor für düşüyor (fällt runter).Dieser Text beinhaltet keine erzählerischen Elemente, und die sprachliche Verknüpfung fehlt zur Gänze.

(18) (19)2. Schuljahr 4. Schuljahr

Kedi Kuschu Eme istyor Kedi Kusch yaklmakistyor Kedi Ksior Kedi sua Dşor20

(Die Katze will den Vogel fressen. Die Katzewill den Vogel fangen. Die Katze wird wütend.Die Katze fällt ins Wasser.)

Bir Balik ci Balia cikti Olta sini da Aldi Oltasinisuya atiyo bir kücük Balik isirdi Ve Arkadaslariyardim ediyorlar Bir Birini siki tutuyorlar ve Sertcekiyorlar ve Adam Suya dusuyor Balik lar daKaciyor. Adam da Suydan Cikiyor.(Ein Fischer ging fischen. Er nahm seine Angelmit. Er wirft die Angel ins Wasser. Ein kleinerFisch biss an und seine Freunde helfen ihm.Sie halten einander fest und ziehen stark und derMann fällt ins Wasser. Die Fische flüchten.Der Mann kommt aus dem Wasser raus.)

In Text (19) vom vierten Jahr ist der Erzählkern enthalten, jedoch enthält er keine erzählerischen Ele-mente. Die Bilder werden hier mit knappen Sätzen beschrieben.

Die Kategorie einfacher Text mit Erzählkern ist im zweiten Schuljahr mit zwei Texten vertreten. Imvierten Jahr hingegen befinden sich 24% der Texte in dieser Kategorie. Diese Texte enthalten bereitseinige erzählerische Elemente.

In die Kategorie Erzählung mit geringfügiger Kohärenzstörung fällt im zweiten Schuljahr nur ein Kind,dessen Text im vierten Jahr als einziger Text als kohärente Erzählung eingestuft wurde. Im zweitenSchuljahr fallen im Vergleich zu den anderen Kindern geringfügigere Schreibfehler auf. Die Wörtersind erkennbar, beinhalten jedoch einige wenige graphemische Fehler (durch den Einfluss der deut-schen Sprache). Der Text enthält den Ausruf hopala hoppala) sowie einen Schluss. Das Kind begannmit der türkischen Erzählform -mIş, fuhr aber mit der Zeitform -di (Präteritum) fort.

Teil I – Psycholinguistische Studie

124

20 Bei der Übertragung ins Deutsche wurden in diesem und den folgenden Texten zwecks leichterer Lesbarkeit Interpunktions-zeichen eingefügt, auch wenn sie im Originaltext nicht vorhanden waren.

(20) (21)2. Schuljahr 4. Schuljahr

Kedi ile Kuş Bir varmiş bir yokmuş. Birgün KediKusa bakip bide yeçekti. Kedi aça çikip Kuşunüserine sipladi ama Kuş uçtu. Kedi’de sinirlendi.Hopala Kedi suya sipladi. Kuş’da dediki: Senyüsmesini biliyormusun? Hayir!(Die Katze und der Vogel21

Es war einmal es war keinmal. Eines Tages sahdie Katze den Vogel und wollte ihn fressen. DieKatze kletterte auf den Baum und sprang auf denVogel aber der Vogel flog weg. Die Katze wurdeböse. Hoppala! Die Katze sprang ins Wasser.Und der Vogel fragte: Kannst du denn nichtschwimmen? Nein!)

Bir Carsamba günü Ali Balik tutkaya gitmis.5 tane büyük ve beyan balik gecti ve yiyicek’iyemek istemisorlardie, cünkü onlar iftar’agidiyorlardi. Onlarin bir kirmizi Balik arkadaslarivar, Ama o yiyicekti. Balik agzini sokarken dikenagzina batti ve cikamadi. Kirmizi Balik arkadaslarini cagirdi. Arkadaslari geld ve onu cekdi.Alis’ede Balik cok agir oldu ve suyun icene dusdü.Balik’lar cabuk kacdilar ve Ali’da dedi ki:„Baska bir gün sizi yakalayacagim“.(An einem Mittwoch ging Ali Fische fangen.5 große und weiße Fische schwammen vorbei.Sie wollten nichts essen, weil sie während desRamadan zum Abendessen gingen. Sie hatteneinen Freund, den roten Fisch. Der wollte aber wasessen. Wie dieser (die Angel) in sein Maul nahm,stach der Dorn in sein Maul und kam nicht raus.Der rote Fisch rief seine Freunde. Seine Freundekamen und zogen an ihm. Dem Ali wurde derFisch zu schwer und er fiel ins Wasser. Die Fischeflüchteten sehr schnell. Ali sagte: „An einemanderen Tag werde ich euch fangen!“)

Die Frage, warum die anderen Fische nicht anbissen, löst das Kind, indem es die großen Fische fastenließ. Der Einbezug religiöser Elemente und die Vermenschlichung der Fische gelang ihm sehr gut. Er-zählerischen Elemente, wie Namensgebung oder Schlusssatz, sind vorhanden.

Das folgende Diagramm veranschaulicht die Ergebnisse beider Testphasen im Türkischen und imDeutschen im Detail: [Fig. 9.4]

9. Textkompetenz

125

0

10

20

30

40

50

60

0 1 2 3 4 5 6 7

Kategorien

L1 Türkisch, 2. Jahr

L1 Türkisch, 4. Jahr

L2 Deutsch, 2. Jahr

L2 Deutsch, 4. Jahr

Proz

entu

elle

Ant

eile

Fig. 9.4: Erzählstruktur und Kohärenz:

Vergleich 2. und 4. Schuljahr in Deutsch und Türkisch

Legende:0 = keine türkischen Wörter/

= punktuelle Beschreibung1 = Sequenzen2 = Ketten ohne Erzählkern3 = einfacher Text ohne Erzählkern

4 = Ketten mit Erzählkern5 = einfache Erzählung mit Erzählkern6 = Erzählung mit geringfügiger

= Kohärenzstörung7 = kohärente Erzählung

21 Dieser Satz entspricht dem deutschen „Es war einmal . . .“.

Die Tatsache, dass im vierten Schuljahr 34% der Texte als Erzählung – sei es als einfache Erzählungmit geringfügiger Kohärenzstörung oder als kohärente Erzählung – eingestuft werden konnten, wäh-rend dieser Anteil im zweiten Schuljahr nur 11% betragen hatte, zeigt die positive sprachliche Entwick-lung im Lauf von zwei Jahren. Im Diagramm springt die markantere Entwicklung der schriftlichenTextkompetenz im Deutschen ins Auge. Dieser Kompetenzanstieg ist in der Unterrichtssprache er-wartungsgemäß viel größer. Der Anteil der von türkischsprachigen Kindern in ihrer L2 produziertenTexte in diesen Kategorien springt von 13% auf 53%. Trotzdem soll die erfreuliche Entwicklung inder L1 – dank der muttersprachlichen LehrerInnen – nicht unerwähnt bleiben. Der Kompetenzanstiegim Türkischen soll im Folgenden durch ein Beispiel veranschaulicht werden:

(22) (23)

2. Schuljahr 4. Schuljahr

Kedi otvyata ve dir tane de kusch vardyr dirtanede kusch vard Kedi küschu yakalady Kedisigelindi ve hatlady Kedi kuschte ve suyun isineduschdü(Die Katze war im Gras und es war ein Vogel.Es war ein Vogel. Die Katze fing den Vogel.Die Katze wurde wütend und sprang. Die Katzeauch der Vogel und fiel ins Wasser.)(25 Wörter)

Bir gün bir Adam Balik yakalamak istiordu. Biryere oturdu yaninda bir kova vardi. Bir balik o ipetakildi. O Adam da cekmek istedi. Kücük BalinArkadaclari vardi. Arkadaclari gördü ve unucekdiler. Anam son gucünnen cekti kücüg BalinArkadaclari cekti ve o adam suya dücdü VeBaliklar cok sevindi ve güldüler sona gidiler.Adam cok cok üsoldü bu yaptindan.(Eines Tages wollte ein Mann einen Fisch fangen.Er setzte sich hin. Er hatte auch einen Kübel.Ein Fisch biss an der Schnur an. Dieser Mannwollte [ihn] heraufziehen. Der kleine Fisch hatteFreunde. Seine Freunde sahen ihn und zogen anihm. Der Mann zog mit seiner ganzen Kraftdaran, die Freunde des kleinen Fisches zogenauch daran und dann fiel der Mann ins Wasser.So freuten sich die Fische sehr und lachten.Dann schwammen sie weg. Der Mann war dannsehr, sehr traurig wegen seinem Verhalten.)(60 Wörter)

Die graphemischen Fehler in dem Mitte des zweiten Schuljahres produzierten Text sind so zahlreich,dass ein Identifizieren der Worteinheiten manchmal nur mit Phantasie möglich ist: otvyata statt ottaydı

(im Gras), kusch statt kuş (Vogel), küschu statt kuşu (den Vogel), vardyr oder vard statt vardır (es gibt), dirtane

statt birtane (ein Stück), yakalady statt yakaladı (fing), isine statt içine (hinein), duschdü statt düştü (fiel).Auch wenn der Text vom vierten Jahr noch orthographische Fehler wie Großschreibung und Lauter-

setzungen beinhaltet und morphosyntaktische und lexikalische Unsicherheiten aufweist, konnte er als Er-zählung mit geringfügiger Kohärenzstörung (Es wird nicht erwähnt, dass der Mann angelt und warum dieFische aneinander ziehen.) eingestuft werden. Der Text weist einige wenige erzählerische Elemente auf,berichtet über die inneren Zustände und Reaktionen der Protagonisten und enthält einen Schluss.

Kohäsion

Die positive Entwicklung ist auch in der Kohäsion sichtbar. 22% der Texte mussten im zweiten Schul-jahr mit 0 bewertet werden, da sie entweder nicht identifizierbar waren oder keine kohäsiven Elementebeinhalteten.

Teil I – Psycholinguistische Studie

126

KategorienL1 Türkisch, 2. Jahr

(prozentuelle Anteile)L1 Türkisch, 4. Jahr

(prozentuelle Anteile)

0 keine Produktion/nicht identifizierbare Wörter 22% –

1 Wortwiederholungen, keine bzw. nur vereinzelte

Konjunktionen, verschiedene Zeitformen, Fehlen

von Satzteilen

60% –

2 Auftauchen von einzelner Pronomen, Gerundien

(-ken) und Nebensätzen9% 20%

3 erste andere Konjunktionen außer und,

Verwendung von Adjektiven, Antonymen,

Gerundien und Nebensätze kommen öfters vor

9% 75%

4 alternative Konjunktionen kommen häufiger vor,

Personal- und Demonstrativpronomen nehmen

deutlich zu, eine bestimmte Zeitform

– 5%

Tab. 9.5: Bewertungskategorien und Ergebnisse bei der Kohäsion: Vergleich 2. und 4. Schuljahr

60% der Texte dieser Testphase wurden auf Grund vieler Wortwiederholungen oder des Fehlens vonSatzteilen in die Kategorien 0 oder 1 eingestuft. In diesen zwei Stufen befand sich im vierten Schuljahrerfreulicherweise kein Text. Das bedeutet, dass die Kinder durch den Einsatz von Pronomina, Neben-sätzen, Adverbien und Genitivverbindungen im vierten Schuljahr kohäsivere Texte schreiben konnten.

Erzähllänge

Wie dem Diagramm zu entnehmen ist, wird auch in der Länge der Texte die Kompetenzsteigerungdeutlich. 12% der Texte konnten im zweiten Jahr nicht als Türkisch identifiziert werden. 52% der Textebeinhalteten höchstens 20 Wörter. Auch die einzige längere Geschichte betrug nur 41 Wörter. Im vier-ten Schuljahr hingegen hatte die kürzeste Geschichte 21 Wörter und die längste 79. Auch hier ist eindeutlicher Unterschied zu den auf Deutsch produzierten Texten der türkischsprachigen Kinder sicht-bar. Einige Kinder waren imstande, in ihrer L2 151 Wörter zu schreiben, in ihrer L1 waren die Texte je-doch deutlich kürzer. [Fig. 9.5]

9. Textkompetenz

127

0

10

20

30

40

50

60

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Kategorien

Proz

entu

elle

Ant

eile

2. Schuljahr

4. Schuljahr

Fig. 9.5: Erzähllänge: Vergleich 2. und 4. Schuljahr

Legende:0 = nicht als türkische Wörter identifizierbar1 = 1–10 Wörter2 = 11–20 Wörter3 = 21–30 Wörter4 = 31–40 Wörter

5 = 41–50 Wörter6 = 51–60 Wörter7 = 61–70 Wörter8 = 71–80 Wörter9 = 81–90 Wörter

9.2 Textverständnis

9.2.1 Sachtexte

Verstehensbildung kann grundsätzlich als Prozess betrachtet werden. Nach van Dijk und Kintsch (1980)sind folgende drei Begriffe in diesem Zusammenhang relevant:

1. Reduktion: Wenn ich einen Text lese, reduziere ich bei dem, was ich im Gedächtnis behalte: Gespei-chert wird nur das Notwendigste.

2. Elaboration: Man stellt sich beim Lesen auch etwas Zusätzliches vor, das nicht im Text inkludiert ist,man versucht, Hypothesen aufzustellen (z. B. über den Inhalt eines Films, von dem nur der Titelbekannt ist), man unterlegt das, was man hört und liest, mit Zusatzinformation, die nicht explizitgemacht ist, von welcher man aber annimmt, dass sie stimmt.

3. Makroproposition: Aus der Gesamtheit der gegebenen Informationen versucht man den Kern, d. h.die Makroproposition, zusammenzufassen. Die Entscheidung, was in Erinnerung behalten wird, wirdunbewusst getroffen. Man nimmt eine Bewertung vor, die Konsequenzen dafür hat, was man imGedächtnis behält und was nicht. Dies ist als Filterprozess zu betrachten, bei dem nicht nur die ob-jektive, sondern vor allem auch die subjektive Wichtigkeit, die einzelnen Propositionen beigemes-sen wird, eine Rolle spielt.

Verständnis schließlich ist das Resultat des Verstehensprozesses. „Verständnis“ ist nach Johnson-Laird (1983)ein mentales Modell ; das nur marginal sprachlich kodiert ist, d. h., es ist eine konzeptuelle Größe. Wenn manüber einen Text spricht, den man gelesen hat, wiederholt man die gegebenen Informationen normaler-weise nicht wörtlich, sondern man aktiviert das mentale Modell und benutzt in der Versprachlichungeigene Wörter. D. h., Textverständnis impliziert so etwas wie eine mentale Landkarte eines Textes anzu-fertigen, die nicht sprachlich formuliert ist, aber der eigenen Versprachlichung wiederum zu Grundeliegt. Natürlich kann man versuchen, ein Textgedächtnis aufzubauen, d. h. mehr von der Struktur undden konkreten Formulierungen im Gedächtnis zu behalten, indem man einen Text mehrmals liest, umsich beispielsweise mit einem Gedicht näher auseinander zu setzen oder es auswendig zu lernen. DasTextgedächtnis ist zuerst sehr unscharf, wird aber konkreter, je häufiger man den Text liest.

9.2.1.1 Deutsch

Zur Überprüfung des Verständnisses von einfachen Sachtexten wurde im dritten Schuljahr ein kurzerText aus einem Lesebuch der zweiten Klasse Volksschule gewählt, der durch ein Farbfoto visuell unter-stützt wird (siehe Anhang, S. 246). Die ProbandInnen erhielten den Text, den sie selbständig und genaulesen sollten, als Kopie. Die Zeit, welche sie zum Lesen benötigten, variierte deutlich, einige Kinderwollten den Text auch laut vorlesen. Anschließend stellte die Interviewerin vier Fragen und hielt dieAntworten schriftlich fest. Die Fragen sollten ohne nochmaliges Lesen des Textes beantwortet werden.Da es jedoch auch von Interesse war festzustellen, inwieweit die Kinder mit Hilfe des Textes in der Lagewaren, die Fragen zu beantworten, erhielten etwa zwei Drittel der Kinder den Text noch einmal, um ineinem zweiten Durchgang beim Beantworten der an sie gerichteten Fragen auf den Text zurückgreifenzu können.

Sabah lebt mit ihren Eltern in der Wüste.Im Sommer ist es sehr heiß.Da wohnt die Familie in einem großen Zelt.Der Boden ist mit Teppichen und vielen Kissen bedeckt.

Teil I – Psycholinguistische Studie

128

Damit das Zelt kühl bleibt, werden die Seiten hochgeklappt.So kann der Wind durchwehen.Im Winter zieht die Familie in ein Haus aus Stein.(Text, ohne Bild)

Die Fragen wurden in derselben Reihenfolge gestellt, in der die entsprechenden Informationen imText auftauchen, und weisen unterschiedliche Schwierigkeitsgrade auf.

Wo lebt Sabah?Wie sieht es in dem Zelt aus, in dem Sabah wohnt?Was macht ihre Familie, damit es im Zelt kühl bleibt?Wo zieht die Familie im Winter hin?

Für jede der Antworten wurden Punkte vergeben, die wiederum in Prozente umgerechnet wurden.Die erreichbare Punkteanzahl variierte je nachdem, wie viel Information zum vollständigen Beantwor-ten einer Frage nötig war. Beispielsweise wurde für die Antwort auf Frage 1 nur ein Punkt vergeben,während bei Frage 2 drei Punkte zu erreichen waren. Bei der Bepunktung wurde eher großzügig ver-fahren, sofern die von den Kindern gewählten Formulierungen Textverständnis erkennen ließen, z. B.wurde als Antwort auf Frage 4 auch Hütte aus Stein (statt Haus aus Stein) richtig gewertet, obwohl eineHütte normalerweise gerade nicht aus Stein gebaut ist. [Fig. 9.6]

Aus dem Diagramm ist ersichtlich, dass das Filtern von Informationen aus Sachtexten – ohne noch-maliges Nachlesen im Text – zwar grundsätzlich allen Sprachgruppen noch Schwierigkeiten bereitet,sich jedoch ein deutlicher Unterschied zwischen den Kindern deutscher und nicht deutscher Erstspra-che zeigt. Die niedrigsten Durchschnittswerte erreichten die Kinder mit türkischer Erstsprache. Exakt50% der 22 Kinder dieser Gruppe konnten keine der Fragen – nicht einmal teilweise – richtig beant-worten; in Gruppe 3 trifft dies auf ein Drittel der ProbandInnen zu, in Gruppe 2 lediglich auf 9%. VierKinder türkischer Erstsprache demonstrierten jedoch ein Textverständnis, das dem Gros der Kindermit den Erstsprachen BKS entspricht. In der Gruppe der Kinder mit deutscher L1 gab es exzeptio-nelle Fälle, die weniger als 50% der Punkte erreichten, allerdings erreichte die Mehrheit diese Markeoder lag darüber.

Die unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade der gestellten Fragen werden in den Detailergebnissensehr deutlich reflektiert. So erwies sich Frage 1 in allen Gruppen mit Abstand am einfachsten, gefolgtvon den Fragen 4 und 2; am schwierigsten zu beantworten war erwartungsgemäß Frage 3 (Satz 5, aufwelchen sie sich bezieht, ist sicherlich der sprachlich anspruchsvollste Satz des Textes). Die Bandbreite

9. Textkompetenz

129

0 20 40 60 80 100

Türkisch

BKS

andereMuttersprachen

Deutsch

Prozentuelle Mittelwerte

Fig. 9.6: Textverständnis: Gesamtergebnisse

der erreichten prozentuellen Mittelwerte reicht von 2,3% bei Frage 3 in Gruppe 1 (Türkisch) bis zu100% bei Frage 1 in Gruppe 4 (deutschsprachige Kinder).

Viele der Antworten zeigen, dass weder die Frage noch die entsprechende Textstelle verstandenwurden. So antworteten beispielsweise ProbandInnen mit türkischer L1 auf die erste Frage unter an-derem mit im Stein oder Eltern, auf Frage 2 mit in einem Haus aus Stein, Sommer, kühl oder heiß, auf diedritte mit sitzen, sprechen, essen, Zelt, zu Hause bleiben und auf Frage 4 mit draußen. Antworten, die so gra-vierende Verständnisprobleme demonstrieren, traten auch in Gruppe 2 und 3 auf, allerdings seltener.Einige Kinder verstanden zwar die Fragestellung, konnten aber die Antwort nicht entsprechend for-mulieren. So reagierte ein Kind auf Frage 1 mit draußen und ein anderes mit da und zeigte auf das Bild.Wenn besonders viele Wörter, die zum Textverständnis notwendig sind, noch unbekannt sind bzw. aufjeden Fall zu viele, um die fehlenden Wörter aus dem Kontext zu erschließen, kann keine mentaleLandkarte des Textes angefertigt werden, und so bleibt der Textzusammenhang fast zur Gänze unver-standen.

Es gab aber auch Antworten, z. B. hochgeklappt oder Seiten hochgeklappt auf Frage 3, die nahelegen, dassdie Proposition verstanden wurde, aber die sprachlichen Mittel zur eigenen Wiedergabe nicht ausreichten.In diesem Fall dürfte es wohl vom Textgedächtnis abhängen, ob man überhaupt nicht antworten kannoder mit behaltenen „Wortfetzen“ (beispielsweise mit hochgeklappt) antwortet, obwohl das Wort und even-tuell auch die Satzstruktur (Passiv) unbekannt sind bzw. noch nicht wirklich beherrscht werden. Natürlichkann die Antwort dann auch nicht morphosyntaktisch adaptiert werden (Sie klappen die Seiten hoch.).

Die folgenden Antworten auf Frage 3 machen deutlich, dass die Kinder über ein mentales Modell desTextes verfügen, das sie mit eigenen Worten zu versprachlichen versuchen:

Sie lassen Löcher, dass der Wind durchkommt. (BKS)Lassen die Seiten offen. (BKS)Vom Zelt die Seiten werden hochgegeben. (BKS)Geben die Klappen hoch, dass der Wind durchwehen kann. (Deutsch)Tun Seiten offen lassen. (Deutsch)Die Wände vom Zelt hochgeklappen. (Deutsch)Da lasst sie so etwas offen. (Deutsch)Sie klappen auf der Seite etwas auf, damit Wind reinkommen kann. (Deutsch)Sie klappt die Ränder auf. (Deutsch) [Fig. 9.7]

Teil I – Psycholinguistische Studie

130

0

20

40

60

80

100

Türkisch BKS andereMuttersprachen

Deutsch

ohne Text

mit Text

Proz

entu

elle

Mit

telw

erte

Fig. 9.7: Vergleich des Textverständnisses ohne/mit nochmaliger

Zuhilfenahme des Textes – Stichprobe von 59 SchülerInnen

(20 Kindern mit L1 Türkisch, 21 Kindern mit den Erstsprachen BKS,neun Kindern mit anderen Erstsprachen und neun Kindern mit L1 Deutsch)

Die Abbildung macht deutlich, dass sich die Kinder der Stichproben aller Gruppen deutlich steigernkonnten, sobald sie den Text zu Hilfe nehmen durften. Dennoch gab es Kinder (in Gruppe 2 eines undin Gruppe 1 drei), die trotz der Möglichkeit, noch einmal im Text nachzulesen, keine einzige der vierFragen korrekt beantworten konnten.

9.2.1.2 Türkisch

Bei dieser Untersuchung geht es um das Textverständnis, das an die Sprachkompetenz und die Lese-fertigkeit gebunden ist. Das Textverständnis eines türkischen Textes wurde zum ersten Mal im drittenSchuljahr mit einem Sachtext (siehe Anhang, S. 247) überprüft, wobei die türkischsprachigen Kinder inihrer L1 eher geringe Werte erzielten. Um die Entwicklung in diesem Bereich beobachten bzw. über-prüfen zu können, wurde derselbe Test mit einem anderen Text aus einem türkischen Lehrbuch für diedritte Klasse im vierten Schuljahr wiederholt. Der Text wurde zum Teil vereinfacht und gekürzt, da dasOriginal für diese Gruppe vermutlich zu schwierig gewesen wäre. Die Aufgabe bestand darin, den Texteinmal zu lesen und danach die vier Fragen zu beantworten. Auch der Schwierigkeitsgrad der gestelltenFragen wurde im letzten Volksschuljahr dem fortgeschrittenen Alter der Kinder entsprechend erhöht.Folgende Fragen wurden gestellt:

3. Schuljahr 4. Schuljahr

1. Wo lebt Nataki?2. Wie sind die Häuser gebaut?3. Warum sind die Häuser auf Pfählen gebaut?4. Wovon leben sie?

1. Wo leben die Kängurus?2. Wie groß ist ein neugeborenes Känguru?3. Wo trägt die Kängurumutter ihre Jungen und wie lange?4. Warum ist es schwierig, ein Känguru zu fangen?

Wie aus der folgenden Tabelle ersichtlich ist, sind geringe positive Entwicklungen zu verzeichnen.

Fragen: 1 2 3 4

3. Schuljahr 35% 44% 3% 57%

4. Schuljahr 50% 39% 29% 82%

Tab. 9.6: Textverständnis Sachtexte: Vergleich richtige Antworten 3. und 4. Schuljahr

Einige türkischsprachige Kinder in Wien äußerten sich auch im dritten Schuljahr negativ gegenüber derAufgabenstellung, weil sie ja „nicht Türkisch lesen können“. Die Langsamkeit beim Lesen war auffal-lend. Aus den Antworten geht hervor, dass die Kinder die Fragen nicht auf Grund ihres Textverständ-nisses, sondern auf Grund des Bildes, das sie mit dem Text vorgelegt bekamen, beantworteten. VieleKinder gaben auf die Frage Wo lebt Nataki? folgende Antworten: gemide (im Schiff), gemilerin arasinda

(zwischen den Schiffen), denizde (auf dem Meer), weil auf dem Bild Wasser und Boote zu sehen sind.Die richtige Antwort wäre ırmağın üstünde (am Fluss) gewesen. Keines der Testgruppenkinder verwen-dete den Begriff ırmak (Fluss). Nur einem Kind war bewusst, dass es sich um einen anderen Begriffaus dem Wortfeld su (Wasser) handelt, es konnte ihn aber nicht benennen:

Gölün, gölün değildi, neydi? (Am See, nein, es war nicht der See, was war das?)

Im dritten Schuljahr konnten durchschnittlich 35% der Kinder in ihrer L1 auf die gestellten Fragenrichtige Antworten geben, im letzten Volksschuljahr waren es 50%. Das heißt, dass es für unsere Pro-bandInnen mit türkischer L1 auch in der vierten Klasse Volksschule mühsam ist, Texte in Türkisch zulesen, Informationen aus Texten zu verarbeiten und die Aufgaben zu lösen. Kinder in der Türkei erhal-ten denselben Text in doppelter Länge bereits in der dritten Klasse.

9. Textkompetenz

131

9.3 Mathematische Textaufgaben

Im dritten Schuljahr sollte erstmalig auch darauf geachtet werden, inwieweit sprachliche Barrierensich auf die Entwicklung in anderen Unterrichtsgegenständen auswirken. Gerade in Mathematik istdas Verstehen eines Textes und dessen Umsetzung in eine adäquate Rechnung wesentlich. Das Verar-beiten von Textaufgaben verlangt von den Kindern, dass sie einerseits den Text verstehen und eineinterne Abbildung der Begriffe und Beziehungen, die im Text vorkommen, produzieren. Anderer-seits müssen die Kinder auch in der Lage sein, einen passenden Problemlösungsprozess zu selektie-ren (vgl. Greeno und Riley 1984; Prock 1991). Häufig sind Kinder in der Volksschule mit diesemkomplexen Prozess überfordert. Gründe dafür findet man nach Greeno und Riley (1984) und Prock(1991) im Fehlen von:

• sprachlichen Prozessen, um den Text in semantische Repräsentationen zu überführen,

• Verknüpfungen zwischen der Problemrepräsentation und dem Aktionsschema sowie von

• erforderlichen Problemschemata.

Unsere Testergebnisse unterstützen die Annahme, dass das Problem nicht allein im Verstehen gewis-ser lexikalischer Einträge liegt. Die Kinder verfügen über allgemeine Prozesse zur Lösung der mathe-matischen Aufgaben, aber es fehlt ihnen die Fähigkeit, die in der Aufgabe vorliegende Informationkohärent intern abzubilden (vgl. Greeno und Riley 1984). Dies wird besonders deutlich, wenn manKinder Textaufgaben lösen lässt und sie dann die darin enthaltenen Rechnungen als numerische Auf-gaben rechnen lässt. Die Ergebnisse zeigen, dass in der Regel numerische Rechenaufgaben von Kin-dern in der Volksschule besser gelöst werden als Textaufgaben (vgl. Dellarosa und Feltcher 1985;Prock 1991).

Für das Lösen von Textaufgaben wird sowohl das entsprechende logische mathematische Wissen alsauch ein gewisser Entwicklungsstand der sprachlichen Kompetenz benötigt. Die Formulierung der jewei-ligen Textaufgabe spielt dabei eine wesentliche Rolle. Es gibt Aufgabenformulierungen, die Rechenopera-tionen deutlicher zu erkennen geben (gewisse Schlüsselwörter deuten auf spezielle Rechenoperationenhin) als andere (vgl. Bedlivy-Dungl 1993). Textaufgaben mit irrelevanter Information verursachen meistmehr Probleme. Ebenso führen komplexere Formulierungen zu Fehlern – häufig werden hier einfach dieObjektmengen addiert (dieses Phänomen ist auch bei unseren Ergebnissen zu beobachten).

9.3.1 Beschreibung der Testaufgabe

Auf die Mitte des dritten Schuljahres durchgeführte Pilotstudie22 zum Textverständnis bei mathemati-schen Textaufgaben folgte im Juni eine genauere Untersuchung aller ProbandInnen. In Absprache miteinigen Lehrerinnen wurden dem Alter gemäße Rechenaufgaben erstellt. Auf die Anpassung an dasschulische Niveau wurde besonderer Wert gelegt. Die Kinder waren aufgefordert, diese Aufgaben ohneHilfestellung, so weit es ihnen möglich war, zu lösen; zeitliche Beschränkung gab es keine. Insgesamtmussten die Kinder zwei Textaufgaben mit vier verschiedenen Rechenvorgängen lösen. Anschließendwurden eventuelle Fehler in der Lösung der Aufgaben besprochen, um feststellen zu können, ob es sichum ein mathematisches Problem oder um Schwierigkeiten beim Textverständnis handelte.

In der Auswertung der Textaufgaben unterschieden wir zwischen dem Textverständnis, der mathe-matischen Umsetzung und dem tatsächlichen Rechnen der Aufgabe.

Teil I – Psycholinguistische Studie

132

22 Genauere Information zu dieser Untersuchung sind dem 2. Zwischenbericht 2002 zu entnehmen.

9.3.1.1 Deutsch

Generell ließ sich beobachten, dass die meisten Kinder den Text verstanden, aber häufig an der Umset-zung scheiterten. Meist waren sie nicht in der Lage, die Aufgabe in einen adäquaten Rechenvorgangumzuwandeln. Da die Übungen unterschiedlich schwierig waren, variierten auch die Ergebnisse ent-sprechend. Die mathematisch einfachste Aufgabe bestand im Zusammenzählen von drei Zahlen. DasUmsetzen des Textes Michael bezahlt mit 300 Euro. Wie viel bekommt er zurück? bereitete jedoch noch häu-fig Schwierigkeiten. In der zweiten Aufgabe konnte das Ergebnis entweder durch eine Addition oderdurch eine Multiplikation errechnet werden; beide Rechnungsarten waren den Kindern bereits be-kannt. Zuletzt sollte der ausgerechnete Geldbetrag von Euros in Cent umgerechnet werden.

Rechenaufgaben

1) Michael kauft eine Badehose um 49 Euro, eine Taucherbrille um 121 Euro und einen Sonnenhutum 37 Euro.a) Wie viel muss er dafür insgesamt bezahlen?b) Er bezahlt mit 300 Euro. Wie viel bekommt er zurück?

2) Andrea, Peter, Thomas und Birgit wollen ins Schwimmbad gehen. Der Eintritt für ein Kind kostet2 Euro 15 Cent.a) Wie viel bezahlen alle Kinder zusammen?b) Wandle in Cent um!

Die Überblickstabelle zeigt, wie gut die Kinder imstande waren, die Textaufgaben zu lösen bzw. in wel-chen Bereichen Probleme auftraten.

Auswertung Türkisch BKSandere

MuttersprachenDeutsch

alles richtig 20% 41% 17% 72%

sprachliche Probleme 25% 6% 14% 4%

mathematische

Probleme17% 14% 11% 3%

Rechenfehler 20% 16% 22% 11%

Tab. 9.7: Rechenaufgaben, prozentuelle Mittelwerte

Gemäß der sprachlichen Entwicklung im Deutschen bereitete der Text an sich vor allem den Gruppen1 und 3 Probleme. Hier ist zu erwähnen, dass selten einzelne Wörter Schwierigkeiten darstellen, son-dern vor allem der Zusammenhang der einzelnen Wörter und Sätze, d. h. der Text als Gesamtes. Dennselbst wenn Kinder Begriffe, wie zum Beispiel Taucherbrille, nicht kannten, waren sie in der Lage dieAufgabe (1a) zu lösen. Sie wussten, dass bei dieser Aufgabe ein Kind drei verschiedene Dinge einge-kauft hatte, deren Preis sie zusammenzählen mussten. Bei jenen Kindern, die jedoch den Zusammen-hang nicht verstanden, wurden häufig die Zahlen aus den Aufgaben 1 a und b zusammengezählt. DieKinder bedienten sich der oben erwähnten Strategie, alle Objektmengen zusammenzuzählen. Eine ge-naue Abgrenzung zwischen Problemen, die auf Grund des Sprachverständnisses und jenen, die aufGrund des mathematischen Wissens entstanden, ist nur teilweise möglich (besonders bei Kindern miteiner höheren Deutschkompetenz).

Die Umsetzung des Texts in eine entsprechende Rechnung scheiterte unter anderem auch daran,dass einige Kinder das nötige Problemlösungsschema nicht abrufen konnten. Sie konnten zwar be-schreiben, was in der Aufgabe stand, vermochten aber keine entsprechende Lösungsstrategie anzu-

9. Textkompetenz

133

wenden. Generell lässt sich bemerken, dass sich die meisten Kinder in einem relativ instabilen Sta-dium ihrer logisch-mathematischen Entwicklung befinden. Sie haben bereits einige Rechnungsartenund -vorgänge kennen gelernt, es fällt ihnen aber noch schwer, diese abzurufen, wenn sie nicht aktuellgeübt wurden.

In Anbetracht der Komplexität des Prozesses, der zum Lösen von Textaufgaben benötigt wird, istdie Leistung der Kinder mit anderer Erstsprache als Deutsch umso bemerkenswerter. Selbst mutter-sprachlich deutsche Kinder waren nicht immer in der Lage, den richtigen Rechenvorgang zu wählen.Die häufigsten Fehlerquellen in dieser Sprachgruppe lagen aber dennoch im Bereich der Rechenfehler(hier wurden auch Abschreibfehler dazugezählt). Eine interessante Beobachtung war, dass einige Kin-der bei der zweiten Aufgabe den Eintritt nur für drei Kinder ausrechneten. Der Grund dafür lag meistim „Überlesen“ des letzten Namens (und Birgit), denn vielen Kindern war dieser Name kein Begriffoder sie haben ihn wegen des davor stehenden und übersehen.

Beim Umwandeln von Euros in Cent konnten wir große Unsicherheiten bemerken. Einige Kinderdachten, dass ein Euro dreizehn Cent wäre, was vielleicht auf eine Verwechslung mit der Umrechnungin Schilling zurückgeführt werden kann.

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Lösen von Textaufgaben ein multipler Prozess ist,der sowohl von der sprachlichen Entwicklung als auch von der Entwicklung des mathematischen Wis-sens abhängt. Im dritten Schuljahr sind die ersten Steine in diesem Prozess gelegt, die Anwendung derProblemlösungsstrategien ist jedoch meist noch instabil.

9.3.1.2 Türkisch

Folgende Textaufgaben wurden gewählt:1) Ahmet’in boyu 96 cm. Kardeşi Arzu ise 75 cm boyunda. Ahmet Arzu’dan kaç cm. daha uzun?

(Ahmet ist 96 cm. groß. Seine Schwester Arzu ist 75 cm groß. Wieviel cm ist Ahmet größer alsArzu?)

2) a) Trende 560 yolcu var. Ilk durakda 75 yolcu, ikinci durakda 115 yolcu, üçüncü durakda ise 140 yolcu trenden

iniyor. Trenden toplam kaç kişi indi?

(In einem Zug sind 560 Fahrgäste. Bei der ersten Station steigen 75 Fahrgäste aus, bei der zweiten115, bei der dritten 140. Wie viele Personen sind insgesamt ausgestiegen?)b) Trende kaç kişi kaldı?

(Wie viele sind im Zug geblieben?)

Bei Frage 1 bereitete den Kindern die Umsetzung des Textes Ahmet Arzu’dan kaç cm. daha uzun? (Wieviel cmist Ahmet größer als Arzu?) Probleme sprachlicher Natur. So konnte ein Kind, das nach Aussagen der Klas-senlehrerin zu den Besten in Mathematik gehört, zwar die zweite Frage lösen, aber nicht die erste, die mathe-matisch viel leichter war. Es muss jedoch erwähnt werden, dass die Feststellung, ob es sich um ein sprachli-ches oder mathematisches Problem handelt, auch hier sehr schwierig und die Grenze sehr schmal ist. VieleKinder neigten bei den Fragen 1 und 2a einfach dazu, alle Objektmengen zusammenzuzählen.

Fig. 9.8 gibt detaillierte Auskünfte, wie gut die Kinder die Textaufgaben lösen konnten. DasDiagramm zeigt, dass die Kinder der Kontrollgruppe – abgesehen von einem Kind, das sich verrech-net hat – keine Probleme mit mathematischen Textaufgaben haben. Auch 66% der Wiener Kinder mittürkischer Erstsprache können mathematische Aufgaben in ihrer L1 gut lösen.

Viele der Kinder aus der Testgruppe sagten unmittelbar nach dem Lesen bzw. bereits während desLesens, dass sie Türkisch nicht verstünden und konnten auch auf Fragen nach dem Verständnis keineAntworten geben. In dieser Situation war es notwendig, das Kind die Fragenstellung einmal laut lesen

Teil I – Psycholinguistische Studie

134

zu lassen und dann nachzufragen, worum es geht. Es gab einige Kinder, die zwar nach diesem Ge-spräch das Problem verstanden hatten, aber den Text nicht in eine entsprechende Rechnung umsetzenkonnten. Interessant war, dass zwei der Kinder die Fragen sehr schnell im Kopf lösen konnten, jedochmit dem Niederschreiben überfordert waren.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Kinder aus der Testgruppe im Vergleich zur Kon-trollgruppe im mathematischen Bereich noch große Unsicherheiten aufweisen, die zum größten Teilauf Verständnisproblemen beruhen. Hier soll betont werden, dass diese Kinder in ihrer L1 Unterstüt-zung bräuchten, um in diesem Bereich sicherer zu werden.

9.4 Zusammenfassung

Die Bedeutung von Textkompetenz für schulischen Erfolg, nicht nur bezogen auf den GegenstandDeutsch, sondern auch auf den Erwerb anderer Fremdsprachen, den Gegenstand Mathematik sowieauf sämtliche Lerngegenstände, wurde eingangs bereits nachdrücklich betont.

Betrachtet man die Ergebnisse unserer Untersuchungen der schriftlichen Text-/Erzählkompetenzin der Zweitsprache Deutsch am Ende des vierten Volksschuljahres, so zeigt sich, dass viele Kinder imVerlauf der letzten beiden Grundschuljahre beachtliche Entwicklungsschübe aufzuweisen haben. Wa-ren im zweiten Schuljahr noch viele Texte, speziell in der Gruppe der Kinder mit türkischer L1, nur mitviel Einfühlungsvermögen des Lesers/der Leserin bei gleichzeitiger Kenntnis der Bildgeschichte ver-ständlich, so verfasst die Mehrheit der Kinder am Ende der Grundschule Texte, die im Wesentlichengut verständlich sind und auch in Bezug auf ihre Erzählstruktur nicht als aneinandergereihte Ketten,sondern durchaus als Erzählungen eingestuft werden können. Obwohl auch im Hinblick auf die Ko-häsion ein deutlicher Kompetenzanstieg zu verzeichnen ist, muss dennoch betont werden, dass vieleKinder auch am Ende der vierten Klasse noch große Schwierigkeiten mit der sprachlichen Verknüp-fung von Texten haben. Die individuelle Variation ist insgesamt sehr groß und die Textkompetenz ei-niger Kinder – auch unter jenen, die sich stark steigern konnten – muss noch immer als eher moderatbis gering bezeichnet werden.

Die Untersuchung des Textverständnisses im dritten Schuljahr zeigt, dass das Verstehen von Sach-texten für 50% der türkischsprachigen Kinder noch eine schwer überwindbare Hürde darstellt. Beieinem Viertel der Kinder dieser Probandengruppe treten bedingt durch sprachliche Schwierigkeitenauch Probleme beim Lösen von mathematischen Textaufgaben auf. Daneben gelingt es vielen Kindernnicht, den an sich richtig verstandenen Text in mathematische Rechenoperationen umzusetzen.

9. Textkompetenz

135

0

20

40

60

80

100

Testgruppe Kontrollgruppe

Aufgabenrichtig

Verständnis-problem

mathematischesProblem

verrechnet

Proz

entu

elle

Mit

telw

erte

Fig. 9.8: Mathematische Textaufgaben:

Vergleich L1 Türkisch Wien und Ankara

In der Gruppe der Kinder mit den Erstsprachen BKS liegen die zum Teil inkorrekten Ergebnissebei der Lösung mathematischer Textaufgaben nur sehr selten am sprachlichen Verständnis, wohl aberan der Umsetzung des Textes in einen Rechenvorgang. Das Verstehen von Sachtexten bereitet demge-genüber deutlich größere Schwierigkeiten, was unter anderem dadurch bedingt ist, dass diese eine we-sentlich komplexere Sprache aufweisen. Dennoch erreichte diese Probandengruppe innerhalb derGruppen der Kinder mit anderer Erstsprache als Deutsch die höchsten Prozentsätze.

Auch in ihrer L1 entwickeln sich die Kinder mit türkischer Erstsprache positiv. Während im zweitenVolksschuljahr (ähnlich wie in der L2 Deutsch) viele schriftliche Texte nicht als Türkisch identifizierbarwaren bzw. ihre Struktur betreffend noch nicht als Erzählungen einzustufen waren, lassen sich im Laufeder zwei Jahre große qualitative und quantitative Fortschritte in der schriftlichen Textproduktion beob-achten. Im vierten Jahr sind die Texte zum größten Teil sehr gut leserlich und verständlich. Der Anteilder Kinder, der erzählerische Elemente einsetzt, hat sich deutlich erhöht. Wie im Deutschen, so zeigensich jedoch auch im Türkischen oft noch Mängel in der logischen und sprachlichen Verknüpfung. DieEinflüsse der deutschen Sprache nahmen im Vergleich zum zweiten Grundschuljahr deutlich ab.

Die Untersuchung des Textverständnisses im vierten Schuljahr zeigt, dass die türkischsprachigenKinder vom dritten auf das vierte Schuljahr Fortschritte machten. Trotz dieser positiven Entwicklunghaben unsere türkischsprachigen ProbandInnen große Schwierigkeiten, Texte in ihrer L1 zu lesen undInformationen daraus zu filtern. Die türkischsprachigen ProbandInnen in Wien zeigen im Vergleichzur Kontrollgruppe in Ankara im mathematischen Bereich noch große Unsicherheiten, die zum größ-ten Teil auf Verständnisproblemen beruhen.

Die muttersprachliche schriftliche Textkompetenz der Kinder mit den Erstsprachen BKS ent-spricht im zweiten Schuljahr im Vergleich zur Kontrollgruppe in Lukavac nicht der Altersnorm. Be-sondere Schwierigkeiten treten im Bereich der Orthographie auf, was auf Interferenzerscheinungen,aber auch auf große Unsicherheiten in der Rechtschreibung der Zweitsprache (Großschreibung derVerben) zurückzuführen sein dürfte. Weiters fällt auf, dass der schriftliche Ausdruck der zweisprachi-gen Kinder auf die Wörter der Alltagskommunikation beschränkt ist und sie somit ihre Gedankensprachlich nicht adäquat umsetzen können. Im Vergleich dazu ist die sprachliche Ausdrucksmöglich-keit der einsprachigen Kinder in Bosnien weiter entwickelt und durch literarische Einflüsse bereichert,was nicht verwundert, da der schulische Unterricht in der Muttersprache stattfindet.

Insgesamt muss festgestellt werden, dass eine verstärkte Förderung der schriftlichen Textkompe-tenz sowie des Textverständnisses in der Grundschule absolut wünschenswert wäre.

Teil I – Psycholinguistische Studie

136

10. Die frog-story-Untersuchung

Die in der Linguistik wohl berühmteste Bildgeschichte – Frog, Where Are You? (Mayer 1969) – kam auchim Rahmen unseres Longitudinalprojekts in einer Pilotstudie im dritten Projektjahr zum Einsatz. Dasich die so genannte frog story – wie in mehreren hundert anderen Studien zum Spracherwerb – auch inunserem Projekt bestens bewährt hat, wurde die Untersuchung im vierten Jahr nicht nur auf Deutschwiederholt, sondern auch in den Muttersprachen BKS und Türkisch durchgeführt. Die auf dieseWeise gewonnene, insgesamt 197 mündliche Erzählungen umfassende Datensammlung, die Elementesämtlicher linguistischer Kategorien enthält und optimale entwicklungsspezifische sowie crosslinguis-tische Vergleichsmöglichkeiten bietet, wurde auf diverse lexikalische, morphosyntaktische und kogniti-ve Aspekte hin analysiert. Einige Highlights dieser Analyse sollen im Folgenden zusammengefasst underläutert werden.23

10.1 Methode

Das aus 24 Bildern bestehende, textlose Büchlein Frog, Where Are You? – kurz frog story genannt – ist seitseinem Pioniereinsatz in einer Studie von Bamberg et al. (1980/81) zu einem der beliebtesten und be-kanntesten Datenerhebungsinstrumente linguistischer Studien avanciert. Das bisher extensivste For-schungsprojekt, das auf der frog story basiert, ist die von Berman und Slobin (1994) herausgegebenecrosslinguistische Studie, in der die Sprachentwicklung über vier Altersstufen hinweg in fünf verschie-denen Sprachen untersucht wurde. In ihrem Vorwort schreiben die Autoren – vor inzwischen fast zehnJahren – Folgendes über Frog, Where Are You?:

(It) is fast becoming a worldwide research tool (. . .) Much to our surprise, and delight, we knowof at least 150 researchers, collecting ,frog-stories‘ in 50 languages – not only in the field ofstandard spoken languages, but also in the development of sign languages, in a range of langua-ge-impairments, in various bilingual combinations, and in both spoken and written modes.(Berman & Slobin 1994: S. xi)

Für unser Projekt eignet sich gerade diese Bildgeschichte besonders gut, da sie, was den Inhalt betrifft,weder die allgemeinen, dem Alter entsprechenden, kognitiven, noch die kulturell geprägten Fähigkei-ten unserer Kinder unterschiedlichster Herkunft überfordert. Was eine Bildgeschichte im Allgemeinengegenüber Elizitationsmitteln, die auf spontansprachlichen Output abzielen, ferner auszeichnet – wieauch aus den in Abschnitt 10 dargelegten Analysen zur Textkompetenz hervorgeht –, ist die Standardi-sierung des Erzählinhalts. Dadurch wird eine optimale Vergleichbarkeit der Daten über verschiedeneAlters- und Entwicklungsstufen hinweg gewährleistet sowie der typologische Vergleich unterschiedli-cher Sprachen ermöglicht. Ein weiterer Vorteil der Bildgeschichte ist, dass der emotionale Einfluss, dergerade bei Kindern bei der Schilderung persönlicher Erlebnisse die narrative Kompetenz stark beein-trächtigen kann, verringert wird (vgl. Snitzer Reilly 1992: 357).

Für unsere erstefrog-story-Untersuchung im dritten Projektjahr wurden nach dem Zufallsprinzip62 Kinder aller vier Probandengruppen für das Interview selektiert. Im darauffolgenden Jahr wurdendie Daten flächendeckend auf Deutsch und zusätzlich in den Muttersprachen BKS und Türkisch er-hoben. Da viele Analysen qualitativer Natur sind und auf absoluten anstatt auf relativen Zahlen ba-sieren, musste die Probandenanzahl je Gruppe jener der kleinsten Gruppe (Kinder mit anderen Mut-

137

23 Die Analysen und Ergebnisse werden ausführlich in Peltzer-Karpf et al. (2002: 188–208; 2003: 110–155) präsentiert.

tersprachen mit zehn Testpersonen im dritten Projektjahr) angeglichen werden.24 Für die Detailanaly-sen der Folgeuntersuchung wurden dieselben Testpersonen wie im Jahr davor herangezogen – auchin den Muttersprachen der Gruppen 1 und 2. Falls diese Kinder zur Zeit der Datenerhebung nichtzur Verfügung standen, wurden durch einen aufwendigen Vergleich der Geschichten aus dem ver-gangenen Jahr sowie unter Zuhilfenahme der Spontanspracheauswertungen der gesamten ProjektzeitKinder mit einer den abwesenden ProbandInnen vergleichbaren Erst- bzw. Zweitsprachenkompe-tenz ausgewählt. Die auf diese Weise entstandene Datensammlung von je zehn Erzählungen proProbandengruppe, Sprache und Jahr, d. h. achtzig im Detail zu analysierenden deutschen Texten plusje zehn in den Muttersprachen, soll die Gesamtheit unserer Testpersonen repräsentieren.

Was die Testmethode betrifft, wurden die Kinder konform zu den bereits beschriebenen Untersu-chungen einzeln interviewt. Nach einem kurzen informellen Gespräch, welches primär der Schaffungeiner angenehmen, stressfreien Atmosphäre diente, durften die ProbandInnen das Büchlein Frog,

Where Are You? in Ruhe durchblättern. Anschließend sollten sie die Geschichte – mit Hilfe des Buches– (a) in der jeweiligen Sprache und (b) so detailliert wie möglich erzählen und (c) eventuelle ihnen un-bekannte Lexeme durch andere Ausdrücke ersetzen bzw. paraphrasieren, ohne Rückfragen an die in-terviewende Person zu richten.

Sämtliche auf diese Weise mündlich produzierte Erzählungen wurden auf Audiokassetten aufge-zeichnet und wie der Rest unserer Daten im CHAT-Format des CHILDES-Systems transkribiert.

Die erworbene Datensammlung öffnet sich einem breiten Spektrum von Analysemöglichkeiten insämtlichen linguistischen Teilbereichen. In der folgenden Diskussion der Analysen und Ergebnissesoll vor allem auf jene Aspekte eingegangen werden, die im Rahmen unserer anderen Testserien zu Le-xikon, Morphosyntax und Textkompetenz noch nicht im Detail erläutert wurden.

10.2 Deutsch

10.2.1 Erzähllänge

Während die im dritten Projektjahr elizitierten Erzählungen in ihrer Länge extrem variierten, nämlichvon der nur 88 Wörter zählenden Geschichte eines Kindes türkischer Herkunft bis zur extrem langenErzählung mit 574 Wörtern eines Kindes mit deutscher Muttersprache, lag die Spanne im vierten Jahrzwischen 112 und 489 Wörtern. Während der relativ geringe Rückgang der durchschnittlichen Wort-anzahl pro Geschichte in den Gruppen 3 (andere Muttersprachen) und 4 (Kinder mit deutscher Erst-sprache) vernachlässigt werden kann, ist die enorme Steigerung vom dritten auf das vierte Schuljahrum je rund 30 Wörter pro Text unter den Kindern mit Türkisch und BKS als L1 (siehe Fig. 10.1) be-merkenswert und kann als bedeutender Schritt in der Entwicklung der narrativen Kompetenz und derSprachentwicklung im Allgemeinen gewertet werden.

10.2.2 Relationen

Um über die absolute Wortanzahl pro Geschichte hinauszugehen, mit der Absicht, einen Eindrucküber die Differenziertheit des verwendeten Vokabulars zu vermitteln, wurden die type-token-Verhältnis-se für die deutschsprachigen Texte ermittelt. Die in Tabelle 10.1 dargelegten Werte beziehen sich aufdie Relation zwischen der durchschnittlichen Wortanzahl pro Geschichte (tokens) und den unterschied-lichen darin vorkommenden Lexemen (types). Fig. 10.1

Teil I – Psycholinguistische Studie

138

24 Disqualifiziert wurden primär jene Geschichten, die aus rein akustischen Gründen schwer verständlich waren. Ansonsten er-folgte die Selektion der zu analysierenden Texte auf eine Weise, dass eine repräsentative Auswahl für jede Probandengruppegarantiert werden kann.

type-token-Relation Türkisch BKSandere

MuttersprachenDeutsch

3. Schuljahr 0.359 0.371 0.4 0.412

4. Schuljahr 0.384 0.4 0.435 0.438

Tab. 10.1: Durchschnittliche type-token-Relationen

Aus der Tabelle wird ersichtlich, dass die Werte von der Gruppe türkischer Kinder über die Grup-pen 2 (BKS) und 3 (andere Muttersprachen) hin zu den Kindern mit deutscher L1 regelmäßig stei-gen. Außerdem haben sich die type-token-Relationen innerhalb jeder Probandengruppe vom drittenzum vierten Schuljahr verbessert, was bedeutet, dass die Kinder aller Sprachgruppen im letztenGrundschuljahr ein differenzierteres Vokabular an den Tag legten als noch im Jahr davor. Gerade beieiner Untersuchung mit Hilfe einer Bildgeschichte, bei der der Inhalt standardisiert und das zu ver-wendende Vokabular in gewissem Rahmen vorprogrammiert ist, müssen die type-token-Statistiken un-bedingt in Kombination mit der Erzähllänge betrachtet werden.25 Angesichts der Tatsache, dass sichz. B. die BKS-Gruppe in Bezug auf die Erzähllänge stark gesteigert hat, ist der Anstieg ihrer type-to-

ken-Relation als umso wertvoller einzustufen. Das bedeutet, dass der Zuwachs an deutschen Lexe-men vom dritten zum vierten Schuljahr innerhalb dieser Sprachgruppe deutlich jenen der Kinder mitanderen Muttersprachen übertrifft. Die Kinder türkischer Herkunft mit den im Durchschnitt kürzes-ten Geschichten und geringsten type-token-Werten verfügen offensichtlich über das kleinste produkti-ve lexikalische Repertoire, während die Gruppe der Kinder mit Deutsch als L1 den Grenzbereich amzweiten Ende des Kontinuums einnimmt. Dieser Unterschied zwischen MuttersprachlerInnen undZweitsprachenlernenden kann in Analogie zu dem von Snitzer Reilly untersuchten Unterschied zwi-schen Vorschulkindern und SchülerInnen der Elementarstufe als „a striking difference“ bezeichnetwerden (Snitzer Reilly 1992: 355).

In ihrer Studie zur narrativen Kompetenz kam Snitzer Reilly zu folgendem Schluss:

The older group consistently produced stories of greater length and complexity than those ofthe younger group (Snitzer Reilly 1992: 355).

10. Die frog-story-Untersuchung

139

357

284309

230

343

279

339

261

050

100150200250300350400

Türkisch BKS andereMuttersprachen

Deutsch

Probandengruppen

Wo

rtan

zah

l

3. Schuljahr

4. Schuljahr

Fig. 10.1: Durchschnittliche Erzähllänge in Wörtern:

Vergleich 3. und 4. Schuljahr

25 Inwiefern eine isolierte Betrachtung der type-token-Relationen zu stark verfälschten Ergebnissen führen kann, zeigt die Dis-kussion der Beispiele (1) und (2) in Peltzer-Karpf et al. (2002: 192-195).

10.2.3 Affektive Elemente

In derselben Studie, die ebenfalls auf dem Büchlein Frog, Where Are You? als Datenerhebungsinstru-ment basiert, macht Snitzer Reilly auch folgende für unsere Untersuchung nicht unwesentliche Ent-deckung:

3- and 4-year-olds used significantly more affective elements of good storytelling than did the7- and 8-year-olds. (Snitzer Reilly 1992: 354)

Auch hier kann der Vergleich wieder auf unsere ProbandInnen mit Erst- bzw. Zweitsprache Deutschübertragen werden. Anhand unserer akustisch aufgezeichneten Datensammlung konnte beobachtetwerden, dass das Ansteigen der Tonhöhe gegen Ende eines Satzes, welches einer Erzählung eine „Sing-song“-Qualität verleiht und vor allem das Erzählverhalten von Kleinkindern charakterisiert, mit stei-gender Sprachkompetenz – d. h. vom dritten zum vierten Schuljahr – abnimmt.

Die Verwendung der direkten Rede ist ein weiteres affektives Merkmal, das auch Erwachsene nut-zen, um ihre Erzählungen auszuschmücken. Die Kinder mit der besten Deutschkompetenz in unsererUntersuchung schienen diese Strategie aber offensichtlich zu vermeiden. Unsere Testpersonen mitTürkisch und anderen Sprachen als L1 verwendeten Aussagen in der direkten Rede viermal so häufigwie ihre muttersprachlich deutschen MitschülerInnen. Anstatt „Froschi, Froschi, wo bist du?“ zu ru-fen, drückten die Kinder mit deutscher L1 die Such- und Rufszenen durch Strukturen beachtlicherKomplexität aus, z. B.:

(1) Als sie weit entfernt von dem Haus waren, ruften sie in den Wald hinein, ob er auch dortwär, aber der hat nichts gesagt, der Frosch.

Beispiel (1) repräsentiert den Fortschritt der Kinder vom dritten zum vierten Grundschuljahr im Spra-cherwerbsprozess. Mit steigender Kompetenz treten vermehrt Nebensätze und syntaktische Komple-xität auf. Während das Stilmittel der direkten Rede einer Erzählung Schwung verleiht, sind Strukturenwie in Beispiel (1) als sprachlich fortgeschrittener einzustufen und als solche zu schätzen. Es bestehtGrund zur Annahme, dass Sprachenlernende – wie auch Kinder im L1-Erwerb – sich wiederholt derdirekten Rede bedienen, um eine Brücke über komplexe Strukturen, die sie in ihrer fremdsprachlichenEntwicklung noch nicht 100%ig erworben haben, zu schlagen. Gerade bei mündlichen Erzählungenhat die Anwendung der direkten Rede den Effekt einer zusätzlichen affektiven Komponente – wie sieauch in den Geschichten von Snitzer Reillys Vorschulkindern zu Tage tritt.

Das Fehlen dieser affektiven Komponente lässt Erzählungen stereotyp und emotional nüchternwirken, was im Allgemeinen als charakteristisch für die Geschichten von Kindern im Grundschulaltergilt (vgl. Snitzer Reilly 1992: 369; Berman & Slobin 1994: 73). Eine ähnliche Entwicklung macht sichlaut Gardner (1980) auch in den Zeichnungen von Kindern bemerkbar. Im Schulalter versuchen sie,die Realität möglichst genau widerzuspiegeln, wodurch die Zeichnungen fantasielos wirken und – ähn-lich wie unsere frog stories des vierten Jahres – emotional wenig preisgeben.

Erst mit zunehmender Automatisierung der sprachlichen Kompetenz treten wieder verstärkt emo-tionale und evaluierende Ausdrücke und Kommentare auf, wodurch die für Erwachsenenerzählungencharakteristische Individualität entsteht. Mit heranreifenden kognitiven Fähigkeiten können auch ver-mehrt Gefühlszustände beschrieben werden, die nicht direkt aus den Bildern der Bildgeschichte er-sichtlich sind. Während Vier- bis Fünfjährige in (1994) der Untersuchung von Berman und Slobin inden Sprachen Englisch und Hebräisch den Buben der frog story bestenfalls als böse oder traurig charakte-risierten, was aus den Bildern unmittelbar hervorgeht, verstanden es Neunjährige bereits, Gefühlszu-stände, die nur aus dem Kontext oder Inhalt der Geschichte zu interpretieren sind, zu beschreiben (vgl.

Teil I – Psycholinguistische Studie

140

Berman & Slobin 1994: 73). Dieselbe Beobachtung trifft auf die neunjährigen Kinder mit deutscherMuttersprache in unserer Studie zu, z. B.:

(2) Doch auf einmal lief er gegen einen großen großen Stein. Und die Eule sah so aus, alswollte sie ihm auslachen.

(3) Sie haben zwei verliebte Frösche gefunden, und die haben noch Kinder gehabt. Da warensie überrascht, wahrscheinlich.

Wenn auch die Beispiele (2) und (3) aus dem Munde von Kindern mit deutscher L1 stammen, haben in unse-rer Datensammlung ProbandInnen aller vier Gruppen zusätzlich zu den Gefühlsbeschreibungen böse bzw.traurig weitere emotionale Zustände der Protagonisten zum Ausdruck gebracht. Wie oft Adjektive, Verben,Nomen und auch Adverbien und Ausrufe, mit denen auf Gefühle der Protagonisten in den frog stories einge-gangen wurde, innerhalb jeder Probandengruppe vorkamen, geht aus der folgenden Tabelle hervor:

Türkisch BKSandere

MuttersprachenDeutsch

3. Schuljahr 21 36 24 44

4. Schuljahr 33 31 25 41

Tab. 10.2: Anzahl der Hinweise auf emotionale Zustände der Protagonisten: Vergleich 3. und 4. Schuljahr

Auffallend ist, dass sich vor allem die Kinder mit türkischer L1 bei der Untersuchung im vierten Jahrbesonders große Mühe gegeben haben, affektive Elemente in ihre Geschichten einzubauen. Insgesamtliegen aber wieder die Kinder mit Deutsch als Muttersprache an der Spitze, nicht nur was die Quantitätihrer evaluierenden Kommentare betrifft, sondern vor allem auch die Qualität. In ihren Erzählungensind anstelle von einfachen Aussagen wie Der Bub war böse. oder Er ärgerte sich. teilweise schon sehrkomplexe Interpretationen zu entdecken, etwa:

(4) . . . und der Bub hat böse schauen müssen, weil der Hund sich verletzen konnte,

eine Aussage, die bereits Einblicke in die kognitive Welt der Protagonisten gewährt.

10.2.4 Kognitive Elemente

Um sich in die Gedankenwelt eines Protagonisten hineinversetzen zu können, bedarf es einer voran-geschrittenen kognitiven Entwicklung, die bei Neun- bis Zehnjährigen bereits voll im Gange, jedochnoch keinesfalls ausgereift ist. Laut Karmiloff-Smith (1983, 1984) befinden sich Kinder in diesem Al-ter in einer mittleren kognitiven Entwicklungsphase, wobei aus unseren Analysen wieder ein deutlicherUnterschied zwischen Erst- und Zweitsprachenlernenden zu erkennen ist. Die Kinder mit deutscherMuttersprache haben bei der Untersuchung im letzten Grundschuljahr nicht nur doppelt so oft auf dieGedanken des Buben Bezug genommen als noch ein Jahr davor, sondern auch doppelt bzw. sogar vier-mal so oft und öfter als ihre gleichaltrigen MitschülerInnen mit Zweitsprache Deutsch.

Insgesamt wurden im Rahmen unserer frog stories aber Einblicke in die kognitive Welt der Protago-nisten eher selten gewährt. Das liegt nicht allein am Schwierigkeitsgrad des sprachlichen Ausdrucksdieses Aspekts, sondern auch an der Aufgabenstellung der Bildgeschichte, die kognitive Elementenicht unbedingt verlangt.

Die kognitiv anspruchvollste Szene der frog story ist ohne Zweifel jene, in der sich der Bub an denvermeintlichen Ästen festhält, die sich als das Geweih eines Hirsches entpuppen, der den Buben dannüberraschend fortträgt: [Fig. 10.2]

10. Die frog-story-Untersuchung

141

Die sprachliche Realisierung dieser Szene wurde nicht nur in den deutschsprachigen Daten, sondern auch inden Muttersprachen BKS und Türkisch analysiert, um herauszufinden, ob eventuelle Probleme bei der Be-schreibung dieser Szene die Kognition oder aber nur die Sprachkompetenz der Kinder betreffen.

Insgesamt haben es nur elf von 40 Kindern aus der deutschen frog-story-Untersuchung im viertenSchuljahr geschafft, die Szene sprachlich adäquat auszudrücken, d. h. die Verbindung zwischen denÄsten und dem Geweih zu erkennen und zu artikulieren und außerdem zu verdeutlichen, dass der Ab-transport des Buben unwillkürlich seinerseits geschieht. Sechs der elf ProbandInnen, die diese an-spruchsvolle Aufgabe zu lösen wussten, waren deutsche MuttersprachlerInnen. Die Verteilung allerTestpersonen über fünf Stufen des sprachlichen Vermögens (oder Unvermögens) der Szenenbeschrei-bung ist aus folgendem Diagram ersichtlich:

Die Kinder mit deutscher L1 sind in ihrer kognitiven Entwicklung und vor allem in der Fähigkeit, die-ses kognitive Verständnis auch sprachlich auszudrücken, den anderen voraus, gefolgt von den Kindernder Gruppen 2 (BKS) und 3 (andere Muttersprachen), welche häufig entweder die Äste oder das Ge-

Teil I – Psycholinguistische Studie

142

Fig. 10.2: Frog, Where Are You? Bilder Nr. 14 bis 16

0

1

2

3

4

5

6

7

1 2 3 4 5

Kategorien

Türkisch

BKS

andereMuttersprachen

Deutsch

An

zah

l der

Pro

ban

den

Fig. 10.3: Qualität der Beschreibung der Hirschszene

Legende: Kategorien der Beschreibung1: Vermeidungsstrategie2: inkorrekte Kausalität3: korrekte Kausalität (Hirsch als Agens)4: Erwähnung von Ast und/oder Geweih, aber ohne Verknüpfung5: korrekte Kausalität und logische Verknüpfung zwischen Ast und Geweih

weih korrekt nannten, aber keine logische Verknüpfung zwischen den beiden herstellen konnten. DieProbandInnen türkischen Ursprungs hatten die größten Probleme mit dieser Szene. 50% von ihnenkonnten den Hirsch als Agens nicht korrekt interpretieren oder wandten überhaupt eine Vermeidungs-strategie an. Die Szene konnte aber bei weitem nicht mehr so häufig eine Lücke in die Erzählungen derKinder reißen, wie dies noch im dritten Projektjahr der Fall war, z. B.:

(5) Und hier schreit er noch immer „Komm her!“ Und dann . . . hmm . . .Nachher fallt das Bub und der Hund runter, aufs Wasser.

Vom Scheitern der Beschreibung dieser Szene darf keinesfalls auf mangelnde kognitive Fähigkeitenkurzgeschlossen werden, denn oft ist nur ein spontansprachlich nicht verfügbares Lexem verantwort-lich für die scheinbar unüberwindbare Hürde. Vom dritten zum vierten Schuljahr haben aber in allenProbandengruppen der Mut zur Paraphrase sowie der allgemeine Wortschatz (z. B. Geweih) merklichzugenommen.

10.2.5 Ausdrücke der Dynamik

Um den lexikalischen Zuwachs und die Differenziertheit des Vokabulars genauer zu definieren, bildetdie Analyse von Ausdrücken der Dynamik im Raum, d. h. von Verben der Bewegung, einen Schwer-punkt unserer Untersuchung. Dieser Fokus rechtfertigt sich durch das zentrale Thema der frog story –die Suche nach dem davongelaufenen Frosch, die die gesamte Geschichte wie ein roter Faden durch-zieht. Sie führt die Protagonisten, den Buben und seinen Hund, von ihrem Haus in den Wald an diver-sen Tieren und Abenteuern vorbei bis zum vermissten Frosch und dessen Familie.26 Dem Erzähler/der Erzählerin der frog story wird abverlangt, die Dynamik der Geschichte sprachlich auszudrücken, waszu einem relativ hohen Prozentsatz an Bewegungsverben führt: Rund ein Drittel aller in der Daten-sammlung vorkommenden Verben sind Ausdrücke der Bewegung. Das folgende Bild aus Frog, Where

Are You? repräsentiert die Dynamik der Geschichte:

10. Die frog-story-Untersuchung

143

Fig. 10.4 Frog, Where Are You? Bild Nr. 12

26 Um einen genaueren Einblick in den Inhalt der Geschichte zu vermitteln, befindet sich im Anhang die Reproduktion einervollständigen Version einer frog story aus unserer Datensammlung.

Definition

Verben der Bewegung können in ihrem Stamm die Richtung (z. B. ankommen, fallen), die Art (z. B. laufen,

fliegen) oder die Ursache der Bewegung durch eine externe Kraft (z. B. rollen) inkorporieren (vgl. Levin& Rappaport Hovav 1992: 252–253). Aber auch Verben, die in ihrem Stamm keinerlei Dynamik impli-zieren, können in Kombination mit Präfixen oder Nominalphrasen zu Ausdrücken der Bewegung wer-den, z. B. tragen in „und dann ist der Junge auf einmal in die Höhe getragen worden (von dem Hirschen“).Welche Verben zu den zahlreichen Ausdrücken der Dynamik in unseren frog stories gezählt wurden, sollaus folgender Kategorisierung hervorgehen (vgl. Berman & Slobin 1994: 152–153):

(a) Verben, die eine durative Aktivität ausdrücken, wobei das Agens der Bewegung willentlich handeltund die Art der Bewegung im Verbstamm integriert sein kann, z. B. gehen, laufen, hüpfen, fliegen, klet-

tern, schwimmen, etc.(b) Verben, die einen Standortwechsel implizieren bzw. die Endphase einer Bewegung ausdrücken,

z. B. fallen und Verben mit semantisch vergleichbarem Inhalt, z. B. landen, etc.(c) kausative Verben, wo das Agens die Bewegung eines Protagonisten verursacht, z. B. stoßen, werfen,

etc.(d) interaktive, wahlweise transitive Verben, bei denen zwei Protagonisten in eine durative Bewegung

involviert sind, z. B. jagen, fliehen, weglaufen, etc.

Insgesamt kamen in den 80 deutschsprachigen Erzählungen (40 aus dem dritten und 40 aus dem vier-ten Projektjahr), die einer detaillierten qualitativen Analyse unterzogen wurden, folgende Bewegungs-verbtypen vor:

angehen, angreifen, sich anschleichen, attackieren, aufheben, sich aufsetzen, aufstehen, baden, bekommen+,

sich beugen+, sich bewegen, bremsen, bringen, sich ducken, entfliehen, entwischen, sich erheben, erwischen ver-

suchen, fallen+, fallen lassen+, fangen, flattern, fliegen+, fliehen, flüchten, folgen+, geflogen kommen, gehen+,

hauen+, heben+, sich heben, hetzen, sich hinlegen, holen+, hüpfen+, jagen+, klettern+, kommen+, krabbeln,

,kraulen‘, kraxeln, kriechen+, landen, lassen+, laufen+, sich legen+, losgehen, sich machen+, nehmen+,

packen, plumpsen, purzeln+, reißen, reiten+, rennen+, sausen+, schaukeln, scherren+, scheuchen, schieben,

schießen+, schleichen, sich schleichen+, schlupfen+, schlüpfen+, schmeißen+, schubsen+, schwärmen, schwim-

men, sein+, setzen, sich setzen+, spazierengehen, springen+, steigen+, sich stellen, stolpern, stoßen+, stürzen,

tauchen, tragen+, verfolgen, verjagen, verscheuchen, verschwinden, sich verstecken, werfen+

Ein Pluszeichen (+) hinter einem Wort bedeutet, dass diese Verben auch in Kombination mit rich-tungsbeschreibenden Partikeln bzw. mit Präfixen verwendet wurden. Diese Partikel, die auch Verbenwie holen oder nehmen zu Ausdrücken der Dynamik transformieren können, werden in der Linguistikseit Leonard Talmy (1985), einem Pionier auf diesem Forschungsgebiet, als satellites (Satelliten) be-zeichnet. Ein Verb kann mit verschiedenen satellites kombiniert werden, z. B. hinunterfliegen, nachfliegen,

rausfliegen, wegfliegen etc., und umgekehrt kann ein satellite eine Verbindung mit verschiedenen Verbeneingehen, z. B. hinunterfallen, hinunterpurzeln, hinunterschmeißen, hinunterwerfen. Sprachen, die wie das Deut-sche kompakte Richtungsbeschreibungen durch diese „Satelliten“ vornehmen können, werden als sa-

tellite-framed bezeichnet.

Sprachtypologische Kategorisierung: verb-framed versus satellite-framed

Laut Talmy (1985) können faktisch sämtliche Sprachen der Welt in zwei sprachtypologische Katego-rien eingeteilt werden. Romanische und semitische Sprachen werden als verb-framed bezeichnet, wäh-rend germanische Sprachen, darunter auch das Englische, alle slawischen Sprachen und – um ein unge-

Teil I – Psycholinguistische Studie

144

wöhnliches Beispiel zu nennen – Warlpiri (eine australische Sprache) zur Kategorie satellite-framed gehö-ren.27 Der Unterschied soll im Folgenden verdeutlicht werden:28

(a) satellite-framed (Deutsch): Die Eule flog aus dem Loch.

(b) verb-framed (Spanisch): El buho salió volando del agujero.

(„Die Eule ging fliegend aus dem Loch raus/verließ das Loch fliegend.“)

Da diese Sprachentypen sich hinsichtlich der Bewegungsverben so stark voneinander unterscheiden, ist esnicht einfach bzw. je nach Sprache sogar unmöglich, eine wörtliche Übersetzung zu finden. Die vorgeschla-genen deutschen Übersetzungen sind nicht treffend, da die spezielle Eigenschaft des spanischen Verbs dieSpezifikation der Richtung innerhalb des Verbstamms ist, während diese Richtungsangabe im Deutschendurch ein Partikel (raus) erfolgen muss. Im Gegensatz dazu inkorporiert das deutsche Wort fliegen die Art derBewegung im Stamm, welche in den Sprachen, die als verb-framed gelten, oft nur durch zusätzliche Segmente,wie durch das Partizip Präsens im Spanischen ausgedrückt werden kann.

Die Tendenz ist, dass in Ausdrücken der räumlichen Dynamik die Bewegungsrichtung in der Kate-gorie verb-framed meist durch den Verbstamm angegeben wird, während in den als satellite-framed klassifi-zierten Sprachen diese Information in separaten, eng mit dem Verb verknüpften Partikeln (satellites)

enthalten ist. Zusätzlich kann die Bewegungsrichtung in den Sprachen mit „Satelliten“ durch Präposi-tionalphrasen spezifiziert werden, wobei mehrere hintereinander auftreten können. Das bedeutet, dasses in diesen Sprachtypen relativ einfach ist, detaillierte Angaben über die Richtung einer Bewegung insehr kompakter Form zu machen. Ferner gibt es in den Sprachen der satellite-framed-Kategorie meisteine breite Palette lexikalisch spezifizierter Bewegungsverben, welche die Art (z. B. fliegen) oder auch dieUrsache der Bewegung (z. B. runterschütteln) im Verbstamm inkorporieren. Eine derartige Diversifizie-rung des Lexikons ist untypisch für verb-framed-Sprachen. Sprachen dieser Kategorie konzentrieren sichim Allgemeinen eher auf statische Beschreibungen.

Diese binäre Typologie ist von direkter Relevanz für die Analyse unserer frog story. Unsere Testspra-che Deutsch ist ein eindeutiger Typ der Kategorie satellite-framed; unter den Muttersprachen der von unsuntersuchten Migrantenkinder existieren allerdings typologische Unterschiede. Die Sprachen BKS ge-hören der südslawischen Sprachgruppe an und funktionieren daher hinsichtlich Bewegungsverben wiedas Deutsche. Das Türkische ist aber eine Sprache des Typus verb-framed. Die Muttersprachen derGruppe 3 wurden nicht einzeln kategorisiert.

Auf dem sprachtypologischen Unterschied zwischen Türkisch einerseits und Deutsch bzw. BKSandererseits basiert unsere Hypothese, dass die türkischen Kinder im Erwerb von Deutsch als Zweit-sprache größere Probleme mit dynamischen Beschreibungen haben könnten als zum Beispiel die Kin-der mit den Muttersprachen BKS. Unterstützung für diese Hypothese geht aus den folgenden Analyse-ergebnissen hervor.

Bewegungsverbtypen:

Die Gesamtanzahl der innerhalb der deutschen Datensammlung vorkommenden Bewegungsverbty-pen hat sich vom dritten zum vierten Schuljahr nur unwesentlich von 65 auf 69 gesteigert. Wesentlichbedeutender ist die Veränderung dieser Statistik innerhalb der einzelnen Probandengruppen, die ausfolgender Tabelle hervorgeht:

10. Die frog-story-Untersuchung

145

27 Englisch, eine satellite-framed Sprache, könnte auch als Mischtyp klassifiziert werden, da es über einige wenige aus dem Lateini-schen übernommene Verben verfügt, welche Eigenschaften der Kategorie verb-framed besitzen, z. B. enter, exit.

28 Der spanische Beispielsatz stammt von Dan I. Slobin, University of California, Berkeley, 1996.

Bewegungsverbtypen Türkisch BKSandere

MuttersprachenDeutsch

3. Schuljahr 24 31 29 43

4. Schuljahr 26 37 35 41

Tab. 10.3: Anzahl der Bewegungsverbtypen pro Probandengruppe und Schuljahr

In allen Probandengruppen, die Deutsch als Zweitsprache erwerben, ist eine Erweiterung des lexikali-schen Repertoires an Bewegungsverben vom dritten zum vierten Schuljahr zu verzeichnen. Vor allemunter den Kindern bosnisch/kroatisch/serbischer Herkunft und unter jenen der Gruppe mit anderenMuttersprachen ist der Fortschritt enorm. Ihr spontan verfügbares Lexikon – hier getestet am Wort-feld der Bewegungsverben – nähert sich quantitativ gemessen in beachtlichen Schritten jenem gleich-altriger MuttersprachlerInnen. Letztere Gruppe liegt noch immer an der Spitze, hat allerdings laut derin Tabelle 10.3 präsentierten Statistik keine Fortschritte zu verzeichnen. Dies soll kein Grund zurSorge sein, denn diese Kinder befinden sich altersgemäß in ihrer L1 auf einer Entwicklungsstufe, aufder sie sich vorwiegend auf lexikalische und vor allem syntaktische Komplexität konzentrieren, wo-durch Details der Geschichte (siehe auch Erzähllänge, Fig. 10.1, und affektive Elemente, Kapi-tel 10.2.3) vernachlässigt werden können. Dieses narrative Verhalten Neun- bis Zehnjähriger steht imEinklang mit sprachwissenschaftlichen Theorien:

„. . . in the middle phase of development, top-down organization may be at the expense ofdescriptive detail and lexical elaboration.“ (Berman & Slobin 1994: 74).

Eine qualitative Analyse der Bewegungsverben (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2002; 2003) zeigt, dass mit zu-nehmender Sprachkompetenz das Lexikon differenzierter und spezifischer wird. Dies gilt für denErstspracherwerb, in dem die Entwicklungssequenzen verschiedenen Altersstufen zugeordnet werdenkönnen, wie auch für den Zweit- und Fremdspracherwerb. In Bezug auf Bewegungsverben bedeutetdas, dass Basisbewegungsverben wie gehen bzw. laufen zunehmend durch spezifiziertere Ausdrücke er-setzt werden – in Sprachen der Kategorie satellite-framed vorwiegend durch Verben, die die Art der Be-wegung in ihrem Stamm inkorporieren:

„With age, children use a greater variety of lexically more specified motion verbs. They rely lesson polysemous verbs and idiomatic VERB + PARTICLE combinations (. . .). And they makeincreased reference to manner of motion.“ (Berman & Slobin 1994: 153).

Im Rahmen unserer Untersuchung ist diese Entwicklung anhand diverser Szenen der frog story gutnachvollziehbar. Hinsichtlich der Bienenszene, zum Beispiel, verwendete in der dritten Grundschul-klasse nur ein einziges Kind türkischer Muttersprache das angemessene Bewegungsverb fliegen; in 80%der Fälle wurde damals noch auf ein unidiomatisches Verb ohne Spezifikation der Bewegungsart zu-rückgegriffen, während die Kontrollgruppe dieses Lexem bereits 100%ig erworben hatte. Genau einJahr später hatte sich die Relation innerhalb der türkischen Gruppe umgekehrt. Nur ein Kind ließ dieBienen noch laufen, während zu 80% das Ziellexem fliegen spontansprachlich verfügbar war.

Auch die komplexen Bewegungsverben jagen und verfolgen, die sprachentwicklungsgemäß zuneh-mend Verb-Partikel-Kombinationen wie hinterhergehen, -fliegen etc. ersetzen sollen, fehlten in der drittenKlasse noch im Repertoire der Kinder mit türkischer L1. In allen anderen Probandengruppen hinge-gen galten diese Lexeme schon bei der ersten frog-story-Untersuchung als erworben. Ein Jahr später warjagen bereits mehrmals in der Datensammlung der Gruppe 1 zu entdecken; für verfolgen und weiterekomplexe Ausdrücke der Dynamik in der Zweitsprache bedarf es hinsichtlich der Kinder türkischerHerkunft noch etwas an Geduld und einer Folgestudie nach der Grundschule.

Teil I – Psycholinguistische Studie

146

Weitere Termini mit zunehmender semantischer Komplexität und Spezifikation, die im langenProzess des Spracherwerbs einen entscheidenden Schritt in Richtung Erwachsenenkompetenz signali-sieren, sind – aus der Liste auf S. 144 herausgegriffene – Lexeme wie purzeln, sich anschleichen, entwischen,

entfliehen oder verscheuchen. Sie sind fast ausnahmslos den frog stories der Kinder mit deutscher L1 entnom-men, wobei sie auch in dieser Gruppe zum Großteil erst im vierten Grundschuljahr produktiv vorhan-den waren, und fehlen – noch – gänzlich im lexikalischen Repertoire der ProbandInnen mit türki-scher L1.29

Dass aber gerade die türkischsprachigen Kinder die größten Fortschritte vom dritten zum viertenSchuljahr im semantischen Feld rund um Ausdrücke der Dynamik in ihrer L2 gemacht haben, geht ausfolgendem Diagramm hervor, welches die durchschnittliche Anzahl der verwendeten Bewegungsverb-typen pro frog story veranschaulicht:

Wie die roten Säulen im Diagramm 10.5 zeigen, dürfen wir uns für die Kinder aller vier Probanden-gruppen über einen lexikalischen Zuwachs im Bereich der Bewegungsverben vom dritten zum viertenGrundschuljahr freuen. Die Leistung der SchülerInnen mit deutscher Erstsprache mit fast zwölf ver-schiedenen Lexemen der Bewegung bei durchschnittlich 16–17 tokens pro Geschichte ist beachtlich.Doch besonderes Lob gebührt den Kindern mit türkischer L1: Sie haben seit der ersten frog-story-Un-tersuchung, bei der Geschichten mit nur zwei Bewegungsverbtypen produziert wurden und das durch-schnittliche Repertoire nur rund halb so groß war wie jenes der Kinder mit deutscher L1, enorm aufge-holt. Obwohl sie immer noch die niedrigsten Werte erzielen, wird der Unterschied zwischen ihnen undden anderen gleichaltrigen Kindern von Jahr zu Jahr geringer.

Außerdem gilt es zu berücksichtigen – wie in den theoretischen Erläuterungen zu den sprachtypo-logischen Unterschieden bereits angedeutet wurde –, dass die türkischen Kinder beim Erwerb ihrerZweitsprache Deutsch eine zusätzliche „Hürde“ zu überwinden haben. Auf Grund ihrer sprachtypo-logisch divergierenden L1 neigen sie dazu, die Dynamik in ihren Erzählungen abzuschwächen undeinen für Deutsch unidiomatischen statischen Charakter der Szenenbeschreibungen zu kreieren. An-statt zum Beispiel die initiierende Szene mit der Frosch kletterte aus dem Glas/hüpfte weg etc. auszudrücken,liegen in der Datensammlung der türkischen Kinder häufig Bildbeschreibungen mit reduzierter Dyna-mik vor:

10. Die frog-story-Untersuchung

147

6,2

8,98,2

11,1

7,9

9,59,0

11,8

0

2

4

6

8

10

12

14

Türkisch BKS andereMuttersprachen

Deutsch

Probandengruppen

An

zah

lder

Bew

egu

ng

sver

bty

pen

3. Schuljahr

4. Schuljahr

Fig. 10.5: Durchschnittliche Anzahl an Bewegungsverbtypen pro frog story

29 Für eine detaillierte Auflistung der Bewegungsverbtypen pro Probandengruppe und Schuljahr siehe Peltzer-Karpf et al. 2002:205–206; 2003: 122–123.

(6) Dann am nächsten Tag am Abend ist Axel schlafen gegangen, und der Frosch will ah derFrosch ist fast herausgegangen. Der Axel hat Der Axel weiß nicht, dass der Frosch raus will. Undhier, dann ist Axel aus aufgewacht. Hmm, Axel schaut, wo der Frosch ist, der Frosch war aufeinmal nicht da.

Unsere Hypothese, dass ein derartiges unidiomatisches Erzählverhalten auf die sprachtypologisch an-ders funktionierende L1 zurückzuführen ist, findet Unterstützung in Berman & Slobins crosslinguisti-scher Studie:

. . . it seems (. . .) that English and German narrations are characterized by a great deal of dy-namic path and manner description, while Spanish, Hebrew, and Turkish narrations are lesselaborated in this regard, but are often more elaborated in description of locations of protago-nists and objects and of endstates of motion. (Berman & Slobin 1994: 119)

Wie das Erzählverhalten unserer ProbandInnen in ihren Muttersprachen aussieht, soll anhand dernun folgenden Analysen der bosnisch/kroatisch/serbischen sowie türkischen frog stories geschildertwerden.

10.3 Bosnisch/Kroatisch/Serbisch

10.3.1 Erzähllänge

Die frog stories der Kinder mit den Muttersprachen Bosnisch/Kroatisch/Serbisch variieren nicht nurqualitativ, sondern auch in ihrer Erzähllänge. Die kürzeste frog story liegt bei 160 Wörtern, während dielängste Geschichte 550 Wörter zählt. Die durchschnittliche Erzähllänge beträgt 343 Wörter. Alle Kin-der haben sich große Mühe gegeben, die einzelnen Szenen zu beschreiben. Da ihr Wortschatz abernoch einige Lücken aufweist, haben sie sich verschiedener Strategien bedient, die sich auch auf die Er-zähllänge auswirken können (z. B. Umschreibungen). Die Quantität sagt natürlich nichts über die Qua-lität des Geschriebenen aus. Es wurde beobachtet, dass manche Kinder, deren sprachliche Entwick-lung in ihrer Erstsprache noch nicht sehr weit fortgeschritten war, zu ausschweifenden Beschreibun-gen und unnötigen Wiederholungen neigten, während die sprachlich Kompetenteren oft klare undkurze Aussagen bevorzugten.

10.3.2 Kognitive Elemente

Wie in den deutschen Erzählungen, verwendeten die Kinder auch in ihrer Muttersprache kognitiveVerben wie denken, wissen. Diese kommen jedoch eher selten vor, da sie bei der Szenenbeschreibungnicht unbedingt erforderlich sind. Insgesamt wurde die Verwendung kognitiver Verben bei drei derzehn untersuchten Kinder beobachtet.

Mit der kognitiv anspruchsvollsten Szene der frog story hatten die Kinder auch in ihrer Mutterspra-che Schwierigkeiten. Die meisten Kinder hatten sich große Mühe gegeben, mit den ihnen zur Verfü-gung stehenden Mitteln die Geschichte zu erzählen, wobei natürlich vor allem im Bereich des Lexikonserhebliche Schwierigkeiten auftraten. Da bei der frog story viele Lexeme verlangt werden, die im alltägli-chen Gebrauch der Kinder selten vorkommen, versuchten sie, diese mit Hilfe von Umschreibungen zuparaphrasieren, sie verwendeten Überbegriffe, setzten Vermeidungsstrategien ein oder füllten die Lü-cken in der Muttersprache mit deutschen Lexemen. So kommt es, dass drei Kinder bei dieser Szene an-statt des Lexems grana sich mit dem deutschen Wort Ast behalfen. Weitere drei griffen auf drvo (Baum)zurück, während nur ein einziges Kind den Ast (grana) in der Muttersprache richtig benennen konnte.

Teil I – Psycholinguistische Studie

148

Rogovi (Geweih) hingegen konnte von fünf Kindern richtig benannt werden; nur ein Kind hatte dasdeutsche Wort Geweih verwendet. Bei den restlichen Kindern konnte man hinsichtlich dieser Lexemedie Anwendung der Vermeidungsstrategie beobachten.

Obwohl sich die in ihrer Muttersprache verfassten frog stories der Kinder in ihrer Erzähllänge nichtsignifikant von ihren deutschen Erzählungen unterscheiden, weisen die Geschichten in der Mutter-sprache erhebliche sprachliche Defizite auf. Aus der Analyse der „Hirschszene“ ist ersichtlich, dasseinige Kinder die kognitiven Zusammenhänge sehr wohl richtig erkannten, aber Probleme bei dersprachlichen Umsetzung dieses anspruchsvollen Inhalts hatten, wie das folgende Beispiel zeigt:

(7) I on se držio na, on je mislio da je to drvo i držio se i zvao je, i onak je . . . to Bock, rogovi.I onak je on podigno se i ufatio ga i onak je on trčio i cuko je lajo da ga stavi dole i onak jetrčio i nije ga htjeo pustiti i onak ga bacio, onak je pao, onak je pao u vodu i zakočio i onakode on u vodu.(Und er hat sich angehalten an, er hat gedacht, dass das ein Baum ist und hat sich angehaltenund hat gerufen und dann ist . . . das Bock, Geweih. Und dann ist er aufgestanden und hatihn gefangen und dann ist er gelaufen und der Hund hat gebellt, dass er ihn herunterstellensoll und dann ist er gelaufen und wollte ihn nicht loslassen und dann hat er ihn geworfen,dann ist er gefallen, dann ist er ins Wasser gefallen und hat gebremst und dann ist er insWasser hineingegangen.)

Wenn auch im obigen Beispiel die Semantik gestört wird, wodurch leichte Verständnisschwierigkei-ten auftreten, hat dieses Kind die Szene richtig interpretiert. Auf der kognitiven Ebene steht dieserProband seinen gleichaltrigen MitschülerInnen, die diesen Sachverhalt besser versprachlichenkonnten, um nichts nach. In seiner muttersprachlichen Entwicklung weist er aber erhebliche Defi-zite auf.

Im folgenden Diagramm soll die Leistung der BKS sprechenden Kinder bei der Beschreibung derHirschszene in der Muttersprache und in der Zweitsprache Deutsch veranschaulicht werden. Es wirdersichtlich, dass sich ihre kognitiv-sprachlichen Kompetenzen in beiden Sprachen auf ähnlichemNiveau befinden.

10. Die frog-story-Untersuchung

149

0

1

2

3

4

5

6

1 2 3 4 5

Kategorien

Deutsch

BKS

An

zah

l der

Pro

ban

den

Fig. 10.6: Gruppe BKS: Qualität der Beschreibung der Hirschszene in L1/L2

Legende: Kategorien der Beschreibung1: Vermeidungsstrategie2: inkorrekte Kausalität3: korrekte Kausalität (Hirsch als Agens)4: Erwähnung von Ast und/oder Geweih, aber ohne Verknüpfung5: korrekte Kausalität und logische Verknüpfung zwischen Ast und Geweih

10.3.3 Bewegungsverben

Bosnisch/Kroatisch/Serbisch gehört der südslawischen Sprachgruppe an und zählt somit zu denso genannten satellite-framed-Sprachen, d. h., es funktioniert in Bezug auf Bewegungsverben wie dasDeutsche.

Die Anzahl aller verwendeten Bewegungsverben (tokens) pro Erzählung in der Muttersprache be-wegt sich zwischen elf und 32 bei einem Durchschnittswert von 21, während der Durchschnitt der ver-wendeten Bewegungsverbtypen neun beträgt. Aus diesen Zahlen ist ersichtlich, dass die Kinder in ihrenErzählungen häufig die ihnen zur Verfügung stehenden Verben wiederholt haben, wobei manchmal,wie das folgende Beispiel zeigt, die Semantik darunter litt, z. B.:

(8) Oborio se taj dčeak.(Dieser Bub ist umgeworfen.) (statt umgefallen)

Insgesamt kamen folgende Bewegungsverbtypen bei den Erzählungen der BKS sprechenden Kindervor. Wie bei der Auflistung der deutschen Verben bedeutet auch hier ein Pluszeichen (+) hinter einemWort, dass diese Verben (auch) in Kombination mit richtungsbeschreibenden Partikeln bzw. mit Präfi-xen (so genannten Satelliten) verwendet wurden.

baciti+ (werfen), doći (kommen), ganjati (jagen), goniti (jagen), gurnuti (stoßen), ići+ (gehen), juriti

(jagen), kočiti+ (bremsen), leći (sich hinlegen), loviti (jagen), oboriti (umwerfen), pasti+ (fallen), pli-

vati (schwimmen), penjati se (klettern), pobjeći (flüchten), podignuti se (sich erheben), popeti se+ (klet-tern), sakriti se (sich verstecken), skočiti+ (springen), stići (ankommen), šetati (spazieren), trčati+(laufen), uhvatiti (fangen), ustati se (aufstehen), zavući se (sich verkriechen)

Wie aus der Auflistung ersichtlich ist, fanden sich in den Erzählungen der zehn Kinder 25 Bewegungs-verbtypen. In Verbindung mit Satelliten stieg die Anzahl der verwendeten Bewegungsverben auf 41.

Wenn auch grundsätzlich die allgemeinen, weniger spezifizierten Ausdrücke der Dynamik bei un-seren ProbandInnen überwiegen: doći, ići (kommen, gehen), ist teilweise auch schon der Versuch einersemantischen Feindifferenzierung der Verben zu beobachten. Vor allem aber entstehen im BKS, wieauch im Deutschen, durch Kombination der Verben mit richtungsbeschreibenden Partikeln (Satelliten)zahlreiche detailliertere Ausdrücke der Bewegung, z. B. popeti se gore (hinaufklettern), pasti dole (hinun-ter/herunterfallen). Außerdem werden durch den Gebrauch der Verbalpräfixe detaillierte Angaben zurBewegungsrichtung gemacht: upasti, ispasti (hereinfallen, herausfallen).

Bei den Präfixen handelt es sich um einstige Präpositionen, die zu Verbalpräfixen geworden sindund großteils ihre ursprüngliche Bedeutung beibehalten haben. Während im Deutschen feste undtrennbare Präfixe zu unterscheiden sind, gibt es im BKS nur feste Verbalpräfixe, die in der Regel per-fektivierend wirken (vgl. Engel & Mrazović 1986). Diese Möglichkeiten der semantischen Differenzie-rung der Verben finden, wie die unten angeführten Beispiele zeigen, in den muttersprachlichen frog sto-

ries der Kinder, wenn auch nicht sehr oft, ihre Anwendung.Folgende Präfixe bzw. Partikel sind in den Erzählungen der zehn ProbandInnen vorgekommen:

Präfixe: iz-, o-, s-, u-, za-Partikel: dole (hinunter), gore (hinauf)

Die meisten dieser Präfixe verweisen irgendwie auf die Grenzen eines Geschehens. Dies gilt insbeson-dere in jenen Fällen, wo die ursprüngliche Bedeutung verblasst ist. Daher kommt es, dass diese Präfixeteils zusätzlich, teils ausschließlich aspektbildende Bedeutung haben: Sie werden häufig zur Perfektivie-rung von Verben verwendet (Engel & Mrazović 1986: 85).

Teil I – Psycholinguistische Studie

150

So hat das Präfix s- in sići (hinunter/heruntergehen) eine perfektive Bedeutung (einen Anfang ma-chend – bis zum Ende) und kann zwei entgegengesetzte Richtungen ausdrücken: zu einem Punkt hinund von einem Punkt weg (vgl. Engel & Mrazović 1989). Die Kombination des Verbs ići (gehen) mitden genannten Präfixen, vor allem mit iz- (izaći), war am häufigsten zu beobachten.

(9) Onak je ovaj braco i cuko zaspali i onak je žaba izašla.

(Dann ist dieser Bub und der Hund eingeschlafen und dann ist der Frosch herausgegangen.)

In der Analyse der Bewegungsverben bzw. der verwendeten Satelliten konnten auch interessante Er-scheinungen hinsichtlich des Lexikons beobachtet werden. Aus den meisten Erzählungen ist ersicht-lich, dass die Feindifferenzierung der Verben noch nicht abgeschlossen ist, obwohl die Kinder bei derVerwendung von Präfixen schon detailliertere Angaben zur Bewegung machen. Wie auch aus obigemBeispiel ersichtlich ist, kommt das Verb izaći (herausgehen) bei den frog stories in BKS sehr oft dort zurAnwendung, wo in der deutschsprachigen Datensammlung semantisch differenziertere Verben einge-setzt wurden (z. B. herausschleichen, herauskriechen).

Das Verb letjeti/leteti (fliegen) z. B. inkorporiert die Art der Bewegung im Verbstamm und solltemit steigendem Sprachniveau die Basisbewegungsverben ersetzen und in der frog story in der Szenemit den Bienen seine Anwendung finden. Bei den zehn ausgewählten frog stories kam dieses Verbbei zwei Erzählungen vor, jedoch auf Deutsch (fliegen) und nicht in der Muttersprache (letjeti/leteti).Manche Kinder sind hier, wie das folgende Beispiel illustriert, auf die Basisbewegungsverben ausge-wichen:

(10) Sve zuje su izašle.(Alle Summchen sind herausgegangen.)

Die meisten haben die „Bienenszene“ folgendermaßen gelöst:

(11) I onda su ga ovog kera ganjali Wespen.(Und dann haben diesen Hund die Wespen gejagt.)

10.4 Türkisch

10.4.1 Erzähllänge

Auf den ersten Blick scheinen die türkischen Kinder in ihrer Muttersprache (zwischen 173 und 399Wörter, durchschnittlich 275 Wörter) im Vergleich zu den deutschsprachigen Kindern in deren L1(durchschnittlich 343 Wörter) kürzere Erzählungen produziert zu haben. Der ausschlaggebendeGrund dafür liegt jedoch in der Struktur der türkischen Sprache. Da Türkisch eine agglutinierendeSprache ist, werden alle grammatikalischen Funktionen durch das Anfügen mehrerer Affixe an denWortstamm ausgedrückt (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2000: 27), wodurch nicht mehrere Wörter gezähltwerden, sondern ein einziges langes Wort entsteht. Außerdem gibt es Türkischen keine Artikel undschließlich ist es – wie auch das Italienische – eine Subject-pro-drop-Sprache (Non Subject Language),d. h. dass Pronomina als Subjekte in Gegenwart voll flektierter Verben fehlen können (Müller 2000:46). So wird der im Deutschen aus sechs Wörtern bestehende Satz Der Bub kraxelte auf einen Baum. imTürkischen mit drei oder sogar nur mit zwei Wörtern ausgedrückt: Çocuk ağaca tırmandı. oder Ağaca tı-

rmandı. (Er kraxelte auf einen Baum). Bei dem zweiten Satz entfällt das Pronomen, denn die Endung -

di bringt ohnehin zum Ausdruck, wer hier klettert. Ob es sich dabei um eine weibliche oder männlichePerson handelt, lässt sich durch den Kontext bestimmen. Aus diesen Gründen lassen sich die beidenSprachen hinsichtlich der Länge der Erzählungen nicht direkt vergleichen.

10. Die frog-story-Untersuchung

151

Umso bemerkenswerter ist es, dass die türkischen Kinder in ihrer L1 längere Texte produziert ha-ben als in ihrer L2 Deutsch. Von der Quantität dieser Texte darf jedoch nicht fälschlich auf die Qua-lität geschlossen werden. Das folgende Bespiel verdeutlicht, dass zahlreiche Szenen von den türkisch-sprachigen Kindern in ihrer L1 fast nur punktuell beschrieben wurden:

(12) Taştan da bağıryo. Baykuş bi odunu tutyo. Baykus da yukarı gidyo. Ondan sonra tuttuğuşeyden geyik çıkyo. Koşyo. Köpek de bağıryo. Çocuk da korkyo. Köpeklen çocuğu suyaatyolar.(Auf dem Stein schreit [das Kind]. Die Eule hält das Holz. Die Eule geht dann rauf. Dannaus dem, was es gehalten hat, kommt ein Hirsch heraus. [Er] läuft. Der Hund schreit. DasKind hat Angst. Den Hund und das Kind schmeißen sie [?] ins Wasser.)

Mit der Erzähllänge wird die Parallelität der bisherigen Ergebnisse unserer Studie zum Teil deutlich.Die Kinder, die sich auf Türkisch besser ausdrücken können, haben im Schnitt längere Geschichten inihrer Muttersprache erzählt, bei jenen, denen das Deutsche vertrauter ist, war es genau umgekehrt.

Aufschlussreich ist es auch, die Länge der Texte, die auf BKS und auf Türkisch verfasst wurden,zu vergleichen. Unseren Beobachtungen zufolge neigten jene BKS-sprachigen Kinder, die in ihrersprachlichen Entwicklung nicht sehr weit fortgeschritten waren, in ihrer Muttersprache zu aus-schweifenden Beschreibungen und unnötigen Wiederholungen. Die türkischsprachigen Kinder, de-ren L1 nicht gefestigt ist, tendierten jedoch eher dazu, das Erzählen der Geschichte so schnell wiemöglich hinter sich zu bringen, und verzichteten konsequenterweise auf erzählerische Elemente undBeschreibungen. Unsere Hypothese ist, dass dieses Verhalten nicht nur persönlichkeitsbedingt ist,sondern dass sich (der Mangel an) Selbstvertrauen auch kulturspezifisch unterschiedlich ausdrückt.Ein Kind mit bosnischer, kroatischer oder serbischer Erstsprache, das wenig Selbstvertrauen hat,neigt zu ausschweifenden Beschreibungen, während ein türkisches Kind es vorzieht zu schweigen.So verzichteten unsere türkischsprachigen ProbandInnen darauf, die in ihrem Wortschatz fehlendenLexeme zu paraphrasieren oder durch semantisch ähnliche Begriffe zu ersetzen. In der türkischenMentalität hält man sich mit Meinungsäußerungen zurück, wenn man etwas nicht weiß. Das ist einegewisse Art Bescheidenheit, die jedoch häufig fehlinterpretiert wird (vgl. Blaack 1991). Für weitereErklärungen und Hypothesen möchten wir auf unsere soziolinguistische Begleitstudie (Teil II) ver-weisen.

10.4.2 Kognitive Elemente

Am ehesten wird bei den Szenen, in denen der Hund aus dem Fenster fällt bzw. der Frosch gefundenwird, auf die Gefühlswelt des Protagonisten eingegangen. Andere Einblicke in die kognitive Welt in-nerhalb der Erzählung werden jedoch eher selten gewährt. Fast alle Erzählungen sind punktuelle Be-schreibungen, was vielen Geschichten einen statischen Charakter verleiht. Ohne Kenntnis des Büch-leins bekommt der/die ZuhörerIn oft kein konkretes Bild der Geschichte – vor allem nicht in Bezugauf die komplexe Hirschszene.

Zehn Hirschszenen wurden insgesamt untersucht, um die kognitiv-sprachliche Entwicklung dertürkischsprachigen Kinder in ihrer L1 zu verdeutlichen. Dabei wurden – abgesehen von einem Kind,das im Jahr zuvor die Schule gewechselt hatte – dieselben Kinder befragt, deren Sprachkompetenz inihrer L2 Deutsch ebenfalls anhand der frog story untersucht worden war. Diese zehn Kinder konnten diekomplexe Szene weder in ihrer L2 noch in ihrer L1 adäquat ausdrücken. Ein einziges Kind merkte an,dass hinter dem Stein ein Hirsch versteckt ist, wobei es in der Folge das Ereignis nicht weiter beschrieb.Keines der Kinder erwähnte, dass sich der Ast als Hirschgeweih entpuppt und dass das Kind gegen

Teil I – Psycholinguistische Studie

152

seinen Willen vom Hirsch fortgetragen wird. In den Erzählungen der Kinder findet sich der Bub plötz-lich auf dem Hirsch oder er fällt auf den Kopf des Hirschen.

Das folgende Diagramm zeigt die Leistung der türkischsprachigen Kinder in ihrer L1 und L2 inHinblick auf die Beschreibung der erwähnten Szene:

Bei dieser Szene machten viele Kinder entweder eine kurze Pause, wiederholten ihr letztes Wort oder beton-ten, dass sie die türkische Entsprechung nicht wüssten. Erstaunlich ist, dass kein einziges Kind dal (Ast) aufTürkisch nannte. Dieses Lexem kam jedoch oft auf Deutsch vor. Von den zehn Kindern benützte ein Kindstatt Ast das Lexem odun (Holz) und ein anderes değnek (Stock). (Diese Begriffsverwechslung wurde auchbeim Word Definition Task beobachtet.) Nur fünf der Kinder konnten boynuz (Geweih) und drei geyik (Hirsch)in ihrer L1 benennen. Diese Lexeme wurden sonst weder durch akzeptable Termini ersetzt noch paraphra-siert. Durch das Fehlen der für die Geschichte immens wichtigen Lexeme gelang es den Kindern nicht, dieSzene mit der korrekten Kausalität logisch verknüpft wiederzugeben.

10.4.3 Bewegungsverben

Die Qualität und bildhafte Darstellung der Bewegung können im Türkischen, welches zu den Spra-chen des Typus verb-framed gehört, durch ein zusätzliches Wort ausgedrückt werden (vgl. Peltzer-Karpfet al. 2002: 198 ff.). Das geschieht durch die Verbindung aus zwei Verben, bei denen das erste ein Kon-verb ist und das zweite die Personen- und Tempusmarkierung trägt. Die Verbindung Konverb + finitesVerb trägt zur Aspektualität bei:

(13) Oğlan emekleyip gitmis. (Der Bub ging krabbelnd.)

Die Verbindung der beiden Verben emeklemek (krabbeln) und gitmek (gehen) ergibt die Gesamtbedeu-tung, deren Resultat im zweiten Verb lexikalisch expliziert ist. Dieser Aspekt ist ein markanter Unter-schied zwischen dem Deutschen und dem Türkischen (vgl. Schröder: 86 ff.).

Diese Verbindung zwischen Konverb und finitem Verb beschreibt die Art und Weise näher, in derdie Handlung abläuft und verleiht dem Satz eine bildhafte Darstellung. Die Verwendung dieser Verbin-dungen kam jedoch bei den Produktionen unserer ProbandInnen sehr selten vor (in zehn Erzählungen

10. Die frog-story-Untersuchung

153

0

1

2

3

Kategorien

Deutsch

Türkisch

An

zah

l der

Pro

ban

den

4

5

1 2 3 4 5

Fig. 10.7: Gruppe Türkisch: Qualität der Beschreibung der Hirschszene

in L1/L2

Legende: Kategorien der Beschreibung1: Vermeidungsstrategie2: inkorrekte Kausalität3: korrekte Kausalität (Hirsch als Agens)4: Erwähnung von Ast und/oder Geweih, aber ohne Verknüpfung5: korrekte Kausalität und logische Verknüpfung zwischen Ast und Geweih

viermal) und wurde von jenen Kindern produziert, die innerhalb unserer Probandengruppe einenüberdurchschnittlichen Spracherwerbsstand haben.

Die anderen Kinder vermieden diese bildhaften Ausdrucksformen weitgehend und schmücktendie Handlung weniger aus, was bei der Übersetzung ins Deutsche auf Grund der unterschiedlichenSprachtypologie nicht gut zum Ausdruck kommt (siehe Kapitel 10.2.5). Durch das Fehlen dieser dyna-mischen und bildhaften Elemente im Türkischen wirken die Szenen statisch.

Auch wenn unsere Kinder von der Verbindung Konverb + finites Verb wenig Gebrauch machten,bleibt die Unterschiedlichkeit der Bewegungsverben in beiden Sprachen aufrecht, da es im Türkischenim Gegensatz zum Deutschen eng mit dem Verb verknüpfte Partikel nicht gibt.

Insgesamt wurden folgende Bewegungsverben verwendet:

almak (nehmen), atlamak (springen), atmak (werfen), çıkarmak (herausnehmen, -ziehen), çıkmak(herauskommen, auftauchen), dönmek (zurückkommen), düşmek (hinunterfallen, stürzen), düşür-

mek (umwerfen), düzülmek (sich anordnen), emeklemek (krabbeln), geçmek (hinübergehen), gelmek

(kommen), girmek (hineingehen), gitmek (gehen), götürmek (bringen), hoplamak (hüpfen), inmek

(herunterkommen, -steigen), kaçmak (weglaufen, entfliehen, flüchten), kaldırmak (aufheben),kalkmak (aufstehen), koşmak (laufen), kovalamak (verfolgen, hinterhersein), koymak (hinstellen),saklanmak (sich verstecken), saldırmak (angreifen), sallamak (schauckeln), sallandırmak (schaukelnlassen), takip etmek (verfolgen), tırmanmak (klettern), yetişmek (erreichen), yıkmak (niederreißen),yuvarlanmak (rollen), yüzmek (schwimmen)

Die Kinder verwendeten auf Türkisch durchschnittlich 11,1 Bewegungsverbentypen in ihren Erzäh-lungen, was den Werten der Kinder mit deutscher L1 in deren Muttersprache sehr nahe kommt. DieseZahlen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. Das deutsche Verb gehen, das durch die Hinzufügung vonPräfixen, wie hinaus-, hinunter-, hinauf-, andere Bedeutungen bekommt, wird im Türkischen mit unter-schiedlichen Verben ausgedrückt: girmek (hineingehen), gitmek (gehen), yürümek (marschieren), dışarı çı-

kmak (hinausgehen). Diese Verben verzerren die Statistik. Da die Sprachen typologisch anders funk-tionieren, können sie im Bereich der Bewegungsverben statistisch nur schwer verglichen werden.

Zusammenfassend kann über die Kinder türkischer Herkunft gesagt werden, dass sie sich schwertun, eine Bildgeschichte mit erzählerischen Elementen zu beschreiben bzw. eine Geschichte zu erzäh-len. Dies ist sicherlich einerseits darauf zurückzuführen, dass sie in ihrer L1 sehr wenig lesen, anderer-seits spielen bei der Zurückhaltung der Beschreibungen, wie oben erwähnt, kulturspezifische Aspekteeine Rolle. Diese Zurückhaltung kann leicht als mangelnde Motivation bzw. als Unfähigkeit missver-standen werden.

10.5 Crosslinguistischer Vergleich der

Der entwicklungsbedingte Fortschritt in der Erst- bzw. Zweitsprache Deutsch vom dritten zum viertenSchuljahr konnte aus der Datensammlung der deutschsprachigen frog stories klar herausgearbeitet wer-den. Während die Zweitsprachenlernenden auf dieser Stufe des Spracherwerbs ihr lexikalisches Reper-toire kontinuierlich erweitern und sich um affektive Elemente bemühen, um nette Erzählungen zuproduzieren, befinden sich die MuttersprachlerInnen am Ende der Grundschulzeit auf einem Level,auf dem sie derartige Details vernachlässigen und sich stattdessen auf syntaktische Komplexität kon-zentrieren.

Ein crosslinguistischer Vergleich, der neben Deutsch auch die Muttersprachen BKS und Türkischin Betracht zieht, gestaltet sich weniger einfach und ist auf Grund der divergierenden Sprachtypolo-gien auch nicht in allen Bereichen sinnvoll. So ist etwa der Durchschnittswert der in den türkischen frog

Teil I – Psycholinguistische Studie

154

stories vorkommenden Bewegungsverbtypen von 11,1 mit Vorsicht zu genießen, da er qualitativ differ-enziert betrachtet nicht dasselbe in sich birgt wie die Vergleichswerte aus den anderssprachigen Daten-sammlungen. Auch die Erzähllängestatistiken sind mit ähnlichen Einschränkungen zu betrachten,doch mit angemessener Sorgfalt erlaubt es ein crosslinguistischer Vergleich doch, Schlüsse über Ten-denzen in der Erst- und Zweitsprachenentwicklung unserer zweisprachigen ProbandInnen zu ziehen.

Die Kinder mit den Erstsprachen BKS produzierten im letzten Grundschuljahr sowohl in ihrer L1 alsauch in ihrer L2 Deutsch ähnlich lange Geschichten. Letztere entsprachen hinsichtlich Erzähllänge auchden Geschichten, die von den einsprachigen Kindern erzählt wurden. Dennoch ist die Erzähllänge, auchwenn sie als eines der bedeutenden Kriterien in der Entwicklung der Textkompetenz gelten mag, auf demNiveau einer längeren Geschichte wie der frog story kein reliables Indiz für die Qualität einer Erzählung. Ge-rade die Konfrontation mit sprachlichen Lücken und Mängeln veranlasste unsere BKS-Kinder in beidenSprachen zu langatmigen Umschreibungen, Ausschweifungen und dadurch zur Produktion noch längererGeschichten. Dass Quantität und Qualität einer Erzählung nicht direkt zusammenhängen, wurde auchvon Berman & Slobin in ihrer umfangreichen crosslinguistischen Studie festgestellt:

[We could not] correlate the „goodness“ of a narrative with its relative length, either in com-paring adult narratives with one another, or with the children. (. . .) [It] is not obvious whatexplanation we could afford (. . .) for the fact that some cultures seem to elicit longer and moreelaborate narratives than others, as noted for our German sample. (Berman & Slobin 1994: 32)

Das im Zitat angesprochene kulturspezifisch unterschiedliche Erzählverhalten kommt auch in unseren Da-ten zum Ausdruck. Im Gegensatz zu den BKS-Kindern neigten unsere ProbandInnen mit türkischer L1nicht zu ausschweifenden Schilderungen, sondern gingen in Anbetracht lexikalischer Lücken lieber rasch zurnächsten Szene über, um so die Aufgabe der narrativen Produktion möglichst schnell hinter sich zu bringen.Beachtlich ist, dass sie in ihrer Muttersprache, welche eine agglutinierende und Subject-pro-drop-Sprache ist,dennoch längere Erzählungen produzierten als in ihrer L2 Deutsch. In Anbetracht ihrer kulturspezifischenEigenheit, bei sprachlichen Mängeln vorwiegend auf die Vermeidungsstrategie zurückzugreifen, würde dasauf eine besser entwickelte L1-Kompetenz schließen lassen.

Die SchülerInnen mit den Muttersprachen BKS hingegen legten im Rahmen der frog-story-Studie inbeiden Sprachen ähnliche narrative Kompetenzen an den Tag. Einige Teilanalysen – wie die Analysedes Bewegungsverbs fliegen – verschaffen allerdings den Eindruck, dass sich die Zweitsprache Deutschbesser entwickelt hat als die Erstsprache.

Rund 50% der BKS-Kinder waren in beiden untersuchten Sprachen dazu fähig, die komplexeHirschszene der Geschichte adäquat auszudrücken. Leider schaffte dies keines der türkischsprachigenKinder – weder in ihrer L1 noch in ihrer L2. In erster Linie ist dieses mangelhafte Erzählverhalten aufsprachliche Schwächen und die für türkische Kinder typische, daraus resultierende Resignation zurück-zuführen. Bei den meisten Kindern kann davon ausgegangen werden, dass sie die kognitiv anspruchs-volle Szene sehr wohl konzeptuell verstehen, aber an der sprachlichen Umsetzung scheitern.

Dennoch darf die kognitive Entwicklung der Kinder nicht als selbstverständlich betrachtet wer-den. Durch die hohen Anforderungen der Grundschule und den gleichzeitigen bilingualen Spracher-werbsprozess können Migrantenkinder kognitiv überlastet sein, was zu Demotivation und Desillusionführen kann. Dass die Kinder mit türkischer L1 zu enormen Fortschritten in ihrer Zweitsprache fähigsind, haben sie im Rahmen der frog-story-Untersuchung bewiesen, wie der Vergleich der Daten aus demdritten und vierten Schuljahr zeigt. Um diese Fortschritte weiter auszubauen und zu beschleunigen unddie Kinder dadurch – wie ihre MitschülerInnen der Gruppen 2 (BKS) und 3 (andere Erstsprachen) –einen bedeutenden Schritt näher an die Kompetenz der deutschen MuttersprachlerInnen heranzurü-cken, bedarf es angemessener Fördermaßnahmen. Vorschläge dazu befinden sich in Abschnitt 16.

10. Die frog-story-Untersuchung

155

11. Dynamik im Zeitraffer

In diesem Abschnitt werden die zuvor getrennt präsentierten Daten zu den Sprachen Deutsch, Bos-nisch, Kroatisch, Serbisch und Türkisch in geraffter Form einer sprachübergreifenden dynamischenInterpretation unterzogen. Miteinbezogen in diese Diskussion wird auch der für die meisten Kindermit dem Schulstart gemeinsam einsetzende Erwerb des Englischen, auf den in Abschnitt 12 im De-tail eingegangen wird. Auf später verschoben wird die Vorstellung einzelner Kinder, die uns durchbesonderes Tempo und Effizienz bzw. durch große Probleme aufgefallen sind (siehe Abschnitt 13).Wir diskutieren hier also vor dem Fremdsprachenerwerb Englisch und den Fallstudien das Wechsel-spiel von Sprachen und Systemen, die direkt in den bilingualen Spracherwerb involviert sind. AlsKontrollparameter fungieren die Daten der Kinder mit L1 Deutsch, die über die gesamte Projektzeitmit untersucht wurden, sowie die punktuell erfassten Kinder aus Lukavac (Bosnien) und Ankara(siehe Abschnitt 14).

Bei der Interpretation der Daten haben wir uns an der dynamischen Systemtheorie orientiert (sieheKapitel 2.1), die besonders bei Langzeitstudien wichtige und interessante Befunde ermöglicht. Diesgilt sprachintern und crosslinguistisch. Für das Projekt bedeutet dies, dass einerseits innerhalb einesSprachsystems, also Deutsch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Türkisch und Englisch, die Entwicklungvon Morphosyntax, Semantik und Lexikon und der Kommunikation untersucht wurden, andererseitsauch das Wechselspiel zwischen den Sprachen und das unterschiedliche Tempo, in dem sich die einzel-nen Systeme organisieren.

Zur besseren Orientierung erfolgt die Diskussion des komplexen mulilingualen Erwerbsgesche-hens in zwei Teilen:

• In Kapitel 11.1 werden die Ordnungszustände, die ein System in seiner Entwicklung durchläuft,multilingual orientiert besprochen. Wir zeigen also anhand von Beispielen aus den verschiedenen Vari-anten des Erst-, Zweit- und Fremdsprachenerwerbs wie die Anfangsphase, die turbulenten Zwischen-phasen und die sich stabilisierende Schlussphase in den von uns untersuchten Sprachen aussehen undauch, was beim cross-over von Systemen passieren kann.

• Der zweite Teil dieses Abschnitts, Kapitel 11.2, nimmt sich den Erwerbsverlauf nach Schulstufenvor. Bei dieser Querschnittsanalyse kommt es durch die multilinguale Klassenzusammensetzung zueiner Synchronschaltung der Ordnungszustände, die wir in der Präsentation zu entwirren versuchen.Das Ergebnis sind die über vier Jahre hinweg zu beobachtenden Wachstumsschübe in den SprachenDeutsch, BKS und Türkisch.

Wir werden die einzelnen Stadien mit empirischen Daten untermauern und zeigen, dass sich zumSchul- und Projektstart jede der involvierten Sprachen in einer anderen Phase befand, während sich beivielen Kindern schon ab dem dritten Schuljahr die Erstsprache und die Unterrichtssprache in großenSchüben zur letzten Phase hin bewegen und mitunter auch die Dominanz wechseln. Thematisiert wer-den soll auch, wie die Erstsprache der Migrantenkinder durch die Magnetwirkung des Deutschen alsUnterrichtssprache in ihren Strukturen verändert wird.

Wir möchten schon jetzt daran erinnern, dass wir es bei dynamischen Systemen mit Nichtlinearitätzu tun haben, die durchaus zu Überraschungen wie Kompetenzverschiebungen, plötzlichen Spurtsund Erwerbseinbrüchen führen kann.

Kommen wir nun zum ersten Teil der Diskussion, in dem wir die in Kapitel 2.1. und 2.2 vorgestell-ten Phasen des Spracherwerbs sprachübergreifend Revue passieren lassen.

156

11.1 Der multilinguale chaotische Pfad

Eine Langzeitstudie macht es möglich, den Weg der entstehenden Sprachen über Phasen der scheinba-ren Ordnung (bedingt durch auswendig gelernte Formeln) über systemspezifisches Chaos (erkennbaran Überproduktivität und Fluktuationen) zu Stabilität und Ordnung zu verfolgen. Wichtig ist zu be-achten, dass jede Variante des Spracherwerbs diesen Weg einhält. Unterschiede im Entwicklungsstandergeben sich aus dem Tempo, mit dem die einzelnen Phasen durchlaufen werden. Dies hängt von ver-schiedenen Faktoren ab, wie z. B. dem jeweiligen Sprachtyp, der Erwerbssituation, dem Lernpro-gramm, der Motivation oder dem Startalter.

Um die unterschiedlichen Systemzustände, die auf dem in Kapitel 2.2 skizzierten chaotischen Pfadanzutreffen sind, nochmals zu verdeutlichen, bringen wir den Querschnitt von vier Potentiallandschaf-ten. In den vier Grafiken werden die relativ ruhige Anfangsphase, die erste Herauslösung von Regeln,die starken Turbulenzen und Fluktuationen in der chaotischen Zwischenphase und das Erreichen desstabilen Endzustands schematisiert. Zum besseren Verständnis sei angemerkt, dass der jeweilige Sys-temzustand von einem gelben Ball symbolisiert wird, der sich die jeweils beste Position sucht und dernach langsamem Anlauf und darauf folgendem Galopp das Ziel erreicht (Kelso 1995; Tschacher &Dauwalder 2003).

-

Die nun folgende Diskussion wird zeigen, welchem dieser Bilder der jeweils erreichte Systemzustandin den einzelnen Sprachen zuzuordnen ist. Sie wird aber auch mit Daten belegen, in welcher Phasesich die einzelnen Gruppen zum Start des Projekts befunden haben und welchen Weg sie wie schnellgenommen haben. Vor allem die Fallstudien in Abschnitt 13 sollen darauf hinweisen, dass Tempound Präzision des Spracherwerbs nicht nur über die Gruppe, sondern auch individuell zu definierensind.

11. Dynamik im Zeitraffer

157

Fig. 11.1: Der chaotische Pfad als Potentiallandschaft

Darstellung der dynamischen Entwicklung individueller Modalitäten

Für alle Sprachen kann prinzipiell die folgende Liste systemspezifischer Veränderungen gelten:

• Die Syntax zeigt eine deutlichere Markierung von Relationen, ausgedrückt in der zunehmend präzi-sen Positionierung von Elementen und der morphologischen Anpassung.

• Die Wortbildung demonstriert in ihrer Startphase klare Prioritäten für additive Prozesse, je nachSprachtyp durch die Kombination freier Morpheme (= Komposition), das Anhängen oder Voranstel-len von gebundenen Morphemen (= Affixen) als Derivation oder Agglutination und kommt erst rela-tiv spät zu internen Veränderungen (via Umlaut oder Ablaut).

• Die Organisation des Lexikons beginnt mit einem linearen Wachstum gefolgt von der nichtlinearenOrganisation des Datenpools. Wie in 11.1.2 noch erklärt werden soll, hat das Lexikon eine Trigger-funktion für die Syntax, d. h., dass eine kritische Menge von ca. 400 Elementen syntaktische Prozessein Gang zu setzen vermag (mehr dazu in Peltzer-Karpf & Zangl 1998; Hohenberger 2002).

Mit diesem Schema folgen die Kinder präzise der in allen Erwerbssituationen zu beobachtenden Rei-henfolge, also: auffallende Elemente und einzelne Teile einer Gruppe zuerst, dann die Position einzel-ner Elemente, gefolgt von den Veränderungen der Position und den internen Veränderungen von Ele-menten.

Sowohl beim Erst- als auch beim Zweitsprach- bzw. beim bilingualen Spracherwerb müssen Ler-nende den Code des jeweiligen neuen sprachlichen Regelsystems knacken. Dies trifft insbesondere aufden Bereich der Morphosyntax zu. Zahlreiche Studien der Spracherwerbsforschung (L1 und L2) ma-chen deutlich, dass morphologische und syntaktische Regeln hierbei keineswegs kontinuierlich ange-häuft, sondern phasenweise erworben werden. Die dabei beobachteten Ähnlichkeiten der Entwick-lungsmuster in verschiedenen Situationen des Spracherwerbs – von individuellen Variationen abgese-hen – lassen auf dafür verantwortliche universell gültige Prozesse schließen (vgl. u. a. Ellis 1997; Nel-son, Aksu-Koç & Johnson 2001).

11.1.1 Die Anfangsphase

Ein besonderes Kennzeichen der Anfangsphase sind massive lexikalische Transfers aus der Erstspra-che, wenn die gespeicherten chunks die kommunikative Funktion nicht erfüllen können. Dies erfolgt inzwei Formen: entweder durch direkte Übernahme oder durch foreignizing.

Diese erste Phase könnte als Ruhe vor dem Sturm bezeichnet werden. Wir steigen zu dem Zeit-punkt in die Arena des frühen Zweitsprachenerwerbs, zu dem die ersten gespeicherten Formeln aufge-löst und Regeln herausgefiltert werden.

Wir haben im dritten Abschnitt gesehen, dass früher Spracherwerb mit der Segmentierung des In-puts in Gruppen beginnt. Die Auswahl dieser Einheiten wird durch Faktoren wie Frequenz, Formkon-stanz und Auffälligkeit beeinflusst. Dazu kommen noch die kommunikative Situation und der Kon-text. In der Zweitsprache werden diese Formeln bereits im Sortiment angeboten. Fremdsprachenun-terricht startet mit den obligatorischen Grußformeln, den Vorstellungsriten und Höflichkeitsfloskeln.Chunks, die sich SchülerInnen selbst erarbeiten, sind oft gestellte Fragen und Reaktionen des Lehrersbzw. der Lehrerin. Viele Lehrbücher geben Minidialoge mit Variationen, die zunächst auswendig ge-lernt werden. Sie dienen als Sprungbrett in die Kommunikation und funktionieren, solange die Kom-munikationspartnerInnen nicht vom vereinbarten Schema abweichen.

Beispiele für chunks lassen sich nicht nur früh in der gesprochenen Sprache finden, sondern auchspäter nochmals beim Erwerb der Schriftsprache (wir behalten die Orthographie der Bildbeschreibun-gen bei):

Teil I – Psycholinguistische Studie

158

(1)L1 Deutsch, 8 Jahre, Schluss einer Geschichte:Wen sie nicht gestörbensint danleben si noch höte.L1 Deutsch:Er patelte mit seinen Pfoten und gotzeidank an lant.L1 Bosnisch:Die kaze wiel auf den baum kletern. die kaze felt fon baum runtains wassa.

An der Schwelle zum kreativen Sprachgebrauch sind Kinder dann, wenn die Zahl der gespeichertenEinheiten abnimmt, Regeln (über)generalisiert werden und die durchschnittliche Äußerungslänge(MLU) deutlich zunimmt. Bei den ersten eigenen Produktionen zeigt sich die Vorliebe für auffallendeund oft wiederholte Formen, die ohne große Variation in vergleichbaren Kontexten auftreten. Kreati-vität, Bewegung in der Syntax, fluktuierende Regelanwendung und (Über)generalisierungen sind dem-nach ein Indikator für Fortschritte im Spracherwerb.

11.1.2 Die turbulente Phase

Diese neue Phase gestaltet sich außerordentlich turbulent, zumal die Kinder sich nun daran machen,die auswendiggelernten Formeln zu analysieren und Regeln herauszufiltern. Das erste Herauslösenvon Mustern und Regeln ermöglicht größere Flexibilität in Morphologie und Syntax, führt gleichzeitigaber auch zu einem größeren Fehlerpotential. Übergeneralisierungen dominanter Muster lassen sichschon nach kurzer fremdsprachlicher Erfahrung beobachten.

Die turbulente Phase hat bei zweisprachigen Kindern ein weiteres Kennzeichen: Die Sprachenwerden gemischt. Wie die Beispiele in 11.1.4 zeigen werden, wird die Erstsprache durch Elemente derneuen Sprache infiltriert. Diese Instabilität lässt sich vor allem im Lexikon beobachten, teilweise aberauch in der morphologischen Markierung und in der Syntax.

Soweit aus unseren Daten ersichtlich, können wir von einer langen Phase der Reorganisation in derZuordnung von Kategorien und Relationen in allen sprachlichen Systemen ausgehen, was sich beson-ders deutlich in der fallenden Tendenz von Kategorisierungsfehlern und in der steigenden Fähigkeitzur Segmentierung und Regelanwendung zeigt. Das Lexikon läuft auf Speicherbetrieb und Assozia-tion, die Grammatik arbeitet nach einem komplexen Regelsystem, dessen Entwicklung erst durch dasVorhandensein einer kritischen Masse von Lexemen getriggert und durch eine entsprechende neuro-nale Infrastruktur ermöglicht wird.

Seit Jahren wird in verschiedenen Sprachen beobachtet, dass das Lexikon eine Triggerfunktion fürdie Syntax hat. Das ist so zu verstehen, dass eine kritische Menge von lexikalischen Einheiten (ca. 400Elemente) notwendig ist, um syntaktische Prozesse in Gang zu setzen. Man könnte es auch so formu-lieren, dass Kinder oder Lernende zunächst einmal Elemente anspeichern, die in weiterer Folge zu Sät-zen (mit ansteigender Komplexität) verknüpft werden. Das Lexikon seinerseits ist davon abhängig,dass die Segmentierung des Inputs und die semantische Kategorisierung funktionieren. Nicht zuletztist zu beachten, dass die Pragmatik bei all diesen Aktivitäten eine wichtige Rolle spielt.

Das Triggern lässt sich besonders gut in Langzeitstudien beobachten. Es zeigt sich sehr schön, dassErwerbsschübe in einem System neue Strategien und Techniken in anderen Systemen auslösen; so profi-tiert etwa das Lexikon von der Phonologie, die Syntax vom Lexikon, die Wortbildung von der Syntax.In der Kommunikation kann die erweiterte Palette von Sprechakten die Qualität und Quantität des In-puts positiv beeinflussen (Ninio & Snow 1996; Peltzer-Karpf & Zangl 1998; Wagner 1999).

11. Dynamik im Zeitraffer

159

Während der Besprechung der ersten beiden Phasen haben wir darauf hingewiesen, dass sich diebeiden morphologischen Subsysteme hinsichtlich der Dynamik ihrer Entwicklung unterschiedlich ver-halten. Besonders im Englischen kommt die Flexion bald in ein ruhigeres Fahrwasser, Ausnahmen inder Nominal- und der Verbalflexion sind eher eine Sache der lexikalischen Speicherung. Sie werden bisdahin an das mehrheitlich gültige Schema angepasst (siehe Abschnitt 12). Die Wortbildung hingegenbleibt lange ein Problemkind. Dies gilt nicht für die Bildung von Komposita, sehr wohl aber für dieAbleitung von Nomen und Adjektiven. Noch in der vierten Klasse können Turbulenzen in der Deriva-tion beobachtet werden. Die folgenden Beispiele stammen aus der BKS-Gruppe, einmal aus demZweitsprachenerwerb Deutsch und dann aus der Erstsprache. Wichtig ist dabei zu beachten, dass sichdie Kinder in beiden Sprachen gleichzeitig in derselben Phase befinden:

Chaos in der Zweitsprache, 10 Jahre:

Wolke > bewölkt/wolkigwolkischwölklichwolknerischwolkeligbewolkt

Chaos in der Erstsprache, 10 Jahre:

prodavati (verkaufen) > prodavačica (Verkäuferin)prodavanicaprodačicaprodavicaprodajkaprodajnicapredačicaprodavčicaprodajicaprodivnicaprodejicaprodakinja

Das Chaos kann allerdings nicht nur eine ganze Gruppe erfassen, sondern sich auch individuell ereig-nen. Die folgenden Beispiele wurden von einem siebenjährigen türkischen Buben produziert, der sichschriftlich an Variationen zum Thema Vogel übt. Sein Jonglieren mit Formen ist ein weiteres Indiz da-für, dass die einzelnen sprachlichen Systeme durchaus ihren eigenen chaotischen Pfad durchlaufen. Sokönnen eben auch starke Turbulenzen in der Orthographie mit beachtlicher Satzlänge, wenn auch mitstarker Redundanz und geringer Komplexität, einhergehen:

(2)Teja kaste wil foel esten. teja fuel eeist bam. Kaste sterk inten ban. fugl get kaste.Kast nig siwen. fugel get intera kaw. fugels at intem kaste.

Mit welcher Verspätung Flexion und Wortbildung (mit Ausnahme der Komposition) im Deutschen er-worben werden, zeigt sich an folgenden Formen, die von der BKS-Gruppe produziert wurden. Hiermuss allerdings angemerkt werden, dass sich auch im Erstspracherwerb Deutsch noch lange Analogie-formen beobachten lassen. Zunehmende Satzkomplexität kann also durchaus mit orthographischenFluktuationen und Flexions- oder Derivationsfehlern einhergehen.

Teil I – Psycholinguistische Studie

160

(3)Tomi war überglücklich, er hatte seinen hellbraunen Hut Auf seinem Kopf, denn er glaubte dasder Hut im Glück branng.

Die folgenden Flexionsmuster von zehnjährigen BKS-Kindern zeigen ähnliche Mechanismen, wobeiin den letzten beiden Beispielen sogar eine Doppelmarkierung erfolgt. Diese Daten stammen aus einerin Abschnitt 9 präsentierten Bildgeschichte:

(4)Der Hans hat die rote Fische gefangt.Später fällte seine Kübel in den Fluss.Ein kleiner roter Fisch sah das Angel und beißte.Und die Fische verschwindeten.Die großen Fische nehmten den kleinen Fisch.Im Wasser schwammten große und kleine Fische.Der Mann gingte traurig nach Hause.

Die Beispiele sind ein schöner Beweis dafür, dass sich Systeme dissoziiert entwickeln. Wir haben alsoauch hier wieder diese Staffelung, die uns schon aus der Hirnentwicklung bekannt ist. Überraschendkommt das allerdings nicht, denn auch Sprache ist ein natürliches System, das in seiner Entwicklungden Naturgesetzen unterliegt. In diesem Kontext wären es vor allem die Dissoziierung oder Modulari-sierung bei zu großer Komplexität und der Weg zur Ordnung durch das Chaos (vgl. Prigogine 1988;Karpf 1990; Kelso 1995; Tschacher & Dauwalder 2003).

Kommen wir nochmals zurück auf unsere Phasen. Die oben genannten Daten zur Morphologiewurden zu einer Zeit gebildet, in der die Syntax und die Flexion schon lange Stabilität erreicht hatten.Generell lässt sich sagen, dass im Anschluss an die turbulente Phase die grammatische Entwicklungwiederum von einer ruhigeren Phase geprägt ist, die auf einen bereits sehr kohärenten Systemzustandschließen lässt.

Technisch gesprochen sind die Zwischenphasen durch das (Neu-)Modellieren neuronaler Verbin-dungen gekennzeichnet, die bei jungen Lernenden rascher ablaufen, wobei die vorherige Organisationsprachlicher Muster in einer Erstsprache wie Türkisch oder BKS auch ein großer Vorteil sein kann.Aus dynamischer Sicht kündigen Überproduktivität und Fluktuationen die Bildung von Modulen an,was die funktionelle Spezialisierung und Autonomie von Systemen, die größere Stabilität und wenigerStöranfälligkeit bringen, bedeutet.

11.1.3 Die teilweise geordnete Phase und stabile Phase

Bei diesen beiden Phasen werden wir uns etwas kürzer fassen. Nicht, weil sie uninteressant wären oderweil sich zu wenig ereignen würde, sondern einfach deshalb, weil flächendeckende Stabilität in derGrundstufe kaum erreicht werden kann. Aber es gibt auch Ausnahmen von der Regel, mit denen wiruns jetzt beschäftigen möchten.

Im Anschluss an die turbulente Zwischenphase ist die grammatische Entwicklung wiederum voneiner ruhigeren Phase geprägt, die auf einen bereits sehr kohärenten Systemzustand schließen lässt.Nach vier Jahren intensiven Kontakts mit der Zweitsprache ist das morphosyntaktische System so weitentwickelt, dass satzinterne Koreferenzbeziehungen erkannt und Kongruenzen markiert werden. DasKind hat ein durchaus passables Repertoire an Satzbauplänen und kann durch die Ausnützung dermorphologischen Optionen neue Wörter bilden und so das Lexikon bereichern.

11. Dynamik im Zeitraffer

161

Auch wenn ein System eine stabile Phase erreicht hat, muss das nicht unbedingt bedeuten, dass die-ser Idealzustand ein Leben lang erhalten bleibt. Sprachen können durch andere Sprachen beeinflusstwerden und in manchen Systemteilen nicht mehr aktiv abrufbar sein. Zwei- und Mehrsprachigkeit sinddynamischen Prozessen unterworfen, die am Aufbau beteiligt sind, aber auch durch längere Nichtakti-vierung zu attrition (Erschöpfung, Auszehrung) führen können – wie in einem Kampf, bei dem jederder Kontrahenten darauf wartet, dass der andere kapituliert (Baker & Prys Jones 1998). Der BegriffMehrsprachigkeit enthält also mehr als nur die Kenntnis verschiedener Sprachen; er bedeutet auch,diese Sprachen in der Kommunikation verwenden zu können, Texte zu produzieren und zu verstehenund insgesamt an das heranzukommen, was Noam Chomsky unter dem idealen Sprecher versteht. Sogesehen stehen Sprachen nicht nur im Kontakt, sondern auch im Konflikt, indem sie sensibel auf sichändernde Gegebenheiten reagieren.

11.1.4 Das cross-over von Systemen

Welche strukturellen Auswirkungen die Veränderung der Sprachdominanz hat, soll nun anhand vonBeispielen gezeigt werden. Festzustellen ist zunächst, dass die Unterrichtssprache Deutsch (und dermehr oder weniger starke Einfluss der deutschsprachigen Umwelt) die Dynamik der Weiterentwick-lung in den jeweiligen Erstsprachen massiv beeinflusst.

Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die zum Deutschen erhobenen Daten von Kindern mitder Erstsprache Türkisch oder BKS und Kontaktphänomene wie code-switching und code-mixing. Die An-fangsphase zeigt das gewohnte Bild: Abgesehen von vorfabrizierten, auswendig gelernten Formelnwird diese Phase von Problemen in der Wortsegmentierung, einfachen hybriden Sätzen und foreignizing

dominiert. Die Zwischenstadien bringen eine Serie von Aktivitäten wie die Reduktion von Formeln,einen deutlichen Anstieg der durchschnittlichen Länge von Äußerungen, die fluktuierende Anwen-dung und Übergeneralisierung von Regeln, die Bewegung von Elementen und die morphologischeMarkierung von Relationen. Schon zu Beginn der Zwischenphase zeigt sich der intensive Kontakt zwi-schen Erst- und Fremd- bzw. Zweitsprache (vgl. dazu auch Döpke 2001).

Die Fortschritte im Erwerb des Deutschen bringen eine Reduktion der Flexionsklassen in den sla-wischen Sprachen und lexikalischen Transfer wie in:

(5)Malo Rechnungen imali, imali ono ähm onoga Lesebuch, nešto u knjigu abschreiben i rechnen još jedanRechenzettel i još jedan und das fertigmachen.. . . sa sa mojam Freundama . . . (für: . . . sa mojim prijateljima . . .)A kući sprecham Deutsch. (für: A kući govorim njemački.). . . jedan Freund od meine . . . (für: moj prijatelj)

Weitere Beispiele, welche strukturelle Veränderungen signalisieren, sind die Bildung von Kompositanach deutschem Muster im Türkischen und in BKS wie dörteck (Viereck; Türkisch dört = vier) oder jabuka

drvo (Apfel + Baum). Auch Englisch wird in diese Sprachmischung einbezogen. Kinder mit L1 Tür-kisch bildeten Pluralformen wie two dogen, three yellow Mäuses.

Es gibt aber auch Formen, die nicht durch Sprachkontakt entstehen. Adjektivableitungen wie dieoben zitierten Beispiele wolknisch, wölklich, wolkerisch, wolkelig, bewolkt für bewölkt oder wolkig entstehendurch sprachintern gesteuerte Prozesse, die auch im Erstspracherwerb Deutsch beobachtet werdenkönnen. Dies gilt auch für die Probleme mit dem Umlaut und Nominalendungen in der Pluralbildung,wie in Büch, Büche, Buchen, Büchern; Baume; Täsche. Diese von zehnjährigen Kindern mit L1 Türkisch pro-

Teil I – Psycholinguistische Studie

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duzierten Beispiele unterscheiden sich von den im Erstsprachenerwerb Deutsch zu beobachtendenFormen nur durch ihr späteres Auftreten.

Nach vier Jahren befindet sich nur noch eine Sprache in der Anfangsphase: das Englische, wobeisich einige wenige Kinder in Richtung Zwischenstadium bewegen. Für das Türkische mag gelten, dasssich das Gros der Kinder sowohl im Deutschen als auch im Türkischen in der turbulenten Zwischen-phase befindet, wie sich unschwer an ihren Fluktuationen in der Regelanwendung und an der Überge-neralisierung von Regeln erkennen lässt. Die Gruppe der Kinder mit Erstsprache Deutsch und vieleder Kinder mit Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch als L1 haben bereits die Stabilität bringende Schluss-phase erreicht. Wie das genau aussieht, wird im nächsten Kapitel beschrieben; wir verweisen aber auchauf die entsprechenden Daten in den vorangegangenen Abschnitten.

Gewinner in diesem sprachlichen Wettlauf ist zweifellos das Deutsche. Denn auch wenn Migran-tenkinder in ihrer eigentlichen Erstsprache gute Kompetenz erreichen, zeigt das in der Migration ent-standene erstsprachliche System deutliche Unterschiede zur Sprache des Herkunftslandes. Wie schondie Kontrolluntersuchungen in Lukavac (Bosnien) und Ankara im zweiten Schuljahr zeigten (siehe Ab-schnitt 14), sind die Präzision und das Tempo des Spracherwerbs im Ursprungsland deutlich auf derÜberholspur. Besonders betroffen sind die Morphologie, das Lexikon und die Schriftsprache. DieKinder aus dem ehemaligen Jugoslawien haben bereits damit begonnen, lexikalische Lücken ihrer eins-tigen Erstsprache mit nichtexistenten, aber phonologisch angepassten Formen zu füllen, sozusagenein sprachinternes foreignizing, das in Wortkreationen, Paraphrasen oder deutschen Nomen und Verbenmit BKS-Morphologie resultiert:

(6)I ova Eule samo je fliegela gdje Lukas ide.A Eule ide tamo, fliega doma.I one Bienen oče da stechaju. I onda Eule fliega weg . . .I on tako nešto berühra uvo.

Wie unter anderem die frog-story-Daten in Abschnitt 10 zeigen, behelfen sich auch manche türkischeKinder nach kurzem Nachdenken mit einem deutschen Lexem:

(7)Kavanozdan şey çikyo hmm Frosch.(Aus der Dose kam Dings hmm Frosch heraus).

Wir können hier nicht ins Detail gehen, möchten aber darauf hinweisen, dass sich beim bilingualenSpracherwerb in der Migration jedes Kind je nach Sprache auf unterschiedlichen Stufen des chaoti-schen Pfades befinden kann und dass die Verweildauer in diesen Stadien individuell variiert. Dies giltbesonders für die morphologische Markierung im Zusammenhang mit Präpositionen, die Reihenfolgevon Elementen und die syntaktische Mobilität sowie für die Hierarchisierung und Feindifferenzierungdes Lexikons.

Für den dynamischen Zustand ganzer Gruppen ließe sich folgendes Beispiel nennen: In der erstenKlasse hatten die Kinder mit deutscher L1 bereits ein relativ stabiles Grundgerüst in ihrer Erstsprache(ausgenommen die noch turbulente Morphologie). Kinder mit BKS als Erstsprache zeigten (wiedermit Ausnahme der Morphologie) ein breiteres Spektrum von turbulent bis stabil und standen in ihrerZweitsprache Deutsch am Übergang zur Zwischenphase. Das Gros der türkischen Kinder befand sichin seiner Erstsprache eher in der Zwischenphase und in der Zweitsprache Deutsch in der Anfangs-phase. Im Englischen befanden sich alle Kinder erst am Beginn des chaotischen Pfades. Wie diese Auf-

11. Dynamik im Zeitraffer

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holjagd im Verlauf der vier Jahre aussieht, ist Thema der abschließenden Diskussion, die sich auf dieDaten der Abschnitte 5 bis 10 und die Projektberichte der Jahre 2000 bis 2003 stützt.

Wie die folgenden Kapitel zeigen werden, lassen sich nach vier Projektjahren unterschiedliche Er-werbsprofile in den verschiedenen Sprachen herausarbeiten. Die Testergebnisse zeigen sowohl eineReihe genereller Erwerbsprozesse quer über alle Gruppen hinweg als auch sprachspezifische, grup-peninterne Wachstumsschübe. Zudem gibt es individuelle Kurven, die für jedes Kind einzeln zu defi-nieren sind.

11.2 Wachstumsschübe vom ersten zum vierten Schuljahr

Wachstumsschübe in den einzelnen sprachlichen Systemen sind im frühen Erstspracherwerb beson-ders ausgeprägt, wie z. B. der Spurt in der Syntax im Alter von zwei Jahren, der durch die hirnorgani-schen Voraussetzungen und die Anhäufung lexikalischer Items zu diesem Zeitpunkt hervorgerufenund ermöglicht wird. Schübe in diesem Ausmaß sind in der späteren L1-Entwicklung sowie bei derÜbertragung der dynamischen Systemtheorie auf den Zweitspracherwerb nicht mehr zu verzeichnen;dennoch sind wir weiterhin mit einer nonlinearen Sprachentwicklung konfrontiert. Für den L2-Erwerbgelten im Allgemeinen dieselben Entwicklungssequenzen und Triggerfunktionen wie für den L1-Er-werb; auch hier verursacht das Lexikon ab einer kritischen Masse einen Schub im morphosyntakti-schen System. Andererseits können Systeme, die bereits als erworben galten, plötzlich wieder instabilwirken, wenn der Fokus des/der Lernenden auf einem anderen Teilbereich des Spracherwerbs liegtbzw. eine besonders komplexe Aufgabenstellung zu bewältigen ist. Daraus resultieren Entwicklungs-kurven, die einmal mehr die Nonlinearität des Spracherwerbs veranschaulichen.

Diese Entwicklungskurven, -sequenzen und Wachstumsschübe bestimmen das Erwerbsprofil un-serer Volksschulkinder. Wie dieses Profil in den Erstsprachen BKS und Türkisch, in der Erst-, Zweit-bzw. Drittsprache Deutsch und auch im Englischen aussieht und wie die einzelnen Systeme dieser vierSprachen – das Lexikon, die Morphologie, die Syntax und die Kommunikation – im Erwerbsverlaufinteragieren, soll im Folgenden – aufgegliedert auf die vier Grundschuljahre – zusammengefasst wer-den. Die Darstellung des ersten Jahres wird detaillierter erfolgen, um mit den unterschiedlichen Start-bedingungen unserer ProbandInnen zu Schulbeginn vertraut zu machen.

11.2.1 Das erste Schuljahr

Bei Schuleintritt und Projektbeginn im Herbst 1999 weisen die Kinder mit deutscher Erstsprache einealtersgemäße muttersprachliche Entwicklung auf. Sie können mühelos und unabhängig vom Themakommunizieren. Voraussetzung für die Themenvielfalt ist das gut entwickelte, schon relativ breit gefä-cherte Lexikon, das bei einem durchschnittlichen sechsjährigen Kind in der Muttersprache bereitsrund 2.500 Einträge enthält (vgl. Wode 1988). Gerade der lexikalische Bereich ist aber jener, der sichauch im hohen Erwachsenenalter noch weiterentwickelt. Obwohl sich unsere Kinder mit ihrem Reper-toire schon gut zu diversen Situationen äußern können, machen sich in dieser Phase des Spracherwerbsnoch Probleme mit der Idiomatik sowie mangelnde Feindifferenzierung bemerkbar. Ein enormer Zu-wachs an lexikalischen Items, wie er im Alter zwischen ein und drei Jahren zu verzeichnen ist, lässt sichin der späteren L1-Entwicklung nicht mehr beobachten. Während des ersten Grundschuljahresscheint der Wortschatz unserer deutschen MuttersprachlerInnen kaum weiter zu expandieren; einGrund dafür ist, dass sich die Kinder auf dieser Entwicklungsstufe mit der Reorganisation und Struk-turierung der Wortfelder im mentalen Lexikon beschäftigen (vgl. Wode 1993). Die Stagnation hinsicht-lich des lexikalischen Zuwachses kann im Rahmen der dynamischen Systemtheorie als wesentlicher

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Faktor für die konsequente Weiterentwicklung der Morphosyntax im ersten Schuljahr gewertet wer-den. In diversen im Rahmen unseres Projekts getesteten Teilbereichen der Morphosyntax – wie Fle-xion, Fragebildung, Verneinung und Subordination – erreichen die Kinder der Gruppe 4 im Laufe desersten Jahres eine Erfolgsquote von rund 90%, womit das Regelsystem als erworben betrachtet werdenkann. Natürlich gibt es Ausreißer wie seltene, unregelmäßige Formen in der Verbalflexion oder diePluralbildung mithilfe von Umlauten, welche selbst MuttersprachlerInnen noch die gesamte Grund-schulzeit hindurch herausfordern, doch im Allgemeinen verfügen Kinder im Bereich der Morphosyn-tax vor allem hinsichtlich der Verbalflexion im Alter von sieben Jahren über ein stabiles Gerüst. In Be-zug auf die in Abschnitt 2 dargestellten Phasen der dynamischen Systementwicklung bewegen sichdiese Kinder im Laufe ihres ersten Schuljahres vom Grenzbereich zur finalen Phase in Richtung zu-nehmende Stabilität.

Die zumindest bilinguale Erwerbssituation bei unseren weiteren Probandengruppen führt zu einererhöhten Komplexität in der Dynamik des Spracherwerbs. Die Kinder mit den Muttersprachen BKSund jene der Gruppe 3 (andere Muttersprachen) sind hinsichtlich ihrer Deutschkompetenz zum Schul-eintritt vergleichbar. Sie sind zu verbaler Interaktion fähig, doch Schwächen wie lexikalische Lückenverlangen dem Zuhörer/der Zuhörerin erhöhte Aufmerksamkeit und verständnissichernde Maßnah-men ab. Auch am Ende der ersten Klasse ist das L2-Niveau in beiden Gruppen ähnlich, wobei inner-halb der Gruppe 3 vor allem auf Grund der diversen Muttersprachen große Heterogenität herrscht.

In den Daten der BKS-Gruppe sind die nonlineare Entwicklung der einzelnen Systeme und dieWachstumsschübe in der Zweitsprache Deutsch besonders deutlich zu erkennen. Schon zu Schulbe-ginn ist das Lexikon das am besten entwickelte System. Während des ersten Semesters erfährt es einenweiteren Schub und expandiert. Diese Expansion triggert einen Entwicklungsschub im Bereich derMorphosyntax, der den Spracherwerb im zweiten Schulsemester dominiert, während das Lexikon indiesem Zeitraum konstant bleibt.

Gegen Ende des ersten Schuljahres befinden sich die Gruppen 2 und 3 in der turbulenten Zwi-schenphase ihres Deutscherwerbs. Übergeneralisierungen, Regelverletzungen und Fluktuationen herr-schen in der Morphologie und Syntax vor, aber auch im Rahmen des Lexikons sind einerseits Wort-kreationen Zeugen der produktiven Phase der Reorganisation und andererseits kommt es durch dasAnhäufen von neuen Wörtern zu Fehlinterpretationen und Übergeneralisierungen. Ein Beispiel dafürist die undifferenzierte Verwendung von Kreis und Ring für Reifen im folgenden Interviewauszug miteinem Kind der Gruppe BKS:

(8)Int: Ja, was habt ihr denn heute im Turnunterricht gemacht?Sonja: Hulla Hulla tanzen.Int: Hulla Hulla tanzen, ja, wie funktioniert denn das?Sonja: So, du hast so nen großen Kreis [. . .?], die Uschi hat gesagt, dass ich gut bin, dann hat sie

gesagt [. . .?], dann hat sie gesagt, dass ich jetzt vorzeigen muss [. . .?], du musst dieHände so oben haben, dann musst du [. . .?][Kind zeigt es vor, entfernt sich dabei auch weit vom Mikrophon weg, daher die unver-ständlichen Stellen.]

Int: Ah, das kannst du gut, ja, aha. Ja, was habt ihr sonst noch in der Turnstunde gemacht?Sonja: So . . . äh wir hatten Kreise, sehr viele . . . und alle passt uns wir müssten eins weggeben.Int: Was für Kreise?Sonja: Na auch so, wie die Hulla Hulla tanzen, diese Ringe.Int: Ja, aha.

11. Dynamik im Zeitraffer

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Auch in ihren Muttersprachen Bosnisch, Kroatisch bzw. Serbisch sind die Kinder zu Schulbeginn den An-forderungen einer Alltagskommunikation gewachsen. Allerdings wird im Laufe des Schuljahres offensicht-lich, dass sie weder über eine altersgemäße Kompetenz in ihrer L1 verfügen, noch über eine dem Alter ent-sprechende Weiterentwicklung. Das ausgeprägte Morphologiesystem sowie die Syntax der Sprachen BKSwerden im ersten Jahr schon relativ gut beherrscht; größere Schwächen treten im Bereich des Lexikons auf.Mit zunehmendem deutschem Input drängen sich vermehrt Lexeme des Deutschen, die morphologisch oftdem BKS angepasst werden, in lexikalische Lücken der Erstsprache. Vor allem Begriffe aus dem Schullebensind für derartige Interferenzerscheinungen verantwortlich.

Die Kinder der Gruppe BKS beginnen die Schulbildung also mit einem fast stabilen, wenn auch inBezug auf ihr Alter unterentwickelten Muttersprachenniveau. Während sich die Kommunikationsfä-higkeit im Laufe des ersten Schuljahres verbessert, erregt die kaum beobachtbare Weiterentwicklung inden Bereichen Morphosyntax und Lexikon, die auf den intensiven L2-Input und das Zurückdrängender L1 in – bestenfalls – den Familien- und Freundeskreis zurückzuführen ist, Bedenken.

Noch besorgniserregender erscheint aber die Sprachentwicklung der türkischsprachigen Kinder.Die meisten von ihnen erlebten ihren ersten intensiven Kontakt mit der deutschen Sprache in der oftnicht einmal einjährigen Kindergartenzeit. Mit etwa 50% dieser Kinder ist zu Schulbeginn noch keineKommunikation möglich bzw. herrscht nonverbales Kommunizieren ihrerseits vor. Das L2-Lexikonist stark limitiert; erst im Laufe des Jahres werden die Wortklassen Nomen und anschließend Verbenmit neuen Einträgen bereichert. Andere Wortklassen, wie z. B. Adjektive, die das Repertoire der Mut-tersprachlerInnen bereits ausschmücken, sind im Lexikon der Kinder mit türkischer L1 noch kaum –weder produktiv noch rezeptiv – vertreten.

Auch die Morphologie der deutschen Sprache ist zu Schulbeginn noch Neuland; das Gros der Kin-der mit türkischer L1 bedient sich anfangs noch kaum morphologischer Markierungen. Im Laufe desSchuljahres aber steigert sich die Kompetenz der Kinder sowohl im Bereich der Morphosyntax alsauch im Lexikon konsequent und in beachtlichen Schritten. Bei der Verbalflexion der deutschen Per-fektbildung, um ein Beispiel zu nennen, erzielen sie eine Verbesserung der Erfolgsquote von 15% auf58%. Obwohl sie die größten Fortschritte aller Probandengruppen machen, sind sie am Ende des ers-ten Schuljahres immer noch mit dem höchsten Aufholbedarf konfrontiert, denn zu diesem Zeitpunktentspricht ihr durchschnittliches L2-Niveau etwa jenem der Kinder mit BKS und anderen Mutterspra-chen zu Beginn der ersten Klasse. Auch nach einem Jahr systematischer Beschulung produzieren dieKinder türkischen Ursprungs immer noch zu 50% unanalysierte, gespeicherte Formeln. Sie befindensich aber bereits am Übergang von der pseudo-stabilen zur turbulenten Phase des Spracherwerbs, vomersten zum zweiten Modul der in Fig. 11.1 (S. 157) dieses Abschnitts dargestellten Potentiallandschaft.Zeugen des zunehmend produktiven Sprachgebrauchs sind Fluktuationen in der Regelanwendung. Solegt ein und dasselbe Kind innerhalb eines Interviews Variationen wie er hat Ball schießt; er hat Tor geschie-

ßen; bzw. er hat Tor geschießt an den Tag. Syntaktische Komplexität, die über die Konjunktionen und, und

dann bzw. aber hinausgeht und repräsentativ für den Sprachgebrauch der gleichaltrigen Kinder mit BKSund mit anderen Muttersprachen als L1 ist, ist in den Daten der türkischsprachigen Kinder nur verein-zelt anzutreffen.

In ihrer Muttersprache verfügen die Kinder türkischer Herkunft über ein wesentlich stabileres Sys-tem als in ihrer Zweitsprache Deutsch. Vor allem die Morphologie, welche im türkischen L1-Erwerbmit Leichtigkeit im frühen Alter von zwei bis vier Jahren erworben wird, bereitet unseren Kindernschon bei der ersten Testserie keine Probleme. Sie wird zu beinahe 100% beherrscht. Das Lexikon istweniger gut entwickelt. Während das Benennen von Alltagsgegenständen gut funktioniert, scheiterndie Kinder, sobald ihnen höhere Abstraktion abverlangt wird. Dieses Abstraktionsvermögen kannaber im Laufe des ersten Schuljahres gesteigert werden.

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Der deutsche Einfluss auf die Muttersprache hält sich auf diesem Niveau der türkischen ProbandIn-nen in Grenzen. Wenn Elemente ins Türkische transportiert werden, dann nur in toto, ohne Analyse undAdaptation. Dominant ist die deutsche Sprache lediglich in Wortfeldern, die in der Schule erworben wur-den (z. B. Tiere aus dem Tiergarten). Lexikalische Lücken im Türkischen können auf Grund der niedrigenL2-Kompetenz kaum durch deutsche Lexeme kompensiert werden. Ein zusätzlicher Faktor, der sich vorallem auf den lexikalischen Bereich auswirkt, ist die Schüchternheit und Unsicherheit, mit der sich viele dertürkischen Kinder der Aufgabe der elizitierten Sprachproduktion – sowohl in ihrer L1 als auch in der L2 –zuwenden. Zusätzliche Unterstützung und Festigung des muttersprachlichen Gerüsts würden helfen,diese für den Spracherwerb hemmenden Persönlichkeitsfaktoren allmählich abzuschütteln.

Die Stabilisierung der Muttersprache ist auch unabdingbar, wenn die Einführung der DrittspracheEnglisch sinnvoll erscheinen soll. Der Erfolg der Integration einer zusätzlichen Sprache ist nachweis-lich von der Stabilität der bereits bestehenden Systeme abhängig. Dass viele der Migrantenkinder mitdem gleichzeitigen Erwerb ihrer nicht altersgemäß entwickelten Muttersprache, der ZweitspracheDeutsch und von Sach- und Fachwissen bereits ausgelastet und meist überfordert sind, geht aus unse-rer Langzeitstudie deutlich hervor. Aus diesem Grund wurde die Einführung des Englischunterrichtsin zwei der sechs untersuchten Schulen auf das zweite Grundschuljahr verschoben.

Die englischsprachigen Daten, die im ersten Jahr elizitiert werden konnten, belegen, dass innerhalbder Gruppe 4 70% mehr Äußerungen auf Englisch produziert wurden als in allen anderen Gruppen.Dies ist wiederum auf die fortgeschrittene Stabilität des bereits vorhandenen Sprachsystems der Kin-der mit deutscher L1 zurückzuführen. Generell ist das Niveau der neuen Fremdsprache eindeutig deminitial state (siehe Fig. 2.1, S. 17) zuzuordnen. Die Äußerungen – wenn sie nicht nonverbal sind – beste-hen zum Großteil aus einzelnen Wörtern; nur gelegentlich finden sich schon routinisierte Muster.

11.2.2 Das zweite Schuljahr

Während viele Migrantenkinder ihre ersten offiziellen Sommerferien in den Herkunftsländern ihrerEltern verbrachten und in diesem Zeitraum kaum Fortschritte in ihrer L2 machten, konnten die Kin-der mit deutscher Erstsprache weitere Verbesserungen in ihrem ohnehin schon weitgehend stabilenL1-System erzielen. Bei vielen Untersuchungen zur Morphosyntax zu Beginn des zweiten Schuljahreserreichten die Kinder der Gruppe 4 eine Erfolgsquote von (nahezu) 100%. Sie sind mit ihrem mor-phosyntaktischen System weiter ins Zentrum der stabilen Endphase des Spracherwerbs gerückt.

Auch das Lexikon der Kinder mit deutscher L1 ist quantitativ wie qualitativ am weitesten entwi-ckelt. Die muttersprachlich deutschen Kinder verfügen nicht nur über das größte Repertoire andeutschsprachigen Einträgen, sondern auch über eine beachtliche Bandbreite von zu einzelnen Begrif-fen gespeicherten Bedeutungsaspekten, wodurch sie sich differenzierter ausdrücken können als dieZweitsprachenlernenden. Auffallend ist auch, dass sie sich bei der Strukturierung von Wortfeldernnicht nur der syntagmatischen Ebene bedienen, wie ihre anderssprachigen MitschülerInnen, sondernbereits auch paradigmatisch hierarchisieren. So produzierte zum Beispiel ein Kind deutscher Mutter-sprache im Rahmen der Begriffsdefinition von Nase: Die Nase ist ein Organ vom Menschen.

Differenziert können sich die Kinder mit deutscher L1 auch in Bezug auf pragmatische Aspekteausdrücken. Mit nur wenigen Ausnahmen werden in dieser Gruppe Sprechakte wie Bitten, Aufforde-rungen und Entschuldigungen idiomatisch, situationsadäquat und auf den/die InteraktionspartnerInabgestimmt realisiert.

Etwas direkter und unabgetönter formulieren die Kinder mit den Erstsprachen BKS und anderenMuttersprachen ihre Sprechakte, wofür einerseits fremdsprachliche Defizite verantwortlich sind undandererseits pragmatischer Transfer aus der Muttersprache. Der wesentliche Unterschied zur

11. Dynamik im Zeitraffer

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Gruppe 4 liegt in der niedrigeren Angemessenheit der Sprechakte, wobei allerdings eine Verbesserungvon der ersten zur zweiten Testphase in diesem Schuljahr zu beobachten ist. Das Zweitsprachenni-veau dieser beiden Probandengruppen bewegt sich immer noch – abgesehen von individuellen Varia-tionen – auf einem ähnlichen Level. Wachstumsschübe in den einzelnen Systemen treten aber nichtimmer gleichzeitig auf, was an der Heterogenität innerhalb der Gruppe 3 (andere Muttersprachen) lie-gen mag. Die BKS-Kinder erfahren in der ersten Hälfte des Schuljahres einen Schub in der morpho-syntaktischen Entwicklung; anschließend scheint dieses System bis zum Schulschluss zu ruhen. DieKinder mit anderen Muttersprachen hingegen entwickeln die Morphosyntax konsequent das ganzeSchuljahr hindurch in kleinen Schritten weiter und erreichen am Ende wieder das für die Gruppe 2repräsentative Niveau. Für beide Gruppen stellt die Produktion einfacher Sätze kein Problem mehrdar. Komplexe und vor allem vom kanonischen Satzbauplan (Subjekt – Verb – Objekt) abweichendeKonstruktionen sowie die morphologische Kongruenz von dislozierten Elementen bereiten abernoch Schwierigkeiten und zeigen, dass die Kinder mit den Erstsprachen BKS und mit anderen Mut-tersprachen noch immer in der mittleren der drei Phasen ihres Deutscherwerbs stecken. Der Höhe-punkt an Turbulenzen in der Morphosyntax scheint allerdings nach zweijähriger Grundschulzeit trotzeiniger resistenter grammatikalischer Abweichungen überwunden zu sein.

Im lexikalischen Bereich hingegen geht es in diesen beiden Probandengruppen noch sehr turbu-lent zu. Davon zeugen Wortkreationen wie Das [Buch] ist ein Vierquadrat. oder Ich verheimle dir mein Ge-

heimnis. An Feindifferenzierung im deutschen Lexikon mangelt es teilweise noch. Die bedeutendsteEntwicklung ist allerdings, dass sich nach zwei Jahren schulischem Input die Dominanz der Zweitspra-che deutlich herauskristallisiert. Die BKS-sprachigen Kinder können in fast allen getesteten lexikali-schen Bereichen mehr Nennungen auf Deutsch produzieren, d. h., dass ihr Wortschatz in der sie um-gebenden Zweitsprache bereits größer und differenzierter ist als in ihrer Muttersprache.

Die deutlichen Defizite in den Erstsprachen BKS treten in den muttersprachlichen Untersuchun-gen ans Tageslicht. Die Kinder verfügen zwar lexikalisch gesprochen noch über früh erworbene undhäufig angewandte Termini wie Ball spielen, schaukeln im Wortfeld der Bewegungsverben, doch für demSchulalter entsprechende Tätigkeiten greifen sie schon auf deutsche Lexeme zurück (z. B. Schnur sprin-

gen). Auch in der Morphosyntax treten mit zunehmender Komplexität Unsicherheiten auf. In Bezugauf Sprachaufmerksamkeit – die Erkennung und Korrektur morphosyntaktischer Inkonsistenzen –erzielen die ProbandInnen in ihrer Zweitsprache Deutsch fast doppelt so gute Ergebnisse wie in ihrerL1. Die lexikalisch-semantischen und morphosyntaktischen Abweichungen sowie die zahlreichen In-terferenzerscheinungen sorgen auch in den pragmalinguistischen Untersuchungen für einen deutli-chen Unterschied zwischen der Testgruppe und der Kontrollgruppe in Lucavac (Bosnien). Besondersgroß ist der Einfluss der Zweitsprache bei der schriftlichen Textproduktion. Neben den bereits er-wähnten Interferenzerscheinungen findet hier nämlich auch das deutsche Orthographiesystem seine –nicht angemessene – Anwendung. Verstärkter muttersprachlicher Unterricht und Alphabetisierung inder Erstsprache könnten diesen Entwicklungen gewiss entgegensteuern.

Die generell sehr kurzen schriftsprachlichen L2-Produktionen der Kinder mit türkischer L1 sindteilweise nur mit viel Einfühlungsvermögen überhaupt als Deutsch identifizierbar. In Bezug auf ihreallgemeine Zweitsprachenentwicklung erreichen die türkischsprachigen Kinder am Ende des zweitenSchuljahres Durchschnittswerte, die deutlich unter jenen der anderen Probandengruppen zu Beginndesselben Schuljahres liegen. Auf Grund der geringen durchschnittlichen Deutschkompetenz könnenrund 50% der Sprechakte nicht realisiert werden. Natürlich gibt es aber auch innerhalb der türkisch-sprachigen Gruppe einzelne Kinder, die sich situationsadäquat ausdrücken und deren L2-Niveau an je-nes der anderssprachigen Migrantenkinder heranreicht.

Teil I – Psycholinguistische Studie

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Hervorzuheben ist der enorme Entwicklungsschub in der deutschen Morphosyntax, der im Laufe deszweiten Schuljahres zu einer Steigerung der morphosyntaktischen L2-Kompetenz von 100% führt. Den-noch treten vor allem bei der Bewegung von Elementen in komplexen Sätzen noch große Schwierigkeitenauf, was auf die hinsichtlich der Funktion der Wortstellung divergierende L1 zurückzuführen ist.

Unter dem Fokus auf das morphosyntaktische System leidet im zweiten Schuljahr offensichtlichdie Weiterentwicklung des L2-Lexikons. Die Kinder türkischer Herkunft verfügen immer noch übereinen im Vergleich zu ihren MitschülerInnen geringen, wenig differenzierten Wortschatz. Auch dieAnzahl der Wortklassen hat sich kaum erhöht; Adjektive, zum Beispiel, die schon im ersten Schuljahrvermisst wurden, kommen immer noch selten vor, und wenn, dann hauptsächlich in Form von Proto-typen (z. B. klein, groß).

Der Einfluss dieses limitierten zweitsprachlichen Lexikons macht sich dennoch in den mutter-sprachlichen Daten bemerkbar. Die türkischen Kinder können Konzepte aus ihrem Schulalltag oft nurmehr in ihrer L2 benennen. Interessant ist die Entwicklung der Strategie, mit der deutsche Lexeme indie türkische Sprachproduktion transportiert werden. Während im ersten Schuljahr Elemente nur inunanalysierter Form übernommen wurden, haben die Kinder nun begonnen, den morphologischenCode ihrer Zweitsprache zu knacken und kreieren auf diese Weise hybride Formen wie dörteckig – eineKombination aus dem türkischen Wort dört für vier und dem deutschen Lexem eckig. Derartige Formendes code-switching sind als Merkmale der turbulenten Phase zu verstehen und somit als Fortschritt im lan-gen Prozess des Spracherwerbs zu schätzen.

Besorgniserregend soll der Blick auf die muttersprachliche Textkompetenz der türkischen Kinderwirken. Einige Kinder können überhaupt nicht auf Türkisch schreiben; der Einfluss der deutschenOrthographie ist wie bei den BKS-sprachigen Kindern sehr groß. Insgesamt ist sowohl die mündlicheals auch die schriftliche L1-Textkompetenz extrem unterentwickelt. Beachtet man, dass die narrativeKompetenz von Kindern bei Schuleintritt als wesentlicher Indikator für den späteren schulischen Er-folg bzw. Misserfolg gilt (vgl. Peterson, Jesso & McCabe 1999), müsste schnellstens eingegriffen wer-den, um die Karriere und Zukunft der türkischen Migrantenkinder noch zu retten.

Kinder mit einem instabilen L1- und L2-Gerüst kommen auch nach zwei Jahren Input in der Dritt-sprache Englisch nicht über den Level von Ein-Wort-Äußerungen und bestenfalls unanalysierten, routini-sierten Mustern hinaus. Jene mit einer fortgeschrittenen muttersprachlichen Entwicklung – d. h. vor allemdie Kinder mit deutscher Muttersprache – hingegen haben bereits begonnen, Regeln aus dem Input her-auszufiltern. Die produktive Anwendung der Regeln, die daraus resultierenden Übergeneralisierungenund der Einfluss der deutschen Sprache, der interessanterweise bei den Kindern mit anderer L1 alsDeutsch besonders stark ist (z. B. Mäuses als Plural von mouse) sind bereits Turbulenzen, die die Bewegungeiniger – noch weniger – Kinder in Richtung Zwischenphase ihres Fremdsprachenerwerbs andeuten.

11.2.3 Das dritte Schuljahr

Im dritten Schuljahr wird der Schwerpunkt der Untersuchungen neben den systemlinguistischen Testsvor allem auf Textkompetenz verlagert, wofür die Systeme Morphosyntax und Lexikon als Wegberei-ter fungieren.

Das inzwischen – trotz einiger weiterhin auftretender Normabweichungen – weitgehend stabilemorphosyntaktische System und der altersgemäß entwickelte Wortschatz sind mitverantwortlich da-für, dass die Kinder mit deutscher L1 weder beim Verständnis noch bei der Produktion von TextenSchwierigkeiten haben. Im Gegensatz zu vielen ihrer AltersgenossInnen mit anderen Muttersprachenproduzieren sie weitgehend kohärente Texte. Außerdem sind sie in der Lage, syntaktisch komplexeKonstruktionen auch spontansprachlich zu verwenden. Die Strukturierung und Feindifferenzierung

11. Dynamik im Zeitraffer

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im lexikalischen Bereich sind zwar keineswegs abgeschlossen und werden es auch noch lange nichtsein, doch das Lexikon strotzt auf diesem L1-Niveau bereits von zunehmend komplexen und differen-zierten Einträgen. Die Kinder der Gruppe 4 sind jenen der anderen drei Gruppen vor allem auch inBezug auf semantisch komplexe und abstrakte Begriffe überlegen.

Unter den Kindern mit den Erstsprachen BKS und anderen Muttersprachen können bereits einigemit ihrem L2-Wortschatz den Kindern der Gruppe 4 das Wasser reichen. Diese beiden Probanden-gruppen erfahren nämlich im dritten Schuljahr einen deutlichen Schub im lexikalisch-semantischenSystem. Die Lücken, die im Lexikon noch bestehen, werden durch Paraphrasierungen gefüllt bzw. trei-ben ihr Kommunikationsdrang und ihr motiviertes Erzählverhalten die Kinder der BKS-Gruppe zuinteressanten Wortkreationen, z. B.:

(9)Petar: Und dann noch diese auch Stachelbaum oder wie der heißt.Int: Was soll das sein?Petar: So ein Baum mit Stachel. Ja, mit dies grüne kleine Stachel, weißt du, für Weihnachten.

Aus dem Beispiel wird ersichtlich, dass das morphosyntaktische System in der Zweitsprache, welchessich während des lexikalischen Wachstumsschubs nur in geringem Maße weiterentwickelt, noch nichtzur Gänze stabil ist. Auffallend im dritten Jahr ist aber die deutliche Zunahme an syntaktischer Kom-plexität in den sprachlichen Produktionen der BKS-Kinder sowie jener der Gruppe mit anderen Mut-tersprachen. Der dynamischen Systemtheorie zufolge befinden sie sich hinsichtlich Morphosyntax amÜbergang zur stabilen Endphase, mit einigen unterdurchschnittlichen Ausreißern, die noch mitten imchaotischen Pfad stecken und wenigen Ausnahmen, deren Entwicklungsstand in ihrer L2 jenem derdeutschen MuttersprachlerInnen entspricht.

Unter der Kompetenzsteigerung im Deutschen leidet aber offensichtlich die L1-Entwicklung derBKS-sprachigen Kinder. Bereits im zweiten Schuljahr war das Lexikon in einigen Bereichen in derZweitsprache besser entwickelt als in der Muttersprache. Die Dominanz der Zweitsprache schlägt sichin der zunehmenden Verwendung deutscher Lexeme – oft mit morphologischer Anpassung – in mut-tersprachlichen Produktionen nieder. Sogar die Kompositabildung wird aus dem Deutschen übernom-men; anstatt der für die Sprachen BKS typischen Nominalphrasen wie farba/boja za jaje/jaja (wörtlich:Farbe für Eier) entstehen plötzlich Ausdrücke wie jaje farba (Eierfarbe).

Die Regelanwendungen in der Morphosyntax fluktuieren noch; und obwohl die syntaktische Kom-plexität auch in den Erstsprachen im dritten Schuljahr zunimmt, lassen plötzliche – wenn auch nochseltene – Aktionen wie das Weglassen morphologischer Endungen bei Unsicherheit Zweifel über dieEntwicklungstendenzen im muttersprachlichen System aufkommen. Die Kontrolluntersuchungen inLucavac (Bosnien) bestätigen, dass unsere Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien, obwohl sie im All-gemeinen auch in ihrer L1 gute GesprächspartnerInnen sind, weder über eine altersgemäße Kompe-tenz noch eine entsprechende bzw. nötige Entwicklung in der Muttersprache verfügen.

40% der Kinder mit türkischer L1 können auch nach drei Jahren Beschulung in ihrer ZweitspracheDeutsch noch immer nicht als kompetente GesprächspartnerInnen bezeichnet werden. Ihr Kommuni-kationsverhalten in der L2 ist weiterhin als stark limitiert einzustufen; in der Beschreibung ihres Her-kunftslandes z. B. werden Aussagen wie Türkei schaut wie Garten produziert, und das Meer wird als ein

Wasser, große wie Donauwasser umschrieben. Allerdings muss differenziert werden, denn speziell in die-sem dritten Untersuchungsjahr wird die zunehmend heterogene Entwicklung der individuellen Kinderdieser Probandengruppe deutlich. Ein Teil jener Kinder, die vor drei Jahren mit kaum vorhandenenDeutschkenntnissen in den Schulalltag eintraten, hat sich in rasantem Tempo zu kompetenten L2-SprecherInnen entwickelt; fast 50% waren aber leider kaum in der Lage, ihren am Ende des ersten

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Schuljahres erreichten Entwicklungsstand zu verbessern. Dadurch lassen sich auch die niedrigenDurchschnittswerte erklären, welche die Gruppe türkischsprachiger Kinder weiterhin ans Schlusslichtdes Entwicklungspfads zur Sprachkompetenz in Deutsch platzieren und eventuelle individuelleWachstumsschübe im dritten Schuljahr nicht zum Vorschein kommen lassen.

Das morphosyntaktische System in der Zweitsprache bleibt weiterhin instabil; es konnte nochnicht aus der durch Fluktuationen gekennzeichneten Zwischenphase avancieren. Die Kinder mit L1Türkisch verwenden selten komplexe syntaktische Strukturen; ihre Texte sind zu einem großen Teil in-haltlich und sprachlich kaum verknüpft. Beim Textverständnis, wie beim Lösen mathematischer Text-aufgaben, scheitern die Kinder zu einem hohen Prozentsatz nicht an logisch-kognitiven Aspekten,sondern an rein sprachlichen Problemen. Auch ihr Wortschatz weist weiterhin große Lücken auf, undals einzige Probandengruppe bedienen sie sich noch fast ausschließlich der syntagmatischen Ebene beider Strukturierung des lexikalisch-semantischen Bereichs. Am Beispiel des Erwerbs von syntagmati-schen und paradigmatischen Relationen kommt in unserer Langzeitstudie gut zum Ausdruck, dass Ler-nende in vielen Bereichen prinzipiell denselben Erwerbssequenzen unterworfen sind, wobei dasTempo des Spracherwerbs aber stark individuell variieren kann.

Die paradigmatische Ebene bereitet den Kindern türkischen Ursprungs auch in ihrer Mutterspra-che Probleme, während sie in der gleichaltrigen Kontrollgruppe in Ankara bereits gut ausgeprägt ist.Der Vergleich mit den monolingual türkischsprachigen Kindern unterstreicht die nicht altersgemäßentwickelte L1 unserer Migrantenkinder. Ihr morphosyntaktisches System ist auch in der Mutterspra-che noch nicht stabil, und sie haben teilweise große Probleme beim Lesen. Trotzdem sind im drittenSchuljahr deutliche Steigerungen sowohl in der Morphosyntax als auch im Lexikon und vor allem inder Verschriftlichung der Sprachproduktion feststellbar – Steigerungen, die jene in der L2 übertreffen.Die Zweitsprache Deutsch übt dennoch einen zunehmenden Einfluss auf die türkische L1 aus. Sowerden lexikalische Lücken in der Muttersprache je nach semantischem Bereich durch deutsche Le-xeme (z. B. grillen, Computer) kompensiert. Quantitativ gemessen ist aber das Lexikon in der L1 besserentwickelt als in der L2. Welche Faktoren für die Unterschiede zwischen den Migrantenkindern mittürkischer L1 und jenen mit BKS als Erstsprache verantwortlich sein könnten, soll aus der soziolingu-istischen Begleitstudie zu unserem Projekt (siehe Teil II) hervorgehen.

Trotz der Weiterentwicklung der türkischen L1 und der scheinbaren Stagnation der ErstsprachenBKS ist im Rahmen unserer Studie das Türkische die Muttersprache mit dem geringsten Entwick-lungsstand. Dieser spiegelt sich im Erwerbsstand der Fremdsprache Englisch wider. Unserer Hypo-these zufolge ist die moderate Progression in der Drittsprache auf die Instabilität des muttersprachli-chen Systems zurückzuführen. Die türkischsprachigen Kinder machen im dritten Schuljahr in der eng-lischen Morphologie kaum Fortschritte; sie bedienen sich immer noch vorwiegend der Nullmorphem-regel, welche innerhalb der BKS-Gruppe schon häufiger durch Übergeneralisierungen ersetzt wird.Die produktivste Anwendung bereits herausgefilterter Regeln findet in der Gruppe der deutschspra-chigen Kinder statt, welche von einem stabilen L1-Gerüst profitiert. Insgesamt entwickelt sich dasmorphosyntaktische System des Englischen im dritten Schuljahr nur geringfügig weiter; der größteSchub im noch kleinen fremdsprachlichen System findet in allen Probandengruppen im lexikalischenBereich statt. Ob das Lexikon in Englisch noch im Rahmen der Grundschulzeit die für die Trigger-funktion der Morphologie nötige kritische Masse erreicht, wird die Darstellung der dynamischenSprachentwicklung im vierten Schuljahr enthüllen.

11. Dynamik im Zeitraffer

171

11.2.4 Das vierte Schuljahr

Dynamische Prozesse im bi- bzw. multilingualen Spracherwerb mit mehr oder minder starken Wachs-tumsschüben bestimmen das Niveau, welches die sprachlichen Subsysteme in der Erst-, Zweit- undDrittsprache unserer ProbandInnen am Ende der vierjährigen Projekt- und Grundschulzeit erreichen.

Innerhalb der muttersprachlich deutschen Probandengruppe ist dieses Niveau erwartungsgemäßhoch. Diese Kinder starteten ihre Grundschulkarriere bereits mit einem enormen Vorsprung imDeutscherwerb gegenüber den Zweitsprachenlernenden unterschiedlicher Herkunft. Im Lauf der vierJahre verringerte sich diese Differenz aber bzw. konnte sie von einigen – vor allem BKS-sprachigen –Kindern sogar ausgeglichen werden. Dies war möglich, da das morphosyntaktische System der Kindermit deutscher L1 bereits im ersten Schuljahr weitgehende Stabilität erlangt hatte und auch die lexikali-sche Weiterentwicklung sich eher durch zunehmende Feindifferenzierung als durch eine Akkumula-tion neuer Einträge charakterisierte. Der Fokus der Kinder mit deutscher Muttersprache gegen Endeder Grundschulzeit liegt gemäß ihres fortgeschrittenen Entwicklungsstands bereits auf einem Niveau,auf dem sie sich vorwiegend mit syntaktischer und lexikalisch-semantischer Komplexität befassen.Der Unterschied in der Sprachkompetenz zwischen dieser Gruppe und den Kindern mit Deutsch alsZweitsprache kommt daher umso deutlicher zum Ausdruck, je höher der Schwierigkeitsgrad der Auf-gabenstellung ist.

Dieser Fokus auf sprachliche Komplexität führt allerdings – dem dynamischen Wechselspiel vonSubsystemen entsprechend – eine Vernachlässigung anderer Aspekte des Spracherwerbs mit sich. ImRahmen der frog-story-Untersuchung zur mündlichen Erzählkompetenz kam zum Beispiel im viertenJahr zum Ausdruck, dass die affektive Komponente unter der Bemühung um einen korrekten, diffe-renzierten und komplexen sprachlichen Ausdruck deutlich leidet. Die Reintegration und Weiterent-wicklung affektiver Elemente in Erzählungen kann für einen Entwicklungsstand in der Mutterspracheerwartet werden, der erst auf der Sekundarstufe unseres Bildungssystems erreicht wird. In Bezug aufdie narrative Kompetenz hebt sich die muttersprachlich deutsche Gruppe im vierten Grundschuljahrauch eindeutig durch Hinweise auf und Einblicke in die kognitive Welt der Protagonisten ihrer Ge-schichten von ihren MitschülerInnen mit anderen Erstsprachen ab. Außerdem schmücken sie ihre zumGroßteil als kohärent einzustufenden Erzählungen mit einer Fülle vom Adjektiven aus, z. B.:

(10)Er hatte seine längste Angel und seinen gelben Eimer mit genommen. Unter ihm schwammen5 weiße Fische mit roten Augen und ein kleiner roter Fisch mit weißen Augen.

Auch die Kinder mit den Muttersprachen BKS versuchen sich in ihren zweitsprachlichen Erzählungenin der Beschreibung von Details durch Anwendung von Adjektiven, wobei ihnen allerdings noch nichtimmer die passendsten Adjektive zur Verfügung stehen (z. B.: . . . wie er am Haken arm gefangen war).Kennzeichnend für die mündlichen Erzählungen in dieser Probandengruppe ist die ausgeprägte emo-tionale Komponente, die sich vor allem in der Tonlage und durch sprachliche Mittel wie die direkteRede ausdrückt. Häufig werden aber solche affektiven Elemente als Strategie eingesetzt, um Brückenüber eventuelle Lücken in der Zweitsprache oder über komplexe Strukturen zu schlagen.

In ihren schriftlichen L2-Produktionen sind die Kinder der BKS-Gruppe im vierten Schuljahr of-fensichtlich um syntaktische Komplexität bemüht, wie aus dem oben zitierten Beispiel (4) dieses Ab-schnitts ersichtlich ist (Tomi war überglücklich, er hatte seinen hellbraunen Hut Auf seinem Kopf, denn er glaubte

das der Hut im Glück branng). Dass orthographische Fluktuationen und vor allem Kennzeichen morpho-logischer Instabilität unter dem Fokus auf komplexe Syntax auftreten, ist ein erneuter deutlicher Hin-weis auf die Asynchronie in der Entwicklung von Systemen.

Teil I – Psycholinguistische Studie

172

Was das Lexikon betrifft, konnten alle Gruppen nichtdeutscher Muttersprache seit dem ersten bzw.zweiten Schuljahr einen konsequenten Zuwachs verzeichnen. Im Unterschied zu den anderen aberkonzentrieren sich die Kinder der BKS-Gruppe im vierten Jahr bereits auf die semantische Feindiffe-renzierung und können sich am Ende der Grundschulzeit in den untersuchten Wortfeldern häufigähnlich gut wie die L1-deutschsprachigen Kinder ausdrücken. Nur die Derivationsmorphologie stecktbei ihnen sowie bei den Kindern der Gruppe 3 (andere Muttersprachen) noch in einem chaotischenZustand (z. B. geblümt > blumig, geblümig, blümiert), obwohl gerade im Bereich der Wortbildung ein deutli-cher Entwicklungsschub in der zweiten Hälfte der Grundschulzeit stattgefunden hat.

In den Muttersprachen BKS sieht der lexikalische Zuwachs inzwischen häufig so aus, dass deut-sche Lexeme importiert und morphologisch an das muttersprachliche System adaptiert werden (sieheBeispiel (6) dieses Abschnitts). Das L1-System wird also seit der dritten Klasse zunehmend von der do-minanten L2 infiltriert – nicht nur im lexikalischen Bereich, sondern auch in der Morphosyntax. EineUntersuchung zur Akzeptanz richtiger bzw. inkorrekter muttersprachlicher Äußerungen hat ergeben,dass zu 41% syntaktische Strukturen aus dem Deutschen in die L1 übertragen werden. Das morpho-syntaktische System in der Muttersprache weist im vierten Jahr vor allem bei komplexen Sprachpro-duktionen Instabilitäten auf.

Bei den Kindern mit türkischer L1 hat die Umkehr der Sprachdominanz noch nicht in diesem Aus-maß stattgefunden, obwohl sie sich im letzten Grundschuljahr in einigen Teilbereichen der deutschenMorphosyntax stark steigern konnten. Während in den anderen Gruppen der Einfluss der Mutterspra-che auf die L2-Produktion kaum auffiel, können konsistente Schwierigkeiten, die die Kinder türki-scher Herkunft z. B. mit der Verwendung deutscher Präpositionen haben, auf ihre L1 zurückgeführtwerden. Äußerungen wie Vielleicht fahren wir Türkei. oder Ich gehe zu Hause. kommen im ersten wie imvierten Grundschuljahr vor und können deshalb als fossilisierte, auf dem Einfluss der L1 basierende,sprachliche Muster betrachtet werden.

Die sich in der dritten Klasse herauskristallisierende Heterogenität innerhalb der Gruppe türkisch-sprachiger Kinder wird im vierten Jahr noch deutlicher. Während sich ein Teil der Kinder in Bereichender Morphosyntax stark verbessern konnte und sich dadurch der Abstand zu den anderen Gruppenmit Zweitsprache Deutsch deutlich verringerte, konnten vor allem jene Kinder der Gruppe 1, derenAnfangsniveau in der Zweitsprache Deutsch mäßig war, über die vier Grundschuljahre hinweg nur ge-ringe Fortschritte verzeichnen.

Im lexikalischen Bereich erlaubt es der moderate Zuwachs im vierten Jahr nicht, von einem Schubzu sprechen. Die Kinder mit türkischer L1 befinden sich am Ende der Grundschulzeit in einem Er-werbsstadium, in dem sie auf bisher vorherrschenden prototypischen Einträgen aufbauend ihr Lexi-kon mit konkreten Begriffen zu erweitern beginnen.

Das Lexikon in der Erstsprache Türkisch hat sich über alle vier Jahre hinweg nur mäßig weiterentwi-ckelt. Auffallend im vierten Jahr ist allerdings der Rückgang der auf Deutsch genannten Lexeme – zumin-dest bei Alltagsbezeichnungen; bei in der Schule dominierenden Wortfeldern ist der Transfer deutscherElemente immer noch ausgeprägt. Die Satzkonstruktionen im Türkischen gewinnen an Komplexität,doch die Sicherheit im morphosyntaktischen System kann nur bestehen bleiben, wenn die Kinder nichtdurch Zeitdruck oder komplexe Aufgaben überfordert werden. Während sich die Orthographie in derMuttersprache verbessert hat, haben die Kinder immer noch erhebliche Schwierigkeiten beim Lesen, wasauf einen Mangel an Übung zurückgeführt werden kann. Dieser Mangel an Leseübung ist wahrscheinlichauch der Grund für eine nicht altersgemäß entwickelte narrative Kompetenz in der Muttersprache.

Die Stabilität (oder Instabilität) des L1-Systems schlägt sich auch im vierten Jahr wieder im Er-werbsverlauf für Englisch nieder, wobei sich die Abstufungen bezüglich Erwerbstempo zwischen deneinzelnen Probandengruppen seit dem dritten Jahr noch vergrößert haben. Die Kinder mit deutscher

11. Dynamik im Zeitraffer

173

L1 beherrschen zum Großteil bereits regelmäßige morphologische Markierungen wie das Plural -s; diebedeutendste Errungenschaft ist allerdings, dass sie mit großer Motivation an englischsprachiger Inter-aktion teilnehmen (wollen), wenn auch noch mit Hilfe von zahlreichen muttersprachlichen Lexemen ineinem englischen Rahmengerüst. Insgesamt ist die Kommunikationsfähigkeit aber auch nach vier Jah-ren Input noch stark eingeschränkt.

Die Kinder mit den Erstsprachen BKS weisen im Erwerb ihrer Drittsprache Englisch vereinzeltschon Merkmale der produktiven Zwischenphase wie Übergeneralisierungen (z. B. der Pluralmarkie-rung) und Wortkreationen auf; z. B:

(11)Int: Look, this is one sheep, and there are . . .Dijana: . . . elfteen ah twelveteen sheep.

Trotz derselben Inputsituation ist die Progression im Fremdsprachenerwerb unter den Kindern mittürkischer L1 langsamer als in den anderen Gruppen. Im vierten Jahr ist ihr englischsprachiges Lexi-kon – im Gegensatz zu allen anderen – sogar zurückgegangen. Morphosyntaktisch gesprochen steckendie türksichsprachigen Kinder in der Drittsprache Englisch noch in den Kinderschuhen der Regelfilte-rung aus dem Input. Es muss allerdings betont werden, dass die Kinder mit türkischer Mutterspracheauch in Bezug auf Englisch eine äußerst heterogene Gruppe bilden. In ihrem Fall zeigt sich, dass auchdie große neuronale Plastizität von Volksschulkindern angesichts der kognitiven Belastung durch dengleichzeitigen Erwerb von drei Sprachen stark gefordert und – bei mangelnder Unterstützung vor al-lem in Hinblick auf das muttersprachliche Gerüst – auch überfordert werden kann.

11.2.5 Überblick über vier Jahre

Die Darstellung der Sprachentwicklung über vier Jahre anhand der Daten unserer Langzeitstudiesollte einen Einblick in die Dynamik des Spracherwerbs, die Schwerpunktverschiebungen von einemsprachlichen Subsystem zum anderen und die Interaktion mehrerer Sprachen im bi- bzw. multilingua-len Erwerb untereinander gewähren. Um einen Überblick über diese komplexe Erwerbssituation zuverschaffen, möchten wir zum Abschluss Fig. 11.2 präsentieren. Die im Diagramm dargestellten Ent-

Teil I – Psycholinguistische Studie

174

Phas

enim

Spra

cher

wer

b

0

0,5

1

1,5

2

2,5

3

3,5

1. Jahr 2. Jahr 3. Jahr 4. Jahr

Türkisch – L2

BKS – L2

andere Mutter-sprachen – L2

Deutsch – L1

Fig. 11.2: Deutsch als Erst- und Zweitsprache:

Dynamik im Spracherwerb 1. bis 4. Schuljahr

wicklungsverläufe im Deutschen als Erst- und Zweitsprache sind nur als grobe Tendenzen zu verste-hen; die präsentierten Durchschnittswerte, die sich an den drei Erwerbsphasen des dynamischen Mo-dells orientieren, vernachlässigen die unterschiedliche Entwicklung in den einzelnen sprachlichenSystemen sowie die innerhalb der Probandengruppen herrschende große individuelle Variation undHeterogenität. Da die Verweildauer in den einzelnen Phasen lange sein kann, sind nicht-ansteigendeKurven im Diagramm nicht sofort als Stagnation oder Sprachverlust zu verstehen. Eschers (1955)Musterwechsel wird zum Zweck der symbolischen Repräsentation nochmals reproduziert.

11.3 Schlussfolgerungen

Wenn man angesichts der Daten der Kinder mit deutscher L1 bedenkt, dass im Alter von sechs Jahrenauch die Erstsprache Deutsch (und das ohne Schriftsystem) in vielen Subsystemen durchaus noch inder turbulenten Phase steckt, kann man nicht umhin, das Arbeitspensum, das von Migrantenkindernin den vier Grundschuljahren bewältigt wird, zu bewundern. Wie die Ergebnisse der parallelen Testsgezeigt haben, sind in allen Erstsprachen noch massive Prozesse in der Morphosyntax und im Aufbaudes Lexikons im Gange. Auch an der situationsadäquaten Realisierung von Sprechakten, der Textpro-duktion und der metasprachlichen Zuordnung von Form und Funktion wird intensiv gearbeitet. Dielogische Frage ist nun, wie schaffen es Kinder, mit dieser Datenflut fertig zu werden? Die kurze Ant-wort wäre, dass ihr Gehirn in diesem Alter hohe neuronale Plastizität zeigt und dass die schulischen,sozialen und familiären Rahmenbedingungen stimmen müssen.

Kennzeichen der Gruppen BKS und Türkisch sind die breite Palette dialektaler Varianten, diestarke Interferenz des Deutschen, das die Erstsprache unterwandert, und die große individuelle Varia-tion. Kinder, die zuvor im Kindergarten waren, hatten meist bessere Startchancen und zeigten eine ra-schere Progression des Spracherwerbs. Die Daten liefern jedenfalls ein gutes Argument dafür, sich ge-rade beim frühen Fremd- bzw. Zweitsprachenerwerb nicht nur die im neuen System auftretenden Feh-ler anzusehen, sondern auch die Entwicklungsmuster der Erstsprache zu beobachten.

Der nun folgende Abschnitt wird zeigen, wie wichtig ein relativ stabiles L1-Gerüst und regelmä-ßiger Englischunterricht mit hochwertigem Input für den Erfolg eines minimal geführten schulischenFremdsprachenprogramms sind.

11. Dynamik im Zeitraffer

175

12. Fremdsprachenerwerb Englisch

Mit dem Schuljahr 1998/99 wurde an österreichischen Volksschulen Fremdsprachenunterricht ab derersten Klasse als verbindliche Übung eingeführt (Bausch et al. 2003: 81). Dabei wird im Großteil derSchulen Englisch angeboten, obwohl auch Französisch bzw. österreichische Nachbar- und Minderhei-tensprachen möglich wären (vgl. Bausch et al. 2003). Um zu beobachten und zu dokumentieren, wieweit der in der ersten Volksschulklasse startende Englischunterricht die Dynamik der Sprachentwick-lung beeinflusst, wurde im Rahmen dieser Studie auch eine Kontrolluntersuchung zum Erwerb desEnglischen durchgeführt.

12.1 Theoretischer Hintergrund zum frühen Fremdsprachenerwerb

Fremdsprachenerwerb im Grundschulalter beginnt mit einer nach außen sehr ruhig wirkenden stillenPhase, in der sich die Kinder mit dem Klang und den Mustern der neuen Sprache vertraut machen,ohne selbst produktiv zu sein. In dieser nonverbalen Phase sammeln Kinder Daten, sie beobachten,imitieren und probieren, um sich auf den fremden Rhythmus und Klang einzustellen. Die Beschäfti-gung mit dem neuen Lautsystem ist sehr gut an einem Prozess zu erkennen, der als foreignizing bekanntist. Dabei werden lexikalische Lücken durch Elemente der Erstsprache gefüllt, die konform zum Pho-nemsystem der Zweitsprache ausgesprochen werden. Mit Ausnahme dieses (vorübergehenden) pho-nematischen Surrogats kann festgestellt werden, dass der Einstieg in die Fremdsprache nach demsel-ben Schema verläuft, das auch für den Erstsprachenerwerb in zahlreichen Studien belegt ist.

Dies gilt zunächst für die Verarbeitung von Mustern und die altersbedingte Skalierung der Wahr-nehmung (Kellman & Arterberry 1998; de Boysson-Bardies 1999), den Aufbau des Lexikons (Bloom2000), das Herausfiltern syntaktischer Strukturen gestützt auf prosodische Merkmale und semantischeInformation (Peters 1995; Hirsh-Pasek & Golinkoff 1996) und nicht zuletzt auch für die Entwicklungkommunikativer Strategien und der Diskursfähigkeit (Ninio & Snow 1996).

Erste Kommunikationsversuche starten mit der Produktion zunächst nicht weiter analysierter kur-zer Wortketten, die als Ganzheit aus dem Input herausgelöst werden und erst nach und nach analysiertwerden. Dabei kommt es auch zu Fehlsegmentierungen wie I’m going to be very have (von behave yourself )analog zu be quiet/quick oder in Einkaufsdialogen: Can I have a here you are? I need three napples, please! (Pelt-zer-Karpf et al. 1994). Die ersten sprachlichen Gehversuche bestehen also eher aus vorfabrizierten,auswendig gelernten (Allzweck-)Formeln bzw. routinisierten Mustern wie Give me a X, please! und einfa-chen hybriden Sätzen mit Elementen aus beiden Sprachen. Dass die Identifikation von Einheiten viel-fach auf der Basis prosodischer Merkmale erfolgt, zeigt sich sehr schön daran, dass Kinder, um denRhythmus eines Satzes aufrecht zu erhalten, die unanalysierten Satzteile durch Füllsilben ersetzen. Aufdiese Weise können erstaunlich komplexe Texte von Liedern und Reimen gespeichert werden.

12.2 Beschreibung der Untersuchung

12.2.1 Testpersonen

Im Rahmen dieser Untersuchung wurden über vier Jahre hinweg 13 Kinder mit den MuttersprachenBKS, zehn muttersprachlich türkische Kinder, neun Kinder mit L1 Deutsch und zwei Kinder mit an-deren Muttersprachen, also insgesamt 34 Kinder, getestet, wobei die letzte Gruppe auf Grund der ge-ringen Probandenanzahl bei den Analysen nicht berücksichtigt wurden.

176

12.2.2 Ablauf der Untersuchung

Geplant waren jeweils drei Testphasen pro Jahr im Oktober, Februar und Juni. Da jedoch der Großteilder SchülerInnen bei Schuleintritt noch keinerlei Vorkenntnisse in der zu erwerbenden ZielspracheEnglisch hatte und zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht feststand, wann die einzelnen Schulen mitdem Englischunterricht beginnen würden, erschien es sinnvoll, mit der Überprüfung der englisch-sprachlichen Leistungen im ersten Jahr bis Februar zu warten. Da sich bereits im Lauf des dritten Jah-res herausstellte, dass zwischen den einzelnen Testphasen keine bemerkenswerten Veränderungen zubeobachten waren, wurde im vierten Unterrichtsjahr nur mehr eine Testphase im Juni durchgeführt.

Die Untersuchungen setzten sich aus systemlinguistischen Tests, kurzen Spontanspracheinter-views und Unterrichtsbeobachtungen zusammen. Die Interviews wurden durchgeführt, um einenEinblick in die allgemeine Kommunikationsfähigkeit der Kinder in Englisch zu erhalten und bezogensich nur auf solche Themenbereiche, von denen bekannt war, dass sie bereits im Unterricht erarbeitetworden waren. Des Weiteren wurden sie auf Audiokassetten aufgenommen und anschließend nachdem CHILDES-System transkribiert. Die systemlinguistischen Tests bestanden vor allem aus dem Be-reich Pluralbildung; ab dem dritten Jahr wurde zusätzlich überprüft, inwieweit die Kinder in der Lagesind, einfache englischsprachige Sätze/Aussagen zu wiederholen bzw. zu verstehen. Hierfür wurdenden Kindern englische Sätze akustisch dargeboten, welche sie zuerst nachsprechen und dann mit Hilfevon Holzfiguren nachspielen sollten.

Im Lexikon umfasste der Test vor allem die Bereiche colours, bodyparts, numbers und school things. Da-bei wurde im ersten Jahr hauptsächlich der passive Wortschatz überprüft, in den darauf folgenden Jah-ren lag der Schwerpunkt auf der Überprüfung des aktiven Wortschatzes.

In der ersten Aufgabenstellung wurde überprüft, welche Farbadjektiva in Englisch die Kinder be-reits kennen. Dabei wurde den Kindern ein Bild aus einem Bilderbuch gezeigt, auf dem verschiedeneGegenstände in unterschiedlichen Farben abgebildet waren. Die Kinder wurden aufgefordert, die ein-zelnen Farben zu benennen und anschließend weitere ihnen bekannte Farben aufzuzählen. Bei derAuswertung wurden sowohl die Anzahl der genannten Farben bewertet als auch deren Reihenfolge be-rücksichtigt. Bei den übrigen Aufgaben ging es um die Benennung von Körperteilen und Schulutensi-lien. Die Untersuchung zum Erwerb des Wortfeldes Körperteile wurde anfangs mit Hilfe einer Hand-puppe durchgeführt, ab dem dritten Jahr wurden Bildkärtchen verwendet, die die Kinder benennensollten. Bei der Überprüfung des Wortfeldes Schulsachen wurde dieselbe Methode angewandt wie beiden Farbadjektiva.

Ziel der Unterrichtsbeobachtung war es, einerseits Quantität und Qualität des an die SchülerInnenherangetragenen Inputs und andererseits die Interaktion zwischen Lehrkraft und SchülerIn zu unter-suchen. Zu diesem Zweck wurden einzelne Unterrichtseinheiten auf Englisch beobachtet und miteiner Videokamera aufgenommen.

12.3 Systemlinguistische Tests

12.3.1 Morphosyntax

12.3.1.1 Plural

In diesem Test wurde untersucht, inwieweit die Kinder in der Lage waren, eine Singular-Pluraldifferen-zierung vorzunehmen. Dabei sollte festgestellt werden, inwiefern die Kinder1) Pluralformen sprachlich markieren und2) welcher Strategien sie sich dabei bedienen.

12. Fremdsprachenerwerb Englisch

177

Die Tests wurden mit Hilfe von Bildkarten durchgeführt, wobei folgende Bereiche der Pluralbildungberücksichtigt wurden:1) Pluralbildung durch Suffigierung mit [-s], [-z] und [-iz],2) Pluralbildung durch Vokalalternation,3) Pluralbildung durch Konversion bzw. Nullmorphem.

Darstellung der Ergebnisse:

Fig. 12.1 bezieht sich auf die Fähigkeit der Kinder insgesamt (also nicht nach Sprachgruppen ge-trennt), nach vier Jahren Englischunterricht in der Volksschule eine Pluraldifferenzierung durchzufüh-ren. Die erste Säule des Diagramms gibt dabei Aufschluss über die Kompetenz der Kinder, am Endedes vierten Schuljahres korrekte Pluralformen zu bilden, die übrigen Säulen stellen die Ergebnisse ge-trennt nach den unterschiedlichen im Test inkludierten Bereichen der Pluralbildung dar.

Wie aus der Grafik hervorgeht, lag der Mittelwert über alle korrekt gebildeten Pluralformen beiknapp 37%. Dieser Wert lässt sich dadurch erklären, dass die Pluralbildung durch Vokalalternationbzw. Anhängen des Suffixes [-iz] fast allen Kindern auch nach vier Jahren noch gravierende Problemebereitete. So konnten die Formen geese bzw. mice von keinem einzigen, die Formen foxes bzw. houses nurvon einem deutschsprachigen Kind gebildet werden.

Die besten Werte wurden, wie schon in den Jahren zuvor, im Bereich Pluralbildung durch Konver-sion, d. h. keine Veränderung zwischen Singular und Pluralform, erzielt. Allerdings soll aus diesem Er-gebnis nicht fälschlicherweise der Schluss gezogen werden, dass dieser Bereich den Kindern am we-nigsten Probleme bereitet, vielmehr gilt es als Indiz, dass viele Kinder die Kategorie Plural nach wievor nicht markieren, sondern meist den Singular wiederholen. Es hat sich jedoch auch gezeigt, dass be-reits sehr häufig das Suffix -s an die Singularform angehängt wird.

Die regelmäßige, durch Anhängen des Suffixes [-s] bzw. [-z] gekennzeichnete Pluralbildung (lässtman den Bereich Pluralbildung durch Vokalalternation außer Acht) wird von den Kindern am bestenbeherrscht. So konnten 61% der Kinder die Form cats und 55% die Form dogs bilden. Diese Werte unddie Tatsache, dass bereits sehr häufig eine Übergeneralisierung dieser suffigierten Formen erkennbarwar, sprechen dafür, dass ein Großteil der Kinder die diesem Bereich der Pluralbildung zugrundelie-genden morphologischen Regeln beherrscht.

Generell kann gesagt werden, dass vor allem nach dem dritten Unterrichtsjahr der Anteil der Kon-versionsformen stark abgenommen hat und vermehrt Übergeneralisierungen zu beobachten waren.Dies bedeutet, dass die Kinder mit zunehmender sprachlicher Kompetenz die Nullmorphemregeldurch den additiven Prozess der Suffigierung ersetzt haben.

Teil I – Psycholinguistische Studie

178

Pro

zen

tuel

leM

itte

lwer

te

0102030405060708090

100

gesamt {-s} {-z} {-iz} Vokal-alteration

Null-morphem

Fig. 12.1: Kompetenz Pluralbildung nach vier Jahren Englischunterricht

In allen vier Jahren wurde die Nullmorphemregel am häufigsten bei jenen Wörtern angewandt, dieim Singular auf Sibilanten enden, woraus sich schließen lässt, dass die Kinder Sibilanten als ausrei-chende Kennzeichnung der Kategorie Plural gelten lassen.

Die Tatsache, dass die Pluralbildung durch Anhängen des Suffixes [-iz] auch nach vier Jahren Eng-lischunterricht noch beinahe allen Kindern Probleme bereitete, wohingegen bei [-s] und [-z] fast zweiDrittel der Kinder eine korrekte Antwort liefern konnten, bestätigt die Annahme, dass die allgemeinephonemische Regel, die [-s] nach stimmhaften und [-z] nach stimmlosen Konsonanten verbietet, frü-her erworben wird als die phonemische Regel, die [-iz] nach Sibilanten verlangt (was übrigens auchbeim Erwerb der Erstsprache Englisch dokumentiert ist).

Betrachtet man nun die Entwicklung der Kinder im Bereich Pluralbildung nach Sprachgruppen ge-trennt, so zeigt sich, dass im ersten Jahr diese Kategorie vor allem von den Kindern mit Deutsch alsZweitsprache noch kaum markiert wurde. Sehr häufig wurde die Antwort interessanterweise aufDeutsch und nicht in der Zielsprache Englisch gegeben. Erst im zweiten Unterrichtsjahr konnten auchin der Gruppe der Kinder mit den Muttersprachen BKS erste produktive Regelanwendungen beob-achtet werden, d. h., es kam – allerdings nur vereinzelt – zu Übergeneralisierungen. Bei den mutter-sprachlich türkischen Kindern wurde nach wie vor hauptsächlich der Singular wiederholt oder aufDeutsch geantwortet. Korrekte Pluralbildungen traten nur selten auf und beschränkten sich aus-schließlich auf regelmäßige Konstruktionen. Übergeneralisierungen traten über das ganze Jahr hinwegnur drei Mal auf, was darauf hinweist, dass diese Gruppe mit dem Herausfiltern von morphologischenRegeln zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnen hatte.

Im dritten Jahr konnten gegenüber dem Vorjahr, vor allem bei den Gruppen 1 und 2, keine bedeu-tenden Fortschritte beobachtet werden, wohingegen bei den Kindern mit deutscher Muttersprache dieZahl der durch die Nullmorphemregel gebildeten Pluralformen deutlich abnahm. Parallel dazu stiegensowohl die Zahl der korrekten, durch Suffigierung gebildeten, als auch die Zahl der inkorrekten, durchÜbergeneralisierung gebildeten Formen deutlich an.

Im vierten Jahr hatten die muttersprachlich türkischen Kinder etwa jenes Niveau erreicht, auf demsich die Kinder mit L1 Deutsch bereits im zweiten Schuljahr und die Kinder mit den MuttersprachenBKS nach drei Jahren Englischunterricht befanden.

Die Kinder mit Erstsprache Deutsch konnten zu diesem Zeitpunkt mit 49% die meisten korrektenPluralformen bilden. Die Gruppe der Kinder mit den Muttersprachen BKS erreichten einen Wert von35,4%, und die muttersprachlich türkischen Kinder konnten zu 20% eine korrekte Pluralmarkierungdurchführen. In den Bereichen regelmäßige Pluralbildung durch Anhängen des Suffixes [-s] bzw. [-z]

zeigte sich der Unterschied zwischen den einzelnen Sprachgruppen am deutlichsten. Wurde dieser Be-reich von Gruppe 4 mit 88,9% bzw. 77,8% schon sehr gut beherrscht und hatten in Gruppe 2 mehr als50% der Kinder keine Probleme mehr, diese Formen korrekt zu bilden, so hatte die Gruppe der mut-tersprachlich türkischen Kinder diese Kategorie Pluralbildung noch kaum markiert. Für dieses Ergeb-nis spricht auch die Tatsache, dass die Gruppen 2 und 4 häufig die suffigierte Form übergeneralisierten(sheeps), dies jedoch nur bei einem einzigen türkischen Kind zu beobachten war. Hieraus lässt sichschließen, dass Gruppe 1 erst ansatzweise damit begonnen hatte, morphologische Regeln herauszufil-tern, was sicher auch damit zusammenhängt, dass bei dieser Gruppe die morphologische Distanz zwi-schen L1 und L3 am größten ist.

12. Fremdsprachenerwerb Englisch

179

12.3.2 Lexikon

12.3.2.1 Farben

Allgemein kann gesagt werden, dass im Bereich Lexikon die Benennung von Farben den Kindern diegeringsten Probleme bereitete. So konnte bereits im ersten Schuljahr ein Großteil der ProbandInnenzumindest ein paar der vorgegebenen Farben richtig identifizieren bzw. benennen. Im zweiten Jahrhatte ein beachtlicher Teil der Kinder die Basisfarben erworben, und vor allem im Bereich Produktionkonnten markante Fortschritte beobachtet werden. So konnten in der dritten Testphase des zweitenJahres bereits durchschnittlich sechs Farbadjektiva korrekt produziert wurden.

Auch im dritten Jahr konnte in allen Gruppen eine deutliche Verbesserung festgestellt werden, imJuni konnten im Durchschnitt bereits annähernd 70% der Farbadjektiva richtig verwendet werden. Diegrößte Verbesserung gegenüber dem Vorjahr konnte bei den Kindern mit türkischer Muttersprachefestgestellt werden. Diese steigerten sich im Verlauf des Jahres von 42% auf 60%. Dennoch lagen sienoch etwas hinter den beiden anderen Sprachgruppen zurück. Die Kinder mit den Erstsprachen BKShatten im Juni mit 76% jenen Erwerbsstand erreicht, den die Kinder mit deutscher Muttersprache imOktober aufwiesen, und somit den Abstand zu dieser Gruppe stark verringert. Die Kinder mit deut-scher L1 konnten am Ende dieses Schuljahres 83% der dargebotenen Farben richtig benennen.

Im vierten Jahr war auffallend, dass sich die muttersprachlich türkischen Kinder (jene Gruppe, dieim Vorjahr in diesem Bereich die größte Verbesserung aufwies) diesmal als einzige Sprachgruppe ver-schlechterten. Mit durchschnittlich 46,9% richtig benannten Farben lag der Wert um 13% niedriger alsim Juni des Vorjahres und ist vergleichbar mit jenem, der bereits am Ende des zweiten Schuljahres er-reicht war. Die Gruppen mit den Muttersprachen Deutsch bzw. BKS hatten im Vergleich zum drittenSchuljahr höhere Werte erzielt, wobei die größte Verbesserung bei den Kindern mit deutscher Erst-sprache zu beobachten war, welche mittlerweile 89% der im Test inkludierten Farben richtig benennenkonnten. Mit 80,4% hatten die Kinder mit den Muttersprachen BKS etwa jenen Erwerbsstand erreicht,den die Gruppe mit L1 Deutsch am Ende des dritten Jahres aufwies, wenn auch der Abstand zwischendiesen beiden Sprachgruppen ein wenig größer geworden ist.

12.3.2.2 Körperschema

In den ersten beiden Jahren lag der Schwerpunkt dieses Untertests auf der Verständnisebene, da sich her-ausstellte, dass kein einziges Kind in der Lage war, Körperteile aktiv zu benennen. Allerdings bereiteteselbst die richtige Identifizierung von genannten Körperteilen einigen Kindern noch Schwierigkeiten.

Erst im dritten Jahr konnten bedeutende Verbesserungen festgestellt werden, woraufhin in weite-rer Folge der aktive Wortschatz überprüft wurde. Generell kann gesagt werden, dass im Laufe diesesUnterrichtsjahres das Wortfeld Körperteile in allen Gruppen stark vergrößert wurde. So konnten imJuni des zweiten Jahres durchschnittlich nur vier der vom Versuchsleiter genannten Körperteile richtigidentifiziert werden, wohingegen die Kinder im dritten Schuljahr im Durchschnitt sieben Begriffenannten. Nur ein Kind konnte zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen Körperteil benennen.

Im vierten Jahr haben sich besonders große individuelle Unterschiede gezeigt, so waren Ergebnissevon 0 bis 13 korrekten Nennungen zu beobachten. Vor allem den Kindern mit türkischer Muttersprachebereitete die Benennung von Körperteilen noch große Probleme. Nur ein Kind dieser Gruppe konnteneun Körperteile aufzählen und lag damit etwa im Bereich der anderen Gruppen. Im Durchschnitt warenin dieser Gruppe jedoch nur drei korrekte Nennungen zu beobachten, wohingegen dieser Wert für dieKinder mit den Muttersprachen BKS bei neun und für die Kinder mit L1 Deutsch bei elf lag.

Teil I – Psycholinguistische Studie

180

Im Juni des 3. Jahres konnten die Kinder mit den Muttersprachen BKS im Durchschnitt siebenKörperteile benennen, die Kinder mit L1 Deutsch neun und die Kinder mit L1 Türkisch fünf. Wäh-rend sich also die Gruppen 2 und 4 verbessert hatten, erzielten die Kinder der Gruppe 1 im letzten Jahrein schlechteres Ergebnis als am Ende des dritten Schuljahres.

Wie Fig. 12.2 zeigt, konnten am Ende des vierten Schuljahres hand und finger von mehr als 80% derKinder richtig benannt werden. Dies liegt möglicherweise auch an der phonetischen Ähnlichkeit mitden entsprechenden Begriffen im Deutschen. Die ebenso hohen Werte bei eyes, nose, mouth und ears wei-sen darauf hin, dass das Körperschema in ähnlicher Reihenfolge erworben wird wie in der Erstspra-che.

Im Vergleich zu den Vorjahren hat sich herausgestellt, dass sich die Kinder vor allem bei der Be-nennung der Extremitäten der oberen Körperhälfte stark verbessert haben. Bei der Benennung dereinzelnen Teile des Kopfes konnte hingegen keine Verbesserung festgestellt werden, teilweise wurdenhier sogar erheblich niedrigere Ergebnisse erzielt als im Vorjahr.

12.3.2.3 Schulutensilien

Im ersten Jahr wurde auch im Wortfeld Schulutensilien nur die Verständnisleistung überprüft, wobeiBegriffe wie book oder schoolbag im Juni von einem Großteil der Kinder richtig erkannt wurden. Ab demzweiten Untersuchungsjahr lag das Hauptaugenmerk jedoch auf der Überprüfung des aktiven Wort-schatzes. Hier zeigten sich große individuelle Unterschiede: So konnten mehr als 30% der Kinder nochkein einziges der auf einem Bild dargestellten Schulsachen korrekt benennen, knapp 7% beherrschtenjedoch schon fünf oder mehr Begriffe.

Im dritten Jahr konnten durchschnittlich zwei Objekte richtig benannt werden. Die Zahl jener, dienoch kein einziges Objekt beherrschten, sank auf 10%, ebenso viele Kinder benannten fünf und mehrGegenstände. Den höchsten Wert erreichte mit acht Nennungen ein Kind mit L1 Türkisch.

Am Ende des letzten Schuljahres wurden im Durchschnitt viet Dinge aufgezählt, jedoch soll auchdarauf hingewiesen werden, dass nach wie vor enorme individuelle Unterschiede zu beobachten wa-ren. Bei den Kindern mit türkischer Muttersprache reichte die Anzahl korrekter Nennungen von 0 bis4, bei der Gruppe mit den Muttersprachen BKS von 1 bis 7 und bei den Kindern mit L1 Deutsch von 0bis 13. So wie bereits ein Jahr zuvor konnten 10% der Kinder noch immer kein einziges Objekt richtigbenennen, die Zahl derer, die fünf oder mehr beherrschten, stieg aber auf 27%.

12. Fremdsprachenerwerb Englisch

181

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90100

Pro

zen

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hand

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mouth ea

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shou

lders

head arm kn

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feet

toes ha

ir leg body

elbow

teeth

Fig. 12.2: Körperteile: Häufigkeit der Nennungen nach vier Jahren Englischunterricht

In folgender Tabelle werden die Bandbreite und die Häufigkeit der korrekten Nennungen nach vierJahren Englischunterricht dargestellt:

book / schoolbag 20

pencilcase 11

pencil 9

eraser / pen / table 8

ruler / desk 5

chair / rubber 4

blackboard / poster / scissors 3

pencil sharpener / paper 2

glue / colorpencil / map 1

Tab. 12.1: Schulutensilien:

Häufigkeit der Nennungen nach vier Jahren Englischunterricht

Insgesamt wurden 19 verschiedene Objekte genannt, mehr als doppelt so viele wie in den beiden Jah-ren zuvor. Die Anzahl an Nennungen variierte dabei von 1 bis 20. Im vierten Schuljahr wurden aucherstmals Einrichtungsgegenstände des Klassenzimmers wie table, desk oder chair genannt. Neu dazuge-kommen sind u. a. auch die Begriffe poster, paper, und map.

Es hat sich gezeigt, dass zwar 66% der Kinder book und schoolbag und 37% pencilcase richtig benen-nen konnten, alle anderen Werte lagen jedoch nach wie vor unter 30%.

12.3.2.4 Präpositionen

Im zweiten und vierten Jahr wurde auch das Verständnis von verschiedenen Präpositionen getestet.Hierfür wurde ein Federpennal verwendet, in welchem sich mehrere Bausteine befanden. Den Kin-dern wurden folgende Fragen gestellt bzw. wurden sie aufgefordert, mehrere Handlungen auszu-führen:

Is there a red brick in the pencil case?

Take it out of the pencil case.Put the yellow brick on the red brick.Put the blue brick under the red brick.

Die Ergebnisse des zweiten Untersuchungsjahres haben gezeigt, dass es sich bei in um jene Präpositionhandelt, die am frühesten erworben wird, da sie zu diesem Zeitpunkt von den Kindern am besten be-herrscht wurde.

Am Ende des vierten Schuljahres hatten die Kinder bei out of die geringsten Verständnisprobleme,so konnten 61% diese Aufgabe korrekt ausführen. Dies liegt möglicherweise daran, dass die Aufforde-rung take out im Unterricht sehr häufig verwendet wird (z.B.: Take out your exercise books! ). Under und on

wurden häufig verwechselt, wobei viel öfter zu beobachten war, dass der blaue Baustein, wenn er unterden roten Baustein gelegt werden sollte, auf diesen gelegt wurde.

Allgemein konnte festgestellt werden, dass die Kinder mit deutscher Muttersprache in diesem Test-bereich deutlich besser abschnitten als die übrigen Gruppen. Die größten individuellen Unterschiedewies die Gruppe der Kinder mit türkischer Muttersprache auf, wo einige Kinder nach vier Jahren nochkeine einzige, andere wiederum alle der getesteten Präpositionen erworben hatten.

Teil I – Psycholinguistische Studie

182

Abschließend soll auch erwähnt werden, dass die Ergebnisse am Ende des vierten Unterrichtsjah-res bei allen getesteten Präpositionen unter jenen lagen, die im zweiten Untersuchungsjahr erzielt wur-den. Allerdings erscheint es unwahrscheinlich, dass die Kinder die Präpositionen im Laufe der Zeitverlernt haben. Vielmehr ist es vorstellbar, dass sich die ProbandInnen im zweiten Jahr eher auf die ih-nen bekannten Farben der Bausteine konzentrierten und diese durch Zufall korrekt positionierten.

12.3.3 Spontansprache

Nach dem ersten Jahr zeigte sich, dass die sprachliche Kompetenz der Kinder noch sehr stark einge-schränkt war. Das Kommunikationsverhalten wies hauptsächlich antwortgebende Züge auf, wobei dieAntworten meist aus nur einem einzigen Wort bestanden bzw. auf Deutsch getätigt wurden. Beischwächeren SchülerInnen kam es auf Grund von Verständnisproblemen zwar zu Kommunikations-einbrüchen, vollkommene Zusammenbrüche waren jedoch überraschend selten zu beobachten, da dieKinder durch nonverbales Agieren und Zuhilfenahme der deutschen Sprache versuchten, den Dialogaufrecht zu erhalten.

Im zweiten Jahr beschränkte sich die sprachliche Kompetenz der Kinder in erster Linie auf das Be-nennen von Farben, Körperteilen und Tieren. In den meisten Fällen bestanden die von den Kindern inEnglisch getätigten Äußerungen nach wie vor aus einem einzigen Wort, nur ganz vereinzelt konnten be-reits einfache Substantivphrasen (z.B.: three cats) beobachtet werden. Waren längere Äußerungen zu be-obachten, so handelte es sich dabei um typische, im Ganzen gespeicherte Floskeln. Ungefähr die Hälfteder Kinder antwortete, wenn sie nach ihrem Namen gefragt wurden mit My name is + xx; verstandenwurde die Frage von allen Kindern. Bei der Aufforderung, jemand anderen (eine Puppe) nach dem Na-men zu fragen, konnten allerdings nur zehn der getesteten Kinder das Muster What’s your name? anwen-den. Auf die Frage How are you? kam nur von einem einzigen Kind eine Antwort in englischer Sprache(I’m fine, how are you?), über 90% gaben keine Antwort bzw. baten um die Übersetzung (Was heißt das?).

Das dritte Schuljahr zeigte ein ähnliches Bild wie das zweite, obwohl vor allem im Bereich Lexikonmitunter große Fortschritte gemacht wurden. Außerdem hat in diesem Jahr ein großer Teil der Kinderdamit begonnen, von ihnen beherrschte englische Wörter in deutsche Aussagen zu integrieren bzw.deutsche Wörter in englischer Aussprache wiederzugeben.

Aber auch am Ende des vierten Schuljahres wurden beim Großteil der ProbandInnen noch immergrobe Probleme bei Produktion und Verständnis festgestellt. Die überwiegende Mehrheit setzte zurAufrechterhaltung der Kommunikation nach wie vor weitgehend nonverbale Strategien ein oder nahmdie deutsche Sprache zu Hilfe. Allerdings war eine geringe Zunahme anglisierter Versionen deutscherLexeme sowie kreativer Formen, wie in elfteen bzw. twelveteen, zu erkennen. Jene Kinder mit der höchstensprachlichen Kompetenz versuchten bereits, hauptsächlich in der Zielsprache Englisch zu kommuni-zieren und seltener auf Deutsch zurückzugreifen. Bei längeren Äußerungen war durchaus schon einenglisches Rahmengerüst zu erkennen, das mit deutschen Wörtern aufgefüllt wurde. Es muss jedochauch darauf hingewiesen werden, dass dieses Niveau im Großen und Ganzen die Ausnahme darstellte.

Ein Vergleich nach Sprachgruppen zeigt, dass sowohl bei den systemlinguistischen Tests als auchim Bereich Spontansprache die Kinder mit deutscher Muttersprache grundsätzlich etwas bessere Er-gebnisse erzielten als jene der übrigen Gruppen. Jedoch fanden sich auch in der Gruppe der Kindermit den Muttersprachen BKS vereinzelt SchülerInnen, die sich hinsichtlich ihrer sprachlichen Kompe-tenz im Englischen auf einem annähernd gleich hohen Niveau befanden. Die Kinder mit türkischerMuttersprache wiesen den niedrigsten Erwerbsstand auf und schienen zum Teil mit dem Erlerneneiner dritten Sprache überfordert zu sein.

12. Fremdsprachenerwerb Englisch

183

Vergleicht man die Anzahl der von den Kindern auf Englisch getätigten Antworten und die Ver-ständnisleistung mit dem Erwerbsstand in der Erst- bzw. Zweitsprache Deutsch und dem Input, solässt sich hier ein bedeutend größerer Einfluss des Schulstandortes feststellen als dies bei den system-linguistischen Tests der Fall war. Dies zeigte sich darin, dass mit jenen Kindern, die einen regelmäßigenEnglischunterricht genossen, in welchem hochwertiger Input geboten wurde, der Informationsaus-tausch besser funktionierte als mit jenen Kindern, die keinen optimalen Englischunterricht besuchten,vorausgesetzt sie wiesen eine hohe Kompetenz in der Muttersprache auf.

Generell ließen sich aber innerhalb der einzelnen Gruppen enorme individuelle Variationen beob-achten, welche von mehreren Variablen abhängig sind: Die wichtigsten scheinen hier Qualität undQuantität des Inputs sowie die Kompetenz in der Muttersprache zu sein. Daneben spielen auch außer-schulische Kontakte mit der Fremdsprache (z. B. fremdsprachige Bekannte, Medien) eine Rolle sowiePersönlichkeitsfaktoren und die Motivation der Kinder.

Hinsichtlich der Kompetenz in der Muttersprache hat sich bestätigt, das jene Kinder, die über eininstabiles Gerüst in der Erst- bzw. Zweitsprache Deutsch verfügen, in vielen Fällen auch im Engli-schen eine geringere Sprachkompetenz erreichen als ihre MitschülerInnen mit stabilem L1-Gerüst.

12.3.4 Input

Die Inputanalyse hat vor allem ergeben, dass sich sowohl hinsichtlich Qualität als auch Quantität sehrgroße Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen zeigten. In fünf Klassen wurde der Englischun-terricht von österreichischen Lehrerinnen durchgeführt, an einer Schule von einem native speaker. Fürjede der fünf untersuchten Schulen gilt, dass etwa zwei Drittel der Konversation im Englischunterrichtvon der Lehrkraft bestritten wurden, was dem Normwert bisheriger Studien entspricht (vgl. Ellis1994). Bei der Sprachwahl zeigten sich jedoch deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Klassen;so variierte die Häufigkeit der durch die Lehrkraft in der Zielsprache Englisch getätigten Äußerungenzwischen 96% und 48%.

Positiv zu erwähnen ist, dass in allen beobachteten Schulen Lieder, Spiele oder Ähnliches zum Ein-satz kamen. Dies hatte den Effekt, dass die Kinder einerseits Spaß am Unterricht hatten und ander-seits, im Fall der Lieder, durch die rhythmische Komponente bestimmte sprachliche Einheiten leichterlernten.

Bezüglich der sprachlichen Qualifikation soll hier festgehalten werden, dass für ein erfolgreichesFremdsprachenlernen ab Grundstufe I eine äußerst hohe sprachliche Kompetenz der Unterrichtendennotwendig ist. Da der Lehrplan eine integrative Führung, d. h. eine Aufteilung der Fremdsprache inkürzere Einheiten von etwa 20 Minuten und eine fächerübergreifende Einbindung in den übrigen Un-terricht vorsieht, muss die/der Unterrichtende über ein umfangreiches und spezifisches Vokabularverfügen. Ebenso ist ein großes Maß an Kommunikationsgeschick notwendig, da die Lehrkraft im-stande sein sollte, den Input stufenweise an das Niveau der Lernenden anzupassen (fine-tuning). Beson-ders große Bedeutung kommt der Aussprache zu, welche (near-)native like sein sollte, da gerade beiSchuleintritt die auditive Sensibilität für das Lautrepertoire besonders hoch ist und Kinder Ausspra-chefehler der Lehrkraft übernehmen. Betrachtet man den Input hinsichtlich dieser Kriterien, muss al-lerdings gesagt werden, dass, abgesehen vom native speaker, nur eine der LehrerInnen über die er-wünschte sprachliche Kompetenz verfügte.

Abschließend soll jedoch noch erwähnt werden, dass angesichts des sehr limitierten Inputangebots– bei 32 Wochenstunden Englischunterricht und durchschnittlich 20 Kindern pro Klasse ergeben sichbestenfalls 15 bis 20 Minuten Sprechzeit im Jahr pro Kind – das von den SchülerInnen erreichteNiveau zeitweise durchaus positiv zu bewerten ist.

Teil I – Psycholinguistische Studie

184

12.4 Zusammenfassung

Die vorliegende Studie hat gezeigt, dass nur ein sehr geringer Teil der Kinder über die anfangs skiz-zierte frühe Phase des Fremdsprachenerwerbs hinaus kam. Das nach vier Jahren Englischunterrichtnach wie vor eher geringe sprachliche Niveau zeigte sich u. a. darin, dass sich in Englisch getätigte Äu-ßerungen hauptsächlich auf das Benennen von Dingen beschränkten. Der Anteil freier Produktionenvon Seiten der Kinder war auch am Ende der Volksschule noch immer sehr gering, wobei es sich hier-bei noch immer hauptsächlich um unanalysierte, routinisierte Muster handelte. Jene Kinder, die bereitsdamit begonnen hatten, einfache Satzkonstruktionen zu bilden, bedienten sich auch nach vier Jahrennoch häufig der deutschen Sprache, um lexikalische Lücken zu füllen und somit die Kommunikationaufrecht zu erhalten. Beim Großteil der Kinder wurde jedoch vermehrt die umgekehrte Strategie be-obachtet, d. h., sie integrierten vereinzelt englische Wörter in ein deutsches Rahmengerüst. Dies hängtu. a. mit dem geringen aktiven Wortschatz der Kinder zusammen, der vor allem aus Bezeichnungen fürTiere, Farben, Zahlen, Körperteile und Dinge, die im Schulalltag verwendet werden, bestand. Bei derVerständnisleistung waren jedoch Fortschritte zu beobachten.

Auffallend war, dass nur bei jenen Kindern, die über ein stabiles L1- bzw. L2-Gerüst verfügten undeinen regelmäßigen Englischunterricht mit hochwertigem Input besuchten, einfache Satzkonstruktio-nen und Regelfindungsprozesse zu beobachten waren, wobei sich der Kausalzusammenhang zwischenL1- und L2-Kompetenz vor allem hinsichtlich des Erwerbs von morphosyntaktischen Regelsystemenbeobachten ließ. Was das Lexikon betrifft, scheint der Input die wichtigere Rolle zu spielen. BeimGroßteil der untersuchten Kinder waren diese Voraussetzungen jedoch nicht gegeben. Deshalb soll andieser Stelle nochmals auf die Notwendigkeit einer äußerst hohen sprachlichen Kompetenz der Unter-richtenden für ein erfolgreiches Fremdsprachenlernen ab der Grundstufe I hingewiesen werden. DieLehrerInnen sollten über ein umfangreiches und spezifisches Vokabular sowie ein großes Maß anKommunikationsgeschick verfügen, um so den Input stufenweise an das Niveau der Lernenden an-passen zu können. Diese Bedingungen – sowie die sprachliche Kompetenz in der Muttersprache unddie sprachliche Distanz zwischen L1 und L2 – stellen die wesentlichen Voraussetzungen dafür dar, wel-che sprachlichen Fertigkeiten Kinder in der Zweit- bzw. Drittsprache erreichen können.

12.5 Vergleich mit vier Jahren Vienna Bilingual Schooling

Abschließend soll nun anhand eines weiteren konkreten Beispiels aus dem Schulkontext, nämlich desVienna Bilingual Schooling (VBS), skizziert werden (Peltzer-Karpf & Zangl 1998), wie das komplexeWechselspiel zwischen vorhandener biologischer und kognitiv-sprachlicher Basis und Umwelt (demInput) im Verlauf des frühen Fremdsprachenerwerbs aussieht. Das im Schuljahr 1992/93 gestarteteVBS ist ein umfassendes bilinguales Konzept, welches zwei Unterrichtssprachen – Deutsch und Eng-lisch – in einem durchlaufenden Strang vom Kindergarten bis hin zur Oberstufe weiterführenderSchulen anbietet. Ziel ist es, „sowohl die deutsche als auch die englische Sprache als Arbeitssprache imUnterricht zu verankern“ (Stadtschulrat für Wien 1995: 31). Die Kinder werden jeweils von einemhochqualifizierten Lehrerteam, bestehend aus einer österreichischen Lehrkraft mit deutscher Mutter-sprache und einem englischsprachigen native speaker (aus Neuseeland, den USA, England und Wales)betreut, wodurch in beiden Sprachen der Einsatz eines hochwertigen authentischen Inputs gewähr-leistet ist.

Die Datenerhebung erstreckte sich über die gesamte Grundschulzeit, wobei pro Schuljahr mehrere(meist drei) Untersuchungen durchgeführt wurden. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Longitudinal-studie sollen nun kurz skizziert werden.

12. Fremdsprachenerwerb Englisch

185

Natürliche Kommunikation: Entwicklung des Lehrer-Schülerdiskurses

Innerhalb der Frühphasen des Fremdsprachenerwerbs manifestieren sich qualitative (Übergang vondisplay zu referential questions) und quantitative (Bitten, Informationen einholen, Korrektur vornehmen) Verschie-bungen der Sprechakte. Das Sprechaktkontingent des Lehrers/der Lehrerin ist dynamisch und wirdauf die fremdsprachliche Kompetenz der Lernenden abgestimmt. Ähnlich des Lehrerverhaltens zeigtsich im Diskursverhalten der SchülerInnen eine deutliche Verschiebung von nonverbalen, memorisier-ten Formen zu stärker kreativen sprachlichen Mustern. Diese erhöhte Diskursflexibilität spricht für ge-steigerte, stärker funktionelle systemlinguistische Ressourcen.

Natürliche Kommunikation: Spontansprache

In der Anfangsphase wirkt das sprachliche System relativ stabil, d. h., die Sprache der Lernenden istdurch einen hohen Grad an Korrektheit gekennzeichnet, weil die Produktion auf unanalysierten, imi-tierten Formeln (chunks) beruht. Die darauffolgende Phase gestaltet sich außerordentlich turbulent, zu-mal die Lernenden sich nunmehr daran machen, die auswendig gelernten Formeln zu analysieren undRegeln herauszufiltern. Daran anschließend ist die grammatische Entwicklung wiederum von einer ru-higeren Phase geprägt, die auf einen bereits sehr kohärenten Systemzustand schließen lässt. Eine Ana-lyse der Spontansprache zeigt, dass zunächst nonverbale Handlungen, routinisierte Formen und rudi-mentäre(s) Lexikon und Syntax dominieren; morphologische Modulationen sind nicht zu beobachten.Wesentliche Systemveränderungen zeichnen sich im zweiten und vierten Lernjahr ab. Diese sind durchzunehmend komplexe morphologische und syntaktische Baupläne und lexikalische Subkategorisierun-gen charakterisiert.

Psycholinguistische Tests: Morphosyntax und Lexikon

Zu Beginn sind kaum satzinterne Dekodierungen sichtbar, Leistungszuwächse sind nicht syntaktisch, son-dern semantisch-lexikalisch motiviert. Ein erstaunlich hoher Korrektheitsgrad lässt sich durch lexikalisierte/memorisierte Einheiten erklären. Deutlich sichtbare Veränderungen zeigen sich im zweiten und viertenLernjahr. Erste Musterextraktionen ermöglichen eine flexiblere morphologische und syntaktische Naviga-tion, führen jedoch gleichzeitig auch zu einem größeren Fehlerpotential. Verstärkte Aktivitäten zeigen sich inden Prozesstypen Pluralflexion, Agentivderivation, Komparativbildung sowie in einfachen SVO-Mustern.Übergeneralisierungen dominanter Muster lassen sich in all den oben genannten Subsystemen bereits nachkurzer fremdsprachlicher Erfahrung beobachten und sprechen eindeutig für die sprachliche Kreativität derLernenden. Generell ist davon auszugehen, dass die Mikrostruktur des Lexikons (mit einer Zentralpositiondes Verbs) entscheidend für den Aufbau des grammatikalischen Systems ist.

Die Veränderungen auf den Punkt gebracht: Nach vier Jahren fremdsprachlicher Erfahrung sindmorphosyntaktisch einfache Baupläne stabilisiert; komplexere morphosyntaktische Beziehungen (Pas-sivrelationen, Relativsätze mit Subjekt- und Objektreferenz, Tempusmarkierungen etc.) werden ansatz-weise ins bestehende System integriert. Sie führen jedoch wiederum zu einer erhöhten Fehlerquote.Dies zeigt sehr schön, dass die einzelnen Subsysteme unterschiedlich schnell und intensiv aufgebautwerden; d. h. dass jedes System (chaostheoretisch gesprochen) seine eigenen Gipfel und Täler hat.

Im Vergleich zum Englischunterricht der vorliegenden Studie muss der VBS-Unterricht aber alsLuxusmodell mit einem sehr intensiven fremdsprachlichen Angebot von nicht weniger als 1.672 Un-terrichtsstunden (plus peer-group-Effekt) während des Grundschulzeitraums bezeichnet werden. Den-noch sind die Resultate auch auf andere Unterrichtsmodelle mit entsprechenden Modifikationen um-zulegen, d. h., entsprechend der Intensität des Fremdspracheneinsatzes sind sie nach unten gestaffeltan geänderte Ausgangsbedingungen anzupassen.

Teil I – Psycholinguistische Studie

186

13. Fallstudien

Betrachtet man die kognitiven Bedingungen, die für den Erwerb des Lexikons vorhanden sein müssen,haben Grundschulkinder einen klaren Startvorteil. Sie haben bereits die Fähigkeit entwickelt, Kon-zepte zu erwerben, sie können metasprachlich denken, mit syntaktischen Strukturen umgehen und ha-ben gute Lern- und Gedächtniskapazitäten (Conway 1997). Variation im Spracherwerb gibt es jedochnicht nur altersbedingt, sondern auch individuell. So bringt es die Nichtlinearität des Erwerbs mit sich,dass Kinder trotz der universellen Prozesse sehr individuell auf die zweisprachige Situation reagieren(vgl. Peltzer-Karpf & Zangl 1998). Wie in der Erstsprache gibt es late bloomers (Spätzünder) und Wun-derkinder, Kinder, die gerne kommunizieren, egal wie gut ihre Kompetenz ist, und zurückhaltendeKinder, die lange in der silent phase verharren. Sicher ist jedenfalls, dass Eltern, Kindergartenpädago-gInnen und LehrerInnen den Erwerbsprozess zwar unterstützen und erleichtern können, die Sprachesich jedoch selbst organisieren muss.

13.1 Kinder mit türkischer Erstsprache

Für die Beobachtung der individuellen sprachlichen Profile wurden drei Kinder mit stark divergieren-den Entwicklungspfaden ausgewählt. Die folgenden Abbildungen sollen einen Überblick über die Un-terschiede der sprachlichen Kompetenz der ProbandInnen vermitteln. Mehmet und Ali befanden sichzu Schuleintritt auf einem vergleichbaren Ausgangspunkt, während Selma schon damals eine deutlichfortgeschrittene Deutschkompetenz aufwies.

Vom zweiten auf das dritte Schuljahr ist bei allen Kindern ein merkbarer Schub im Lexikon zu ver-zeichnen. Diese Tendenz lässt sich bei Mehmet bis in das vierte Schuljahr weiterverfolgen, bei Ali hinge-gen kommt es zu einem Einbruch, zumindest die Länge seiner Äußerungen betreffend.

1. Jahr 2. Jahr 3. Jahr 4. Jahr

Mehmet 18 27 76 111

Selma 76 80 165 –

Ali 40 27 50 68

Tab. 13.1: Zuwachs der types pro Interview, 1. bis 4. Schuljahr

Zwar steigt die Anzahl der pro Interview verwendeten types bei Ali über die Jahre, dennoch muss mandieses Anwachsen des Wortschatzes als vergleichsweise gering bezeichnen.

187

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

1. Schuljahr 2. Schuljahr 3. Schuljahr 4. Schuljahr

K49

K46

K21

Mea

nLe

ng

tho

fU

tter

ance

(MLU

)

Fig. 13.1: Vergleich des Zuwachses der durchschnittlichen Anzahl an Wörtern

pro Äußerung bei drei Kindern mit L1 Türkisch

13.1.1 Mehmet

Zweitsprache Deutsch

Mit Mehmet war eine verbale Kommunikation zu Beginn des ersten Schuljahres noch kaum möglich. Imfolgenden Abschnitt aus einem Spontanspracheinterview überwiegen auf Seiten des Kindes nonver-bale Strategien und Pausen; die Äußerungen des Kindes beschränken sich auf die Wörter Ball, eins, a undja, der äußerst limitierte Informationsaustausch basiert in erster Linie auf den Anstrengungen der Inter-viewerin.

(1)1. Schuljahr: September

Kind und Interviewerin schauen sich ein paar Bilder an.Int: Ist das ein Bub?Mehmet: [schüttelt den Kopf]Int: Kein Bub. . . . Was ist es dann, wenn es kein Bub ist?Mehmet: . . . ähm . . .Int: Ein Mädchen?Mehmet: [nickt]Int: Ja? . . . Das ist ein Mädchen. . . . Kennst du ein Mädchen?Mehmet: Ja.Int: Ja, wie heißt denn das Mädchen, das du kennst?Mehmet: . . .Int: Welchen Namen hat das Mädchen?Mehmet: . . .Int: Gibt es in deiner Klasse viele Mädchen?Mehmet: . . . Eins a.

Im Laufe der folgenden Jahre konnte Mehmet seine Deutschkompetenz beachtlich steigern:

(2)4. Schuljahr: Juni

Int: Aha, und was wirst du denn von der Volksschule vermissen, wird dir irgend-etwas fehlen?

Mehmet: Ja, meine Lehrerin.Int: Warum?Mehmet: Sie bringt mir so viel bei. . . . Von ihr hab ich sehr viel gelernt. . . . Deswegen.Int: Und deine Freunde, gehen die mit?Mehmet: Ja, viele.Int: Aha, das ist gut.

Wir sind ja jetzt ganz viele Jahre, . . . jedes Schuljahr haben wir euch besucht.Mehmet: Ja.Int: Kannst du dich erinnern, an irgendetwas, das wir gemacht haben?Mehmet: Ja, ihr habts mir Fragen gestellt und solche Bilder gezeigt, was man dort macht.

Und solche Sachen.Int: Und was hat dir dabei Spaß gemacht?Mehmet: Hm, dass du mich fragst und ich muss dann nachdenken, das hat mir Spaß ge-

macht.

Teil I – Psycholinguistische Studie

188

Am Ende der Volksschulzeit verläuft die Kommunikation mit Mehmet größtenteils problemlos;Schwierigkeiten zeigen sich nur noch gelegentlich bei vergleichsweise anspruchsvolleren Inhalten. Erverwendet auch komplexere syntaktische Strukturen großteils sicher, Unsicherheiten bestehen nochbei der morphologischen Markierung, beispielsweise im Zusammenhang mit Präpositionen, wie imoben zitierten Ausschnitt. Die lexikalische Flexibilität des Buben wird in der Auswahl der verwendetenVerben deutlich.

Erstsprache Türkisch

Im ersten Schuljahr war Mehmet bemüht, ein Gespräch zu führen und ausführliche Antworten zu ge-ben, was ihm jedoch auch in seiner Erstsprache nicht besonders gut gelang. Er wiederholte seine Infor-mationen oft, wie in dem folgenden Ausschnitt:

(3)1. Schuljahr: September

Ondan sonra sabah kalktım, yemek yedim. Birazcık daha uyudumçok uykum vardı. . . . Ondansonra birazcık daha okudum. . . . ondan sonra hep oynadım birazcık.(Dann bin ich in der Früh aufgestanden, ich habe gegessen. Ich habe wieder ein bisschen ge-schlafen. İch war sehr müde. Dann habe ich ein bisschen gelesen. Dann habe ich nur gespielt,ein bisschen.)

Bei diesem Gespräch wiederholte er sich mehrmals. Abgesehen von der Eintönigkeit durch solcheWiederholungen fällt im Türkischen auch die Einfachheit der Sätze auf. Trotzdem gehörte Mehmet amAnfang seiner Volksschulzeit in unserer Probandengruppe zu den Kindern mit einer eher überdurch-schnittlichen Kompetenz im Türkischen. Im Lauf seiner Volksschulzeit versuchte Mehmet, kompli-zierte morphosyntaktische Strukturen zu verwenden. Die Unsicherheit beim Gebrauch solcher Struk-turen ist jedoch in seinen Äußerungen sehr auffällig.

(4)3. Schuljahr: Juni

Hı [bejaht], derisini almak istiyodu. Ama o köpekler bırakmadı. Sonunda bitane fabrikin içinesaklandı bütün köpekler. Pasta fabrikinde. Sonra o kadın pasta fabrikine, içine böyle büyük bü-yük pasta yapma şeylerinin içine döktü. Sonra o köpekler hamurları döktü böyle. O zaman şeyüstüne o şeker şeyleri döktü felan. O zaman sert oldu. O zaman polis geldi aldı onu.(Ja, sie wollte ihr Fell nehmen, aber die Hunde haben es nicht zugelassen. Zum Schluss habensich alle Hunde in einer Fabrik versteckt. In einer Kuchenfabrik. Dann ist die Frau in die Ku-chenfabrik [gegangen, dort] hat sie [es] in diese große, große Kuchenform gegossen. Dann ha-ben die Hunde den Teig gegossen, so. Dann hat [sie] darauf diese Zuckerdings gegossen. Dannist [es] hart geworden. Dann ist die Polizei gekommen und hat sie abgeholt.)

Im obigen Interviewausschnitt versucht Mehmet, komplizierte Sätze zu bilden. Durch das Fehlen gan-zer Satzteile (z. B. Verb oder Objekt) werden die Sätze jedoch unverständlich. Auch im vierten Jahr fälltdie Unsicherheit bei komplexeren Strukturen auf:

(5)4. Schuljahr: Juni

Daha iyi iş alabilirim. Daha iyi daha iyi şey para alabilirim. Hem de daha iyi hmm şey kötü işlerdeböyle zor olyoya o zaman kolay işlere verirler hem de hem de zor olmaz öyle.

13. Fallstudien

189

(So kann ich eine bessere Arbeit bekommen. Bessere bessere Dings, Geld kann ich bekommen.Und noch bessere hmm Dings, die schlechten Arbeiten sind ja schwierig. Und das, das wirdnicht so schwierig.)

Am Ende seiner Volksschulzeit war Mehmet weiterhin bemüht, im Gespräch eine aktive Rolle zu spielen. DieKomplexität seiner morphosyntaktischen Strukturen nahm im Laufe der Jahre auch deutlich zu, im Ver-gleich zu Selma unterliefen ihm jedoch bereits bei geringer Komplexität der Sätze viele Fehler.

13.1.2 Ali

Zweitsprache Deutsch

Auch mit Ali war ein verbaler Informationsaustausch zum Zeitpunkt des Schuleintritts nur sehr be-grenzt möglich. Er verfügte über einen sowohl in Bezug auf die Quantität als auch die Qualität stark li-mitierten Wortschatz. Seine Syntax zeichnete sich vorwiegend durch Einwort-, vereinzelt auch Zwei-wortsätze, aus; syntaktische Relationen wurden meist noch nicht morphologisch markiert.

(6)1. Schuljahr: September

Int: Wohnst du da in der Nähe von der Schule? . . . Musst du weit zur Schule gehen?Ali: Ja.Int: Wie weit musst du denn gehen?Ali: [keine Antwort]Int: Was glaubst du, fünf Minuten oder zehn Minuten?Ali: Zehn.Int: Zehn Minuten? – Und gehst du zu Fuß oder fährst du mit der Straßenbahn?Ali: Fuß.Int: Schau mal das Bild an. Kannst du auf dem Bild was erkennen?Ali: Ja.Int: Erzähl einmal was.Ali: Uhr.Int: Eine Uhr, ja. Habt ihr zu Hause auch eine Uhr?Ali: Ja.Int: Schauts bei dir so ähnlich aus oder anders?Ali: . . . da.Int: Der Tisch?Ali: Ja.

Ali konnte seine kommunikative Kompetemz im Laufe der vier Jahre nur moderat verbessern. AufGrund seiner eingeschränkten morphosyntaktischen und lexikalischen Kenntnisse hat er auch bei ein-fachen Inhalten Schwierigkeiten sich auszudrücken und gibt zum Teil auch nonresponsive oder schwerinterpretierbare Antworten. Das Gelingen des Kommunikationsaustausches ist somit noch immer zueinem großen Teil von der Einfühlsamkeit und Unterstützung der Interaktionspartnerin abhängig.

(7)4. Schuljahr: Juni

Int: Und dann hab ich gehört, ihr übt gerade für ein Musical, stimmt das?Ali: Ja.

Teil I – Psycholinguistische Studie

190

Int: Worum geht es da bei dem Musical?Ali: Nächstes Jahr Hauptschule geht, will man [?] feiern.Int: Ach so, eine Art Abschlussfeier.Ali: Ja, Abschlussfeier.Int: Und wovon handelt das Musical? . . . Wie heißt es?Ali: Musical.Int: Hat es gar keinen Titel, gar keinen Namen?Ali: Oja, ich hab vergessen.Int: Uhhum, und müsst ihr da viel singen?Ali: Ja.Int: Oder tanzen?Ali: So Sachen machen.Int: Sachen machen?Ali: Ja.Int: Uhhum, und welche Sachen machen?Ali: Spielen, so . . .Int: Spielen. . . . Irgendwer hat, ich glaub die Edina, oder irgendjemand hat gesagt, da habt

ihr auch so eine Zeitmaschine.Ali: Ja, Zeitmaschine.Int: Uhhum, und mit dieser Zeitmaschine reist ihr durch die Zeit oder durch die verschiede-

nen Länder? . . . Keine Ahnung?Ali: . . .Int: Ist auch net so wichtig, weißt du, welche Rolle du hast?Ali: Ich [?]?Int: Uhhum, im Musical, was . . . Spielst du da auch eine Rolle?Ali: Türkisch, ich spreche [?] Türkisch.Int: Verstehe, also ihr sprecht Türkisch.Ali: Ja.Int: Musst singen auch was, oder tanzen?Ali: Singen, vielleicht, weiß ich nicht, aber schon, wir singen auch.Int: Uhhum, ja, das ist gut. . . . Ja, Ali, dann sag ich Dankeschön.

Erstsprache Türkisch

Ali machte in der ersten Testphase am Anfang seiner Volksschulzeit mit seinen sprachlichen Proble-men in den Bereichen Morphosyntax, Lexikon und Kommunikation und auch mit seiner Unsicherheitwährend des Gespräches auf sich aufmerksam. Im folgenden Diagramm ist die Anzahl der Äußerun-gen dieses Kindes am Anfang und am Schluss seiner Volksschulzeit detailliert angegeben.

Den Daten in Fig. 13.2 zufolge machte Ali kaum Fortschritte. Die Zahl der Ein-Wort-Antwortenging zwar zurück, dafür gab er öfters keine Antwort. Komplizierte Strukturen sind in seiner Sprachekaum anzutreffen.

Die Kommunikation mit ihm verlief in beiden Testphasen zum größten Teil mit starker Hilfe derInterviewerin. Seine Antworten bestanden hauptsächlich aus Ein-Wort-Antworten. Sein längster Satzging im ersten Jahr nicht über vier Wörter hinaus. Dadurch war nur ein stark begrenzter Informations-austausch möglich. Im folgenden Ausschnitt versucht die Interviewerin, mit ihm ein Gespräch überein Bild zu führen, auf dem eine Parkanlage mit einem Teich und spielenden Kindern abgebildet ist. In

13. Fallstudien

191

dem Ausschnitt vom ersten Jahr sind neben nonverbalen Äußerungen Bejahungs- oder Verneinungs-formen im Dialekt erkennbar. Das Kind zeigte oft auf einen Gegenstand im Bild, ohne etwas zu sagen,und schaute die Interviewerin mit erwartungsvollen Augen an.

(8)1. Schuljahr: September

Int: Şimdi sana bir resim göstereceğim anlat bakalım! . . . Ne görüyorsun bu resimde?(Jetzt werde ich dir ein Bild zeigen! . . . Erzähl mir, was siehst du denn auf diesem Bild?)

Ali: [keine Antwort]Int: Ne bu? (Was ist das?)Ali: [keine Antwort]Int: O ne? (Was ist das?)Ali: . . . . . . Biskilet. (Ein Fahrrad.)Int: Senin de bisikletin var mı? . . . Var mı?

(Hast du auch ein Fahrrad? Hast du eines?)Ali: [verneint nonverbal].Int: Yok, olsun ister misin? (Du hast keines? Willst du eines haben?)Ali: [keine Antwort]Int: Başka neler görüyorsun? (Was siehst du denn noch?)Ali: [keine Antwort, zeigt auf das Bild.]Int: Ne o gösterdiğin? (Was ist das, was du zeigst?)Ali: [keine Antwort]Int: Hı, ne o gösterdiğin? (Was ist das, was du zeigst?)Ali: . . . . . . Beşik. (Eine Wippe.)Int: Bebek arabası değil mi, başka? (Ein Kinderwagen, nicht wahr? Was noch?)Ali: [keine Antwort, zeigt auf ein Bild.]Int: Ne yapıyorlar onlar? (Was machen sie?)Ali: Oynuyolar. (Sie spielen.)Int: Ne oynuyorlar? (Was spielen sie?)Ali: Top. (Ball.)

Die sehr kurzen Antworten bzw. nonverbalen Strategien sind für das ganze Gespräch repräsentativ. Ali

verzichtete oft auf morphologische Markierungen. Auch im vierten Jahr erwies er sich nicht als kom-petenter Gesprächspartner. Seine Antworten blieben zum größten Teil Ein-Wort-Antworten.

Teil I – Psycholinguistische Studie

192

ALÍ

0

5

10

15

20

1. Schuljahr 4. Schuljahr

Ein-Wort-Antworten

keineAntwort

nonverbaleÄußerung

Genitiv-verbindung

Nebensätze

deutscheWörter

An

zah

l der

Äu

ßer

un

gen

Fig. 13.2: Spontansprache: Vergleich 1. und 4. Schuljahr, Ali

Während eines fünfminütigen Gespräches verwendete Ali im Dezember des vierten Schuljahres 45, imdarauf folgenden Juni 35 Wörter. Im Dezember waren 13 von 39 Antworten Ein-Satz-Antworten;fünfmal bediente er sich nonverbaler Strategien, siebenmal gab er überhaupt keine Antwort. Auch imJuni verlief die Kommunikation sehr ähnlich: 13 von 37 Antworten waren Ein-Wort Antworten, fünf-mal verwendete er nonverbale Strategien. Achtmal hat er auf die jeweilige Frage gar nicht reagiert. Eswar ihm eindeutig unangenehm, nach der eigenen Meinung gefragt zu werden. In solchen Situationenbevorzugte er es, keine Antwort zu geben. Der folgende Interviewausschnitt ist vom vierten JahrVolksschule. Hier sind keine besonderen Fortschritte im Vergleich zum ersten Jahr ersichtlich:

(9)4. Schuljahr: Juni

Int: Kimlerle oynicaksın? (Mit wem wirst du spielen?)Ali: Arkadaşımlan. (Mit meinem Freund.)Int: Arkadaşının adı ne? (Wie heißt dein Freund?)Ali: Cağlar.Int: Peki kim Cağlar? (Wer ist Cağlar?)Ali: [keine Antwort]Int: Senin akraban mı? Komşun mu, kim o? (Ist er ein Verwandter von dir oder dein Nachbar?)Ali: Dayımın oğlu. (Der Sohn meines Onkels.)Int: Peki orda en çok ne yapmayı seviyorsun? (Was machst du dort am liebsten?)Ali: Top oynamak. (Ball spielen.)Int: Başka? (Und sonst?)Ali: [keine Antwort]Int: Top oynamayı seviyorsun, başka? (Du spielst gern Ball, und was noch?)Ali: [keine Antwort]

Er vermeidet mehrheitlich morphologische Markierungen, wie z.B. auf die Frage: Peki orda en çok ne

yapmayı seviyorsun? (Was machst du dort am liebsten?) gab er als Antwort Top oynamak (Ball spielen). Derrichtige Satz sollte mit einer Akkusativendung markiert werden: Top oynamayý (Ich mag Ball spielen).In diesem Gespräch verwendet er jedoch zwei Genitivverbindungen, die beide bei Verwandtschaftsbe-zeichnungen, wie dayımın oğlu (Sohn meines Onkels), auftreten.

13.1.3 Selma

Zweitsprache Deutsch

Wie bereits erwähnt, verfügte Selma bereits zu Schulbeginn über eine weit höhere sprachliche Kompe-tenz als Mehmet und Ali, was sich in einer deutlich höheren Kommunikationsfähigkeit bemerkbarmachte. Allerdings war sie noch nicht immer in der Lage, sich verständlich auszudrücken, was gele-gentlich verständnissichernde Maßnahmen erforderte.

(10)1. Schuljahr: September

Selma: Dann war mein Geburtstag in [?] mein Geburtstag war ma zweimal. . . . Und mit [?]Teddybärtorte hab ich gehabt.

Int: Eine Teddybärtorte?Selma: Mh, mein Eltern sind immer gekommen.Int: Mh.

13. Fallstudien

193

Selma: [?] haben gefeiert, dann haben wir unsere Torte gegessen, niemand hat mein Torte ge-gessen und mit durch den Wald Auto gefahren hat bisschen in Auto angehaut mit einerAuto, dann haben alle telefoniert und dann haben sie nicht gegessen, und meineSchwester und ich, die andere Schwester, haben die die Torte gegessen.

Int: Ihr habt dann die ganze Torte aufgegessen?Selma: Mhm.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern mit türkischer Erstsprache war Selma bereits zu Schul-eintritt in der Lage, ihr Zimmer detailliert und verständlich zu beschreiben:

(11)1. Schuljahr: Februar

Int: Kannst du mir vielleicht beschreiben, wie dein Zimmer aussieht?Selma: Mein Zimmer hat ein Sessel und ein [?] zwei Bett, eine ist da drauf oben eine ist unten

und dann hab ich ein Tisch zum Schreiben und dann hab ich so Blätter und Buntstifteund dann hab ich [?] Spielzeuge bisschen nur, dann.

Int: Und welches Spielzeug hast du? Was ist denn dein Lieblingsspielzeug?Selma: Mein Lieblingsspielzeug ist mein . . . ein Barbiehaus hab ich einmal gehabt und das hat

jetzt meine Mama weggeschmissen.

Sie verwendete in diesem ersten Interview bereits 36 verschiedene Nomen sowie 29 Verben (währendMehmet nur drei Nomen verwendete), ihr Wortschatz schien gut entwickelt zu sein, auch wenn mancheWörter in ihrer Bedeutung und Verwendung noch nicht zur Gänze erworben waren:

(12)Int: Isst du gerne Süßigkeiten?Selma: Nein.Int: Nein, nicht gerne Süßigkeiten?Selma: Einmal war ich im Zahnarzt.Int: Warst beim Zahnarzt?Selma: Mm, hab ich geschreit dort.

Das Kind differenziert offensichtlich noch nicht zwischen im Garten, im Supermarkt und beim Zahnarzt.Man könnte hier eine Übergeneralisierung der Präposition im vermuten.

Der folgende Ausschnitt stammt vom Ende der dritten Klasse Volksschule. Er zeigt, dass Selma so-wohl ihre lexikalische als auch morphosyntaktische Kompetenz weiter ausbauen konnte und sich nun-mehr als kompetente Gesprächspartnerin erweist, die sich gut verständlich und problemlos ausdrü-cken kann. Schwierigkeiten zeigen sich aber noch in der morphologischen Markierung sowie gelegent-lich bei Satzverknüpfungen.

(13)3. Schuljahr: Juni

Int: Stell dir vor, du hättest im Lotto ganz viel Geld gewonnen. Was würdest du dannmachen?

Selma: Ich hätte den armen Menschen geholfen, dann hätte ich meinem kleinen Bruder soviele Spielzeuge gekauft und was er wollte gerne. Ich hätte meine Familie ein bisschengegeben, dann hätte ich mir ein Computer gekauft, ein Fahrrad mhm dann hätte ich mirnoch ein Auto gekauft.

Selma: Dann wollte ich gern eine Haus.

Teil I – Psycholinguistische Studie

194

Int: Wie soll denn das Haus ausschauen?Selma: So groß und irgendeine Farbe und es wär wurscht und dann . . . mhm. Dann wollt ich

gerne eine Ärztin werden, da hätte ich den armen Menschen noch ein bisschen Geld ge-geben davon in der Türkei, dort waren viele arme Menschen. Ich hab dort meine Omaund meine Tante, die hat ein kleines Kind, die ist ganz süß. Für sie hätte ich ein paar Sa-chen gegeben.

[kurze Unterbrechung]Int: Was wirst du denn in den Ferien machen?Selma: In den Ferien werde ich in die Türkei fliegen, weil ich freue mich schon davon. Weil

mein Vater hat gesagt, ausnahmsweise, wenn du willst. Deswegen fahrn ma dort hin.Dann hab ich mich ganz gefreut und wenn wir dort hin fahren, dann werden wir sehroft schwimmen gehen und da werde ich immer zu meiner Tante mit seinen kleinenKind noch besuchen gehen.

Erstsprache Türkisch

Im ersten Schuljahr war die Kommunikation mit Selma im Türkischen durch deutsche Wörter, das Aus-lassen der Fälle und falsche Markierungen beeinträchtigt, was sich im Laufe der vier Jahre jedoch starkzum Positiven wandelte. Selma konnte sich zu Schulbeginn in ihrer L1, zum Teil mit Hilfe der L2, aus-drücken. Morphologische Markierungen waren oft falsch, z. B. Derslerime öğretmenim bize gösteriyo. (Mei-ne Lehrerin zeigt uns die Hausaufgaben). Statt der Akkusativform (derslerimi) verwendete sie hier dieDativform (derslerime). Im Folgenden ist ein Interviewausschnitt vom ersten Schuljahr:

(14)1. Schuljahr: September 30

Öğlenden [richtig: Öğlen] duruyom azcık, Gartena çıkyoz. Gartendan sona çıktık [richtig: çıktığı-mız] zaman, o zaman da şey yapıyoz Garten da çok oynuyoz. Ondan [richtig: Ondan sonra] daböyle elini kaldıryo „eins de“ diye öğretmenim. O zaman anstellen yapıyoz. O zamandan [richtig:zaman] çıkıyoz kapıdan [?] zil çaldığı zaman beklicen.(Mittags bleibe ich ein bisschen. Wir gehen dann in den Garten. Nach dem Garten, wir sindausgegangen, dann machen wir Dings, wir spielen im Garten viel. Dann hebt meine Lehrerindie Hand hoch als „eins d“, dann stellen wir uns an, dann gehen wir aus der Tür hinaus wenn esläutet, musst du warten.)

Sogar alltägliche Begriffe, wie wohnen, verwendete sie auf Deutsch:

(15)1. Schuljahr: September

Ama sadece benim arkadaşım var, aynı evde wohnen yapmaz o başka yerde wohnen yapıyo. Bizde başka yerde. Bi kere aynı evde wohnen yapyoduk, şimdi başka yere gittiler. Aşağda da şimdişey sat [?] var neydi o?(Aber nur ich habe eine Freundin, sie wohnt nicht in demselben Haus, sie wohnt irgendwo an-ders, wir auch irgendwo anders. Einmal haben wir zusammen gewohnt, jetzt sind sie irgendwo-hin gegangen. Jetzt ist unten das Dings [?] wie heißt es wieder?)

13. Fallstudien

195

30 Es wurde versucht, die Fehler zu vermitteln, die die Kinder im Türkischen machten, was aber durch die unterschiedlicheStruktur der beiden Sprachen nur begrenzt möglich war.

Das folgende Diagramm verdeutlicht die Entwicklung der sprachlichen Kompetenz von Selma:

In diesem Diagramm wird Selmas Kompetenzanstieg deutlich. Die Verwendung kompliziertermorphosyntaktischer Konstruktionen nahm im Laufe der vier Jahre deutlich zu. Sie verwendetein der Kommunikation in ihrer Muttersprache nun wenige deutsche Wörter. Im Vergleich zu den35 Wörtern von Ali verwendete Selma in dem fünfminütigen Gespräch 355 Wörter. Im vierten Schul-jahr war großteils eine sichere Verwendung morphosyntaktischer Strukturen erkennbar. Es tauchenjedoch auch Unsicherheiten beim Gebrauch komplexerer Strukturen auf, wie der folgende Aus-schnitt zeigt:

(16)4. Schuljahr: Juni

Şey hmm yüzmeye gidcez kardeşlerimle büyüdükleri için artık. O zaman onlarla böyle yani gez-cez bi de parklara çok gidcez hava sıcak olduğu için. Akşamları dondurma yemeğe gidcez.Kardeşlerimle evde oynicaz böyle beraber, yeni oyuncaklar alcaz. O zaman benim doğum gün-ümü yapcaz bi de ufak kardeşimkini de. Uzun ders de yapcam. Bi de lazım olduğu . . . şey okull-ara . . . onları almaya . . . alcam. Ufak kardeşime doğum günü hediyesi alcam.(Hmm, wir werden mit meinen Geschwistern schwimmen gehen, weil sie ja schon gewachsensind. Dann werden wir mit ihnen spazieren gehen und wir werden auch oft in den Parks gehen,weil es sehr heiß ist. Abends werden wir Eis essen gehen. Mit meinen Geschwistern werden wirgemeinsam spielen, wir werden neue Spielsachen kaufen. Dann werden wir meinen Geburtstagfeiern und auch den von meinem kleinen Geschwister. Ich werde viel lernen. Und auch die not-wendigen Dings . . . für die Schule . . . werde ich diese . . . kaufen. Für meinen kleinen Ge-schwister werde ich ein Geburtstagsgeschenk kaufen.)

Sie konnte die komplizierte Konstruktion okula lazım olan şeyler (Sachen, die für die Schule notwendigsind) nicht produzieren. Da unterbrach sie sich oft „lazım olduğu . . . şey okullara . . . onları almaya . . .

alcam“ (auch die notwendigen Dings . . . für die Schule . . .) und beendete ihren Satz mit einer einfachenForm alcam (ich werde (sie) kaufen).

Teil I – Psycholinguistische Studie

196

SELMA

0

5

10

15

20

1. Schuljahr 4. Schuljahr

Ein-Wort-Antworten

keineAntwort

nonverbaleÄußerung

Genitiv-verbindung

Nebensätze

deutscheWörter

An

zah

l der

Äu

ßer

un

gen

Fig. 13.3: Spontansprache: Vergleich 1. und 4. Schuljahr, Selma

13.2 Kinder mit den Erstsprachen BKS

Die Kinder mit den Erstsprachen BKS verfügten zum Zeitpunkt des Schuleintritts durchschnittlichbereits über eine höhere Deutschkompetenz als die Kinder mit türkischer L1. Die folgenden zwei Bei-spiele zeigen die individuelle Variation auch in dieser Gruppe.

Bei beiden Kindern zeigt sich im Laufe der Jahre eine Steigerung der MLU, auch die Anzahl der ver-wendeten types pro Interview nahm deutlich zu. Große Unterschiede bleiben aber dennoch bestehen.

1. Schuljahr 3. Schuljahr

ANA 39 145

TINA 191 241

Tab. 13.2: Zuwachs der types pro Interview

13.2.1 Tina

Zweitsprache Deutsch

Tina war zu Schuleintritt bereits in der Lage, problemlos zu kommunizieren; Schwierigkeiten machtensich jedoch noch bei anspruchsvolleren Inhalten, wie beispielsweise bei komplizierten Erklärungen(siehe Textausschnitt), bemerkbar. Das Kind verwendet bereits Adverbien und Adjektive, was auf einefortgeschrittene lexikalische Kompetenz hinweist. Morphosyntaktische Strukturen werden großteilssicher verwendet; Unsicherheiten bestehen noch bei komplexeren Strukturen. Daneben fallen gele-gentlich fehlende Funktionswörter sowie Übergeneralisierungen in der Flexion auf (z. B. gereißt ).

(17)1. Schuljahr: September

Int: Tina, ist es lustig in der Schule?Tina: . . .Int: Machts viel Spaß?Tina: Manchmal kommt der Waupi.Int: Wer kommt manchmal?Tina: Ein Waupi und der ist urkomisch.

13. Fallstudien

197

0

2

4

6

8

10

12

14

1. Jahr 3. Jahr

K11

K33

Mea

nLe

ng

tho

fU

tter

ance

(MLU

)

Fig. 13.4: Vergleich des Zuwachses der durchschnittlichen Anzahl an Wörtern

pro Äußerung bei zwei Kindern mit Erstsprache BKS

Int: Was ist das, ein Waupi?Tina: Ein ein klein ein kleiner, so ein [?] die Frau Lehrerin auf die Hand gibt und dann macht

er immer [?] lustig.Int: Der ist lustig?Tina: Ja, der gi der gibt die Kreide ins Mund.Int: Wirklich wahr?Tina: Er hat keine Hände.Int: Der hat keine Hände, und was macht er?Tina: Er tut [?] immer in den Mund und schreibt.Int: Und dann schreibt er?(. . .)Int: Hast du auch Geschwister?Tina: Ja, ich hab einen Bruder.Int: Mhm.Tina: Ein Jahr alt.Int: Ein Jahr alt.Tina: Der macht meine Puppen kaputt.Int: Der macht deine Puppen kaputt?Tina: Meine Bücher sogar.Int: Wirklich wahr? . . . Beißt er hinein oder reißt er eine Seite heraus?Tina: Der reißt eine Seite raus, jetzt er hat schon eine Seite rausge äh reißt.Int: Wirklich wahr?Tina: Jetzt kann er nimmer, jetzt hab ich sie gut versteckt.Int: Jetzt hast du sie versteckt, wo denn?Tina: Unter meinem Bett.

Bis zum Ende des dritten Schuljahres konnte das Mädchen seine Kompetenz weiter stark steigern. Sieerweist sich als kompetente Kommunikationspartnerin, die auch komplexe morphosyntaktische Struk-turen sicher verwendet. Auch das Lexikon entspricht jenem der einsprachigen Kinder mit deutscherL1.

(18)3. Schuljahr: Juni

Int: Tina, stell dir einmal vor, du hättest im Lotto ganz viel Geld gewonnen, was würdest dudann tun?

Tina: Ah, die Hälfte würde ich ins Kinderheim schicken, und dann die halbe Hälfte noch, diewürde ich auf die Bank legen.

Das Kind erzählt den Inhalt eines Films.Tina: Und bei „Schwer verliebt“, der Film war urlustig, weil ein Mann sieht dicke Frauen, die

dünn sind, und dünne, die dick sind. Und sein Freund sagt, du solltest lieber nicht mehrauf die dünnen auf die dünnen schaun, sondern mehr auf die dicken, weil die in Wirk-lichkeit dünn sind. Und da wie sie schwimmen gegangen sind, hat hat der Mann gesagt,komm schwimmen wir im Wasser, springen wir von dem Dreimeterbrett hinunter. Under springt und dann kommt die Dicke und die Dicke sagt, schau jetzt mach ich wirklicheine Surfwelle und und die springt hinein, ein Kind ist da so drinnen, baden, da und da-

Teil I – Psycholinguistische Studie

198

neben sind, ist der Mann der Vater von diesem Kind. Und sie springt hinein und da undda ist das Kind nicht mehr im Wasser, sondern am Baum oben.

Int: Ja, Wahnsinn.Tina: Wie sie reingesprungen ist und der Vater von diesem Kind sagt „Oh mein Gott, wo ist

mein Kind?“ Und das Kind ruft „Hier bin ich, Papa, Hilfe!“

Die Deutschkompetenz dieses Mädchens kann durchaus mit der einer Muttersprachlerin verglichenwerden.

Erstsprache BKS

(19)1. Schuljahr: September

Tina: Ja sam bila kući, igrala sam se sa bratom. I ja i moj brat smo se tukli i svađali.(Ich war zu Hause, ich habe mit meinem Bruder gespielt. Und ich und mein Bruder ha-ben uns geschlagen und gestritten.

Int: Zašto? (Warum?)Tina: Zato što moj brat mene napadne, ja njega i ondak i ondak on mene počne tuć pa ja njega

pa on mene pa ja njega pa pa, ondak dođe svađa pa ne možemo prestat pa ondak mamakaže: „Hej, prestanite“.(Weil mein Bruder mich angreift, ich ihn und dann und dann fängt er an mich zu schla-gen und ich ihn und er mich und ich ihn und und, dann kommt Streit auf und wir kön-nen nicht aufhören und dann sagt die Mama: „He, hört auf“.)

Tinas Antworten sind großteils ausführlich und responsiv, bei einfacher Ausdrucksweise. Das mor-phosyntaktische System ist stabil. Die Syntax ist einfach, es findet sich neben koordinativen Satzver-bindungen, die mit i oder pa (und) realisiert werden, auch ein Kausalsatz. Es kommt oft zu Wortwie-derholungen. Der Wortschatz ist im Gegensatz zum Deutschen eher einfach, dem Kindesalltag ent-nommen. Vereinzelt wurde eine wenig idiomatische Ausdrucksweise wie bei dođe svađa (kommt Streit)beobachtet.

(20)4. Schuljahr Dezember: Frog story

Tina: Bio jednom jedan mali dječak, zvao se Nikola, imo je jednog kera, zvao se Miki i malužabu koja se zvao [= zvala] Džeki. I jedno veče kad su išli spavati Nikola i Miki, Džeki jeiz stakla izašo, tamo de je bio dok su oni zaspali. I probudili se bili Nikola i Miki ipogledali su u, . . . tamo de je bio Džeki, a nije bio. Oni su cijelu sobu pretražili dok ganisu našli. Cijelu sobu, ispod krevata, u cipeli, u Džekijevoj kućici maloj i onda kad ganisu našli, su otišli na prozor. I Nikola zvao: „Džeki, Džeki, de si?“(Es war einmal ein kleiner Bub, der hieß Nikola, er hatte einen Hund, der hieß Mikiund einen kleinen Frosch, der Jacky hieß. Und eines Abends als Nikola und Mikischlafen gegangen waren, ging Jacky aus dem Glas heraus, dort wo er war, während sieeinschliefen. Und Nikola und Miki wachten auf und schauten hinein in . . ., dort woJacky war, aber er war nicht dort. Sie durchsuchten das ganze Zimmer, fanden ihn abernicht. Das ganze Zimmer, unter dem Bett, im Schuh, im kleinen Häuschen vom Jackyund dann, als sie ihn nicht fanden, gingen sie zum Fenster. Und Nikola rief: „Jacky,Jacky, wo bist du?“)

199

13. Fallstudien

Im vierten Schuljahr findet sich wie auch in der Zweitsprache eine deutliche Steigerung der sprachli-chen Kompetenz. Diese ist gekennzeichnet durch eine ausführliche Erzählweise. Neben der näherenBeschreibung und Namensnennung der Akteure, die zueinander in Beziehung gebracht werden,kommt zusätzlich auch ein Erzählelement hinzu (Es war einmal). Für die Beschreibung der Szene,wo der Frosch aus dem Glas steigt, wird das Lexem Glas fälschlicherweise in die Muttersprache über-tragen (staklo/Glas statt tegla/Glas). Eine Unsicherheit hinsichtlich dieses Lexems ist aus dem weite-ren Textverlauf ersichtlich: Hier wird statt staklo (Glas) die Umschreibung tamo de je bio (dort, wo erwar) angewendet. Für das Herausschleichen des Frosches aus dem Glas wird izaći (herausgehen) ver-wendet, was auf eine noch nicht abgeschlossene Feindifferenzierung des Lexikons deutet. Sonst istdie Verwendung der relevanten Begriffe in diesem Textbeispiel gut abgedeckt. Auffallend ist auch inder Erstsprache das Auftreten komplexerer Satzgefüge, bei geringen morphosyntaktischen Abwei-chungen. Die Zunahme an syntaktischer Komplexität ist aber auch von Inkohärenz begleitet. Zuerstheißt es:

(21)Oni su cijelu sobu pretražili dok ga nisu našli.(Sie durchsuchten das ganze Zimmer, fanden ihn aber nicht.)

und im weiterem Textverlauf

Cijelu sobu, ispod krevata, u cipeli, u Džekijevoj kućici maloj i onda kad ga nisu našli, su otišlina prozor.(Das ganze Zimmer, unter dem Bett, im Schuh, im kleinen Häuschen vom Jacky und dann, alssie ihn nicht fanden, gingen sie zum Fenster.)

14.2.2 Ana

Zweitsprache Deutsch

Die Kommunikation mit Ana beruhte zu Beginn der ersten Klasse noch auf der starken Hilfestellungder Interviewerin. Das Kind gab sehr kurze Antworten und bediente sich teils nonverbaler Strategien.Es befand sich offensichtlich noch in der Anfangsphase des Spracherwerbs, während sich Tina bereitsin einem fortgeschritteneren Stadium befand.

(22)1. Schuljahr: September

Int: Wie kommst du her in die Schule?Ana: [keine Antwort]Int: Mhm, zu Fuß oder mit der Straßenbahn?Ana: Zu zu Fuß.Int: Zu Fuß, gut. . . . Warst du vorher in einem Kindergarten?Ana: . . . Ich war in Kindergarten.Int: Ah so! Gut. . . . Sag einmal, hast du ein Zimmer für dich allein?Ana: [nickt]Int: Schon, schaut dein Zimmer so aus wie hier auf dem Bild?Ana: (schüttelt den Kopf).Int: Nicht . . . was ist anders in deinem Zimmer?

Teil I – Psycholinguistische Studie

200

Ana: . . . sauber.Int: Sauber . . . und hast du auch so ein Fenster im Zimmer?Ana: [nickt]Int: Ja, und eine Lampe auch?Ana: [nickt]Int: Schon. . . . Wohnst du in einer Wohnung oder in einem Haus?Ana: Ich habe Haus.Int: In einem Haus, gut.

Auch bei Ana zeigt sich bis zum Ende des dritten Schuljahres ein deutlicher Entwicklungsschub. DieZunahme in der syntaktischen Komplexität sowie der Ausbau des Wortschatzes manifestieren sich nunin einem gut funktionierenden Kommunikationsaustausch. Auffällig ist aber noch immer das gelegent-liche Auslassen von Funktionswörtern (z. B. Ich war Arzt), auch die Flexion bereitet noch Schwierigkei-ten. Differenzierte Beschreibungen sind auf Grund von Lücken im Wortschatz noch nicht möglich.

(23)3. Schuljahr: Juni

Int: Du warst krank, was hast du denn gehabt?Ana: Ich weiß nicht, hab vergessen.Int: Was hast du denn gemacht, wie du krank warst?Ana: Ich weiß nicht, ich bin von der Schule gekommen, da hab hab ich die Aufgabe geschrie-

ben und da hat mein Kopf wehgetan und mein Bauch, ich war Arzt und der hat gesagt,ich bin krank, aber ich weiß nicht, was ich hatte.

Int: Aha, und was hast du dann tun müssen?Ana: Im Bett gelegen.Int: Oh, du Arme.Ana: Aber ich hab dann viel gespielt.Int: Wenn du so viel Geld hättest, würdest du dann auch wo hin fahren?Ana: Ja.Int: Ja wohin denn?Ana: Jugoslawien?Int: Wieso denn nach Jugoslawien?Ana: Weil dort gibt es, weil bei mir in Jugoslawien gibt es viele Hunde.Int: Aha, und was würdest du dann mit den Hunden machen?Ana: Spielen.Int: Hast du einen eigenen Hund?Ana: Ja, nein.Int: Nein, mit welchen Hunden spielst du denn?Ana: Mit diese Großen spiel ich nicht, weil sie beißen, ich habe nur einen Kleinen.Int: Mhm, wie schaut der denn aus?Ana: Er ist schwarz und weiß.Int: Mhm, kannst ihn noch genauer beschreiben.Ana: Er ist so klein, ist schwarz und weiß, ähhh ist kuschelig und beißt nicht.

13. Fallstudien

201

Erstsprache Serbisch

(24)1. Schuljahr: September

Ana: Bila u park . . . pa sam vozila biciklu. (War im Park . . . und bin mit dem Fahrrad gefahren.)Int: Da li imaš veliko biciklo? (Hast du ein großes Fahrrad?)Ana: [schüttelt den Kopf, zeigt mit der Hand] Pa se šetam. (Und ich bin spazieren gegangen.)Int: S kim si išla u šetnju? (Mit wem warst du spazieren?)Ana: Sa mojim dedom. (Mit meinem Opa.)Int: Gdje ste se šetali? (Wo wart ihr spazieren?)Ana: …Int: U parku? (Im Park?)Ana: [nickt]Int: I šta si još radila? (Und was hast du noch gemacht?)Ana: Tamo u park bila moja drugarica. (Dort im Park war meine Freundin.)Int: Samo jedna? (Nur eine?)Ana: Dve, ali ona [?] morala ide kući, onda samo jednom.

(Zwei, aber sie [?] musste nach Hause gehen, dann nur eine.)Int: I šta ste radile? (Und was habt ihr gemacht?)Ana: Igrali . . ., ali i mi smo trebali da idemo kući i onda jednom stala da se igramo.

(Gespielt . . ., aber wir mussten auch nach Hause gehen und dann einmal aufhörten zumSpielen.)

Mit Ana verläuft die Kommunikation mit starker Unterstützung der Interviewerin überwiegend ver-bal und responsiv ab. Wenn man allerdings das ganze Interview berücksichtigt, lassen sich auch oftnonverbale Reaktionen und lange Pausen erkennen. Die Sätze sind einfach. Neben einer falschen Ka-susmarkierung (statt des Akkusativs biciklo wird der Dativ biciklu verwendet) findet sich auch eineKongruenzabweichung zwischen Präposition und Substantiv (anstelle des Lokativs u parku wird derNominativ/Akkusativ u park verwendet). Außerdem hat das Kind Schwierigkeiten, bei der Bildungdes Perfekts die obligatorische Angleichung des Prädikats an das Genus des Subjekts zu realisieren(Verwendung der Pluralform des Prädikats für maskuline igrali anstatt für das feminine Genus igrale).Einzelne Satzteile wie das Hilfsverb, das Reflexivpronomen se etc. werden ausgelassen. Die genann-ten morphosyntaktischen Normverstöße verursachen Schwierigkeiten auf der Verständnisebene. Imsemantisch/lexikalischen Bereich fällt auf, dass das Kind das Präfix beim Verb (anstatt prestati wirdstati für aufhören verwendet) auslässt und dadurch die Bedeutung des Wortes verändert, was zu seman-tischen Abweichungen führt.

(25)4. Schuljahr: Frog story, Dezember

Ana: Žaba, neka kuca i neki mali bata. On je spavao i kuca je isto spavala i žaba onda izašla iz. . . kak se to zove?

Int: Kako se to zove na njemačkom?Ana: Iz . . .Int: Tegla.Ana: Iz teglu [= tegle]. Oni se probudili i vidjeli da nije žaba više u teglu [= tegli]. On se obuko

i uzeo patiku i gleda unutra. I gledali preko prozora da i se derali: „Žabo, žabo, de si?“

Teil I – Psycholinguistische Studie

202

(Ana: Der Frosch, ein Hund und ein kleiner Bub. Er schlief und der Hund schlief auch undder Frosch ging dann heraus, aus . . . wie heißt das?

Int: Wie heißt das auf Deutsch?Ana: Aus . . .Int: Glas.Ana: Aus dem Glas. Sie wachten auf und sahen, dass der Frosch nicht mehr im Glas war. Er

zog sich an und nahm den Turnschuh und schaut hinein. Und sie schauten übers Fens-ter und schrien: „Frosch, Frosch, wo bist du?“)

Die Erzählweise ist durch einfach strukturierte Sätze mit häufiger Verwendung der Konjunktion und

gekennzeichnet. Auf morphosyntaktischer Ebene lassen sich noch immer Normverstöße wie falscheKasusmarkierungen, fälschlicher Gebrauch der Präpositionen sowie falsche Positionierung der Enkli-tika beobachten. Im lexikalischen Bereich zeigen sich keine großen Unterschiede zwischen den beidenKindern, wohl aber im Bereich der Textkompetenz.

13. Fallstudien

203

14. Spracherwerb in der Heimat vs. Spracherwerb in der Migration

14.1 Kontrollstudie in Lukavac

Zur Einschätzung, inwieweit die sprachliche Entwicklung der Migrantenkinder mit den Mutterspra-chen BKS altersgemäß verläuft und insbesondere, welchen Einfluss dabei die Zweitsprache auf dieweitere Entwicklung der Erstsprache hat, wurden im dritten Schuljahr deren sprachliche Leistungenmit jenen der gleichaltrigen Kinder der Kontrollgruppe in einem der Herkunftsländer der Migranten-kinder verglichen. Als Kontrollgruppe wurden zehn gleichaltrige Kinder in Lukavac (Bosnien undHerzegowina) nach dem Modell der in Wien durchgeführten Tests untersucht.

Die Kinder der Kontrollgruppe, die einen geregelten muttersprachlichen Unterricht genießen, zeigengenerell deutlich bessere Ergebnisse als die zweisprachig aufwachsenden Kinder der Testgruppe. Das Lexi-kon der Kontrollgruppe ist gut entwickelt, die Kinder bedienen sich neben der syntagmatischen auch derparadigmatischen Ebene, um die einzelnen Begriffe zu beschreiben, wie die folgenden zwei Beispiele zeigen:

(1)Knjiga je kockasta, u njoj imaju listovi i napisana slova, iz nje učimo razne stvari. Ona je na-pravljena od drveta. To je predmet za učenje a ne za igranje.(Das Buch ist würfelförmig, in ihm sind Blätter und niedergeschriebene Buchstaben, aus ihmlernen wir verschiedene Sachen. Es ist aus Holz gemacht. Es ist ein Gegenstand zum Lernenund nicht zum Spielen.)

(2)Knjiga je za čitanje priča i pjesmica. Knjige su lijepe. Izgledaju kao pravougaonik. Neke, imajuknjige za djecu i neke za starije. Knjige imaju na ćirilici i na latinici. Knjige imaju korice i listove.Unutra imaju u nekoj knjizi slike a u nekoj nemaju.(Das Buch ist zum Lesen von Erzählungen und Gedichten. Die Bücher sind schön. Sie sehenwie ein Rechteck aus. Einige Bücher gibt es für Kinder und einige für Erwachsene. Es gibt Bü-cher mit kyrillischer und lateinischer Schrift. Die Bücher haben Deckel und Blätter. Drinnensind in einem Buch Bilder, in einem anderen keine.)

Ihr Wortschatz ist altersgemäß ausgeprägt und das morphosyntaktische Regelsystem relativ stabil. So-fern Abweichungen auftreten, finden sich diese im morphosyntaktischen Bereich, wo die Kinder derTestgruppe erhebliche Schwierigkeiten hatten. Um die gute inhaltliche und sprachliche Textverknüp-fung der Kontrollgruppe bei der schriftlichen und mündlichen Textproduktion zu verdeutlichen, erfol-gen zwei Beispiele, welche sich durch komplexen Satzbau, gute Ausdrucksfähigkeit und phantasievolleBeschreibung bei korrekter Morphosyntax auszeichnen:

(3)Bilo je sunčano popodne. Mačak je krenuo u lov. Odjednom naiđe na pticu koja se odmarala nadrvetu. On se polako pope na granu na kojoj se odmarala ptica. Odjednom mačak skoči, pticase prepade i odleti. A mačak pade u more. Budući da je znao plivat [= plivati] on se izvuče izmora i pobježe kući, od tada više nikad nije lovio ptice niti je kad lovio kod mora.(Es war ein sonniger Nachmittag. Der Kater machte sich auf die Jagd. Plötzlich traf er einenVogel, der sich auf einem Baum ausruhte. Langsam kletterte er auf den Ast, auf dem sich derVogel ausruhte. Plötzlich sprang er, der Vogel erschrak und flog davon. Und der Kater fiel insMeer. Da er schwimmen konnte, kroch er aus dem Meer hinaus und rannte nach Hause, seit-dem jagte er weder Vögel noch jagte er am Meer.)

204

(4)Preko vikenda mi je došla rodica. S njom sam se malo igrala, ona mi je zadavala zadatke da bivježbala. Vrijeme je bilo sunčano pa smo se igrali na polju. Kad je rodica otišla mama mi je za-dala još više zadataka da bi u ponedeljak dobila pet.(Übers Wochenende ist meine Kusine zu mir gekommen. Mit ihr hab ich ein bisschen gespielt,sie hat mir Aufgaben gestellt, um zu üben. Das Wetter war sonnig und so haben wir draußen ge-spielt. Als die Kusine weggegangen ist, hat mir die Mama noch mehr Aufgaben gestellt, damitich am Montag einen Fünfer31 bekomme.)

Der Vergleich sämtlicher getesteter Bereiche zeigt im Unterschied zu den in Wien lebenden Kindernder Testgruppe, dass die sprachliche Kompetenz der Kinder der Kontrollgruppe aus Lukavac ihrem al-tersgemäßen Entwicklungsstand entspricht. Dies bedeutet, dass sie in ihrem muttersprachlichen Sys-tem bereits die stabile Endphase der Entwicklung erreicht haben, während unsere Testkinder in Öster-reich große Lücken im L1-Lexikon aufweisen, morphosyntaktisch noch stark fluktuieren und ihre Be-mühungen um syntaktische Komplexität von großer Unsicherheit begleitet sind. Der Vorsprung derKinder der Kontrollgruppe in ihrer Sprachentwicklung erklärt sich u. a. durch den geregelten mutter-sprachlichen Schulunterricht, wobei die Schriftsprache und der literarische Ausdruck an Schulen imehemaligen Jugoslawien speziell gefördert werden.

14.2 Kontrollstudie in Ankara

Um Vergleichswerte für die auffälligen Ergebnisse der Tests der türkischsprachigen Kinder in Wien zubekommen, wurde im dritten Schuljahr eine Kontrollgruppe in der Türkei getestet. Es wurde besonde-rer Wert darauf gelegt, in der Türkei Kinder aus der gleichen sozialen Schicht wie die gleichaltrigen tür-kischen Kinder in Wien zu testen.

Die Schule der Kontrollgruppe „Ibrahim Akoğlu İlkokulu“ befindet sich in einem Vorort von Ankara(Keçiören). Die BewohnerInnen dieses Bezirks sind zum größten Teil aus den ländlichen Gebieten derTüreki eingewandert und leben in armen Verhältnissen. In dieser Schule wird, wie in der Türkei üblich, einTeil der Kinder am Nachmittag, ein anderer Teil am Vormittag unterrichtet. Bei der Gruppenbildungwurde Wert darauf gelegt, Kinder aus verschiedenen Klassen und aus unterschiedlichen Leistungsgrup-pen in die Testgruppe aufzunehmen. Es wurden aus drei Klassen insgesamt zehn Kinder getestet. Die fol-genden Tests wurden von dem Beratungslehrer der Schule und Sema Ulukan durchgeführt.

Von dem türkischen Beratungslehrer wurden Informationen bezüglich der familiären und sozio-kulturellen Hintergründe dieser Kinder eingeholt. Demnach kennen 95% der Kinder in dieser Schulekeinen Kino- bzw. Theaterbesuch. Durchschnittlich 75% der Väter gaben als Beruf „Freischaffender“an, d. h. sie sind arbeitslos. Drei der Familien gaben als Einkommen 100 bis 200 Euro an, die restlichenvermieden solche Angaben. Der Bildungsstand der Eltern dieser zehn interviewten Kinder ist folgen-der: Acht der Mütter haben einen Volksschulabschluss, zwei eine Gymnasiumsabschluss; drei der Vä-ter sind Volksschulabsolventen, zwei Hauptschulabsolventen, vier Väter haben das Gymnasium abge-schlossen und ein Vater ist Akademiker.

Durch diese genannten soziokulturellen Hintergründe besteht eine gute Vergleichbarkeit beiderGruppen.

Im Folgenden werden die Testergebnisse der Kontrollgruppe mit den Ergebnissen der türkisch-sprachigen Testgruppe in Wien verglichen.

14. Spracherwerb in der Heimat vs. Spracherwerb in der Migration

205

31 Entspricht der Note 1 (Sehr gut) in Österreich.

14.2.1 Lexikon

Wortdefinition

Im Bereich Lexikon wurden – wie in 8.1 erwähnt – Wortdefinitionen getestet. Die Kinder erhielten dieAufgabe, die Begriffe ağaç (Baum) und bıçak (Messer) zu beschreiben. Bei dieser Testmethode wurdedie unterschiedliche Textkompetenz der Kinder besonders deutlich. Kein einziges Kind aus der Test-gruppe in Wien konnte den Überbegriff liefern, während 75% der Kontrollgruppenkinder die Super-ordinate nennen konnten:

(5)Ağaç dünyaya oksijen veren, canlı, güzel bir bitkidir.(Der Baum ist eine lebendige, schöne Pflanze, die der Welt Sauerstoff schenkt.)

(6)Bıçak birşeyi kesme aletidir.(Das Messer ist ein Schneidegerät für irgendwas.)

Vielen Kindern der Testgruppe fiel es nicht leicht, die Teile des Baumes zu nennen. Die Verwechslungdes Begriffs dal (Ast) mit değnek (Stock) bzw. odun (Holz) ist für diese Gruppe charakteristisch. Die Kin-der der Kontrollgruppe konnten deutlich mehr Teile des Baumes benennen:

(7)Ağacın yaprakları vardır, gövdesi vardır ağacın, kökü vardır, dalları vardır.(Der Baum hat Blätter, einen Stamm, Wurzeln. Der Baum hat Äste.)

Die Antworten der Kontrollgruppenkinder waren oft kürzer und sachlicher, was auch dran liegen mag,dass die Interviews von dem Beratungslehrer der Schule in einer sachlichen Frage-Antwort-Atmo-sphäre durchgeführt wurden. Während die Kontrollgruppenkinder in Ankara sich öfter verschiedenerÜber- und Unterbegriffe bedienten und einzelne Teile des Objekts (z. B. die Teile des Baumes) genauerbeschreiben konnten, fällt auf, dass die Testgruppenkinder in Wien einzelne Merkmale des Objekts(wie die Größe, Farbe) besser und umfangreicher beschreiben konnten.

Antonyme

Im Bereich der Antonyme wurde bei folgenden Adjektiven nach der Bildung der Gegensatzpaare ge-fragt: çalışkan (fleißig), iyi (gut), boş (leer/frei), ıslak (nass), tatlı (süß/wohlschmeckend). Einige Kinderaus der Kontrollgruppe, denen kein passendes Antonym einfiel, bedienten sich anderer linguistischer

Teil I – Psycholinguistische Studie

206

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Testgruppe Kontrollgruppe

keineÄußerung

syntagmatischeAntwort

semantischähnl. Antwort

externeNegation

Wortkreation

richtigesAntonym

Pro

zen

tuel

leM

itte

lwer

te

Fig. 14.1: Antonyme: Vergleich Test- und Kontrollgruppe, 3. Schuljahr

Mittel, um den Gegensatz auszudrücken. Bei 12% der Antworten kam die Verneinung mit dem negati-ven Partikel değil .

Fig. 14.1 zeigt, wie leicht bzw. schwer es den Kindern fiel, ein Gegensatzpaar zu finden. Das Dia-gramm verdeutlicht den Unterschied im lexikalischen Bereich zwischen Test- und Kontrollgruppen-kindern. Alle Kontrollgruppenkinder konnten ein passendes Antonym als Antwort geben. So erreich-ten sie bei allen gefragten Adjektiven einen Wert von 100%, der zeigt, dass der Erwerb der Antonymebei dieser Gruppe schon abgeschlossen ist.

14.2.2 Morphosyntax

Im Bereich der Morphosyntax wurden im dritten Schuljahr Sprachaufmerksamkeit, Kausal- und Tem-poralsätze und Kausativkonstruktionen getestet. Bei der Sprachaufmerksamkeit sollten fünf unter-schiedlich komplizierte Sätze, in denen morphologische Fehler vorkamen, korrigiert werden. Währenddie türkischsprachigen Kinder in Wien Probleme hatten, auch sehr einfache Fehler zu korrigieren, hat-ten die Kinder der Kontrollgruppe keine großen Schwierigkeiten, diese Aufgabe zu bewältigen.Durchschnittlich erreichten die Kontrollgruppenkinder 84%, die Testgruppenkinder hingegen 56%.

Bei den Kausativstrukturen wurden den Kindern zwei Sätze vorgesprochen. Anschließend wurdemit Fragen überprüft, ob die Kinder die Strukturen verstanden haben, z. B.:

Ayşe Ahmet’ten sinemaya gitmek için izin istiyor.(Ayşe bittet Ahmet um Erlaubnis, ins Kino zu gehen.)

Kim sinemaya gitmek istiyor? (Wer möchte ins Kino gehen?): Subjektkontrolle

Şenay Zuhal’in pasta yemesine izin veriyor. (Şenay erlaubt Zuhal, den Kuchen zu essen.)

Kim pastayı yiyebilir? (Wer darf den Kuchen essen?): Objektkontrolle

Die Testgruppe erreichte in beiden Bereichen ähnliche Werte: 78% (Subjektkontrolle) und 75% (Ob-jektkontrolle). In der Kontrollgruppe hingegen konnten alle Kinder die Frage zur Subjektkontrolleund 80% der Kinder die Frage zur Objektkontrolle richtig lösen.

In der Morphosyntax wurden im Februar des dritten Jahres Kausal- und Temporalsätze getestet.Dieser Test wurde im vierten Jahr mit der Testgruppe in Wien wiederholt (siehe Kapitel 8.2.6). Dasfolgende Diagramm verdeutlicht die Ergebnisse beider Gruppen und die Entwicklung der Testgruppeim vierten Jahr. [Fig. 14.2]

14. Spracherwerb in der Heimat vs. Spracherwerb in der Migration

207

0

20

40

60

80

100

Satz 1 Satz 2 Satz 3 Satz 4

Testgruppe3. Schuljahr

Testgruppe4. Schuljahr

Kontrollgruppe3. Schuljahr

Pro

zen

tuel

leM

itte

lwer

te

Fig. 14.2: Kausal- und Temporalsätze:

Vergleich Testgruppe 3. und 4. Schuljahr, Kontrollgruppe 3. Schuljahr

Die Sätze wurden im Kapitel 8.2.6 genau angeführt.

Im dritten Schuljahr sind die Unterschiede der erzielten Werte zwischen den beiden türkischsprachi-gen Gruppen in Wien und in Ankara sehr groß. Obwohl die Testgruppenkinder in diesem morphosyntak-tischen Bereich vom dritten zum vierten Schuljahr zum Teil große Fortschritte verzeichnen konnten,konnten sie die Kompetenz der Kontrollgruppenkinder vom dritten Schuljahr nicht erreichen.

Den ersten, dritten und vierten Satz konnten alle Kinder aus der Kontrollgruppe bilden. Der relativschwierige zweite Satz konnte von 80% der Kontrollgruppenkinder ohne bzw. mit leichter Sinnverän-derung korrekt gebildet werden. Dieser Prozentsatz betrug bei der Testgruppe im dritten Schuljahr45%, im vierten Schuljahr 76%.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Kontrollgruppenkinder im dritten Schuljahr im Be-reich des Lexikons und der Morphosyntax eine höhere Sprachkompetenz aufwiesen, als die Testgrup-penkinder im vierten Schuljahr erreichen konnten.

14.2.3 Textverständnis

Um das Textverständnis zu testen, wurde den Kindern im Oktober des dritten Schuljahres ein kurzerText vorgelegt. Die Aufgabe bestand darin, den Text einmal zu lesen und danach die vier gestelltenFragen zu beantworten. Zu dem Text gehörte auch ein Bild, auf dem Holzhütten auf Holzpfählen undBoote im Wasser abgebildet sind (siehe Kapitel 9.2.1.2). Es wurde versucht, den Schwierigkeitsgrad desTextes an den deutschen Text anzugleichen, um Vergleichswerte zu erhalten.

Die Kinder der Kontrollgruppe hatten mit dem Lesen des Textes erwartungsgemäß keine Pro-bleme. Aus dem Vergleich der Antworten der beiden Probandengruppen in Wien und in Ankara gehthervor, dass der Erwerb einiger Wortfelder bei den türkischsprachigen Kindern in Wien noch nicht ab-geschlossen ist. Während die meisten Kinder in Wien die Ortsangabe, wo Nataki lebt (am Fluss), nichtangeben konnten, gaben 70% der Kinder der Kontrollgruppe die Ortsangabe am Fluss korrekt wieder.50% der Kinder aus Ankara verwendeten die Ausdrücke direk (Pfahl) bzw. tahta direk (Holzpfahl), dieim Wortschatz der Testgruppenkinder nicht zu existieren scheinen.

Fig. 14.3 zeigt die Ergebnisse des Textverständnisses beider türkischsprachiger Gruppen und dieder Kinder mit deutscher L1 im Vergleich: [Fig. 14.3]

Wie aus aus dem Diagramm ersichtlich ist, konnten die türkischsprachigen Kinder in Wien vom drittenauf das vierte Jahr ihr Leseverständnis steigern, sodass sie im vierten Jahr in die Nähe der Werte derKinder mit deutscher L1 vom dritten Jahr aufrückten, während sie hinter den Kindern in Ankara zu-rück blieben. Somit zeigte die Kontrollgruppe eine gute Kompetenz beim Lesen und beim Filtern vonInformationen aus Sachtexten.

Teil I – Psycholinguistische Studie

208

01020304050607080

L1 TürkischWien, 3. Schuljahr

L1 TürkischWien, 4. Schuljahr

L1 TürkischAnkara, 3. Schuljahr

L1 Deutsch3. SchuljahrPr

oze

ntu

elle

Mit

telw

erte

Fig. 14.3: Textverständnis im Vergleich:

L1 Türkisch in Wien, 3. und 4. Schuljahr; L1Türkisch in Ankara, 3. Schuljahr;

L1 Deutsch, 3. Schuljahr

14.2.4 Schriftliche Textkompetenz

Im zweiten Schuljahr wurde die schriftliche Textkompetenz der türkischsprachigen Wiener Kinder miteiner Bildgeschichte getestet (siehe Kapitel 9.1). Da es von Interesse war, die Ergebnisse der Test-gruppe mit jenen der Kontrollgruppe in Ankara zu vergleichen, kam dieselbe Geschichte im drittenSchuljahr noch einmal zum Einsatz.

Mit der Rechtschreibung hatten die Kinder aus der Kontrollgruppe keine Probleme. Im Vergleichzur Testgruppe produzierten die Kinder aus Ankara merklich kohärentere Texte, in welchen auch er-zählerische Elemente stark vertreten waren. Auch bei der Kohäsion ist der Unterschied zwischen denbeiden Gruppen sehr deutlich. Die Kinder aus Ankara konnten stärker verknüpfte Texte produzieren.Auffallend sind die Kürze der Texte und – dadurch bedingt – der Mangel an Erzählschritten. Die Kin-der schrieben die Texte außerhalb des Unterrichts, dadurch mag ein gewisser Zeitdruck entstandensein. Außerdem erhielten diese Kinder die Aufgabenstellung nicht von dem Klassenlehrer bzw. derKlassenlehrerin, für den/die die Kinder erwartungsgemäß das Beste schreiben wollen, auch mit demGedanken, gut benotet zu werden. Bei der Quantität und Qualität der Texte dürfte dieser Motivations-faktor eine Rolle gespielt haben.

Erzählstruktur und Kohärenz

Die folgende Tabelle gibt detaillierte Auskünfte über die Kategorien und die Zuordnung der Kinderim Bereich der Kohärenz:

Kategorien 0 1 2 3 4 5 6 7

punktuelle

Beschrei-

bung

Sequen-

zen

Ketten

ohne

Erzählkern

einfacher

Text ohne

Erzählkern

Ketten

mit

Erzählkern

einfache

Erzählung

mit

Erzählkern

Erzählung mit

geringfügiger

Kohärenzstörung

kohärente

Erzäh-

lung

L1 Türkisch

Wien

2. Schuljahr

17% 26% – – 43% 9% 4% –

L1 Türkisch

Wien

4. Schuljahr

– – 10% 52% 5% 24% 5% 5%

L1 Türkisch

Ankara

3. Schuljahr

– – – 40% 20% 20% 20% –

Tab. 14.1: Erzählstruktur und Kohärenz im Vergleich:

L1 Türkisch in Wien, 2. und 4. Schuljahr; L1 Türkisch in Ankara, 3. Schuljahr

In den ersten drei Kategorien ist kein Kind aus der Kontrollgruppe in Ankara vertreten, während sichinsgesamt 43% der Kinder aus der Testgruppe in Wien im zweiten Jahr in den ersten zwei Kategorienbefanden. In vielen Erzählungen aus Ankara fällt die bildhafte Beschreibung des Handlungsschauplat-zes auf. Die Kinder erwähnten jedoch den Erzählkern nicht, d. h. dass die Katze den Vogel fressenwollte. So beginnt die Einstufung der Kontrollgruppenkinder in Ankara mit der Kategorie 4 (einfacher

Text ohne Erzählkern).

(8)Serçecik dalda ötüyordu. Kedi ağacın arkasından sessizce yaklaşıyor. Ağaca çıktığını anlayan ser-çe havalandı. Kediyi derenin yanına getirerek kediyi atlattı.

14. Spracherwerb in der Heimat vs. Spracherwerb in der Migration

209

(Das kleine Spätzchen zwitscherte auf dem Ast. Die Katze näherte sich leise von hinten demBaum. Der Spatz, der gemerkt hatte, dass [sie] auf den Baum klettert, flog weg. Er lockte dieKatze in die Nähe des Baches und so überlistete er sie.)

Mit dem Begriff serçecik (Spätzchen) wird eine liebliche Darstellung vom Vogel erzeugt und mit Kedi

ağacın arkasından sessizce yaklaşıyor . (Die Katze näherte sich leise dem Baum von hinten.) wird die Ab-sicht der Katze angedeutet. So hat der Text spannungssteigernde und erzählerische Elemente. Der Er-zählkern wird jedoch nicht erwähnt.

Der Anteil der Kinder aus der Testgruppe ist in der Kategorie Ketten mit Erzählkern am größten. Indiesen Texten werden die Ereignisse, die die Protagonisten erleben, erwähnt, sie beinhalten jeodchkeine erzählerischen Elemente und es fehlen die Querverweise. Der Unterschied zu den Texten derKontrollgruppe besteht darin, dass letztere eine morphosyntaktische Sicherheit und eine korrekteRechtschreibung aufweisen.

In der Kategorie Einfacher Text mit Erzählkern, in der nur wenige erzählerische Elemente vorkom-men, sind beide Gruppen jeweils mit zwei Kindern vertreten (Ankara: 20% und Wien: 9%). Im viertenSchuljahr konnten die Testgruppenkinder in Wien durch ihre starke Kompetenzsteigerung in diesemBereich zu 24% einfache Erzählungen produzieren.

In der Kategorie Erzählung mit geringfügiger Kohärenzstörung sind verschiedene Elemente miteinanderund mit dem Erzählkern verknüpft. Es kommen jedoch Kohärenzstörungen vor. Zwei Kontrollgrup-penkinder konnten solche Texte produzieren. Die Testgruppenkinder aus Wien sind in beiden Schul-jahren jeweils mit einem Kind vertreten.

(9)L1 Türkisch Ankara, 3. SchuljahrSerçecik yaşlı ağacın dalında ötüyordu. Kedisürünerek serçeye yaklaşıyordu. Kedi pençeleriniaçarak serçeyi hedefledi. Öyle atladı ki serçe bileuçarak zor kaçtı. Kedinin ayağı boşluğa geldi vegöle düştü. Hayin kedi azgın suları yutarak öldü.

(10)L1 Türkisch Wien, 2. SchuljahrKedi ile KuşBir varmiş bir yokmuş. Birgün Kedi Kusa bakipbide yeçekti. Kedi aça çikip Kuşun üserine sipladiama Kuş uçtu. Kedi’de sinirlendi. Hopala Kedisuya sipladi Kuş’da dediki: Sen yüsmesinibiliyormusun. Hayir!

(Das kleine Spätzchen zwitscherte auf dem Astdes alten Baumes. Die Katze näherte sichschleichend dem Spatz. Sie öffnete ihre Krallenund zielte auf den Spatz. Sie sprang so, dasssogar der Spatz sich schwer fliegend rettete. IhrePfoten griffen ins Leere und sie fiel in den See.Die gemeine Katze starb und sie schluckte daswilde Wasser.)

(Die Katze und der VogelEs war einmal es war keinmal. Eines Tages sahdie Katze den Vogel und wollte ihn fressen. DieKatze kletterte auf den Baum und sprang aufden Vogel aber der Vogel flog weg. Die Katzewurde böse. Hoppala! Die Katze sprang insWasser. Und der Vogel fragte: Kannst du dennnicht schwimmen? Nein!)

Bei Text (9) fallen im Vergleich zu den anderen türkischen Kindern in Wien geringfügigere Schreibfeh-ler auf. Die Wörter sind erkennbar, beinhalten jedoch einige graphemische Fehler (durch den Einflussder deutschen Sprache). Der Text enthält den Ausruf hopala (hoppala) sowie einen Schluss. Die Verbin-dung zwischen Konverb und finitem Verb beschreibt die Art und Weise näher, in der die Handlung ab-läuft, und verleiht dem Satz eine bildhafte Darstellung. In dem kurzen Text aus Ankara (8) kommt dieVerwendung dieser Verbindungen viermal vor. Allerdings wird nicht erwähnt, dass der Baum nebendem Teich steht, was das Verständnis geringfügig beeinträchtigt.

Teil I – Psycholinguistische Studie

210

Kohäsion

Die folgende Tabelle gibt detaillierte Auskünfte über die Kategorien und die Zuordnung der Kinderim Bereich der Kohäsion:

Kategorien

Testgruppe

2. Jahr

Anzahl der

Kinder

Testgruppe

4. Jahr

Anzahl der

Kinder

Kontroll-

gruppe

Anzahl der

Kinder

0 keine Produktion/ nicht identifizierbare Wörter 5 – –

1 Wortwiederholungen, keine bzw. nur vereinzelte

Konjunktionen, verschiedene Zeitformen, Fehlen von

Satzteilen

14 – –

2 Auftauchen einzelner Pronomen, Gerundien (-ken) und

Nebensätze2 4 2

3 erste andere Konjunktionen außer Verwendung von

Adjektiven, Antonymen; Gerundien und Nebensätze

kommen häufiger vor

2 17 5

4 alternative Konjunktionen kommen häufiger vor,

Personal- und Demonstrativpronomen nehmen

deutlich zu, Verwendung einer bestimmten Zeitform

– 1 3

Tab. 14.2: Kohäsion im Vergleich: L1 Türkisch in Wien, 2. und 4. Schuljahr; L1 Türkisch in Ankara, 3. Schuljahr

Im zweiten Schuljahr befanden sich 19 von 23 Kindern aus der Testgruppe, aber kein einziges Kindaus der Kontrollgruppe auf den ersten beiden Stufen. Im vierten Schulahr erreichten auch die Wie-ner Kinder zumindest Stufe 2 und mehrheitlich Stufe 3. Die Kinder aus Ankara konnten durch denEinsatz von Verbindungen zwischen Konverb und finitem Verb kohärentere Texte produzieren, waseinem Großteil der Wiener Kinder ein Jahr später ebenfalls gelang.

Erzähllänge

Der längste Text stammt von einem Kind der Kontrollgruppe und umfasst 58 Wörter. Die meistenTexte bestehen aus durchschnittlich 35 Wörtern. Im Vergleich zu der Testgruppe sind die Texte derKontrollgruppe zwar länger, aber kürzer als erwartet. Wenn man bedenkt, dass diese Kinder in ihremSchulalltag ständig mit Textproduktion konfrontiert sind, fällt die relativ niedrige Zahl der Wörter be-sonders auf. Als mögliche Ursachen könnten daher wie erwähnt auch Motivationsmangel und Zeit-druck in Betracht kommen.

In den Texten der Kontrollgruppenkinder aus Ankara kommen komplexe morphosyntaktischeKonstruktionen vor, was ihre Kompetenz in der L1 verdeutlicht. Durch die Kürze der schriftlichen Er-zählungen jedoch fehlen wichtige Bestandteile einer gelungenen Erzählung, wodurch ihre Probleme inder schriftlichen Textkompetenz deutlich werden, auch wenn vermutlich Motivationsfaktoren eineRolle gespielt haben. Die gleichen Probleme bei der schriftlichen Textkompetenz hatten diese Kinderauch bei einer anderen Aufgabenstellung, bei der sie ein Wochenende beschreiben sollten.

14. Spracherwerb in der Heimat vs. Spracherwerb in der Migration

211

14.2.5 Spontansprache

Der Spontansprachtest wurde im dritten Schuljahr im Februar und im Juni durchgeführt. Die Themenwaren im Februar das Opferfest und im Juni der bevorstehende Urlaub.

Ein auffälliger Unterschied zwischen den zwei Gruppen zeigt sich im Gebrauch der Genitivkon-struktionen und Verbaladverbien. Während alle Kontrollgruppenkinder aus Ankara solche Konstruk-tionen verwenden, sind sie im dritten Schuljahr bei der Testgruppe nur selten anzutreffen.

Die Interviews in Ankara wurden am letzten Schultag während des Abschlussfestes aufgezeichnet.Höchstwahrscheinlich haben dadurch bedingte Konzentrationsmängel zu vermehrten Fehlern ge-führt, vor allem bei komplexen morphosyntaktischen Konstruktionen. Solche Fehler fanden sich be-sonders in der Testphase im Juni, wie das folgende Beispiel verdeutlicht:

(11)Hayalimden fazla bişey geçmiyo ama. Dediğim şeyler zaten aslında hayalimden geçen şeyler deşunlar yani. Annem bana hayalini fazla kurma dedi yoksa geleceğinde çok istediğin olur ondansonra bunları da yetiştire . . . yetiştiremezsin demişti . . .(In meiner Phantasie ist nicht sehr viel, das sind Sachen, die ich eh gesagt habe. Eigentlich dassind die Sachen, wovon ich träume. Meine Mutter sagte mir, phantasiere nicht sehr viel, sonstwerden in deiner Zukunft viele Wünsche [es fehlt: nicht ] in Erfüllung gehen und du kannst nichtalle schaffen . . .)

Das Kind meint höchstwahrscheinlich, dass die Wünsche möglicherweise nicht in Erfüllung gehen,vergisst aber, den Satz zu verneinen, wodurch der Satz widersprüchlich wird. Ondan sonra bunları da

yetiştire . . . yetiştiremezsin (Du kannst nicht alle [Wünsche] schaffen) ist eine unverständliche Äußerung.Die Kommunikationsbereitschaft der Wiener Kinder war im dritten Schuljahr nicht sehr hoch, ob-

wohl verschiedene Themen angeboten wurden. Die Kontrollgruppe hingegen zeigte eine ausgeprägteKommunikationsfähigkeit und -bereitschaft. Die Antworten sind responsiv, zum Teil auch sehr aus-führlich:

(12)Kurban bayramında kurban . . . kurbanlık kesilir. Kesmeden önce onu hare . . . hareketsiz halegetirsin. Bi bi ilahi söyledikten sonra kurbanı kesip kesersin. İlk önce boğasından keserek sonraderisini yüzersin. Derisini katlayıp kurbanı yıkarsın. Kurban bayramında şeker toplamaya gider-sin. Şekeri toplarken bazı akraba veya komşularında oturursun. Gezdiğin yerlerde kurbanlıklarkesildiğini görürsün. Bazı kuyuların açıldığını görürsün. Bazı kuyuların açıldığını görürsün. Ku-yulara da danaların geldiği geldiği yere göre olur. Böylece kan kuyunun içine giderek önünü ka-patırsın. Tam da kestiğin kurbanın ilkönce derisini yüzdükten sonra karnını kesersin. Safra kese-sini bi bi gövdesinden ayırırsın.(Zum Opferfest wird ein Opfertier geschlachtet. Bevor es geschlachtet wird, wird es in einenbewegungslosen Zustand gebracht. Erst nach dem gesprochenen Gebet schlachtest du das Op-fertier. Erst schneidest du den Hals durch, dann ziehst du das Fell ab. Du legst das Fell zusam-men und wäscht das Opfertier. Zum Opferfest gehst du Süßigkeiten sammeln. Während du Sü-ßigkeiten sammelst, setzt du dich bei manchen Verwandten oder Nachbarn hin. Überall, wo duhinkommst, siehst du, dass Opfertiere geschlachtet werden. Du siehst, dass manche Grubengegraben sind. Du siehst, dass manche Gruben ausgehoben werden. Die Gruben befinden sichimmer dort, wo die Kälber her kommen. So fließt das Blut in die Grube und du machst sie zu.Nachdem du vom geschlachteten Opfertier das Fell abgezogen hast, schneidest du den Bauchauf. Die Galle nimmst du dann aus dem Körper heraus.)

Teil I – Psycholinguistische Studie

212

Aus dem folgenden Diagramm werden die unterschiedlichen Kompetenzen in der Spontansprachezwischen den türkischsprachigen Kindern in Wien und in Ankara deutlich:

Bei Vergleich der spontansprachlichen Kompetenz der Testgruppe und der Kontrollgruppe fällt diehohe Zahl des Gebrauchs von Nebensätzen bei der Kontrollgruppe auf. Die Kinder aus Ankara ver-wendeten komplexe Satzstrukturen mehr als doppelt so oft vor wie die Kinder aus Wien. Sie bauten inihre Äußerungen sehr viele Nebensätze oder nebensatzäquivalente Konstruktionen ein, was ihren Be-schreibungen auch einen bildhaften Charakter verleiht. Die geringe Zahl von Ein-Wort-Antwortenund nonverbalen Äußerungen verdeutlicht die kommunikative Kompetenz.

Die großen Unterschiede in der Sprachkompetenz zwischen den türkischsprachigen Kindern inder Migration und im monolingualen Kontext wurden durch den Vergleich beider Gruppen deutlich.Obwohl die Kontrollgruppenkinder, wie eingangs erwähnt, einer benachteiligten sozialen Schicht an-gehören und daher keine idealen Spracherwerbsbedingungen genießen konnten, sind sie in vielen Be-reichen den Gleichaltrigen in der Migration weit voraus.

14. Spracherwerb in der Heimat vs. Spracherwerb in der Migration

213

0

2

4

6

8

10

Testgruppe Kontrollgruppe

Ein-Wort-Antworten

nonverbal

keine Antwort

Genitiv-verbindungen

Nebensätze

du

rch

sch

nit

tlic

he

Mit

telw

erte

Fig. 14.4: Spontansprache: Vergleich Testgruppe/Kontrollgruppe,

3. Schuljahr

15. Schlussfolgerungen

Was im September als Sprachstandserhebung bei SchulanfängerInnen startete, entwickelte sich sehrbald zu einem hoch dynamischen Wechselspiel von Systemen. Denn nicht nur innerhalb einer Sprachegibt es Wachstumsschübe, sondern auch zwischen den Sprachen. Wir haben also bei jeder der über vierJahre verteilten Testserien eine Momentaufnahme gemacht – also den Sprachstand erhoben –, aberschon während die Computercodierung und Analyse der Daten liefen, hatten sich die einzelnen Sys-teme wieder weiter bewegt. Der klare Beweis für die ständige Bewegung waren die neuen Strukturenund Elemente, mit denen die Kinder umzugehen wussten oder an deren Erwerb sie gerade arbeiteten.Auch jetzt, da wir die Untersuchung abgeschlossen haben, sind die Kinder sicher wieder ein gutesStück weiter auf dem chaotischen Pfad ihrer Sprache(n). Viele hatten bereits zum Ende der Volks-schulzeit ein stabiles Gerüst in einer oder sogar in zwei Sprachen. In diesem Fall wäre anzunehmen,dass nun Feinabstimmungen und Differenzierungen vor sich gehen. Aber auch dort, wo wir die Kin-der in einer turbulenten Phase des Spracherwerbs verlassen mussten, können wir mit großer Sicherheitannehmen, dass sie sich zur Endphase hin bewegen. Wie rasch und mit welcher Präzision dies passiert,hängt von den jeweiligen äußeren und inneren Rahmenbedingungen ab.

Wie beweglich Systeme in ihrer Wachstumsphase sind, lässt sich auch daran erkennen, dass viele For-men nur sehr kurzlebig sind. Das Gros der in diesem Bericht zitierten Beispiele konnte nur in einer be-stimmten Phase beobachtet werden, denn sie wurden mit forschreitendem Erwerb durch die korrekteForm ersetzt. Der dafür verantwortliche Mechanismus lässt sich rasch erklären: Wenn keine Verstärkungoder Bestätigung durch den Input erfolgt, wird die vorübergehende Fehlbildung obsolet. Schon dieseständigen Veränderungen und Schübe sind ein gutes Argument für Langzeitstudien, weil nur die kontinu-ierliche Beobachtung die Möglichkeit bietet zu zeigen, welchen Weg eine Sprache gegangen ist. Das hatnicht nur für die Theoriebildung Konsequenzen, sondern auch für die Diagnose und Förderung. Wie derEnde Oktober 2003 in Wien veranstaltete Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Sprachheilpä-dagogik (Thema: Sprache(n) Lernen. Chancen und Probleme bei Mehrsprachigkeit, Interkulturalität undFremdspracherwerb) gezeigt hat (ÖGS 2003), besteht durchaus interdisziplinäres Interesse daran, sichnicht nur das Resultat des Spracherwerbs anzusehen, sondern auch den Weg dorthin. Allein die Informa-tion darüber, wie es zu einer Struktur kommt, kann LehrerInnen Hilfestellung bei der gezielten Förderungeines Kindes geben. Erhöht wird der Informationswert durch die Einbeziehung von Kindern, welche diejeweilige Zweitsprache als Erstsprache erwerben und zudem – wie in diesem Projekt – durch Kontrollun-tersuchungen im Herkunftsland der (Elterm der) Migrantenkinder.

Es ist nicht opportun, hier nochmals auf die Systementwicklung einzugehen, denn dazu wurde inden einzelnen Abschnitten schon genug gesagt. Interessant erscheint uns allerdings der Hinweis, dassdie von uns untersuchten Kinder erstaunlich rasch die Klippen der jeweiligen Sprachen überwindenkonnten, oder dynamisch ausgedrückt, auf dem chaotischen Pfad vorankamen. Zumindest konntenalle ein relativ stabiles syntaktisches Grundgerüst entwickeln, ein gut sortiertes Lexikon aufbauen undmit mehr oder minder großem Erfolg neue Wörter bilden und Relationen morphologisch markieren.Wie die Fallstudien in Abschnitt 14 zeigen, gibt es Kinder, die auch schwierige Erwerbssituationen mitBravour gemeistert haben, währen andere weiterhin auf Förderung angewiesen sind. Die Daten bewei-sen auch, dass bilinguale Daten „notoriously idiosyncratic“ sind (Vihman 1999: 295). Am frappie-rendsten waren die Entwicklungsschübe jener türkischen Kinder, die trotz denkbar ungünstiger Start-bedingungen (siehe Teil II: soziolinguistische Begleitstudie) beachtenswerte Erfolge für sich verbu-chen konnten. Dass innerhalb von vier Jahren eine Beschleunigung von nahezu null auf einhun-dert Prozent kaum zu bewerkstelligen ist, sollte klar sein.

214

Wir sehen unsere Aufgabe schon damit erfüllt, dass wir nachweisen konnten, dass sich alle Kindermit teils erstaunlichem Tempo und Erfolg sprachlich und kognitiv entwickelt haben. Viele von ihnenkönnen durchaus als bilingual bezeichnet werden, wenn auch bei Migrantenkindern kaum von Bilin-gualismus per se gesprochen werden kann, der in der Literatur als „the result of the very early, simulta-neous, regular, and continued exposure to more than one language“ (de Houwer 1995: 222) definiertwird. Was zu beachten sein wird, ist die Zukunft ihrer Sprachen, denn die Kompetenz erwachsener Bi-lingualer wird bestimmt von späterem Kontakt und Training, der Unterstützung durch die Gemein-schaft und – im negativen Fall – durch den Zeitpunkt des Abbruchs der bilingualen Entwicklung. Wirergänzen diese Überlegungen durch ein Zitat, das die idealen Bedingungen für ein bilinguales Pro-gramm auf den Punkt bringt und zugleich auch die Notwendigkeit der Kontinuität betont:

For educational programs to qualify as ,bilingual‘ two conditions should be met: (a) more thanone language serves as medium of instruction, and (b) bilingualism and biliteracy are explicitgoals. In practice, however, discussions of bilingual education often relax these conditions andinclude policies considering bilingualism a transitional state. (Tracy 2001)

Und damit kommen wir zu den Rahmenbedingungen des bilingualen Spracherwerbs in der Migration,die im letzten Abschnitt nochmals praktisch orientiert aufgegriffen werden.

Während die Studie lief, sahen wir uns mit einer zunehmend großen Flut von Publikationen zu densoziokulturellen Facetten des bilingualen Spracherwerbs konfrontiert (vgl. dazu CIDREE 2002; deCillia, Krumm & Wodak 2003). Allein die unserer Begleitstudie angeschlossenen Literaturhinweisesprechen Bände für ein verstärktes Interesse am Spracherwerb in der Migration. Was sich jedoch kaumfindet, sind die mit den jeweiligen Forderungen korrelierten Erwerbsdaten. Es gibt also bislang keinenempirisch gestützten Hinweis darauf, wie sich ein bestimmtes Programm auf das Tempo oder die Prä-zision des Erwerbs auswirkt. Auch die Forderung des Europarats, jede/r EU-BürgerIn sollte drei Spra-chen beherrschen, harrt noch der Leitlinien für die praktische Umsetzung.

Viele PolitikerInnen ahnen nicht, welche (Forschungs-)Welten sich dahinter auftürmen (sollten).Wir setzen die Klammer deshalb, weil auch in der Forschung erst nach und nach das Interesse daranwächst, den frühen Fremdsprachenerwerb – oder eben auch den bilingualen Spracherwerb in der Mi-gration – interdisziplinär zu untersuchen. Das Thema ist zu sensibel, als dass LehrerInnen damit alleingelassen werden sollten. Schon ein Blick auf die involvierten Erwerbsschritte lässt die Komplexitätahnen:

• Stand der kognitiven Entwicklung

• Stand in der Entwicklung der Erstsprache (gegebenenfalls auch der jeweiligen weiteren bereits er-worbenen Sprachen bei bilingualen Kindern)

• Vergleich mit den Erwerbsstrukturen in der zu erlernenden Zweitsprache

• Wachstumsschübe im Erwerb der Zweitsprache

Auf dieser Liste fehlen noch die psychosoziale Entwicklung und der gesamte Bereich der Fremd- bzw.Zweitsprachendidaktik, denn – wie wir gezeigt haben – spielen nicht nur die Ausgangssituation, son-dern auch die Qualität und Quantität des Inputs eine entscheidende Rolle in diesem komplexen Wech-selspiel. Diese Liste ließe sich noch um zahlreiche Punkte verlängern, wenn der Fokus auch auf Staatund Gesellschaft gerichtet wird.

Zur Unterstützung von Innovation und der damit verbundenen Forschung wäre zu sagen, dass zu-mindest die Zahl der Dokumentationszentren und der Evaluierungsteams in den letzten Jahrensprunghaft angestiegen ist. Wie das österreichische Schulsystem auf die sprachliche und kulturelleVielfalt reagiert, wird umfassend von Fleck (2002; 2003) dokumentiert, eine Bestandsaufnahme der

15. Schlussfolgerungen

215

österreichischen Sprachenpolitik bieten Busch & de Cillia 2003. Das genuine Interesse des bm:bwk andiesem Thema ist auch daran erkennbar, dass es diese Studie in Auftrag gegeben hat.

Wir haben den Gesamtbericht so konzipiert, dass umfassende Informationen über die sprachlicheEntwicklung von VolksschülerInnen verfügbar sind, Empfehlungen für den Unterricht in multilingua-len Klassen formuliert werden können und ein Medium für die öffentliche Nutzung der Daten gebo-ten wird. Kurz, die Sprachprofile unserer über 100 ProbandInnen, die über vier Jahre hinweg in Inter-vallen von vier Monaten getestet wurden, haben hohen Informationswert, sowohl für die Spracher-werbsforschung als auch für den Unterricht in multilingualen Klassen.

Das letzte Wort hat der neunjährige Mehmet, der klar die Vorteile seiner Zweisprachigkeit erkannthat, sich aber für Englisch noch nicht kompetent fühlt:

Int: Du sprichst ja außer Deutsch noch eine andere Sprache, gell?Mehmet: Ja, Türkisch.Int: Noch eine Sprache?Mehmet: Nein.Int: Was ist denn das Tolle, wenn man zwei Sprachen spricht?Mehmet: Hm, dass man mit wenn wenn du in deine . . . wenn du ins Türkei gehst, kannst

du mit jeden sprechen. Und wenn du in Österreich bleibst, kannst du auch mitjeden sprechen.

Int: Super, das ist schon toll.

Teil I – Psycholinguistische Studie

216

16. Empfehlungen

„Dieses Buch handelt von einem Thema, das es eigentlich gar nicht geben

sollte. Denn in allen Fahrplänen der modernen Gesellschaft war

Multikulturalität nicht vorgesehen.“ (Cohn-Bendit/Schmid 1992: 315)

Allgemeine Empfehlungen

Druck von den LehrerInnen nehmen

Gern werden die Ursachen für große, unüberschaubare Probleme an kleinen, überschaubaren Grup-pen festgemacht. Und tatsächlich verleitet die Komplexität der Lage dazu: Aus einer Gesellschaft miteinigen Einwanderern wurde eine Einwanderungsgesellschaft, und Kinder mit einer anderen Mutter-sprache als Deutsch wurden in den Schulklassen von der Ausnahme zur Regel. Von allen Bereichenist es gerade das Schulwesen, das nicht nur flexibel auf die veränderte Lage reagieren, sondern auchund vor allem die Grundlagen für eine aus so vielen Kulturen bestehende und doch funktionierendeGesellschaft legen muss. Es überrascht also nicht, wenn sich gerade hier die ungelösten Fragenhäufen.

Überraschend ist allerdings, wie wenig man darauf vorbereitet war, die Lösungen für gesamtgesell-schaftliche Probleme auch gesamtgesellschaftlich zu suchen. Schon der tägliche politische Diskurs sug-geriert, dass deutschsprachige wie Migrantenkinder die Schule mit wesentlich besseren (Sprach)Kennt-nissen verlassen könnten, wenn nur die LehrerInnen mehr und bessere Arbeit leisteten. Nicht bedachtwird hier, dass die Probleme sich zwar in der Schule zeigen, nicht aber (oder nur zu einem kleinen Teil) inder Schule entstanden sind. Von den Lehrenden zu verlangen, sie zu lösen, hieße, von der Schule die Lö-sung gesamtgesellschaftlicher Probleme zu verlangen – und nicht nur die der österreichischen Gesell-schaft (siehe Teil II: Soziolinguistische Begleitstudie, Abschnitt 3). Solche Sichtweisen, gefährlich ein-fach, unterschätzen die Tragweite der Folgen, entheben den Rest der Gesellschaft der Verantwortungfür das Ergebnis und sind allein deshalb schon am Ergebnis mit schuld.

Ausbildung der LehrerInnen modernisieren

Die Erstausbildung der LehrerInnen an den Pädagogischen Akademien bereitet zur Zeit (zumindestteilweise) auf eine andere Realität vor als auf die, der sich LehrerInnen im Berufsalltag gegenüberse-hen: Angesichts der steigenden Zahl an Migrantenkindern (mittlerweile fast 40% an Wiener Volks-schulen, siehe Teil II: Soziolinguistische Begleitstudie, Kapitel 2.4.) mangelt es in der Erstausbildungnicht nur an verpflichtenden Lehrveranstaltungen für „Deutsch als Zweitsprache“ und „Interkulturel-les Lernen“, sondern auch grundsätzlich und ausnahmslos an Praxis. Ein vergleichsweise „risikoloses“Erproben eigener Zugänge zum mehrsprachigen Schulalltag, das nur im Rahmen der Ausbildungmöglich wäre, entfällt damit weitgehend. Erst mit dem Eintritt ins Berufsleben – wenn „Fehler“ bereitsFolgen haben und meist allein den Lehrenden angelastet werden – findet die Konfrontation mit denbesonderen Aufgaben der Schule in einer Einwanderungsgesellschaft statt. Es ist daher an den Päd-agogischen Akademien, auf die längst veränderte Lage zu reagieren, die Bewältigung der Aufgabennicht allein auf die LehrerInnen abzuschieben und die Migration nicht mehr zu handhaben, als wäresie ein früher oder später von selbst vorübergehendes Phänomen.

217

Deutsch- und Muttersprachenförderung im Kindergarten intensivieren

Der Kindergarten hilft Kindern in Bezug auf den Schuleintritt sehr, löst jedoch nicht alle Probleme. Erbeeinflusst die Deutschkompetenz vieler, aber eben nicht aller Kinder hochsignifikant positiv. DieGründe für diese Unterschiede sind nicht leicht auszumachen (siehe Teil II: Soziolinguistische Begleit-studie, Kapitel 2.4), wahrscheinlich aber im komplizierten Zusammenspiel von Mutter- und Zweitspra-che zu finden (siehe Teil II: Soziolinguistische Begleitstudie, Abschnitt 3). Bestehen bleibt in jedem Falldie Erkenntnis, dass die Sprachförderung im Kindergarten in ihrer Tragweite kaum hoch genug einzu-schätzen ist, da sie in einer für den Spracherwerb zentralen Phase geschieht. Gerade bei sprachlich„schwachen“ Kindern wäre deshalb bereits im Kindergarten eine intensive Förderung in der Mutter-sprache anzuraten, die allen wissenschaftlichen Befunden zufolge die notwendige Basis für einen erfolg-reichen Deutscherwerb sein dürfte.

Muttersprachenförderung in der Schule sichern und intensivieren

Gerade der schulische Bereich wäre dazu prädestiniert, eine Vorreiterrolle zu übernehmen, was dieUmsetzung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse betrifft. Dabei ist die Erkenntnis von der Bedeu-tung der Muttersprache für jeden weiteren Sprachlernprozess nicht einmal neu: Sie stammt aus den1970er, spätestens 1980er Jahren und hat dort, wo sie ernsthaft umgesetzt wird, größte Erfolge zuverzeichnen. Wie ernsthaft das Anliegen der Muttersprachenförderung ist, lässt sich im Übrigen ander Position derer ablesen, die diese Förderung durchführen: Dass bis heute der Großteil der mutter-sprachlichen LehrerInnen Jahr für Jahr, auch nach bereits mehrjährigem Dienstverhältnis, um dieWeiteranstellung bangen muss (siehe Teil II: Soziolinguistische Begleitstudie, Kapitel 2.5), kann so-wohl im Hinblick auf jegliche Lebensplanung als auch auf die Arbeitsbedingungen selbst nur als un-zumutbar bezeichnet werden. Dazu kommt eine insgesamt randständige Position des muttersprachli-chen Unterrichts, der nicht zu den Pflichtgegenständen gehört, nicht benotet wird und dessen Zu-standekommen jedes Jahr wieder von der Anzahl der Anmeldungen abhängig ist. Dass er dennochda, wo er abgehalten wird, deutliche Wirkung zeigt, mag auf das Engagement der LehrerInnen bzw.vielfach auch der SchuldirektorInnen zurückzuführen zu sein, ist aber vor allem fühlbares Zeichenseiner integrativen Kraft. Diese kommt mit Sicherheit allen Kindern, deutschsprachigen wie anderen,zugute und sollte in mehrfacher Hinsicht genützt werden. Die Zahl erwachsener Personen beispiels-weise, die im Berufsleben gern auf Sprachen wie Türkisch oder Bosnisch/Kroatisch/Serbisch zu-rückgreifen würden, befindet sich im Steigen, während die Zahl derer, die diese Sprachen tatsächlichkönnen, nach wie vor gering ist.

Empfehlungen an die Lehrerinnen/an die Schulleitungen

Deutsch wie eine „Fremdsprache“ unterrichten

Diese Empfehlung mag zunächst banal klingen – Deutsch ist ja Fremdsprache für die meisten Migran-tenkinder, zumindest zu Schuleintritt. Hier sind jedoch ganz allgemeine Prinzipien des Fremdspra-chenunterrichts gemeint, die vorrangig bei erwachsenen Sprachlernenden zur Anwendung kommen,sich aber auch für Kinder bewährt haben: 1. ein ausführliches mündliches Sprachtraining (besondersvor Beginn des Lesenlernens) mit sehr einfachen und deutlichen Vorgaben, und 2. ein an Sinneswahr-nehmungen reiches Sprachlernen (z. B. indem die Deutschförderung mit kreativen Fächern wie Bas-teln, Malen etc. verknüpft und auf ständiges Benennen sämtlicher Sinneseindrücke und Materialien

Teil I – Psycholinguistische Studie

218

besonderer Wert gelegt wird32). Dass die Zeit, die im Unterricht dafür zur Verfügung steht, oft sehrbegrenzt ist, ist leider Realität und ein Anlass mehr, innovative Konzepte ins Auge zu fassen bzw. vor-zuschlagen. Es würde jedenfalls eine immense Entlastung der LehrerInnen bedeuten, wenn derDeutsch-als-Zweitsprache-Unterricht einen festen Platz im schulischen Alltag hätte und nicht vonanderen Bereichen „abgezogen“ werden müsste.

Verstärkt auf die Kompetenzen der Eltern zurückgreifen

Es liegt in der Natur der Sache, dass die Zusammenarbeit mit den Eltern gerade da nicht funktioniert,wo sie am notwendigsten wäre: bei „Problemkindern“. Hier zeigen sich oft scheinbar unüberwindbareHindernisse. Ein Rollenverhalten, das mit einem missglückten „ersten Eindruck“ beginnt, kann unterUmständen ungewollt bis zum Ende der Schulzeit beibehalten werden und lässt hoffnungsvolle Per-spektiven kaum mehr entstehen. Was die neuere Pädagogik für den Umgang mit schwierigen Kindernrät, kann auch für den Umgang mit „schwierigen Eltern“ gelten: Reagieren Sie überraschend – d. h. so,wie es die Eltern sicher nicht erwarten.

Als ein Beispiel sei hier die Erfahrung eines Sonderschullehrers genannt, der in dem Bestreben,einen negativen Kreislauf zu durchbrechen, die Mutter eines verhaltensauffälligen Buben beim Eltern-abend erstmals ausschließlich mit positiven Nachrichten konfrontierte. Die Reaktion der Mutter („Ichhätte nie gedacht, dass ich auch einmal etwas Gutes über ihn höre!“) zeigt nicht nur die Erleichterung,sondern vor allem auch die Besorgnis, die die Eltern im Grunde mit dem Lehrer teilten. Dies auch of-fen zuzugeben, ist erst dann leicht, wenn die Defensive durchbrochen ist: Eltern, die keine Verteidi-gungshaltung mehr einnehmen müssen, können sehr viel unproblematischer Hilfe akzeptieren (Stadler1993: 46). Was für den Schulalltag allgemein gültig sein mag, gilt für den multikulturellen Schulalltagganz besonders. Ein negativer Einstieg kann hier schnell zustandekommen, eine Defensivhaltungrasch eingenommen werden – dies umso mehr, als gerade bei türkischen Eltern die Achtung, aber auchdie Scheu vor der Institution Schule üblicherweise groß ist. Manche Eltern, die kaum lesen und schrei-ben können, verbinden mit der Schule darüber hinaus auch noch die Angst, nicht zu genügen, nichtkompetent zu sein oder sich vielleicht gar lächerlich zu machen.

Dabei existiert gerade im Zusammenhang mit der Sprachförderung ein Gebiet, auf dem die Eltern,egal welcher Herkunft, ganz sicher kompetent sind: die Muttersprache. Der muttersprachliche Unter-richt kann, da er in viel zu geringem Ausmaß (falls überhaupt) stattfindet, bei Weitem nicht alle Lebens-bereiche abdecken oder auch nur ansprechen; es sind daher die Eltern, die oft als einzige muttersprach-liche Instanz zur Verfügung stehen. Auf diese Kompetenz zurückzugreifen bedeutet eine Ressourcezu nützen, die ansonsten brachliegt: Sehr oft ist den Eltern ja selbst nicht klar, welche wesentliche Rollesie beim Spracherwerb ihrer Kinder spielen. Gelingt es, sie von der Bedeutung der Muttersprache zuüberzeugen und sie zu „didaktischem“ Verhalten anzuregen (indem sie den Kindern z. B. allabendlichGeschichten erzählen oder Aufnahmen von muttersprachlichen Liedern, Märchen etc. vorspielen),dann sind auch die Eltern – auf dem Umweg über die Muttersprachenförderung – auf effizientesteWeise in die Deutschförderung ihrer Kinder eingebunden.

16. Empfehlungen

219

32 Mit dem Schuljahr 2003/2004 wurde an einer Wiener Volksschule mit einem hohen Anteil an nichtdeutschsprachigen Kin-dern (Volksschule Kleistgasse) ein derartiges Projekt unter dem Titel „Kinderkunstatelier“ ins Leben gerufen.

17. Glossar

Agentivderivlation – Agentivsuffix

Wortbildung durch das Anfügen von -er, z. B.: fahren → Fahrer (Es wird ein Agens kreiert.)

agglutinierende Sprache

In einer agglutinierenden Sprache wird die grammatische Funktion durch das Anbringen von Affixenkenntlich gemacht. Bedeutungseinheiten, beispielsweise Person, Zeit, Kasus, werden durch ein einzel-nes Affix (meist Suffix) ausgedrückt, z. B. im Türkischen:

Die türkische Übersetzung von in meinen Häusern erfolgt nach folgendem Muster:Über ev (Haus), evler (die Häuser), evlerim (meine Häuser) gelangt man schließlich zu evlerimde

(in meinen Häusern).

Affix (vgl. Präfix, Suffix)ein Morphem, das vor (Präfix), nach (Suffix), in (Infix) oder um (Zirkumfix) ein anderes Morphemhinzugefügt wird, z. B.:

Präfix: gehen – begehenSuffix: gehen – du gehst

Zirkumfix: gehen – gegangen

Infix: BKS: -ev-, z. B. in miš – miševi (Maus – Mäuse)

Antonym (vgl. Synonym)gegenteilige Wortbedeutungen, z. B. warm – kalt, klein – groß

Aspekt, Aspektualität, aspektbildend (vgl. Perfektivierung, perfektivierend)grammatikalische Kategorie des Verbs, die zur Darstellung eines Vorgangs dient, z. B.:

Er las das Buch. – Er las in dem Buch. – Er las das Buch zu Ende.I drink tea in the morning. (gewohnheitsmäßige Handlung)I am drinking tea. (momentane Handlung)Pila sam kavu/kafu. (Ich habe Kaffee getrunken.)Popila sam kavu/kafu. (Ich habe den Kaffee ausgetrunken.)

bilingual

zweisprachig (vgl. monolingual, multilingual)

CDS = child-directed speech (siehe syntactic baby talk)

chaotischer Pfad

Spracherwerb zeigt sich als ein sich ständig bewegendes dynamisches System, in dem Muster organi-siert und reorganisiert werden. Die Aufgabe des/der Lernenden besteht nun darin, verschiedenstesprachliche Muster zu differenzieren und ein dichtes Netzwerk von Systemen und Subsystemen zu bil-den. Dieser lange Weg kann durchaus als chaotischer Pfad bezeichnet werden.

chunks, nicht analysiert

auswendig gelernte (internalized) Sprechformeln, die imitiert werden und deren grammatikalischeStruktur nicht hinterfragt wird, z. B. Wie geht’s? Ich heiße _____. Wie spät ist es?

220

code mixing (Code-Mischung)die Verwendung zweier (oder mehrerer) Sprachen (Codes) in einem Satz, wobei die Lexeme unverän-dert übernommen werden, z. B.:

Let’s go schwimmen!I ova Eule samo je fliegela gdje Lukas ide.

code switching

die Kombination verschiedener Sprachsysteme, wobei die Lexeme dem morphosyntaktischen Regelsys-tem der jeweils anderen Sprache angepasst werden.Merkmale der turbulenten Phase im langen Prozess des Spracherwerbs, z. B.:

Kiwis, oh, hast du gebuy them?I ova Eule samo je fliegela gdje Lukas ide.

computational systems

linguistische Teilbereiche, wie Morphologie oder Syntax

crosslinguistischer Vergleich

der Vergleich von zwei oder mehreren linguistischen Systemen, z. B. Deutsch und Türkisch

Derivation

das Ableiten eines Wortes von einer Wortart in eine andere, z. B.:fahren → Fahrer (vgl. Agentivderivation) oderHaus → Häuschen (Verkleinerungsform).

Derivationsmorphem (siehe Morphem, morphologische Markierung)

display questions (vgl. referential questions)sind Fragen, deren Antwort dem Fragenden bekannt ist, z. B.: Wie viele Finger hast du auf deinerHand?Diese Art von Fragen wird dazu verwendet, schon vorhandenes Wissen zu überprüfen und wieder insGedächtnis zu rufen.

Enklitika

Klitika sind schwach- oder unbetonte Wörter, die sich an ein benachbartes (betontes) Wort „anleh-nen“. Man unterscheidet zwischen Proklitika und Enklitika. Erstere lehnen sich an das folgende Wortan, letztere an das vorangehende. Beispiele für Enklitika:

gemma für gehen wir oder hamma für haben wir

don’t für do not oder doesn’t für does not

Enkodierung

das Umsetzen einer Absicht oder eines Gedankens in eine sprachliche Struktur

Erstsprache (vgl. Fremdsprache, Zweitsprache)auch L1, Muttersprache, Familiensprache, Herkunftssprache, Primärsprache

Fehlsegmentierung (vgl. Segmentieren des Sprechflusses)falsche oder nicht vorgenommene Trennung sinntragender sprachlicher Einheiten, was dann bei denersten Versuchen freier schriftlicher Produktion sichtbar wird, z. B.:

Wen sie nicht gestörbensint danleben si noch höte.. . . runtains wassa . . .

17. Glossar

221

finites Verb

Ein finites Verb ist die konjugierte Form eines Verbs. Infinitiv: gehen, konjugierte Form, z. B.: du gehst

Flexion

Abwandlung (Beugung) der Nomina (Substantive, Adjektive, Pronomina) bzw. der Verben

Flexionsmorphem (siehe Morphem, morphologische Markierung)

Fluktuation

bezeichnet das Auf und Ab in der Kompetenz der Sprachenlernenden.

foreignizing

das Füllen lexikalischer Lücken durch Elemente der Erstsprache, die konform zum Phonemsystem derZweitsprache ausgesprochen werden, z. B.:

Tasche → *tash (dt. → engl.), Hose → *hose (dt. → engl.)

Fortisierung (vgl. Lenisierung)die stimmlose Aussprache von ursprünglich stimmhaften Konsonanten in stimmloser Umgebung, z. B.:Sie gibt (gipt) mir gern gute Ratschläge.[b] (stimmhaft) wird [p] (stimmlos) ausgesprochen, da ein stimmloser Konsonant [t] folgt.

Fortis

stimmlose Verschlusslaute [k, p, t] mit starker Behauchung im Anlaut der Wörter, z. B.:Kind, Paul, Tee

Fossilisierung

bedeutet, dass der ungesteuerte Spracherwerb ohne gesteuerte Sprachbeschulung meist nach einem Zeit-raum von etwa zwei Jahren stagniert und dass sich nicht zielsprachenadäquate Strukturen festigen, z. B.:

*Wir fahren jedes Jahr Türkei.

Fremdsprache (vgl. Erstsprache, Zweitsprache)eine Sprache, die nicht die Muttersprache einer Person ist und die man sich meist durch bewusstes Ler-nen – in der Schule oder durch Sprachkurse – aneignet

Füllsilben/Platzhalter

Das Sprachrhythmusgefühl von Kindern ist sehr ausgeprägt. Daher versuchen sie, eine lexikalische Lü-cke mittels Füllsilben zu schließen. Diese „Platzhalter“ können sich von Kind zu Kind unterscheidenund zeigen, dass Kinder schon mehr von einer Satzstruktur wissen, als sie lexikalisch umsetzen kön-nen, z. B.:

*Ich nnn haben. (nnn, weil „will“ noch nicht artikuliert werden kann)*Dede für Sessel

Gerundium

ein Verbalsubstantiv, das den direkten Handlungsvorgang bezeichnet, z. B.:das Abmessen (Gerundium) – die Abmessung (Nomen)

Teil I – Psycholinguistische Studie

222

Grammatik

Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die sich mit den sprachlichen Formen und deren Funktion imSatz, mit den Gesetzmäßigkeiten und dem Bau einer Sprache beschäftigt. Die Einteilung erfolgt in:Phonetik (Lautlehre), Morphologie (Formen- und Wortbildungslehre), Syntax (Satzlehre)

Graphem (vgl. Phonem)kleinste Einheit der geschriebenen Sprache, die die Bedeutung differenzieren kann. Bei einem Gra-phem kann es sich um einen einzelnen Buchstaben oder um eine Buchstabenkombination handeln(z. B.: sch, ch, sp).

Größe, kritische (critical mass)Um den Erwerb der Morphosyntax zu beginnen, bedarf es einer gewissen Anzahl an vorhandenenund gespeicherten Lexemen (ca. 400). Erst dann werden syntaktische Prozesse in Gang gesetzt.

Hierarchisierung des Lexikons (vgl. Subordinate und Superordinate)Einteilung von Lexemen in Über- und Unterbegriffe, z. B.:

Hypernym: Säugetier↓

Hyponym: Hund↓

Kohyponym: Dackel, Schäferhund, . . .

hybride Formen

das Kombinieren zweier Sprachen in einem Wort, z. B.:dörteckig: eine Kombination aus dem türkischen Wort dört (vier) und dem deutschen Lexem eckig

Hypernym – Hyponym (siehe Hierarchisierung des Lexikons)

idiomatisch/unidiomatisch

Eine idiomatische Verbindung bezeichnet feste Wortverbindungen, z. B.: Fahrrad fahren – to ride a bicycle.*Fahrrad reiten wäre demnach unidiomatisch.

Interferenz

Einfluss des Systems einer Einzelsprache auf das System einer anderen Einzelsprache, z. B.:Imam 7 godina. → *Ich habe 7 Jahre. oder umgekehrt:Ich bin 7 Jahre alt. → *Ja sam 7 godina.

intransitives Verb (vgl. transitives Verb)Intransitive Verben sind Verben, bei denen kein Akkusativobjekt stehen kann, z. B.:

Es regnet.Sie schlafen.Sie half dem Kind. (mit Dativobjekt)Ich bedarf deiner Hilfe. (mit Genitivobjekt)Wir warten auf den Bus. (mit Präpositionalobjekt)Die Sitzung dauert lange. (mit adverbialer Ergänzung)

kognitiv

Unter kognitiver Entwicklung versteht man die Entwicklung all jener Funktionen, die dem Erkennenund Erfassen der Gegenstände und Personen der Umgebung und der eigenen Person gelten. Zu diesenFunktionen gehören Intelligenz bzw. Denken, Wahrnehmung, Problemlösen, Gedächtnis, Sprache etc.

17. Glossar

223

Kohärenz

Darunter wird der semantische, das heißt der sinnbildende Zusammenhang der Worte in einem Text ver-standen. Die Kohärenz gibt an, in welcher Weise der Text in Rede bzw. Schrift inhaltlich zusammen-hängt oder als zusammenhängend betrachtet wird.

Kohäsion

oder Textkohäsion ist der syntaktische und stilistische Zusammenhang von Texten in Rede bzw. Schrift.Sie sichert, dass Sätze syntaktisch zusammenhängen oder als zusammenhängend betrachtet werden,im Gegensatz zu einer (grammatisch oder interaktiv) zusammenhanglosen Folge von Sätzen oderWörtern.

Kohyponym (siehe Hierarchisierung des Lexikons)

Komposition, Komposita

Wortzusammensetzung; Wortbildung durch Verbindung von zwei freien lexikalischen Morphemen zueinem Wort, z. B.: Garten + Zaun → Gartenzaun, Brief + Träger → Briefträger

Kongruenz

formale Übereinstimmung syntaktisch zusammengehöriger Konstituenten, z. B.: Subjekt und Prädi-kat: Der Bub läuft.

Konstituente

in der strukturellen Satzanalyse eine Bezeichnung für jede sprachliche Einheit (Morphem, Wort), dieTeil einer größeren sprachlichen Einheit ist. Mehrere Konstituenten bilden miteinander eine Kon-struktion, z. B., Bäume wachsen nicht in den Himmel.– Der Satz als Ganzes ist eine Konstruktion.– Jedes einzelne Element (Wort, z. B.: Bäume, oder Wortgruppe, z. B.: die Präpositionalphrase in den

Himmel) ist eine Konstituente.

kontrastive Verfahren

Vergleich und Gegenüberstellung zweier Sprachen. Dieser Vergleich kann sich auf unterschiedlicheTeildisziplinen beziehen:– phonetische Ebene: Vergleich der Lautsysteme beider Sprachen– morphologisch-syntaktische Ebene: Vergleich der Struktur beider Sprachen, z. B.: Kasussystem,

Satzstellung– pragmatische Ebene, z. B.: Höflichkeits- und Anredeformen, Vergleich des Gebrauchs von du und

Sie in den beiden Sprachen

Konverb

Nebensätze werden im Türkischen meist durch so genannte Konverben ausgedrückt, z. B.:Konuș-up dur-du.reden (Konverb) anhalten (Präteritum)Er/sie redete in einem fort.

Oda-y-ı süpür-üp temizli-yor.Zimmer (Akkusativ) wischen (Konverb) säubern (Präsens)Er/sie wischt das Zimmer sauber.

Teil I – Psycholinguistische Studie

224

Konversion (vgl. Nullderivation)ein Wechsel zwischen Wortarten, aber ohne morphologische Veränderung:

rennen (Verb) – das Rennen (Nomen); hoch (Adjektiv) – das Hoch (Nomen)

Lautmalerei (Onomatopoesie oder Onomatopoeie)die sprachliche Nachbildung von Naturlauten durch einzelne Wörter oder durch Satzfragmente, diedurch ihre Rhythmus- und Sprachstruktur lautmalerisch wirken, z. B.: Kuckuck.

Lenisierung (vgl. Fortisierung)die stimmhafte Aussprache von ursprünglich stimmlosen Konsonanten. Die Lenisierung findet nur instimmhafter Umgebung statt, also entweder zwischen Vokalen oder zwischen Vokal und stimmhaftenKonsonanten.Durch die im österreichischen Deutsch weitgehend fehlende Unterscheidung zwischen den Konso-nanten [p] und [b], [t] und [d] sowie (in geringerem Maß und nur regional) [k] und [g] hören sich dieseKonsonanten bei vielen SprecherInnen gleich an, z. B.:

Tuch – *DuchPost – *Bosteinkaufen – *eingaufen

Lenis

stimmhafte Verschlusslaute [b, d, g] mit starker Behauchung im Anlaut der Wörter, z. B.:Bad, dann, gegen

Lexem

die ungebeugte Grundform eines Wortes (z. B.: Garten) oder der Wortstamm (z. B.: geh-). Ein Lexemist ein lexikalisches Morphem und kann als lexikalische Grundeinheit angesehen werden.

Lexikon

Wortschatz einer Sprache

Makrolevel (vgl. Mikrolevel)die Quantität des Lexikons

Makroproposition (siehe Proposition)

Metasprache

das Sprechen über die Sprache

metakognitive und metasprachliche Kompetenz

die Fähigkeit, über Sprache nachzudenken bzw. sie als Gegenstand von Betrachtungen, Untersuchun-gen, Erklärungen oder Beschreibungen zu nehmen

Mikrolevel (vgl. Makrolevel)die Qualität des Lexikons

MLU (mean length of utterance)die durchschnittliche Länge der in einem Satz/in einer Äußerung verwendeten Wörter

17. Glossar

225

monolingual

einsprachig (vgl. bilingual, multilingual)

Morphem

die kleinste bedeutungstragende Einheit in einer Sprache. So besteht etwa das Wort spielen aus zweiMorphemen:

spiel- (= lexikalisches Morphem) + -en (Flexionsmorphem), spielt besteht aus spiel- und -t.

Morphem, frei bzw. lexikalisch

funktioniert als eigenes Wort, z. B.: cook

Morphem, gebunden (grammatical morpheme)bedeutungsgebender Teil eines Wortes, z. B.:

cook (lexikalisches Morphem) + -s (Pluralmorphem) → cooks

bzw. cook (lexikalisches Morphem) + -s (Flexionsmorphem, 3. Person Singular, Präsens) →(he/she) cooks

Morphologie

Formen- und Wortbildungslehre, z. B.: Mehrzahlbildung, Formen des Verbs

morphologische Markierung

– die Verknüpfung freier lexikalischer mit gebundenen grammatikalischen Morphemen– Markierung von Verben: du gehst

– Markierung von Kasus: die Tasche des Busfahrers– Markierung der Numeri: der Hase – die Hasen

morphologische (Sub)Systeme

Teilbereiche der Morphologie, z. B.: Wortbildung, Flexion

Morphosyntax

der Bereich der Grammatik, welcher die Morphologie (Formenlehre) und die Syntax (Satzlehre) um-fasst. Da die Abgrenzung zwischen Morphologie und Syntax nicht immer leicht fällt (denn Satzbauund Formen stehen in einem engen Zusammenhang), werden diese beiden Bereiche bisweilen unterder Bezeichnung Morphosyntax zusammengefasst.

multilingual

mehrsprachig (vgl. bilingual, monolingual)

natürliche Ordnung (natural order)Die natürliche Ordnung des Spracherwerbs beschreibt die Reihenfolge, in der verschiedene linguisti-sche Systeme erworben werden.

Neurolinguistik (Teil der Neurowissenschaften)Studium der Funktionen und Funktionsstörungen der physiologischen und neurologischen Organe,vor allem soweit sie das Sprachvermögen betreffen

Nominalphrase (NP)eine syntaktische Kategorie, die im Satz entweder Subjekt- oder Objektfunktion ausfüllt, aber auch Teilvon Präpositionalphrasen sein kann. NPs bestehen entweder aus einem nominalen Kern, z. B.:

Nomen (Obst), Eigennamen (Philip), Pronomen (ich, jener, der, alle),oder aus einem Gliedsatz (. . . dass du nicht lesen kannst).

Teil I – Psycholinguistische Studie

226

Non Subject Language (siehe Subject-pro-drop-Sprache)

nonverbale Strategien

z. B. nicken, anstatt eine Antwort zu geben

notoriously idiosyncratic

In der Linguistik zeichnet sich ein idiosynkratischer Begriff dadurch aus, dass er in der bezeichnetenBedeutung nur von einer einzelnen Person oder Gruppe verwendet wird und üblicherweise einer ande-ren Bedeutung zugeordnet ist. In einem anderen Verständnis ist ein Begriff (ein Wort oder einePhrase) dann idiosynkratisch, wenn er über Eigenschaften verfügt, die sich nicht aus allgemeinen Re-geln ableiten lassen und die man deshalb im Lexikon explizit vermerken muss.

Nullderivation (vgl. Konversion)Übertritt eines Wortes in eine andere Wortklasse ohne morphologische Markierung, z. B.:

essen (Verb) – das Essen (Nomen)

Nullmorphem

ein fehlendes Morphem, z. B. bei der Pluralbildung im Englischen:sheep (singular) – sheep (plural)

Orthographie (Rechtschreibung)die in bestimmten Regeln festgelegte, allgemein geltende Schreibung der Wörter

Paralexem, paralexikalisch (vgl. Segmentieren des Sprechflusses)Mehrere Wörter werden als eine Einheit wahrgenommen; die Wortgrenzen verschwimmen, z. B.:

*Upigo! für Up we go! (Das Kind will aufgehoben werden.)

Paraphrase, paraphrasieren

Mittel zur Umschreibung, Erklärung, Verdeutlichung oder Interpretation eines Sachverhalts oder Textes

Parataxe

Neben- und Beiordnung von zwei oder mehreren durch und verbundenen gleichrangigen Satzgliedernoder Sätzen, z. B.: Die Sonne scheint, und es ist warm.

Passiv, irreversibel

ein Passivsatz, bei dem das Objekt und das Subjekt nicht vertauscht werden können, z. B.:Der Vogel wird von der Katze gefressen. (*Der Katze wird von der Vogel gefressen. ist ein grammatikalischunmöglicher Satz.)

Passiv, reversibel

ein Passivsatz, bei dem das Objekt und das Subjekt vertauscht werden können, z. B.:Julia wird von Hanna angeschaut. (Hanna wird von Julia angeschaut. ist ein grammatikalisch korrekterSatz, auch wenn die Bedeutung des Satzes eine andere ist.)

Perfektivierung, perfektivierend (vgl. Aspekte)Man unterscheidet eine imperfekt-durative und eine perfektiv-terminative Aktionsart. Die perfektive Formkennzeichnet den durch das Verb bezeichneten Vorgang als Ergebnis, die imperfektive Form als Verlauf.

17. Glossar

227

imperfektiv:I have been reading the book. (Ich habe das Buch gelesen, aber bin noch nicht fertig).Učila sam njemački. (Ich habe Deutsch gelernt – und kann es immer noch nicht.)

perfektiv:I have read the book. (Ich habe das Buch ausgelesen.)Naučila sam njemački. (Ich habe Deutsch erlernt. d. h. Ich habe Deutsch gelernt – und jetztkann ich es.)

Phonem (vgl. Graphem)Bezeichnung für das kleinste Lautsegment mit bedeutungsunterscheidender Funktion, z. B.: Bad – fad:Diese beiden Wörter unterscheiden sich nur in einem einzigen Laut, nämlich [b] und [f].

Phonemalternation

Umwandlung eines Phonems in ein anderes, z. B.: bei der Pluralbildung im Englischen:foot (singular) – feet (plural)

Phonetik

Lautlehre

Plastizität, neuronale

Fähigkeit des Gehirns sich als Reaktion auf innere und äußere Veränderungen zu organisieren undreorganisieren.

Präfix (vgl. Affix, Suffix)ein dem Wortstamm vorausgehendes Affix.Wichtige Präfixe im Deutschen sind unter anderem:

an-, auf-, be-, ent-, ge-, un- (anfangen, unglücklich, enttäuschen).

Pragmalinguistik, pragmalinguistisch

die Wissenschaft von den Zusammenhängen zwischen Sprache und gesellschaftlichem Handeln

Pragmatik

untersucht die Beziehung zwischen den sprachlichen Zeichen und dem Zeichenbenutzer (= Sprecher).Sie versteht Sprechen als eine Form menschlichen Handelns im Rahmen sozialer und kommunikativerProzesse.

Pro-Formen (vgl. satzinterne Koreferenzbeziehungen)auch: Verweisformen; in der Textlinguistik: Kohäsionsmittel, mit denen auf der Textoberflächenstruk-tur Verknüpfungen zwischen einer weitgehend inhaltsleeren Pro-Form und einem Bezugselement desvorhandenen sprachlichen Kontexts hergestellt werden kann, z. B. durch:

Pronomina (z. B.: sie, ihm), Adverbien (z. B.: dort, da)Pronominaladverbien (z. B.: darauf, daran)Demonstrativpronomen (z. B.: dieser, diese)

Verweisrichtungen:a) Rückverweis (anaphorisch), Beispiele:Das ist Anna. Sie ist Schülerin. (Sie verweist zurück auf Anna.)Peter geht in die Disco. Es gefällt ihm dort.

Teil I – Psycholinguistische Studie

228

Darauf kommt es mir vor allem an.Es war einmal ein Mädchen. Das hatte einen Teddybär. Der hatte ein Ohr verloren.b) Vorverweis (kataphorisch), z. B.:Als er, der alte Mann, aus dem Zug stieg, begann es zu regnen.

Proposition

der Inhalt einer Sprechhandlung. Propositionen bilden die grundlegenden Einheiten des Gedächtnis-ses. Sie bezeichnen das, was an Wissensstrukturen zu einem bestimmten Wort im Gehirn vorhandenist. So verbindet man mit dem Wort schneiden gleichzeitig den Agenten (jemand oder etwas, der/dasschneiden kann), das Objekt (alles, was geschnitten werden kann) und das Instrument (alles, was in derLage ist, etwas zu durchtrennen).

Prosodie, prosodische Elemente/Merkmale (vgl. suprasegmental)In der Phonetik wird mit diesem Begriff die Gesamtheit aller spezifischen Eigenschaften des Sprech-akts bezeichnet, die über das wörtlich Gesagte hinausgehen. Dazu zählen Akzent im weitesten Sinne,Intonation, Quantität, Sprechrhythmus und Sprechtempo.

Protomorphem (siehe Füllsilben/Platzhalter)

Psycholinguistik

erforscht das kognitive (mentale) System, das den Sprachgebrauch ermöglicht. Hierbei stehen die Pro-zesse und Vorgänge im Mittelpunkt, die während des Sprachgebrauchs ablaufen, wobei das Hauptin-teresse den Prozessen des „primären Sprachgebrauchs“ gilt: Sprachproduktion, Sprachrezeption,Spracherwerb, . . .

referential questions (vgl. display questions)Fragen, deren Antwort dem Fragenden nicht bekannt ist, z. B.: Wo hast du deine Sommerferien ver-bracht? Solche Fragen dienen dazu, Interesse zu zeigen, und sie interessieren SchülerInnen oft mehr,da sie einen gewissen Grad an persönlicher Involvierung verlangen.

Relation, oppositionelle (vgl. Antonym)z. B.: dick – dünn, hell – dunkel stehen in oppositioneller Relation zueinander, sind also Antonyme(Gegenteile).

Relation, paradigmatische

Beziehung zwischen sprachlichen Zeichen gleicher Art bzw. Funktion. Zwei oder mehrere Wörter oderKonstituenten stehen in paradigmatischer Beziehung zueinander, wenn sie in einem Satz an derselbenStelle stehen können und damit in Opposition zueinander stehen, d. h., sich gegenseitig ausschließen.Eine paradigmatische Beziehung wird durch Austauschbarkeit definiert. In unserem Beispiel kann rennt,

schläft, sitzt . . . die Position von läuft einnehmen, aber nicht von Monika oder von im Park. D. h., läuft undrennt (. . .) stehen in paradigmatischer Beziehung zueinander, z. B.:

Monika → läuft → im → Park.↓ rennt↓ schläft↓ sitzt↓ spaziert↓ spielt

17. Glossar

229

Relation, syntagmatische

Beziehung zwischen sprachlichen Zeichen unterschiedlicher Art bzw. Funktion, z. B.: Monika → läuft →im → Park. Eine syntagmatische Beziehung wird durch Kombinierbarkeit definiert (hier: die Beziehungzwischen Monika, läuft, im und Park).

Relativsatz

Subjektfokus (eingebettet), z. B: Der Mann, der die blaue Badehose trägt, springt ins Wasser.Objektfokus (satzfinal), z. B: Ich sehe den Mann, der die blaue Badehose trägt.

(non-)responsiv

responsiv: Antworten, die auf einen Stimulus eingehen, z. B.:Interviewerin: Kannst du mir vielleicht beschreiben, wie dein Zimmer aussieht?Selma: Mein Zimmer hat ein Sessel und ein [. . .] zwei Bett, eine ist da drauf oben und

eine ist unten und dann hab ich einen Tisch zum Schreiben und dann hab ich soBlätter und Buntstifte und dann hab ich . . . Spielzeuge bisschen nur, dann.

non-responsiv: Antworten, die nicht auf den Stimulus eingehen, z. B.:Interviewerin: Worum geht es da bei dem Musical?Ali: . . . Nächstes Jahr Hauptschule geht, will man feiern.

satellite-framed (vgl. verb-framed)Ein Verb kann mit verschiedenen satellites kombiniert werden: hinunterfallen, wegfliegen, hinauslaufen,. . . Sprachen, die wie das Deutsche kompakte Richtungsbeschreibungen durch diese Satelliten vorneh-men können, werden als satellite-framed bezeichnet.

satzinterne Koreferenzbeziehungen (vgl. Pro-Formen)Referenzidentität liegt zwischen verschiedenen Nominalphrasen vor, die sich auf den gleichen außer-sprachlichen Sachverhalt beziehen. Die zueinander in Beziehung stehenden Elemente im folgendenBeispiel sind durch Ziffern gekennzeichnet:

Phillip (1) entdeckte seinen Freund (2) und begrüßte ihn (2) stürmisch. Er (1) freute sich, diesenlustigen Vogel (2) endlich wieder in seiner (1) Nähe zu haben.

Segmentieren des Sprechflusses (vgl. Fehlsegmentierung und Paralexem, paralexikalisch)Teilung des Sprechflusses (der gesprochenen Sprache) in sinntragende Einheiten. Kinder/Sprachen-lernende müssen das Gehörte verarbeiten. Dabei können die Wortgrenzen verschwimmen bzw. nichterkannt werden, z. B.:

*Upigo! für Up we go! (Das Kind will aufgehoben werden.)

Semantik

Lehre von den Bedeutungen von Wörtern, Sätzen, Texten; untersucht die Beziehung zwischen densprachlichen Zeichen und den bezeichneten Gegenständen.

semantische Felder

Wortfelder, z. B.: Tiergarten: Tiger, Löwe, Elefant, . . .

Sibilanten

Zischlaute, wie [s] [z]

Teil I – Psycholinguistische Studie

230

silent phase

die stille Phase am Anfang des Spracherwerbs. Das Kind bzw. der/die Lernende versteht mehr, als es/er/sie ausdrücken kann. Erst nach einigem Input beginnt der/die Lernende mit der Produktion vonmeist unanalysierten chunks.

Soziolinguistik, soziolinguistisch

Teilgebiet der Sprachwissenschaft, das sich mit der Verbindung von Sprache und Gesellschaft ausein-andersetzt. Ihr Gegenstand sind unter anderem die Soziolekte und die interaktive Sprachverwendungin bestimmten sozialen, hierarchie- oder verwendungsbestimmten Kontexten (z. B.: am Arbeitsplatz:Gesprächsverhalten gegenüber dem/der ChefIn, gegenüber KollegInnen, gegenüber Untergebenen).Auch die Dialektologie wird häufig zur Soziolinguistik gerechnet.

Spracherwerb – Sprachenlernen:

– Spracherwerb bedeutet den ungesteuerten Erstspracherwerb und den ungesteuerten Erwerb weitererSprachen.

– Sprachenlernen geschieht bewusst, bezieht sich also auf den gesteuerten Fremdspracherwerb.

Spracherwerbsforschung

Forschungsgegenstand der Linguistik und der Entwicklungspsychologie. Folgende Gebiete werden er-forscht:– der Prozess, mit dem Kleinkinder eine erste Sprache („Muttersprache“) oder mehrere Erstsprachen

parallel erwerben: Erstspracherwerb

– der Prozess, mit dem ältere Kinder und Erwachsene eine Fremdsprache – außerhalb des Landes, indem sie gesprochen wird (in der Schule oder in einem Sprachkurs) – erlernen: Fremdspracherwerb

– der Prozess, in dem eine Zweit- oder Drittsprache ungesteuert, d. h. in einer natürlichen Umgebung(im Land, in dem sie leben) erworben wird (z. B. von MigrantInnen): Zweitspracherwerb

Sprachfähigkeit, produktiv

Fähigkeit, eine Sprache anzuwenden

Sprachfähigkeit, rezeptiv

Fähigkeit, eine Sprache zu verstehen

sprachliche Varietäten

Subsysteme/Teile einer Sprache: Dialekte, Umgangssprache, Literatursprache, Hochsprache, Stan-dardsprache, . . .

sprachliche Zeichen

Phoneme/Laute (mündlich) oder Grapheme/Buchstaben (schriftlich)

sprachliche Zeichenfolge

sinnvolle Aneinanderreihung sprachlicher Zeichen

Sprachtypologie

System zur Klassifizierung von Sprachen anhand grammatischer Merkmale, z. B. flektierende, aggluti-nierende Sprachen

17. Glossar

231

Sprechakt

Mit diesem wird eine bestimmte Sprechabsicht (Redeabsicht) sprachlich umgesetzt, z. B. Sprechab-sicht: sich entschuldigen → mögliche Sprechakte:

– Entschuldige bitte, das war nicht so gemeint.– Entschuldigen Sie vielmals.– Das tut mir leid.– Das tut mir aber wirklich leid.– usw.

Spontansprache

In dieser Untersuchung wurden spontansprachliche Interviews durchgeführt. Dabei wird als Spontan-sprache die natürliche Sprachproduktion, also eine ganz normale Unterhaltung, verstanden. Es wurdedarauf geachtet, dass die Themen für die Kinder relevant waren, z. B. bevorstehende Ferien, Hobbys,Familie, etc.

Stammerweiterung

Pluralbildung in BKS:Im Fall von miš (Maus) wird bei der Pluralbildung der Wortstamm um die Endung -ev erweitert:

miš (singular) → miševi (plural)

Stammkürzung

Pluralbildung in BKS:Alle Nomina mit einem „flüchtigen“ -a in der letzten Stammsilbe, z. B.:

pas (Hund), verlieren dieses in den jeweiligen Pluralformen:pas (singular) → psi (plural statt *pasi)

Subject-pro-drop-Sprache (Non Subject Language)Pronomen können als Subjekte in Gegenwart voll flektierter Verba fehlen, z. B. im Italienischen:

Ho capito. statt Io ho capito. (Ich habe verstanden.)Der im Deutschen aus sechs Wörtern bestehende Satz „Der Bub kraxelte auf einen Baum.“ wird imTürkischen nur mit drei Wörtern wiedergegeben: „Çocuk ağaca tırmandı.“ Der Satz „Er kraxelte aufeinen Baum.“ wird sogar nur mit zwei Wörtern ausgedrückt: „Ağaca tırmandı.“, weil bei diesem Satzdas Pronomen entfällt. Die Endung -di bringt zum Ausdruck, wer hier klettert. Ob es sich hier um eineweibliche oder männliche Person handelt, lässt sich durch den Kontext bestimmen.

Subjekt-Verb-Inversion

Darunter versteht man die Umstellung von Subjekt und dem dazugehörigem Verb in einem Satz. Daswird im Deutschen, teilweise auch im Französischen, bei der Umformulierung eines Satzes in eineFrage gemacht.

– Subjekt-Verb-Reihenfolge: Ich gehe einkaufen.– Subjekt-Verb-Inversion: Gehst du einkaufen?

Subordinate (vgl. Superordinate und Hierarchisierung des Lexikons)Unterbegriff, z. B.: Katze ist ein Unterbegriff zu Tier oder Säugetier.

Suffigierung

ein additiver Prozess, bei dem ein Suffix an den Wortstamm angehängt wird, z. B. bei der Pluralbildungim Englischen: cat + -s (= Suffix) – cats (plural)

Teil I – Psycholinguistische Studie

232

Suffix (vgl. Affix, Präfix)ein an den Wortstamm angehängtes Affix, z. B.: Mann – männlich, faul – Faulheit

Wichtige Sufffixe im Deutschen sind z. B. -ig, -lich (zur Bildung von Adjektiven), -heit, -keit (zur Bildungvon Substantiven).

Superordinate (vgl. Subordinate und Hierarchisierung des Lexikons)Überbegriff, z. B.: Tier oder Säugetier ist ein Überbegriff zu Katze.

Suppletivismus, Suppletiv(formen)

Konjugation, Deklination, Graduierung ohne Verwendung von Affixen, sondern durch neue Wortbil-dung, z. B.:

viel – mehr – am meistenbin – war – gewesen

suprasegmental (vgl. Prosodie, prosodische Elemente/Merkmale)Suprasegmentale Merkmale (auch prosodische Merkmale) sind distinktive Merkmale, die nicht wiePhoneme einzeln segmentierbar sind, z. B.: Tonhöhe, Akzent, Intonation, Prosodie, . . .

SVO-Muster

ein Muster, nach welchem einfache Sätze in der Reihenfolge Subjekt – Verb – Objekt (SVO) gebildetwerden, z. B.: Paula kauft einen Apfel.

Synonym (vgl. Antonym)Wort mit gleicher oder annähernd gleicher Bedeutung, z. B.: antworten, entgegnen, erwidern

syntactic baby talk (auch: motherese, child-directed speech)die Vereinfachung der Sprache, wenn mit Babies gesprochen wird. Merkmale: langsamer, Wortwieder-holungen, lange Pausen, attention getting devices (Gesten, Bewegungen, Berührung, . . .)

syntaktische Strukturen

Einen Satz in einer natürlichen Sprache zu verstehen, heißt seine Bedeutung zu ermitteln. Die Bedeu-tung eines Satzes ergibt sich aus den Bedeutungen seiner Teile (Wörter, Phrasen) entsprechend seinersyntaktischen Struktur, welche den Aufbau des Satzes beschreibt. Dem Satz Alfred sieht eine alte Frau

kann man zum Beispiel folgende syntaktische Struktur geben:

Syntax

Satzlehre, untersucht die Beziehung der sprachlichen Zeichen untereinander

Taxonomie

Einteilung von Dingen in Taxa (Gruppen). In der Linguistik beschäftigt sich die Taxonomie mit derSegmentierung und Klassifikation sprachlicher Einheiten, um mit diesen ein Sprachsystem zu be-schreiben.

17. Glossar

233

Textkompetenz

ist die Fähigkeit, durch Textrezeption und Textproduktion gezielt Wissen zu verarbeiten, zu erweitern,zu vertiefen und zu verändern. Textkompetenz ist nicht nur die Summe von Lese- und Schreibkompe-tenz, sondern das Ergebnis von deren Zusammenwirken.

Textlinguistik, textlinguistisch

Die Textlinguistik beschäftigt sich mit Texten, d. h. sprachlichen Einheiten, die auch mehr als einenSatz umfassen und als zusammengehörig aufgefasst werden können. Ein Text ist dabei sowohl einmündlich vorgetragener Text als auch ein schriftlich aufgezeichneter Text. Zu den Aufgaben derTextlinguistik gehören Analyse, Klassifikation (beispielsweise nach Textsorten) und Abgrenzung vonTexten und ihrer Struktur sowie die Untersuchung der kommunikativen Funktion und Rezeption vonTexten.

transitives Verb (vgl. intransitives Verb)Transitive Verben (z. B.: lieben, essen) können ein Akkusativobjekt binden, z. B:

Ich esse einen Apfel.Der Chef beurlaubte seine Mitarbeiterin.

Der Kleine liebt den Großvater sehr.Sie schenkte dem Kind ein Bonbon.

type-token-Relation

die Relation zwischen der durchschnittlichen Wortanzahl pro Geschichte (tokens) und den unter-schiedlichen darin vorkommenden Lexemen (types)

Übergeneralisierung

In der turbulenten Phase des Spracherwerbs kommt es zu Übergeneralisierungen. Das bedeutet, dassbekannte Regeln auch dort angewendet werden, wo es grammatikalisch inkorrekt ist, z. B. -ed als Mar-kierung der past tense im Englischen:

I walk → I walked.Übergeneralisiert wird diese Endung auch bei irregulären Verben angewendet:

I go → *I goed (statt I went.)

verb-framed (vgl. satellite-framed)Im Gegensatz zu den satellite-framed Verben, die sich aus einer Richtungspräposition und dem Verbzusammensetzen (z. B.: wegfliegen), ist hier die Art der Bewegung des Verbs nicht aus dem Stamm er-sichtlich. Sie wird oft durch zusätzliche Segmente, wie etwa ein Partizip Präsens ausgedrückt.

El buho salió volando del agujero. (Die Eule verließ das Loch fliegend.)

Vermeidungsstrategie

auslassen anstatt zu umschreiben

Vokalalternation (siehe Phonemalternation)

Vokalharmonie

Im weiteren Sinn bezeichnet man mit Vokalharmonie jede Angleichung von Vokalen an den Artikula-tionsort oder die Artikulationsweise eines anderen Vokals. Es handelt sich also um einen Assimila-tionsvorgang, der die Aussprache erleichtert. Die Entstehung der deutschen Umlaute fällt in diese Ka-tegorie.

Teil I – Psycholinguistische Studie

234

Sprachen mit Vokalharmonie haben eine phonologische Regel, die verlangt, dass alle Vokale innerhalbeines Wortes zu einer bestimmten Gruppe von Vokalen gehören.Im Türkischen gibt es zum Beispiel zwei verschiedene Morpheme, um den Plural anzuzeigen, nämlich-ler und -lar. Die Wahl des Morphems hängt vom Vokal in der vorangehenden Silbe ab. So heißt es zwarev – evler (das Haus – die Häuser), aber kitap – kitaplar (das Buch – die Bücher)

Wachstumsschübe (brain spurts)im Gehirn ereignen sich vor allem in jungen Jahren. Die Zeit um das sechste Lebensjahr ist eine span-nende Phase, die ideale Voraussetzungen für die Verarbeitung neuronaler Prozesse bietet.brain spurts: 3–4, 7–8, 10–11, 15–18 Wochen

8, 12, 20 Monate4, 7, 11, 15, 19–20 Jahre

Word Definition Task:

Wortdefinitionen, anhand derer ein Einblick in die lexikalische Kompetenz gegeben werden kann,z. B.:

Was ist ein Baum?Hm , das hat so ein groß Stängl, braun und dann hat das Baum auch Blätter.Mhm, wo Vögel Nester baun können.

Zweitsprache (vgl. Erstsprache, Fremdsprache)eine Sprache, die ein Mensch neben der Muttersprache (L1) sprechen kann und die zum täglichen Ge-brauch überlebensnotwendig ist. Ist sie dies nicht, bezeichnet man die L2 als Fremdsprache.

17. Glossar

235

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gebr

auch

Testmaterial – eine Auswahl

Teil I – Psycholinguistische Studie

244

Antonyme: warm – kalt

Pluralbildung

Anhang

245

Lexikon

Steigerung: schnell – schneller – am schnellsten

Sachtexte

Sabah lebt mit ihren Eltern in der Wüste.Im Sommer ist es sehr heiß.Da wohnt die Familie in einem großen Zelt.Der Boden ist mit Teppichen und vielen Kissen bedeckt.Damit das Zelt kühl bleibt, werden die Seiten hochgeklappt.So kann der Wind durchwehen.Im Winter zieht die Familie in ein Haus aus Stein.

Teil I – Psycholinguistische Studie

246

Textverständnis: Sachtext – Deutsch

Quelle: Lesereise 2. Veritas Verlag, Linz 1999: 82

Nataki ailesiyle bir ırmağın üstünde yaşıyor.Evleri suyun içindeki tahta direkler üzerine kurulmuş.Böylece hem vahsi hayvanlardan hem de selden korunmuş oluyorlar,çünkü çok yağmur yağdığında ırmağın suyu yükseliyor.Balıkçılıkla geçiniyorlar.Tuttukları balıkların bir kısmını satıyorlar bir kısmını da kurutup saklıyorlar.Babası bazen Nataki’yi da balık tutmaya götürüyor.

(Nataki lebt mit ihrer Familie an einem Fluss.Die Häuser sind auf Pfählen gebaut.So schützen sie sich vor wilden Tieren und Überschwemmungen,weil das Wasser sehr hoch steigt, wenn es viel regnet.Sie leben vom Fischfang.Einen Teil verkaufen sie auf dem Markt, einen Teil trocknen sie.Manchmal nimmt Natakis Vater sie im Boot mit.)

Anhang

247

Textverständnis: Sachtext – Türkisch

Quelle: GEO März 2000

Bildgeschichten

Teil I – Psycholinguistische Studie

248

2. Schuljahr

Quelle: Pouke o jeziku za treći razred osnovne škole (Nikolić 1964)

4. Schuljahr

Quelle: Hast du Worte? Bildergeschichten von Rolf und Margret Rettich. Otto Maier Verlag, Ravensburg 1972

Frog, Where Are You?

erzählt von Tarik, L1 BKS, 4. Schuljahr:

Bobby und der Frosch.

Bobby hatte einen neuen Frosch bekommen. Er hatte ihn noch keinen Namen gegeben, aber erhatte darüber nachgedacht. Er und sein Hund hatten den ganzen Tag den Hund den Frosch be-trachtet. Als Bobby und sein Hund schlafen gegangen sind, haben sie vergessen, den Froschabzuschließen im im Glas. Als sie geschlafen hatten, hat in der Zeit der Frosch ist er entflohen.

Und am nächsten Morgen, als sie aufgestanden sind, die zwei, haben sie gesehen, dass derFrosch nicht mehr da war. Er und sein Hund haben ihn im ganzen Zimmer gesucht. Im Glashat der Hund gesucht. Im in den Stiefeln hatte er hat Bobby gesucht. Aber sie haben ihn nichtim Zimmer gefunden. Dann sind sie zum Fenster rausgegangen, und der Hund hatte seinenKopf im Glas eingesperrt. Und sie haben ihn gerufen, aber er ist nicht gekommen.

Dann ist der Hund aus dem Fenster gefallen und das Glas ist kaputt geworden. Und Bobby istrausgegangen und hat mit dem Hund geschimpft. Sie sind zum Wald gegangen und haben ihnauch dort gesucht, aber ohne Erfolg. Bobby hat in einem [? einen] Loch nachgeschaut, aber dahat ihn nur ein Maulwurf gebissen. Ah, der Hund hat auf einen Bienenschwarm gebellt.

Der Bienen als der Bienenschwarm runtergefallen ist, das Nest von ihnen, haben sie den Hundverfolgt. So lange hat inzwischen Bobby im Baum gesucht. Dort kam aber nur eine Eule raus.Und Bobby fiel vom Baum. Da und so lange jagte der Bienenschwarm den Hund. Die Eule ver-folgte Bobby, aber dann flog sie auf einen Baum.

Er haltete sich an einem Geweih von einem Hirsch fest. Aber er wusste es nicht. Er hatte ge-dacht, das wär ein Ast. Dann erhebte sich aber der Hirsch, und er lief weg. Der Hund bellte denHirschen an. Als der Hirsch bremste, flog Bobby und der Hund ins Wasser, von einem Hügel.Sie flogen ins Wasser, Bobby flog zuerst, und darauf auf ihn ist sein Hund runtergeflogen . . .

Der Hund stieg auf den Kopf von Bobby. Aber Bobby hebte sich aus dem Wasser. Sie gingenhinter einen großen kaputten Baum, der dort dem Wasser nah lag liegt. Der Hund schwammauch dorthin zu Bobby. Als sie nach hinter den Baum schauten, fanden sie den Frosch. DerHund und Bobby freuten sich, denn der Frosch hatte eine Familie. Dann nahmen sie einen klei-nen Frosch und gingen nach Hause, er und sein Hund.

Ende.

Anhang

249

Teil II

Soziolinguistische Begleitstudie

Soziolinguistische Begleitstudie

Katharina Brizić

unter Mitarbeit von

Thomas Köller(Statistik)

Reva Akkuș(Interviews mit den türkischsprachigen Eltern)

Leitung

Annemarie Peltzer-Karpf

Dank

Im Zuge der Recherche zu den Hintergründen des kindlichen Spracherwerbs war es notwendig, mitLehrerInnen und Eltern offen über sehr persönliche, teilweise auch heikle Themen zu sprechen. Ichdanke allen LehrerInnen für diese Offenheit, für ihr Entgegenkommen und die Bereitschaft, ihre Zeitzu opfern. Den muttersprachlichen LehrerInnen der Migrantenkinder danke ich außerdem für diekompetente Beratung zum Sprachgebrauch in den Familien und zu Hintergründen in den Herkunfts-ländern. Reva Akkuș und Selma Bozalan danke ich dafür, dass sie die Gespräche mit den türkischen El-tern möglich gemacht haben. Den Eltern (Großeltern, Geschwistern, . . .) aus der Türkei, aus Bosnien,Serbien, Kroatien, Makedonien, Slowenien, Polen, Österreich, Ägypten und Indien danke ich für ihrgroßes Interesse, das auch die positivsten Erwartungen übertroffen hat, und besonders für die meistlangen, immer aber sehr persönlichen Gespräche.

Eine große und unverzichtbare Hilfe stellte die fachliche Beratung durch ExpertInnen auf demGebiet der Migrantenbetreuung, Migrationsforschung, Turkologie und Sprachheilpädagogik dar:Verena Lammer, Selma Bozalan, Melahat Otuk, Jaklin Freigang, Arșaluys Bayvertyan, Muhammed Kı-lıc, Mustafa Cakır, Claudia Römer, Maria Six-Hohenbalken, Brigitta Busch, Michael Kalmar und Tür-kan Akkaya haben mir mit ihrer Kompetenz und ihrem Engagement immer wieder zu neuen Erkennt-nissen verholfen.

In besonderer Weise aber danke ich dem Untersuchungsteam des Projekts „Bilingualer Spracher-werb in der Migration“ – Annemarie Peltzer-Karpf, Vera Wurnig, Barbara Schwab, Dijana Piwonka,Marion Griessler, Klaus Lederwasch und Reva Akkuș – sowie Elfie Fleck vom Referat für interkultu-relles Lernen im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur und Rudolf de Cillia vomInstitut für Sprachwissenschaft der Universität Wien.

Katharina Brizić

253

„Der Vogel esst die Katze“

Zum Einfluss individueller, sozialer, gesellschaftlicher und politischer Variablen aufden Zweitspracherwerb von Migrantenkindern1

1. Einleitung

1.1 Fragestellung

Im Schuljahr 1999/2000 nahm die vom österreichischen Bildungsministerium initiierte Langzeitstudie„Bilingualer Spracherwerb in der Migration“ ihren Anfang mit der Aufgabe bzw. dem Ziel, die sprach-liche Entwicklung von 106 Kindern an sechs Wiener Volksschulen vier Jahre hindurch, d. h. währendder gesamten Volksschulzeit, zu begleiten, zu untersuchen und darzustellen (Peltzer-Karpf et al. 2000,2001, 2002). Da es sich bei rund 70 der 106 Kinder um Migrantenkinder handelte, war der Fokus –neben der Untersuchung der deutschsprachigen Kinder – auch bzw. besonders auf den bilingualenSpracherwerb in der Migrationssituation gerichtet: Es wurde in diesem Zusammenhang nicht nur dieZweitsprache Deutsch, sondern auch die Entwicklung in der jeweiligen Muttersprache der Migranten-kinder in die Untersuchung miteinbezogen, soweit es sich um die Sprachen Türkisch und Bosnisch/Kroatisch/Serbisch (BKS) handelte.

Ein Umstand, der sich bereits nach relativ kurzer Laufzeit des Projekts „Bilingualer Spracher-werb in der Migration“ zeigte und schließlich Anlass zur vorliegenden soziolinguistischen Studie2

gab, waren die erstaunlich großen Divergenzen im Deutschlernerfolg zwischen den Migrantenkin-dern aus der Türkei und jenen aus dem ehemaligen Jugoslawien (vgl. Peltzer-Karpf, Wurnig,Schwab, Akkuş, Piwonka, Lederwasch & Sundl 2001; Peltzer-Karpf, Wurnig, Schwab, Akkuş, Pi-wonka, Lederwasch, Benko & Griessler 2002). Diese Erfahrung war umso überraschender, als essich bei den ProbandInnen aus den genannten Herkunftsländern auf den ersten Blick um Kindermit sehr ähnlichen sozialen Voraussetzungen handelte; die Erkenntnis, dass die Unterschiede größerseien als erwartet, deckt sich jedoch mit den Ergebnissen aus einigen anderen Studien: Dass nichtalle Kinder – türkische wie bosnisch/kroatisch/serbische – letztlich die Volksschule mit etwa densel-ben Deutschkenntnissen verlassen, hat schon mehrere AutorInnen aufhorchen lassen (Strnad 1996,Grosse 2000, Olechowski, Hanisch, Katschnig, Khan-Svik & Persy 2002), wird von LehrerInnenvielfach bestätigt und gibt in der außerwissenschaftlich-gesellschaftlichen Diskussion Anlass, inner-familiäre, kulturelle oder auch religiös motivierte Umstände für eine benachteiligte Ausgangspositionmancher Kinder verantwortlich zu machen oder die Ursachen im schulischen Bereich – das heißt:bei den LehrerInnen – zu suchen.

Dass der Sprachlernprozess bei manchen Kindern glückt und bei anderen untypisch oder verzö-gert abläuft, hat im Übrigen gerade für Migrantenkinder, deren gesamte Ausbildung in einer anderenals ihrer Muttersprache stattfindet, weitreichende Folgen; die Deutschkompetenz entscheidet maßgeb-lich über schulischen und letztlich über beruflichen Erfolg. Umso dringlicher stellt sich die Frage nachden Ursachen der genannten Divergenzen, die im Rahmen unseres Projekts beobachtet wurden (siehe

255

1 Der Versuch eines türkischen Kindes aus dem untersuchten Sample, den Satz „Die Katze frisst den Vogel“ zu passivieren(aus: Peltzer-Karpf, Wurnig, Schwab, Kümmel, Akkuș, Karabinova, Piwonka & Lederwasch 2000: 67).

2 Die vorliegende Studie beruht hinsichtlich des theoretischen Hintergrunds und der Befunde aus der Literatur auf derDiplomarbeit der Verfasserin (Brizić 2003).

Tabelle 1): Die 373 Kinder aus dem Raum des ehemaligen Jugoslawien zeigten, ebenso wie die fünfKinder aus anderen Ländern, in ihrem Deutscherwerb im Schnitt signifikant bessere Ergebnisse als die23 Kinder aus der Türkei, wobei in den folgenden Kapiteln die Kinder aus anderen Ländern4 in die Be-rechnungen zwar einbezogen, aus der Interpretation der Ergebnisse aber weitgehend ausgeklammertwerden, da es sich um eine sehr kleine Gruppe handelt. Das Hauptaugenmerk wird auf die Kinder ausdem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei – bzw. auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwi-schen ihnen – gerichtet sein, da sie den an österreichischen Schulen am stärksten vertretenen Migran-tenkindergruppen angehören (vgl. de Cillia 2003).

Tabelle 1: Deutschkompetenz der Migrantenkinder nach Herkunftsländern

Herkunftsland

ehemaliges Jugoslawien

N = 37

andere

N = 5

Türkei

N = 23

X s X s X s p

11,37 1,53 11,40 0,89 8,18 2,01 <,001

N = Anzahl der Kinder, X = Mittelwert der Deutschkompetenz, s = Standardabweichung, p = Signifikanz

Erläuterung:

X: Für die Deutschkompetenz konnten bei der Testung zwischen 0 Punkten und 15 Punkten vergeben werden. Je höherdie Punkteanzahl, desto höher ist die Deutschkompetenz.

s: Die Standardabweichung drückt aus, wie aussagekräftig der Mittelwert (X) tatsächlich für die Gruppe ist, d. h. wienahe die Werte der einzelnen Kinder um den Mittelwert herum liegen. Je geringer die Standardabweichung ist, destoaussagekräftiger (laienhaft ausgedrückt: desto „typischer“) ist der Mittelwert für die ganze Gruppe.

p: Ist p kleiner als 0.001 (geschrieben <,001), so ist das Ergebnis hochsignifikant.Ist p größer als 0.001, aber kleiner als 0.05 (<,05), so ist das Ergebnis immer noch signifikant.Liegt p zwischen 0.05 und 0.1 (<,01), so spricht man lediglich von einem „statistischen Trend“.Ergebnisse über 0.1 sind nicht signifikant.

Es ist die Aufgabe der vorliegenden soziolinguistischen Studie zu hinterfragen, was die Kinder ver-schiedener Herkunft in ihrem (Zweit-)Spracherwerb unterscheidet bzw. verbindet, wobei Persönlich-keitsfaktoren und Faktoren des familiären sozialen Umfelds ebenso wie schulische und gesellschaft-lich-politische Hintergründe gleichermaßen Beachtung finden sollen, denn „. . . die Verantwortung füreinen erfolgreichen Zweitspracherwerb kann und darf (. . .) nicht dem Individuum allein angelastetwerden.“ (Fthenakis, Sonner, Thrul & Walbiner 1985: 170). Es wird so der spätestens seit den 1970erJahren bestehenden Tendenz entsprochen, soziokulturelle und psychosoziale Umstände in der Sprach-erwerbsforschung mitzubedenken, da die teils gravierenden Unterschiede im Lernerfolg einzelnerKinder anders nicht erklärbar sind (Stölting, Delić, Orlović, Rausch & Sausner 1980, Clement 1980,Tetzchner, Siegel & Smith 1989, Mehlem 1998, Reich/Roth 2002).

Aus der Suche nach den Ursachen für Unterschiede und Gemeinsamkeiten soll jedoch ein Faktor vonBeginn an klar ausgeklammert werden: die (nonverbale) Intelligenz, eine der problematischsten Variablenin der Spracherwerbsdiskussion. Zwar dürfte die Intelligenz im Zweitspracherwerb eine gewisse Rolle

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

256

3 Die Anzahl stimmt nicht mit der in Teil I (psycholinguistische Studie) genannten Anzahl überein. Das hat zum einen denGrund, dass die soziolinguistische Begleituntersuchung im 4. Schuljahr stattfand, als bereits einige ProbandInnen ausgeschie-den waren (Schulwechsel, Klassenwiederholung). Zum anderen haben im Rahmen der soziolinguistischen Studie genauereRecherchen zum innerfamiliären Sprachgebrauch und zur Sprachgeschichte in den Familien ergeben, dass in manchen Fällennicht – wie anfangs vermutet bzw. wie von den Eltern bei der Schülereinschreibung angegeben – Bosnisch/Kroatisch/Ser-bisch die Erstsprache des Kindes ist, sondern eine der zahlreichen Minderheitensprachen im Raum des ehemaligen Jugosla-wien. Es ist unter anderem Gegenstand der soziolinguistischen Untersuchung, diesen vermeintlichen Widersprüchen auf denGrund zu gehen.

4 Polen (zwei Kinder), Ägypten (zwei Kinder), Indien (ein Kind).

spielen; sie ist aber, was die Richtung des Einflusses betrifft, immer noch nicht genau bestimmbar (Müller1997): Sie kann sowohl Ursache als auch Folge z. B. muttersprachlicher Kompetenz sein. Vor allem aberkann sie wohl kaum ganze Bevölkerungsgruppen nach Herkunftsländern in ihrem Sprachlernerfolg von-einander trennen, weil dann zu hinterfragen wäre, ob der Intelligenzbegriff nicht grobe Mängel in seinerDefinition und Operationalisierung aufweist bzw. sich in dieser Form ausschließlich auf (west)europäischgeprägte Gesellschaften anwenden lässt. Die Ausklammerung der Intelligenzdiskussion erfolgt deshalb –im Sinne der neueren Forschung – auch in der vorliegenden Studie zugunsten einer vermutlich wesentlichfruchtbareren Untersuchung der vielfältigen Umweltfaktoren im Leben von Migrantenfamilien:

„Individuelle und gesellschaftliche Zwei- und Mehrsprachigkeit sind, weltweit und weltgeschichtlich betrachtet,eine Normalität. (. . .) Individuelle Zweisprachigkeit stellt keine intellektuelle Überforderung dar. (. . .) PersönlicheProbleme mit der Zweisprachigkeit haben Ursachen im engeren oder weiteren sozialen Umfeld.“ (Reich/Roth2002: 41).

Dieses soziale Umfeld im Kontext der Migration, seit den 1980er Jahren vielfach untersucht, wird Ge-genstand des ersten Teils (Abschnitt 2) der soziolinguistischen Studie sein: Vor dem Hintergrund eini-ger ausgewählter Ergebnisse aus der Literatur sollen jene Faktoren des Umfelds in der Einwande-rungsgesellschaft dargestellt werden, die an der Migrantenkindergruppe des Projekts „BilingualerSpracherwerb in der Migration“ erhoben und auf ihre Relevanz für den Zweitspracherwerb dieser65 Kinder hin untersucht werden konnten.

Da in der Migrationsliteratur jedoch bislang fast ausschließlich die Einwanderungsländer der Mi-grantInnen Beachtung fanden, deren Bedingungen zur Erklärung der Divergenzen allerdings nichtauszureichen scheinen (siehe Kapitel 2.6), sollen im zweiten Teil (Abschnitt 3) der Studie neue Wegebeschritten werden: Die beiden Herkunftsländer, und dabei vor allem die Bildungs-, Sprach(en)- undMinderheitenpolitik der Türkei und des ehemaligen Jugoslawien, sollen ebenso ausführlich wie dasEinwanderungsland in die Suche nach den Ursachen für die Unterschiede im Zweitspracherwerb mit-einbezogen werden. Es wird dabei von der Annahme ausgegangen, dass gerade für Kinder in derMigration der elterliche Sprach-Input – und damit die Bedingungen, unter denen der elterliche Sprach-erwerb im Herkunftsland stattfand – nicht ohne Bedeutung sein dürfte.

Die vorliegende soziolinguistische Studie soll solcherart die Langzeitstudie „Bilingualer Spracher-werb in der Migration“ sinnvoll ergänzen bzw. durch möglichst umfassende Hintergrundinformationzur Interpretierbarkeit der Ergebnisse der Sprachstandserhebung beitragen.

1.2 Datenerhebung

Zur Erhebung sozialer, kultureller und anderer spracherwerbsexterner Faktoren stehen nur wenigeprobate Methoden zur Verfügung. So hat sich etwa das Verteilen von Fragebögen an die Eltern der zuuntersuchenden Kinder u. a. aus Sprachkompetenzgründen in einigen Studien als wenig erfolgreich5

erwiesen. Es wurde deshalb im Rahmen der vorliegenden soziolinguistischen Untersuchung auf dasAussenden schriftlicher Materialien weitgehend verzichtet und stattdessen zu möglichst vielen Betei-ligten persönlich Kontakt aufgenommen, der bis zum Ende der Erhebung, teilweise auch darüber hin-aus aufrechterhalten wurde.

Die soziolinguistische Untersuchung fand, als Teil des Gesamtprojekts „Sprachstandserhebung inmultikulturellen Volksschulklassen – Bilingualer Spracherwerb in der Migration“, während des viertenLaufjahres des Projekts statt. Die Kontaktaufnahme zu den für die Untersuchung relevanten Infor-mantInnen begann im November 2002; die daran anschließende Datenerhebung war in vier Phasen

1. Einleitung

257

5 D. h. wenig erfolgreich im Sinne einer niedrigen Rücklaufquote (z. B. Olechowski, Hanisch, Katschnig, Khan-Svik & Persy2002).

gegliedert. In der ersten Phase wurde in die Stammdatenblätter der Schulklassen Einsicht genommen,um Daten zur Zusammensetzung der Klassen sowie zu Alter, Geburtsort, Staatsbürgerschaft und Kin-dergartenbesuch der einzelnen Kinder zu erheben. In der zweiten Phase wurden Interviews6 mit insge-samt 13 Klassen- und BegleitlehrerInnen, vier muttersprachlichen LehrerInnen für Bosnisch/Kroa-tisch/Serbisch, vier muttersprachlichen LehrerInnen für Türkisch, zwei SprachheilpädagogInnen,einer islamischen und zwei serbisch-orthodoxen ReligionslehrerInnen geführt. Im Rahmen dieser In-terviews wurden Persönlichkeitsvariablen, Aspekte des familiären Hintergrunds (besonders des inner-familiären Sprachgebrauchs) und Schulleistungen der Kinder erfragt. Die Interviews der dritten Phasewurden mit ExpertInnen auf dem Gebiet der Migrantenbetreuung (REBAS, SBM7 u. a.), mit Turkolo-gInnen der Universität Wien und mit Personen aus den Herkunftsländern der beiden größten österrei-chischen Migrantengruppen geführt, die vor allem zum Sprachgebrauch in den Familien und zu histo-risch-politischen Aspekten der Herkunftsländer Auskunft gaben.

Die vierte und letzte Phase der soziolinguistischen Studie war schließlich den Eltern der untersuchtenKinder gewidmet. Die Elterngespräche fanden gleichzeitig mit den Schulsprechtagen, dabei aber in geson-dertem Rahmen und abseits des Schulbetriebs statt. Inhalte dieser Interviews waren Themen, zu denennur die Eltern selbst (bzw. Großeltern, Geschwister usw.) authentische Informationen liefern konnten, wieAuswanderungsgrund, Aufenthaltsdauer, sozioökonomischer Status und Geschwisterkonstellation, aberauch subjektive Sichtweisen wie Zufriedenheit, Bleibewunsch, Orientierungen und Einstellungen zu Spra-cherwerb, Sprachgebrauch, Schule und Bildung. Darüber hinaus hatten die Gespräche Anliegen der Be-fragten selbst zum Inhalt. Da auf eine entspannte und von eventuell fehlender Deutschkompetenz unbe-einträchtigte Atmosphäre besonderer Wert gelegt wurde, fanden die Interviews dieser Phase in den Mut-tersprachen der Eltern statt, sofern es sich um türkische bzw. bosnische, kroatische oder serbische Fami-lien handelte. Bei allen anderen Familien wurde die Sprache nach Maßgabe der bei Familienmitgliedernund Interviewerinnen vorhandenen Sprachkompetenz gewählt. Für die zeitaufwendige Datenerhebungentschädigten das bereits erwähnte große Interesse der befragten Eltern, LehrerInnen und ExpertInnenund die Fülle an gesammeltem Material, das nun zu den 65 untersuchten Migrantenfamilien vorliegt.

1.3 Verwendete statistische Verfahren

Die Stichprobe, an der die vorliegende Studie durchgeführt wurde (37 Kinder aus dem ehemaligen Ju-goslawien, 23 Kinder aus der Türkei, fünf Kinder aus anderen Ländern), ist vergleichsweise klein. Zu-dem liegt es in der Natur der Sozialfaktoren, dass sie kaum lückenlos erhebbar sind. Die Aussagekraftder Ergebnisse ist deshalb beschränkt und die Studie nur als explorativ, keinesfalls als repräsentativ zubezeichnen. Es wurde dennoch für sinnvoll erachtet, die Berechnungen auch dann durchzuführen,wenn manche Angaben (z. B. die tatsächliche Muttersprache der Eltern) nur für wenige Kinder zuver-lässig erhoben werden konnten, da es sich hier zum Teil um Variablen handelt, die in dieser Form inder Migrationsliteratur bislang nicht aufscheinen (siehe Kapitel 3.2).

Die statistische Auswertung der Daten erfolgte mit dem Programm SPSS 8.0 (deutschsprachigeVersion). Wurde der Mittelwertsunterschied einer metrischen abhängigen bezüglich einer kategoriellenunabhängigen Variable untersucht, kam der T-Test für unabhängige Stichproben bzw. die Varianzana-lyse zur Anwendung; interessierte der Zusammenhang zwischen zwei metrischen Variablen, wurde dieKorrelation angewandt. Die abhängige Variable war in jedem Fall die Deutschkompetenz der unter-suchten Kinder zu Ende des dritten Schuljahres. Das Signifikanzniveau wurde auf 5% festgesetzt undjede Hypothese zweiseitig betrachtet. Fehlende Werte wurden aus der Analyse ausgeschlossen.

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

258

6 Es handelte sich bei allen Interviews der Untersuchung um Leitfadeninterviews.7 Regionale Beratungsstelle für ausländische SchülerInnen; Schulberatungsstelle für MigrantInnen, beide in Wien.

2. Individuelle, soziale und gesellschaftliche Variablen im

Zweitspracherwerb von Migrantenkindern in Österreich

2.1 Persönlichkeit des Kindes

Affektive Persönlichkeitsfaktoren spielen im kindlichen Zweitspracherwerb eine überraschend unter-geordnete bzw. unklare Rolle. Da es sich um einen schwer erhebbaren Komplex von Komponentenhandelt, liegen insgesamt nur wenige Untersuchungen vor, in denen signifikante Resultate die Ausnah-me darstellen (Robinson 2002).

Bei Extra- bzw. Introvertiertheit und Risikobereitschaft verhält es sich dementsprechend: Das Aus-maß des Einflusses ist unklar, die Wirkung wahrscheinlich nur indirekt; Extravertiertheit dürfte sichnicht auf den Zweitspracherwerb selbst, sondern nur auf die Kontaktfreudigkeit des Kindes positivauswirken und auf diesem Wege zu sprachlich-sozialem Austausch verhelfen (Skehan 1989). Soziabili-tät, soziale Spontaneität und Impulsivität, direkte Ursachen für das Maß an sozialem Austausch einesKindes mit Kindern anderer Muttersprachen, beeinflussen ihrerseits die zweitsprachliche Leistungzwar direkt, aber nur geringfügig (Fthenakis, Sonner, Thrul & Walbiner 1985).

Komplexer und vom mono- bzw. multikulturellen Lebensumfeld eines Kindes nicht zu trennen istder Zusammenhang zwischen motivationalen Faktoren und Zweitspracherwerb: Motivation, Interesseund integrative Orientierung – d. h. eine positive Einstellung zur Zweitsprache und ihren SprecherIn-nen – haben sich nur im monokulturellen Milieu als einflussreiche Faktoren erwiesen (Lambert 1979,Gardner 1985, Gardner 1998). Im Fall mitteleuropäischer Migrantenkinder, d. h. in einem multikultu-rellen Setting, kommt der Leistungsmotivation beim Erwerb der Zweitsprache demgegenüber relativgeringe Bedeutung zu (Müller 1997). Wesentlich einflussreicher ist hier die Variable Selbstvertrauen/Angst (Gardner 1985). Das Selbstvertrauen, „. . . ein auf sich selbst bezogenes Fähigkeitsurteil, ver-bunden mit der Einschätzung des Grades von Sicherheit, mit dem jemand glaubt, über diese Fähigkeitzu verfügen“ (Müller 1997: 127 f.), ist gerade in Bezug auf die Zweitsprache von Migrantenkindern derentscheidende sozialpsychologische Faktor: Migrantenkinder mit positiver Selbstwahrnehmung undhohem schulsprachlichem Selbstvertrauen schneiden auch bei geringer Motivation besser ab als Kin-der mit geringem Selbstvertrauen, bei denen die negative Selbstwahrnehmung auch durch hohe Moti-vation nicht aufzuwiegen sein dürfte (Müller 1997). Dabei ist Angst, das „Umkehrmaß zum Selbstver-trauen“ (Gardner 1985), gerade bei Migrantenkindern in überdurchschnittlichem Ausmaß vorhanden,wie eine österreichische Untersuchung zeigt (Schiesser/Theurl 2001).

Im Sinne der Erkenntnisse aus den genannten Studien zum Zusammenhang zwischen Persönlich-keit und Zweitspracherwerb bei Migrantenkindern wurde in der vorliegenden Untersuchung davonausgegangen, dass Persönlichkeitsfaktoren wie Extra-/Introvertiertheit keinen und Soziabilität einennur geringfügigen Einfluss auf die Zweitsprachkompetenz erkennen lassen, ebenso wie die zweit-sprachliche Motivation, die im multikulturellen Milieu von nur untergeordneter Bedeutung zu seinscheint. Ein stärkerer Einfluss auf die Zweitsprachkompetenz wurde für die muttersprachliche Moti-vation (d. h. für das Interesse am muttersprachlichen Unterricht) und für die Variable Selbstvertrauen/Angst angenommen. Als Indikator für die Soziabilität dient die Position der Kinder in ihrer Klasse; In-dikator für die zweitsprachliche Motivation ist die Aktivität im deutschsprachigen Klassenunterricht,für die erstsprachliche Motivation die Aktivität im muttersprachlichen Unterricht.

Die für den Bereich der Persönlichkeitsfaktoren formulierten Hypothesen lauten:

• Hypothese 1: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht hinsichtlich Extra-bzw. Introvertiertheit, Aufgeschlossenheit, Zielstrebigkeit oder Aggressivität.

259

• Hypothese 2: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht oder nur geringfügighinsichtlich ihrer Positionierung in der Klasse.

• Hypothese 3: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht hinsichtlich ihrerAktivität im deutschsprachigen Unterricht.

• Hypothese 4: Die Kinder unterscheiden sich dagegen in ihrer Deutschkompetenz hinsichtlich ihrerAktivität im muttersprachlichen Unterricht: Ein hohes Maß an Aktivität im muttersprachlichen Unter-richt geht mit hoher Deutschkompetenz einher.

• Hypothese 5: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz hinsichtlich ihres Selbst-vertrauens: Höheres Selbstvertrauen geht mit höherer Deutschkompetenz einher.

Alle Daten wurden durch Befragung der Klassen- und BegleitlehrerInnen bzw. der muttersprachlichenLehrerInnen8 erhoben. Da sich die dichotome Ausprägung der Persönlichkeitsvariable „Extra-/Intro-vertiertheit“ als unzureichend erwies, wurden weitere Kategorien eingeführt. Die Ergebnisse lautenwie folgt:

Tabelle 2: Deutschkompetenz der Migrantenkinder nach: Persönlichkeit, Position in der

Klasse, Aktivität im deutschsprachigen bzw. muttersprachlichen Unterricht und

Selbstvertrauen

Persönlich-

keit des

Kindes

aggressiv

N = 2

zielstrebig

N = 8

aufge-schlossenN = 16

introvertiert

N = 23

extravertiert

N = 14

X s X s X s X s X s p

12,00 1,41 11,25 2,71 11,00 2,28 9,87 2,03 9,36 2,17 ,119

Position des

Kindes in

der Klasse

beliebt

N = 29

akzeptiert

N = 18

beliebt/unbeliebt

N = 9

inRandposition

N = 6

X s X s X s X s p

11,14 1,85 9,50 2,46 9,44 2,19 9,33 2,58 ,032

Aktivität

des Kindes

im

Unterricht

eher ruhig

N = 9

sehr aktiv

N = 19

oft störend

N = 9

sehr ruhig

N = 8

unter-schiedlich

N = 6

durch-schnittlich

N = 9

X s X s X s X s X s X s p

11,00 2,18 10,79 1,69 10,11 1,67 9,88 3,60 9,67 1,50 9,56 3,50 ,662

Aktivität des

Kindes im

mutter-

sprachlichen

Unterricht

sehr aktiv

N = 25

durch-schnittlich

N = 6

unter-schiedlich

N = 2

eher ruhig

N = 4

sehr ruhig

N = 6

X s X s X s X s X s p

10,56 2,10 10,17 2,64 10,00 1,41 9,25 1,26 7,00 2,00 ,014

Selbst-

vertrauen/

Angst des

Kindes

durchschnitt-liches Selbst-

vertrauenN = 22

großes Selbst-vertrauen

N = 21

unsicher

N = 19

X s X s X s p

11,00 2,41 10,52 1,94 9,05 2,04 ,016

N = Anzahl der Kinder, X = Mittelwert der Deutschkompetenz, s = Standardabweichung, p = Signifikanz

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

260

8 Die Kategorie „oft störend“ blieb in Bezug auf den muttersprachlichen Unterricht leer und wurde in der Tabelle deshalbweggelassen. „beliebt/unbeliebt“ steht als Abkürzung für „bei manchen beliebt, bei manchen unbeliebt“.

Die Hypothesen 1 bis 5 bestätigten sich für unser Sample:

• Ergebnis 1: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht hinsichtlich ihrer Per-sönlichkeit.

• Ergebnis 2: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz hinsichtlich ihrer Positionie-rung in der Klassengemeinschaft (als Indikator für die Soziabilität): Kinder, die in ihrer Klasse beliebtsind, schneiden in Deutsch besser ab als Kinder, die akzeptiert, in Randposition oder teils beliebt, teilsunbeliebt sind. Der Effekt ist jedoch erwartungsgemäß gering, verglichen mit dem Effekt der Varia-blen Selbstvertrauen/Angst und muttersprachliche Motivation.

• Ergebnis 3: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht hinsichtlich ihrer Akti-vität im deutschsprachigen Unterricht (als Indikator für die zweitsprachliche Motivation).

• Ergebnis 4: Die Kinder unterscheiden sich dagegen in ihrer Deutschkompetenz hinsichtlich ihrerAktivität im muttersprachlichen Unterricht (als Indikator für erstsprachliche Motivation): Kinder ausder hier untersuchten Gruppe, die im muttersprachlichen Unterricht sehr, durchschnittlich oder unter-schiedlich aktiv sind, schneiden in der Zweitsprache Deutsch signifikant besser ab als Kinder, die sichwenig oder gar nicht beteiligen.

• Ergebnis 5: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz hinsichtlich ihres Selbstver-trauens: Kinder mit großem oder durchschnittlichem Selbstvertrauen schneiden in der ZweitspracheDeutsch signifikant besser ab als unsichere Kinder.

2.2 Familiärer Hintergrund

„Elterlicher Erziehungsstil und Schulleistung lassen sich interkulturell äquivalent messen. Erziehungsstil ist kul-turübergreifend für die Leistungsfähigkeit in der Schule von Bedeutung, ohne dass man allerdings das Ausmaßdieser Bedeutung überschätzen sollte.“ (Boehnke/Bergs-Winkels 1991: 29).

Der elterliche – hier: der kulturspezifische – Erziehungsstil ist eine für Spekulationen besonders anfäl-lige Variable: Er neigt dazu, im schulischen Kontext und gerade im Zusammenhang mit Migrantenkin-dern als wesentliche Erklärung für Leistungsschwäche herangezogen zu werden. Nach dem ernüch-ternden Urteil aus oben zitierter Studie scheidet er als Hauptprädiktor für schulische Leistung jedochaus. Ganz entgegen vielfach geäußerter Meinung sind Erziehungsstile einzig und allein dann am Lern-erfolg eines Kindes ursächlich beteiligt, wenn sie in einer nicht kultur-, sondern personenspezifisch ex-tremen Form vorliegen; das heißt: Kulturen unterscheiden sich zwar nach der Art der Kindererzie-hung, aber ausschließlich Einzelpersonen unterscheiden sich nach der Qualität ihres Erziehungsstils.So kann z. B. dem bestrafenden bzw. überbehütenden Erziehungsstil kulturübergreifend ein gewisserleistungsmindernder Einfluss nicht abgesprochen werden. Solche Erziehungsstile unterschiedlich ex-tremer Ausformung sind jedoch in der Gruppe der MigrantInnen aus dem ehemaligen Jugoslawienebenso häufig bzw. selten vertreten wie in der Gruppe der Familien aus der Türkei oder in jeder ande-ren Gruppe und eignen sich daher nicht zur Erklärung herkunftsspezifischer Unterschiede im Zweit-spracherwerb (Boehnke/Bergs-Winkels 1991).

Mit dem Erziehungsstil wird immer wieder, besonders in Bezug auf Familien aus der Türkei, auchdie Religionszugehörigkeit in Verbindung gebracht. Fallweise werden von der religiösen Orientierungder Eltern Lernwilligkeit und Lernfähigkeit des Kindes abgeleitet. Dass sich solche Generalisierungenzur Interpretation des kindlichen Lern(miss)erfolgs ebenfalls schlecht eignen, zeigen mehrere Studienan türkischen und marokkanischen Kindern in den Niederlanden, die keinen Zusammenhang zwi-schen religiöser elterlicher Orientierung und Zweitspracherwerb der Kinder erkennen lassen (Appel1984). Eine Untersuchung an türkischen Mädchen in Wien kommt zum selben Ergebnis (Seifert1988).

2. Individuelle, soziale und gesellschaftliche Variablen im Zweitspracherwerb von Migrantenkindern in Österreich

261

Ein wesentlicher Aspekt des familiären Hintergrunds in Bezug auf schulische Leistung ist jedochder Bildungsgrad der Eltern. Hier ist insofern ein Unterschied zwischen den beiden großen Migran-tengruppen erkennbar, als die ZuwanderInnen aus dem Raum des ehemaligen Jugoslawien in Mitteleu-ropa als die Gruppe mit der besten Qualifikationsstruktur gelten (Stölting, Delić, Orlović, Rausch &Sausner 1980), während in Österreich lebende TürkInnen im Schnitt nur fünf Jahre lang die Schule be-sucht haben (Seifert 1988). Auch die Auswirkungen auf den Spracherwerb divergieren: Der Bildungs-abschluss türkischer Eltern wirkt sich zwar nicht direkt auf die Zweitsprache, wohl aber auf den Mut-terspracherwerb der Kinder aus, während bei Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien kein Einflussdes Bildungsabschlusses auf die kindliche Muttersprachkompetenz festgestellt wurde (Olechowski,Hanisch, Katschnig, Khan-Svik & Persy 2001).

Die Bildungsziele türkischer Eltern für ihre Kinder sind bekanntermaßen hoch gesteckt, und dassowohl in der Migration als auch im Herkunftsland (Seifert 1988, Özkara 1988, Cakır 1990). ZwischenTöchtern und Söhnen wird in dieser Hinsicht kein Unterschied gemacht; die Bildungsaspiration kannfür Töchter sogar als besonders hoch gelten (Seifert 1988). Die Ergebnisse einer Studie zu Migranten-familien in Wien können als repräsentativ für viele weitere Untersuchungen angesehen werden: „Be-stätigt wurde die in der Literatur häufig genannte hohe Bildungsaspiration türkischer Eltern bezüglichihrer Kinder. So wurde oft nur diffus gewünscht, dass das Kind studieren solle. Die benannten Vorstel-lungen bezogen sich meist auf eine Tätigkeit als Arzt, Ingenieur oder Rechtsanwalt. (. . .) Erwiesen sichdie hohen Bildungsvorstellungen als unrealistisch, so ist die Minimalforderung der Eltern bezüglichdes Berufs der Kinder: Sie sollen nicht Hilfsarbeiter werden.“ Ganz anders die Bildungsaspiration derEltern aus dem ehemaligen Jugoslawien: „Auffallend war, dass der Wunsch nach akademischen Beru-fen für die Kinder den jugoslawischen Eltern nicht attestiert werden kann.“ (Beiwl, Galehr & Schmid1995: 114). In beiden Gruppen entfalten die Berufsvorstellungen der Eltern ihre Wirkung allerdingserst im Laufe der Schulzeit: Noch nicht im ersten, dafür aber im vierten Volksschuljahr korreliert dieBildungsaspiration der Eltern in einer Wiener Untersuchung signifikant mit der Deutschkompetenzder Kinder (Olechowski, Hanisch, Katschnig, Khan-Svik & Persy 2001).

Die elterliche Unterstützung bei Hausaufgaben – ein Aspekt elterlicher Bildung und in der Migrationaus Sprachkompetenzgründen oft gar nicht möglich – ist entsprechend selten Gegenstand von Untersu-chungen. Ein geringes Maß an Hausaufgabenhilfe geht in einer Untersuchung türkischer Kinder inDeutschland erwartungsgemäß mit geringeren Fortschritten in der Zweitsprache einher (Aytemiz 1990).

Ganz im Gegensatz zur elterlichen Sprachkompetenz verschieben sich die Kompetenz und damitder Sprachgebrauch in der Generation der Kinder in den meisten Migrantenfamilien zugunsten derSprache des Einwanderungslandes, was in einigen Studien mit den Zweitsprachkenntnissen der Kinderin kausalen Zusammenhang gebracht wird (vgl. Reich/Roth 2002). Über den Sprachgebrauch zwi-schen Mutter und Vater bzw. zwischen Eltern und Kindern ist dagegen wenig bekannt. Ob innerfami-liär eher Deutsch oder vorrangig eine bzw. mehrere Migrantensprache(n) gesprochen werden (und umwelche Sprachen es sich in zweiterem Fall handelt), bleibt in vielen Studien offen (vgl. Olechowski, Ha-nisch, Katschnig, Khan-Svik & Persy 2001).

Ein oft und mit den unterschiedlichsten Ergebnissen an Migrantenfamilien untersuchter Komplexsind Aufenthaltsdauer, Einstellungen zur Zweitsprache, Eingebundenheit bzw. Zufriedenheit im Ein-wanderungsland und Rückkehrwunsch.

Die Aufenthaltsdauer gilt in ihrem Einfluss auf die Zweitsprachkompetenz von Migrantenkindernals umstritten. Etwa die Hälfte der Untersuchungen zu diesem Aspekt kommt zu dem Schluss, dasssich eine frühe Einwanderung auf den Erwerb der Sprache des Einwanderungslandes positiv auswirkt(Selber 1994, Seifert 1988, Müller 1997); die andere Hälfte der Untersuchungen lässt einen solchenSchluss nicht zu (Poplack 1980, Röhr-Sendlmeier 1986, Aytemiz 1990) und bestätigt damit z. T. die bei

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

262

Fthenakis et al. auf Grund zahlreicher Untersuchungsergebnisse angestellte Überlegung, wonach eineEinwanderung nach dem 9. Lebensjahr für den Zweitspracherwerb eines Migrantenkindes am güns-tigsten ist, da sich in diesem Alter die Muttersprachkompetenz bereits festigen konnte (Fthenakis, Son-ner, Thrul & Walbiner 1985).

An Einstellungen gegenüber der Sprache des Einwanderungslandes sind es vor allem die grund-sätzlichen Haltungen des Elternhauses, die das Durchhaltevermögen der Kinder beim Zweitspracher-werb wesentlich stärker beeinflussen als momentane Interventionsmaßnahmen (Lambert 1979, Gard-ner 1985). Ungesichert ist die Wirkung elterlicher Aufgeschlossenheit. Es lässt sich zwar eine Verbin-dung zwischen Aufgeschlossenheit und Häufigkeit der Kontakte zur Gesellschaft des Einwanderungs-landes, nicht aber eine direkte Wirkung dieser Orientierung auf den kindlichen Zweitspracherwerbfeststellen (Lallemann 1983, Mehlem 1998). Die Annahme, intensiver Kontakt der MigrantInnen zurMehrheitsbevölkerung bewirke gleichzeitig auch höhere Kompetenz der MigrantInnen in der Mehr-heitssprache, wird von einigen AutorInnen mit der Begründung zurückgewiesen, dass dann ja auch dieMehrheitsbevölkerung infolge wechselseitigen Kontakts hohe Kompetenz in der Migrantenspracheaufweisen müsste (Müller 1997).

Eingebundenheit und Zufriedenheit im Einwanderungsland sind ein wesentliches Kriterium derLebensqualität in der Migration und können mit dem Wunsch zu bleiben einhergehen. Der Versuch,Zufriedenheit und Bleibewunsch an „äußeren“ Zeichen festzumachen und ihre Wirkung auf denZweitspracherwerb zu überprüfen, ist jedoch oft zum Scheitern verurteilt: Die Gründe für die Auswan-derung sind zu komplex und die Bindung an das Herkunftsland zu unauslotbar, um sie mit der einfachen– und im Grunde banalen – Frage nach dem Rückkehrwunsch zu klären. Nur wenige Studien stellen da-her einen positiven Einfluss der elterlichen Bleibeabsicht auf die kindliche Zweitsprachkompetenz fest,der vor allem bei gemäßigtem Integrationswillen und tragfähiger Bindung an das Herkunftsland wirk-sam wird (Appel 1984, Reich/Roth 2002). Das Äußern einer Rückkehrabsicht meint in Migrantenfami-lien im Übrigen längst nicht immer einen konkret geplanten Rückkehrwunsch: Die Rückkehr kann ge-wollt, aber nicht durchführbar sein; andererseits kann die Rückkehr zwar nicht gewollt, aber notwendigsein. Die Erziehung der Kinder kann von einem Rückkehrwunsch beeinflusst sein, der explizit gar nichtvorliegt (Özkara 1988). In vielen Fällen ist die „Rede von der Rückkehr“ weitaus mehr als eine Art zuverstehen, Solidarität zu der Gruppe auszudrücken, der man – immer noch – angehört: der Gesellschaftim Herkunftsland. Für türkische Familien gilt das in besonderem Maß: „. . . Die Rede von der Rückkehr(ist) als ein Muster anzusehen (. . .), das auf Basisregeln der türkischen Alltagskommunikation verweistund die Funktion hat, die Loyalität zur Gruppe und die Abgrenzung nach außen auszudrücken. Rück-kehr ist dabei nicht allein als eine räumliche Kategorie, sondern auch als eine Metapher für die Rückkehr(. . .) zu den Ursprüngen und zu sich selbst zu verstehen“ (Mihciyazgan 1991: 275). Die Bindung an dasHerkunftsland geht tiefer, als realistische Planung es zulässt. Die Rückkehr ist zugleich real und irreal; sieist „. . . Mythos in dem Sinn, dass sie so, wie ausgemalt, nie geschieht.“ (Berger/Mohr 1976: 236).

Es versteht sich von selbst, dass ein so vielschichtiger Komplex wie der familiäre Hintergrund bzw.dessen Untersuchung die Möglichkeiten der vorliegenden Studie überstiegen hat; das gilt ganz beson-ders für den elterlichen Erziehungsstil, der hier nicht erhoben werden konnte. Es wurden lediglich dieKlassenlehrerInnen zu ihrem Eindruck befragt, der im Lauf der Jahre bezüglich des Verhältnisses zwi-schen Eltern und Kindern entstanden war. Letztlich zeichnete sich ab, dass innerhalb jeder der unter-suchten Kindergruppen (d. h. aus dem ehemaligen Jugoslawien, der Türkei und anderen Ländern) je-weils etwa ein Drittel der Eltern-Kind-Beziehungen von den LehrerInnen als „schwierig“ und zweiDrittel als „vertrauensvoll“ eingestuft werden.

Für den Bildungsgrad der Eltern (ausführlicher in Abschnitt 3) wurde zunächst ihre Herkunft auseiner Großstadt, einer Kleinstadt oder einem Dorf als Indikator angenommen, da davon auszugehen

2. Individuelle, soziale und gesellschaftliche Variablen im Zweitspracherwerb von Migrantenkindern in Österreich

263

ist, dass der Zugang zu Bildungseinrichtungen und damit die Möglichkeit eines weiterführenden Schul-besuchs in der Stadt in größerem Ausmaß gegeben ist als auf dem Land. Für diesen Faktor ist ein star-ker Einfluss auf die Deutschkompetenz der Kinder zu erwarten, für die Bildungsziele der Eltern dage-gen nicht (im Gegensatz zum Ergebnis der Studie von Olechowski, Hanisch, Katschnig, Khan-Svik &Persy 2001), da die Bildungsaspiration gerade türkischer Eltern sowohl in der Migration als auch imHerkunftsland (fast) ausnahmslos sehr hoch ist und daher zweitsprachlich erfolgreiche türkische Kin-der nicht von weniger erfolgreichen unterscheidet. Unterschiede bestehen hingegen bezüglich der el-terlichen Möglichkeit, in schulischen Belangen Hilfe zu leisten; entsprechend ist das Ausmaß dieserHilfe kaum mehr als ein Indikator für Schulbildung und Deutschkompetenz der Eltern. Diese Annah-me bestätigte sich in den Interviews: War elterliche Schulbildung in Verbindung mit Deutschkompe-tenz vorhanden, dann wurde in fast jedem Fall auch Aufgabenhilfe geleistet.

Im Sinne von Fthenakis et al. wurde auch in der vorliegenden Untersuchung eine Einwanderungdes Kindes nach dem 9. Lebensjahr als für die Zweitsprachentwicklung optimal betrachtet. Da es sichim untersuchten Sample jedoch ausschließlich um in Österreich geborene oder im Kleinkindalter ein-gewanderte Kinder handelt, konnte die genannte Hypothese nicht überprüft werden; es wurde viel-mehr angenommen, dass die Unterschiede im Einwanderungsalter sich infolge ihrer Geringfügigkeitnicht auf die Deutschkompetenz der Kinder des Samples auswirken können. Bezüglich des Einwande-rungszeitpunkts von Mutter und Vater wurde ebenfalls von der positiven Wirkung einer späten Ein-wanderung ausgegangen: Die in solchen Fällen bereits gefestigte Muttersprachkompetenz der Elterndürfte dem Kind in seinem Erst- und daher auch im Zweitspracherwerb zugute kommen. Dasselbe giltfür positive elterliche Erfahrungen mit der Sprache des Einwanderungslandes, die sich in höhererelterlicher Deutschkompetenz manifestieren oder aber das Resultat dieser Kompetenz sein können.

Dem Sprachgebrauch zwischen den Geschwistern – als „Spiegel“ des Sprachgebrauchs in derSchule – wurde geringe Bedeutung zugeschrieben, verglichen mit dem Sprachgebrauch zwischenEltern und Kind, der die Mutter- und Zweitsprachkompetenz des Kindes viel direkter betrifft und anspäterer Stelle behandelt werden wird (siehe Abschnitt 3).

Die Entscheidung der Eltern bezüglich der Staatsbürgerschaft ihres Kindes (als Indikator für Ein-gebundenheit und Bleibewunsch) ist dagegen in ihren Ursachen zu vielschichtig, als dass ein einiger-maßen einheitlicher Effekt auf die Deutschkompetenz des Kindes zu erwarten wäre. Dasselbe trifftauch für den elterlichen Kontakt zur österreichischen Bevölkerung zu, ganz zu schweigen von Zufrie-denheit und Rückkehrwunsch, die ihre Wirkung nur in der dargestellten Komplexität und daher sicher-lich nicht in direkt beobachtbarem Ausmaß entfalten können.

Für die vorliegende Untersuchung wurden auf Grund der Befunde aus der Literatur, vor allemaber anhand der Angaben von ExpertInnen auf dem Gebiet der Migrantenbetreuung (siehe Kapi-tel 1.2) folgende Hypothesen formuliert:

• Hypothese 6: Kinder, deren Eltern ihren Bildungsweg in einer Groß- oder Kleinstadt absolvierthaben, schneiden in Deutsch besser ab als Kinder, deren Eltern auf die in einem Dorf vorhandenenMöglichkeiten des Schulbesuchs angewiesen waren.

• Hypothese 7: Kinder, deren Eltern auf Grund von Schulbildung und Deutschkompetenz in derLage sind, Aufgabenhilfe zu leisten, schneiden in Deutsch besser ab als Kinder, deren Eltern nichtüber diese Möglichkeit verfügen.

• Hypothese 8: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht hinsichtlich der Bil-dungsziele, die ihre Eltern für sie anstreben.

• Hypothese 9: Kinder, die mit ihren Geschwistern Deutsch sprechen, unterscheiden sich in ihrerDeutschkompetenz nicht von Kindern, die mit den Geschwistern Deutsch und die Muttersprache(n)bzw. nur die Muttersprache(n) sprechen.

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

264

• Hypothese 10: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht hinsichtlich gering-fügiger Unterschiede bezüglich ihrer Aufenthaltsdauer in Österreich (Aufenthalt seit Geburt bzw. seitGeburt mit Unterbrechungen oder Einwanderung im Kleinkindalter).

• Hypothese 11: Kinder, deren Mütter nach Abschluss ihres eigenen schulischen Bildungsweges nachÖsterreich eingewandert sind, schneiden in Deutsch besser ab als Kinder, deren Mütter davor einge-wandert oder hier geboren sind.

• Hypothese 12: Kinder, deren Väter nach Abschluss ihres eigenen schulischen Bildungsweges nachÖsterreich eingewandert sind, schneiden in Deutsch besser ab als Kinder, deren Väter davor einge-wandert oder hier geboren sind.

• Hypothese 13: Kinder, deren Mütter oder Väter (hier: meist die Mütter) über eine hohe Deutsch-kompetenz verfügen, schneiden in Deutsch besser ab als andere Kinder.

• Hypothese 14: Kinder mit österreichischer Staatsbürgerschaft unterscheiden sich in ihrer Deutsch-kompetenz nicht von Kindern mit der Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes.

• Hypothese 15: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht hinsichtlich Intensi-tät bzw. Beschaffenheit des Kontakts ihrer Eltern zur österreichischen Bevölkerung.

• Hypothese 16: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht hinsichtlich desGrades der Zufriedenheit der Eltern im Einwanderungsland.

• Hypothese 17: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht hinsichtlich elterli-cher Rückkehr- oder Bleibeabsichten.

Die Deutschkompetenz jeweils eines Elternteils (meist war den LehrerInnen nur die Mutter bekannt)wurde durch die KlassenlehrerInnen beurteilt, die Staatsbürgerschaft der Kinder den Stammdaten-blättern entnommen. Herkunft, Bildungsziele, Hilfestellung der Eltern bei den Hausaufgaben,Sprachgebrauch zwischen den Geschwistern, Aufenthaltsdauer, Kontaktausmaß und Grad der Zu-friedenheit wurden im Gespräch mit den Eltern erhoben;9 der Rückkehrwunsch wurde nicht direkterfragt, sondern als Gesamteindruck am Ende jedes Elterngesprächs resümiert. Die Ergebnisse lau-ten wie folgt:

Tabelle 3: Deutschkompetenz der Migrantenkinder nach: Herkunft und Bildungszielen der

Eltern, elterlicher Hilfe, Sprachgebrauch zwischen den Geschwistern, Aufenthaltsdauer,

Deutschkompetenz der Eltern, Staatsbürgerschaft des Kindes, Kontakten, Zufriedenheit

und Rückkehrwunsch der Eltern

Herkunft der

Eltern

KleinstadtN = 36

GroßstadtN = 2

DorfN = 18

X s X s X s p

10,81 1,94 10,50 2,12 9,11 2,63 ,034

elterliche

Hilfe bei

Haus-

übungen

Hilfe regelmä-ßig vorhanden

N = 26

Hilfe selten

N = 11

keine Hilfe

N = 17

X s X s X s p

11,08 2,13 10,73 2,15 8,94 2,56 ,013

2. Individuelle, soziale und gesellschaftliche Variablen im Zweitspracherwerb von Migrantenkindern in Österreich

265

9 Acht der 65 Familien konnten nicht erreicht werden. In diesen Fällen wurde, soweit möglich, auf Auskünfte der LehrerInnenzurückgegriffen oder die fehlende Information bei der Berechnung ausgespart; diese Vorgangsweise gilt auch für alle anderenuntersuchten Faktoren. Daten können auch noch aus anderen Gründen fehlen: Wo die mitgebrachten Kinder ein ruhigesund ausführliches Gespräch mit den Eltern nicht zuließen, beschränkten wir uns auf die zentralen Fragestellungen.

Bildungs-

Ziele der

Eltern für

das Kind

PflichtschuleN = 3

MaturaN = 9

freie WahlN = 7

StudiumN = 17

X s X s X s X s p

12,67 1,53 10,67 2,00 9,57 2,88 9,47 2,10 ,116

Sprach-

Gebrauch

des Kindes

und seiner

Geschwister

Deutsch

N = 17

L1 + Deutsch+ . . .N = 5

L1 + Deutsch

N = 14

L1

N = 7

X s X s X s X s p

11,06 2,05 11,00 1,87 9,86 2,82 8,71 2,69 ,153

Aufenthalts-

dauer des

Kindes in

Österreich

seitKleinkindalter

N = 8

seit Geburt,zeitweise im

HerkunftslandN = 5

seit Geburt,immer hier

N = 51

X s X s X s p

10,88 2,03 10,80 0,44 10,14 2,39 ,606

Aufenthalts-

dauer der

Mutter in

Österreich

seit inkl.Schulzeit

N = 5

seitSchulabschluss= ca. 20 Jahre

N = 45

seit Geburt

N = 3

seit max.10 Jahren

N = 3

X s X s X s X s p

11,00 2,83 10,36 2,33 10,33 1,15 9,67 0,58 ,882

Aufenthalts-

dauer des

Vaters in

Österreich

seit Geburt

N = 4

seitSchulabschluss= ca. 20 Jahre

N = 31

seit max. 10Jahren

N = 3

seit inkl.Schulzeit

N = 3

X s X s X s X s p

11,00 1,63 10,19 2,33 10,00 1,00 6,00 0,00 ,018

Deutsch-

kompetenz

(meist) der

Mutter

sehr gutN = 14

gutN = 21

gar nichtN = 4

mittelmäßigN = 10

schlechtN = 15

X s X s X s X s X s F-Wert p

11,43 1,22 10,86 2,31 9,75 0,96 9,50 2,64 9,07 2,31 3,03 ,024

Staatsbürger-

schaft des

Kindes

HerkunftslandN = 35

ÖsterreichN = 29

X s X s p

10,40 2,17 10,14 2,39 ,647

Kontakt der

Eltern zu

Österreiche-

rInnen

gut/häufig

N = 18

kaumvorhanden

N = 10

X s X s p

9,61 2,50 8,20 1,81 ,130

Zufrieden-

heit der

Eltern in

Österreich

fühlen sichsehr wohlN = 22

fühlen sichunwohlN = 5

fühlen sichmittelmäßig

N = 13

X s X s X s p

10,45 2,69 9,80 2,17 9,62 2,22 ,607

Rückkehr-

wunsch der

Eltern

neinN = 43

teilsN = 7

jaN = 2

X s X s X s p

10,12 2,40 10,00 1,83 8,50 3,54 ,643

N = Anzahl der Kinder, X = Mittelwert der Deutschkompetenz, s = Standardabweichung, p = Signifikanz

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

266

Für unser Sample bestätigten sich die Annahmen der Hypothesen 6 bis 10 und 14 bis 17:

• Ergebnis 6: Kinder, deren Eltern ihren Bildungsweg in der Stadt absolviert haben, schneiden inDeutsch signifikant besser ab als Kinder, deren Eltern auf die in einem Dorf vorhandenen Möglich-keiten des Schulbesuchs angewiesen waren.

• Ergebnis 7: Kinder, deren Eltern auf Grund von Schulbildung und Deutschkompetenz in der Lagesind, Aufgabenhilfe zu leisten, schneiden in Deutsch signifikant besser ab als Kinder, deren Elternnicht über diese Möglichkeit verfügen.

• Ergebnis 8: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht hinsichtlich der Bil-dungsziele ihrer Eltern.

• Ergebnis 9: Kinder, die mit ihren Geschwistern Deutsch sprechen, unterscheiden sich in ihrerDeutschkompetenz nicht von Kindern, die mit den Geschwistern Deutsch und die Muttersprache(n)bzw. nur die Muttersprache(n) sprechen.

• Ergebnis 10: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht hinsichtlich ihrerAufenthaltsdauer in Österreich.

• Ergebnis 14: Kinder mit österreichischer Staatsbürgerschaft unterscheiden sich in ihrer Deutsch-kompetenz nicht von Kindern mit der Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes.

• Ergebnis 15: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht hinsichtlich Intensitätbzw. Beschaffenheit des Kontakts ihrer Eltern zur österreichischen Bevölkerung

• Ergebnis 16: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht hinsichtlich des Gra-des der Zufriedenheit der Eltern im Einwanderungsland.

• Ergebnis 17: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht hinsichtlich elterli-cher Rückkehr- oder Bleibeabsichten.

Die Annahme aus Hypothese 12 bestätigte sich nur teilweise:

• Ergebnis 12: Es bestätigte sich, dass Kinder, deren Väter ihren eigenen schulischen Bildungsweg imHerkunftsland absolviert haben, in Deutsch signifikant besser abschneiden als Kinder, deren Väterwährend oder knapp vor Beginn des schulpflichtigen Alters nach Österreich eingewandert sind. Zu-sätzlich zeigte sich aber auch, dass Kinder, deren Väter bereits in Österreich geboren sind, ebenfallssignifikant besser abschneiden als Kinder, deren Väter während oder knapp vor Beginn des schul-pflichtigen Alters nach Österreich eingewandert sind (zur Interpretation siehe Kapitel 2.6).

Die Annahmen der Hypothesen 11 und 13 bestätigten sich nicht:

• Ergebnis 11: Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenz nicht hinsichtlich der Auf-enthaltsdauer ihrer Mütter in Österreich.

• Ergebnis 13: Kinder, deren Mütter sehr gut Deutsch sprechen, unterscheiden sich in ihrer Deutsch-kompetenz nicht von Kindern, deren Mütter gut, mittelmäßig oder gar nicht Deutsch sprechen. Signi-fikant unterscheiden sich Kinder, deren Mütter sehr gut Deutsch sprechen, nur von Kindern, derenMütter schlecht Deutsch sprechen. Es handelt sich hier um ein schwer interpretierbares Ergebnis, dasmöglicherweise darauf hindeutet, dass die elterliche Deutschkompetenz in ihrer Bedeutung für denkindlichen Deutscherwerb nicht überschätzt werden sollte.

2.3 Ethnolinguistische Vitalität: sozioökonomischer und demographischer Kontext

In Österreich sind Nicht-EU-BürgerInnen wesentlich armutsgefährdeter als EU-BürgerInnen bzw. alsdie österreichische Gesamtbevölkerung. Das mittlere monatliche Nettohaushaltseinkommen ausländi-scher Arbeiterfamilien lag in den 1990er Jahren rund 15% unter jenem vergleichbarer österreichischerFamilien; fast ein Fünftel der MigrantInnen ist sogar als akut arm einzustufen (Buchegger-Traxler

2. Individuelle, soziale und gesellschaftliche Variablen im Zweitspracherwerb von Migrantenkindern in Österreich

267

1995, Förster/Heitzmann 2003). Zudem ist ihre Position am Arbeitsplatz meist eine untergeordnete:Zeitdruck, Monotonie, schwere körperliche Anstrengung und Familienfeindlichkeit der Arbeitszeitensind die Regel. Der Zugang zu privilegierten Segmenten des Arbeitsmarktes ist Arbeitskräften aus demehemaligen Jugoslawien und der Türkei weitgehend verwehrt, innerbetriebliche Aufstiegschancen sindgering. Finanzielle Unsicherheit und ein stark begrenztes Zeitbudget der Eltern für ihre Kinder sindwesentliche Faktoren der Beeinträchtigung des psychosozialen Wohlbefindens von Kindern gerade imMigrationsmilieu (Trapichler 1995, Buchegger-Traxler 1995).

Ebenso wie auf dem Arbeitsmarkt sind auch im Bereich des Wohnens die weniger attraktiven Seg-mente des Marktes für MigrantInnen leichter zugänglich. Der Nichtbesitz der österreichischen Staats-bürgerschaft ist damit fast unweigerlich mit niedrigem Wohnstandard und Ausstattungsarmut verbun-den. Ausländische Kinder schneiden deshalb, was das ungestörte Lernen, Spielen oder Einladen vonFreunden angeht, vergleichsweise schlecht ab. Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten werden vonden Kindern als eingeschränkt erlebt, das Ergreifen von Initiativen scheint ihnen weit weniger aus-sichtsreich als österreichischen Kindern (Buchegger-Traxler 1995).

Dass die Einkommenshöhe im Elternhaus in engem Zusammenhang mit der schulischen Leistungeines Kindes steht, ist seit langem Allgemeinwissen (UNICEF 1987) und lässt sich an zahlreichen Sta-tistiken zur Bildungsbeteiligung von Kindern aus einkommensschwachen Haushalten ablesen (Hradil2001). Für Migrantenkinder trifft dieser Zusammenhang in erhöhtem Maß zu. Die Auswirkungenökonomischer Beengtheit werden bei ihnen noch durch die minoritäre Situation verstärkt; die Bil-dungsbeteiligung ist entsprechend niedrig (Müller 1997, Gröpel 1999, Herzog-Punzenberger 2003).Zum ökonomischen Status kommt der gesellschaftliche Kontext – Akzeptanz, Assimilationsdruckoder Diskriminierung – als weiteres wesentliches Kriterium für den Status einer Bevölkerungsgruppeund damit für ihre Lern- und Ausbildungschancen. Migrantenkinder, die sich Beschimpfungen ausge-setzt sehen, sind in schulischen Belangen signifikant weniger erfolgreich (Gröpel 1999). Die Tatsache,dass rein äußerliche Merkmale für Kategorisierung und Vorurteilsbildung schon genügen, bewirkt,dass sich die „ausgeprägte Ablehnung sichtbarer Migrantengruppen“ besonders an islamischen Frauenbzw. Mädchen artikuliert: „TürkInnen sind in allen Interaktionskontexten diejenigen, welche mit Dis-kriminierung am häufigsten konfrontiert werden.“ (Kohlbacher/Reeger 2003: 357, 365).

Auch hinsichtlich ihres demographischen Gewichts unterscheiden sich die beiden großen österrei-chischen Migrantengruppen: Die Einwanderung aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugosla-wien hat in den 1990er Jahren stark zugenommen, sodass im Jahr 2001 der Anteil dieser Gruppe an derGesamtbevölkerung 4,2% (328.300 Personen, d. h. nahezu die Hälfte der ausländischen Wohnbevölke-rung in Österreich) ausmachte, während der Anteil der MigrantInnen aus der Türkei, die mit 130.000Personen die zweitstärkste Gruppe stellen, relativ konstant 1,7% beträgt (Münz, Zuser & Kytir 2003).

Insgesamt hat sich die Zahl der Migrantenkinder an österreichischen Pflichtschulen in den vergan-genen drei Jahrzehnten enorm gesteigert: Von 1,5% Mitte der 1970er Jahre stieg der Anteil auf 14,4%im Schuljahr 2000/01. In Wien hat mehr als ein Drittel der Kinder an den allgemein bildenden Pflicht-schulen eine andere Muttersprache als Deutsch; an den Wiener Volksschulen waren es 34,2%, wobeiauch hier die Familien des weitaus größten Teils der Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien und ausder Türkei stammen (de Cillia 2003).

Zusammen mit dem ökonomischen und gesellschaftlichen Status bilden die demographischenStrukturen und der sprachliche Status (siehe dazu Kapitel 2.5 bzw. Abschnitt 3) die wesentlichstenAspekte des Begriffs der „ethnolinguistischen Vitalität“ einer Sprachgemeinschaft (Clement 1980).Diese ist für den Erhalt der Muttersprache und damit für den Erwerb der Zweitsprache in der Migra-tion von entscheidender Bedeutung. Ist die Vitalität hoch, wird von Angehörigen einer Sprachgemein-schaft die Zweitsprache schneller erworben und die Muttersprache – als Basis für den Zweitspracher-

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

268

werb – auch dann nicht „verlernt“, wenn sie in der Schule keine Verwendung findet (Gardner 1985).Im Fall eingewanderter Minderheiten dagegen, deren ethnolinguistische Vitalität oben dargestelltwurde, hat sich der schulische Verzicht auf die Muttersprache der Kinder in Bezug auf ihren Deutsch-erwerb nicht bewährt. Der niedrige sozioökonomische Status, der hohe Assimilationsdruck und vieleweitere Faktoren erschweren das Entstehen einer erstsprachlichen Basis, an der beim Erwerb derZweitsprache Deutsch angeknüpft werden könnte. Vergleicht man die Erkenntnisse mehrerer europäi-scher Studien, so lautet das Resümee: Sozial hoch platzierte Kinder erwerben die Sprache des Einwan-derungslandes schneller und effektiver (Reich/Roth 2002).

Auf Grund dieser eindeutigen Befunde aus der Literatur wurde auch in der vorliegenden Untersu-chung ein starker Einfluss des sozioökonomischen Status auf den zweitsprachlichen Lernerfolg ange-nommen. Als Indikator für diesen Status dienten aber nicht nur der in Österreich ausgeübte Beruf desVaters,10 sondern auch die Wohn- und Arbeitsbedingungen des Kindes und – weil mit der Aufteilungräumlicher, finanzieller und zeitlicher Ressourcen verbunden – die Anzahl der Geschwister des Kin-des. Zusätzlich wurde das Fernsehverhalten erhoben. Da sich im Lauf der Untersuchung eine Affinitätder allermeisten Kinder zum deutschsprachigen Fernsehprogramm herausstellte und die Programmeaus den Herkunftsländern offenbar dazu tendieren, nur unter dem Einfluss der Anwesenheit der El-tern konsumiert zu werden, lag die Annahme nahe, dass der Konsum hauptsächlich muttersprachli-chen Fernsehens seitens des Kindes (auch) Ausdruck räumlicher Beengtheit ist. Kinder mit eigenemZimmer oder eigenem Fernsehgerät, die nicht auf die Programmauswahl ihrer Eltern angewiesen sind,treffen ihre Wahl fast immer zugunsten deutschsprachiger Programme.

Es wurden daher folgende Annahmen formuliert:

• Hypothese 18: Kinder, deren Väter in Österreich einen (höher) qualifizierten Beruf ausüben undüber ein höheres Einkommen verfügen, schneiden in Deutsch besser ab als Kinder, deren Väter Hilfs-arbeiten verrichten oder (derzeit) arbeitslos sind und über wenig Einkommen verfügen.

• Hypothese 19: Einzelkinder oder Kinder mit wenigen Geschwistern, denen das materielle und zeit-liche Budget der Eltern (weitgehend) ungeteilt zur Verfügung steht, schneiden in Deutsch besser ab alsKinder mit vielen Geschwistern.

• Hypothese 20: Kinder aus Familien mit großzügigen Wohn- und Arbeitsbedingungen schneiden inDeutsch besser ab als Kinder aus beengten Verhältnissen.

• Hypothese 21: Kinder, die auf Grund großzügiger Wohnbedingungen die Wahl der Fernsehsen-dungen selbst treffen können (und deshalb meist deutschsprachige Sendungen sehen), schneiden inDeutsch besser ab als Kinder, die auf Grund beengter Wohnbedingungen hauptsächlich auf die elter-liche Auswahl des Fernsehprogramms (und daher auf Sendungen aus dem Herkunftsland) angewiesensind.

Beruf des Vaters, Anzahl der Geschwister des Kindes, Wohn- und Arbeitsbedingungen sowie Fern-sehverhalten wurden im Rahmen der Gespräche mit den Eltern erhoben (siehe Tabelle 4).

Die Annahmen aus den Hypothesen 18 bis 21 bestätigten sich für die hier untersuchte Gruppe derKinder:

• Ergebnis 18: Die Kinder qualifizierter Arbeiter schneiden in Deutsch signifikant besser ab als dieKinder von Hilfsarbeitern oder Vätern, die (derzeit) arbeitslos sind.

• Ergebnis 19: Kinder ohne Geschwister bzw. Kinder mit einem, zwei oder drei Geschwistern schnei-den in Deutsch signifikant besser ab als Kinder mit vier oder fünf Geschwistern.

2. Individuelle, soziale und gesellschaftliche Variablen im Zweitspracherwerb von Migrantenkindern in Österreich

269

10 Die Mütter sind in vielen der untersuchten Familien nicht berufstätig.

• Ergebnis 20: Kinder mit eigenem Zimmer bzw. mit einem ruhigen Arbeitsplatz schneiden inDeutsch hochsignifikant besser ab als Kinder ohne eigenes Zimmer oder ruhigen Arbeitsplatz.

• Ergebnis 21: Kinder, die ausschließlich deutschsprachige Fernsehsendungen oder zusätzlich zu dendeutschsprachigen auch Sendungen aus dem Herkunftsland sehen (können), schneiden in Deutschsignifikant besser ab als Kinder, die ausschließlich Sendungen aus dem Herkunftsland sehen (können).

2.4 Vorschulische und schulische Bildung

Der Besuch eines Kindergartens ist für das Sprach- und Sozialverhalten von größter Bedeutung(Kiese-Himmel/Kruse 1994, Kolonko 1996), hält in seiner Wirkung auf Migrantenkinder aber Über-raschungen bereit: Während die Deutschkompetenz von Kindern aus dem ehemaligen Jugoslawienvom Besuch eines deutschsprachigen Kindergartens offenbar besonders profitiert, scheint die Wir-kung auf die Deutschkompetenz türkischer Kinder schwächer zu sein oder ganz auszubleiben(Olechowski, Hanisch, Katschnig, Khan-Svik & Persy 2001, Aytemiz 1990).

Diese Befunde lassen die mittlerweile „klassischen“ skandinavischen Untersuchungen von Skut-nabb-Kangas und Toukomaa aus den 1970er Jahren hochaktuell erscheinen, in denen die Sprach-kompetenzen finnischer Migrantenkinder in Schweden nach schwedischsprachigem bzw. nach fin-nischsprachigem Kindergartenbesuch überprüft und verglichen wurden. Der Vergleich fiel eindeutigzugunsten jener Kinder aus, die den finnisch-muttersprachlichen Kindergarten besucht hatten: Sieentwickelten sich in der Muttersprache altersgemäß, während die finnischen Migrantenkinder mitschwedischsprachigem Kindergartenbesuch sowohl in der Muttersprache als auch in der Zweitspra-che Schwedisch dramatisch schlechter abschnitten: „Mangelhaftes Lesen und Schreiben, mangelhafte

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

270

Tabelle 4: Deutschkompetenz der Migrantenkinder nach Beruf des Vaters, Anzahl der

Geschwister, Wohn- und Arbeitsbedingungen für das Kind, Fernsehverhalten des Kindes

in

Österreich

ausgeübter

Beruf des

Vaters

qualifizierterArbeiterN = 13

Hilfsarbeiter

N = 21

arbeitslos

N = 6

X s X s X s p

11,15 1,63 9,05 2,44 8,67 2,34 ,019

Anzahl der

Geschwister

des Kindes

keineN = 6

1N = 20

2–3N = 34

4–5N = 3

X s X s X s X s p

11,50 1,38 10,85 2,03 10,12 2,25 6,33 0,58 ,004

Wohn- und

Arbeitsbe-

dingungen

des Kindes

ruhiger Platz, keineigenes Zimmer

N = 15

eigenes Zimmer

N = 13

kein ruhiger Platz,kein eigenes Zimmer

N = 11

X s X s X s p

10,87 1,10 10,85 1,99 8,00 1,90 <,001

Sprache

und TV-

Verhalten

des Kindes

deutsch-sprachigesTV

N = 33

Deutsch + L1

N = 14

L1

N = 5

X s X s X s p

10,88 2,10 9,36 2,10 7,80 2,68 ,005

N = Anzahl der Kinder, X = Mittelwert der Deutschkompetenz, s = Standardabweichung, p = Signifikanz

kognitiv-akademische Sprachfähigkeiten, eingeschränkte Problemlösefähigkeit, reduzierte Kommuni-kation mit dem Lehrer“ – so präsentierte sich die Situation der Kinder zu Schuleintritt und in den da-rauffolgenden Jahren (Fthenakis, Sonner, Thrul & Walbiner 1985: 55). Das im schwedischsprachigenKindergarten entstandene Defizit in der Erstsprache Finnisch machte sich während der Schulzeit zu-nehmend bemerkbar: Die Muttersprache war zu schwach entwickelt, um als Basis für die Sprache desEinwanderungslandes dienen zu können; der Rückstand im Schwedischen aber konnte – trotz schwe-dischsprachigen Kindergartens (!) – anhand nur sprachlicher, nicht sinnlicher schulischer Förderungnicht aufgeholt werden: „Ohne die Verwurzelung in der Erfahrung besteht die Gefahr des Erwerbsmehr oder weniger leerer, für das Individuum sinnloser Begriffe.“ (ebenda: 54). Für die finnischenKinder mit schwedischsprachigem Kindergartenbesuch ist zudem eine weitere Beeinträchtigung do-kumentiert: Im schwedischsprachigen Schulunterricht traten neben den anderen Problemen auch beider akustischen Sprachwahrnehmung Schwierigkeiten auf, die sich negativ auf die spätere Schreibfä-higkeit der Kinder auswirkten. Im Zuge der Recherche für die vorliegende Studie berichteten mehre-re österreichische SprachheilpädagogInnen von der Beobachtung ganz ähnlicher akustischer Sprach-wahrnehmungsschwierigkeiten vornehmlich an türkischen Volksschulkindern (Interview Lammer,31. 1. 2003).

Zusammenfassend ist zu sagen, dass die skandinavischen Befunde zum besseren Verständnis dervorschulischen sprachlichen Entwicklung gerade türkischer Kinder verstärkt herangezogen werdensollten. Die Situation finnischer Kinder in Schweden und türkischer Kinder in Österreich ist nicht nurin Bezug auf die sozialen Umstände ähnlich; auch der sprachstrukturelle Abstand des Finnischen vomSchwedischen ist dem des Türkischen vom Deutschen vergleichbar. Der Kindergartenbesuch, für Mi-grantenkinder mindestens ebenso wichtig wie für Kinder der Sprachmehrheit, erhält damit einenneuen Aspekt. Die Frage, in welchen Sprachen die bestmögliche vorschulische Förderung stattfindensollte, ist nach wie vor offen; in der Literatur zeichnet sich jedoch deutlich eine Tendenz in Richtungmuttersprachlicher Förderung ab (Jampert 2002).

Auch zu anderen Formen vorschulischer Erziehung unmittelbar vor Schuleintritt zeigt sich schonin älteren Untersuchungen relativ einheitlich, dass die Deutschkompetenz der Migrantenkinder nichtprofitiert, wenn diese Klassen bzw. Gruppen eine segregative Unterrichtsform für Kinder mitschlechten Deutschkenntnissen darstellen (vgl. Olechowski, Hanisch, Katschnig, Khan-Svik & Persy2001).

Der Schuleintritt stellt für Kinder vor allem im sprachlichen Bereich einen gravierenden Ein-schnitt dar. Während die vorschriftliche Phase durch alltagssprachlich-kommunikative Grundfertig-keiten charakterisiert ist, überschreiten Kinder beim Lesen- und Schreibenlernen die Schwelle zurAbstraktion und erreichen damit den Bereich der kognitiv-akademischen (auch: „kognitiv-schuli-schen“) Sprachkompetenz (Cummins 1984). Weil das Überschreiten dieser für den weiteren Bil-dungsweg entscheidenden Schwelle bei Migrantenkindern in einer für sie (meist) fremden Sprache er-folgt, sind gerade VolksschullehrerInnen vor einen ganzen Komplex zusätzlicher Aufgaben gestellt:Das Vermitteln der Fremdsprache Deutsch mittels „vereinfachten Inputs“ (Hatch 1983), das Gestal-ten eines an Sinneswahrnehmungen reichen Unterrichts (Paris 1997), das Vermeiden von Misser-folgserlebnissen (Schiesser/Theurl 2001) und das Einbeziehen der Eltern der Migrantenkinder alswesentliche muttersprachliche Instanzen (Fthenakis, Sonner, Thrul & Walbiner 1985) sind nur einigeder zahlreichen Anforderungen an die LehrerInnen, zu deren Bewältigung es einer speziellen Ausbil-dung und eines großen zeitlichen Spielraums bedarf; tatsächlich existiert weder der zeitliche Spiel-raum noch die spezielle Ausbildung. Obwohl an Wiener Volksschulen über 40% der Kinder eine an-dere Muttersprache als Deutsch sprechen, werden an den Pädagogischen Akademien in den Berei-chen „Deutsch als Zweitsprache“ und „Interkulturelles Lernen“ für zukünftige VolksschullehrerIn-

2. Individuelle, soziale und gesellschaftliche Variablen im Zweitspracherwerb von Migrantenkindern in Österreich

271

nen bis heute keinerlei verpflichtende Lehrveranstaltungen angeboten;11 interkulturelle Inhalte sindzwar in verschiedenen Fächern in irgendeiner Form enthalten, jedoch nicht im Fach Didaktik und beiWeitem nicht an allen vierzehn österreichischen Pädagogischen Akademien (de Cillia 2003). Der fürdie gesamte schulische Karriere von Migrantenkindern entscheidende Grundschulbereich ist damiteklatant unterversorgt, und die an die VolksschullehrerInnen gerichteten Anforderungen sind kaumrealisierbar.

Gleiches gilt für den Bereich der Sprachheilpädagogik: Die für den Migrationskontext unzurei-chende Ausbildung, die Monolingualität der Therapie und das Fehlen geeigneter Therapieverfahrenversetzen PädagogInnen in der Praxis häufig in die Lage, „Behelfsverfahren“ für die bilinguale Situa-tion entwerfen zu müssen, ohne sich dabei auf entsprechende Erfahrungen oder Theorien stützen zukönnen (Lengyel 2000). Zunehmend machen TherapeutInnen deshalb auf die Gefahr von Fehldiag-nosen aufmerksam. Bei näherer Kenntnis der einzelnen Migrantensprachen stellen sich Sprachauffäl-ligkeiten der Kinder im Deutschen nicht selten als Interferenzerscheinungen mit der Mutterspracheheraus (Interview Lammer, 31. 1. 2003). Für die Sprachheiltherapie wird daher, ebenso wie für den ge-samten Volksschulbereich, großer Handlungsbedarf diagnostiziert und gefordert, die Abklärung vonAuffälligkeiten in der Zweitsprache nur vor dem Hintergrund zusätzlicher muttersprachlicher Diagno-se durchzuführen (Lengyel 2000).

Verglichen mit der Qualifikation der LehrerInnen sind andere Aspekte des Unterrichts von nurzweitrangiger Bedeutung. Als in seinen Auswirkungen vielfach überschätzter bzw. falsch eingeschätz-ter Faktor dürfte sich etwa der Anteil „ausländischer“ Kinder in der Klasse erwiesen haben: Währendein Anteil von 30% manchen AutorInnen für einen erfolgreichen Zweitspracherwerb gerade noch ver-kraftbar erscheint, kommt eine Wiener Studie zum gegenteiligen Ergebnis: In Klassen mit höheremAnteil an Kindern mit einer anderen Muttersprache als Deutsch schneiden diese in Deutsch tendenzi-ell besser ab. Es liegt die Vermutung nahe, dass ein didaktisch angepasstes Vorgehen der LehrerInnenin Klassen dieser Zusammensetzung die Ursache für den besseren Deutschlernerfolg der Kinder ist(Olechowski, Hanisch, Katschnig, Khan-Svik & Persy 2001).

Von allen genannten Aspekten konnten in der vorliegenden Studie nur der Kindergartenbesuch, derBesuch einer so genannten vorschulischen Vorlaufgruppe12 und der Anteil an Kindern mit einer anderenMuttersprache als Deutsch erhoben werden. Der Kindergartenbesuch konnte allerdings nur hinsichtlichseines Zusammenhangs zur Deutschkompetenz aller untersuchten Kinder insgesamt überprüft werden,nicht aber hinsichtlich etwaiger unterschiedlicher Auswirkungen je nach Herkunftsland der Kinder, da hiergrundsätzlich verschiedene Ausgangspositionen vorliegen: Von den Kindern mit ein bis zwei Kindergar-tenjahren kommen elf aus der Türkei, aber nur acht aus dem ehemaligen Jugoslawien; von den Kindernmit mindestens drei Kindergartenjahren sind dagegen 21 aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens bzw. ausanderen Ländern, aber nur zwei aus der Türkei. Ein Vergleich nach Herkunftsländern wäre somit nichtsinnvoll, da sich die Wirkung des deutschsprachigen Kindergartenbesuchs in diesem Sample vor allem ander Gruppe der Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien entfalten konnte.

Im Sinne der vorliegenden Befunde aus der Literatur wurden folgende Annahmen formuliert:

• Hypothese 22: Kinder, die einen deutschsprachigen Kindergarten besucht haben, schneiden inDeutsch besser ab als Kinder, die keinen Kindergarten besucht haben. Diese Hypothese gilt allerdings

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

272

11 Die einzige Ausnahme stellt die verpflichtende Lehrveranstaltung „Interkulturellles Lernen“ dar, die jedoch nur an der Päd-agogischen Akademie des Bundes in Wien verpflichtend im Studienplan enthalten ist (de Cillia 2003).

12 Ziel des Wiener Projekts „Vorschulische Vorlaufgruppen“ ist die soziale und sprachliche Unterstützung von Kindern, die imdarauf folgenden September in die 1. Volksschulklasse aufgenommen werden und die keinen Kindergarten besucht haben.Vgl. bm:bwk (Hg.): Den ersten Schritt gehen wir gemeinsam. Wien 2002, S. 30.

nur für ein Sample, das sich mehrheitlich aus Kindern aus dem ehemaligen Jugoslawien mit Kindergar-tenbesuch zusammensetzt; für ein Sample mit mehrheitlich türkischen Kindern würde die Hypotheseanders lauten.

• Hypothese 23: Kinder, die eine vorschulische Vorlaufgruppe besucht haben, unterscheiden sich inihrer Deutschkompetenz nicht von Kindern, die keine Vorlaufgruppe besucht haben.

• Hypothese 24: Kinder aus Schulklassen mit einem höheren Anteil an „ausländischen“ Kindernschneiden in Deutsch besser ab als Kinder aus Klassen mit einem niedrigen Anteil an Migranten-kindern.

Die Daten zum Besuch eines Kindergartens oder einer Vorlaufgruppe sowie die Daten zur Klassenzu-sammensetzung wurden den Stammdatenblättern entnommen. In jeder der vier Zellen zum Anteil„ausländischer“ Kinder (76%, 96%, 88%, 50%) befinden sich zwei der Schulklassen, denen die hieruntersuchten Kinder angehören. Die Ergebnisse lauten:

Tabelle 5: Deutschkompetenz der Migrantenkinder nach Besuch eines deutschsprachigen

Kindergartens bzw. einer Vorlaufgruppe, Anteil „ausländischer“ Kinder in der Klasse

Kindergarten-

besuch des

Kindes in

Österreich

3 Jahre oder mehrN = 23

1 bis 2 JahreN = 19

gar nichtN = 19

X s X s X s p

11,70 1,36 9,68 2,43 9,26 2,13 <,001

Besuch einer

Vorlaufgruppe

des Kindes in

Österreich

0,5 JahreN = 5

1 JahrN = 6

gar nichtN = 27

X s X s X s p

11,00 1,87 9,83 2,32 9,63 2,56 ,525

Anteil der

Kinder mit

anderer L1 als

Deutsch in der

Klasse

76% = 19 von 25N = 13

96% = 24 von 25N = 34

88% = 22 von 25N = 9

50% = 12 von 24N = 3

X s X s X s X s p

11,08 1,38 10,79 2,00 8,44 2,79 6,67 1,15 <,001

N = Anzahl der Kinder, X = Mittelwert der Deutschkompetenz, s = Standardabweichung, p = Signifikanz

Die Annahmen der Hypothesen 22 und 23 bestätigten sich für unser Sample:

• Ergebnis 22: Kinder, die drei Jahre oder mehr einen deutschsprachigen Kindergarten besucht ha-ben, schneiden in Deutsch hochsignifikant besser ab als Kinder, die ihn ein bis zwei Jahre oder garnicht besucht haben.

• Ergebnis 23: Kinder, die eine Vorlaufgruppe besucht haben, unterscheiden sich in ihrer Deutsch-kompetenz nicht von Kindern, die keine Vorlaufgruppe besucht haben.

Hypothese 24 bestätigte sich nur teilweise:

• Ergebnis 24: Kinder aus Schulklassen mit einem Anteil an Migrantenkindern von 96% (24 von 25)bzw. 76% (19 von 25) schneiden hochsignifikant besser ab als Kinder aus Schulklassen mit einem An-teil an Migrantenkindern von 88% (22 von 25) bzw. 50% (12 von 14) (zur Interpretation siehe Kapi-tel 2.6).

2. Individuelle, soziale und gesellschaftliche Variablen im Zweitspracherwerb von Migrantenkindern in Österreich

273

2.5 Kompetenz des Kindes in der Muttersprache

Die Frage, welche Rolle die Muttersprachkompetenz für das Erlernen jeder weiteren Sprache spielt, istrasch beantwortet – die Erfahrung vieler LehrerInnen im schulischen Fremdsprachunterricht zeigt,dass beim Erwerb der neuen Sprache leichter auf Muster zurückgegriffen wird, die in der Mutterspra-che bereits erworben wurden: Wahrgenommen werden kann, was an vorhandene Strukturen anknüpft(Paris 1997)13.

Diese Erkenntnis ist nicht neu, stellt aber im Zusammenhang mit Migrantenkindern ein ungleichbrisanteres Thema dar. Da es sich hier um Muttersprachen mit niedrigem Prestige handelt, dauerte eslange, bis sie Eingang in die Schulen europäischer Einwanderungsgesellschaften fanden, obwohl dietheoretischen Grundlagen schon in den 1970er Jahren von Skutnabb-Kangas14 bzw. in den 1980er Jah-ren von Cummins gelegt waren.

Cummins geht in seiner Interdependenz- bzw. Schwellenniveauhypothese von zwei verschiedenenBereichen aus, die die Muttersprachkompetenz eines Kindes ausmachen: In der vorschulischen Phasebefindet sich das Kind im Bereich der alltagssprachlich-kommunikativen Grundfertigkeiten („basic in-terpersonal communicative skills“, BICS) und verfügt damit über Kompetenz hinsichtlich Phonologie,Sprachflüssigkeit, Grundwortschatz und Grundlagen der Syntax. Wird es in der Muttersprache alpha-betisiert, so überschreitet es die Schwelle zur Abstraktion und erreicht damit den Bereich der kognitiv-akademischen oder „kognitiv-schulischen“ Sprachkompetenz15 („cognitive academic language profi-ciency“, CALP), zu dem kontextfreie Grammatikbeherrschung, Morphologie, erweiterter Wortschatz,Leseverständnis und Schreibfähigkeit gehören. Ob kognitiv-schulische CALP-Fähigkeiten in der Mut-tersprache erreicht wurden, ist nach Cummins für das Erlernen einer Zweitsprache entscheidend: DerCALP-Bereich lässt sich, einmal etabliert, von der Muttersprache in jede weitere Sprache übertragen.Wird er hingegen, z. B. infolge fehlender muttersprachlicher Alphabetisierung, nicht erreicht, dann istdas Resultat die unvollständige Beherrschung sowohl der Mutter- als auch der Zweitsprache, d. h. sub-traktiver Bilingualismus (Cummins 1984)16.

Das muttersprachliche Lesen- und Schreibenlernen ist also nicht nur für die Zweitsprache, sondernauch für die Muttersprache selbst von grundsätzlicher Bedeutung: Der Prozess der Grammatikalisie-rung, d. h. der „diachrone Prozess der Desemantisierung, Formalisierung und Schematisierung se-mantischer Optionen“ bzw. das „Unterprogramm des Sprechens, das eine Nachricht im Einklang mitden grammatischen Form- und Abfolgeregeln einer Sprache linearisiert“ und „von den vorgrammati-schen Einwortäußerungen zur Hervorbringung grammatisch nonkonformer Sprachwerke führt“(Knobloch, zit. nach Fichtner 2001: 167), setzt sich auch nach den ersten Lebensjahren fort: „Offen-sichtlich ist dieser Prozess mit dem Spracherwerb der Kinder nicht abgeschlossen; einen wesentlichenSchub erfährt er durch den Schriftspracherwerb.“ (Fichtner 2001: 167). Das heißt: Der Muttersprach-erwerb kann erst nach erfolgter Alphabetisierung als vollständig bezeichnet werden.17

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

274

13 Wobei Paris hier zusätzlich zu den sprachlichen Strukturen die Gesamtheit an Sinneserfahrungen meint.14 Siehe Kapitel 2.4.15 Es wird in der vorliegenden Studie der Begriff der „kognitiv-schulischen Sprachkompetenz“ bevorzugt, da es in Kapitel 2.5

vorrangig um die schulische Alphabetisierung von Migrantenkindern und in Abschnitt 3. um den Schulbesuch der Elternge-neration im Herkunftsland geht.

16 Die mannigfaltige Kritik an Cummins’ Hypothesen kann hier nicht diskutiert werden; die vorliegende Studie orientiert sich –im Bewusstsein dieser Kritik – dennoch an Cummins, einerseits, weil bislang keine Nachfolgetheorie existiert, andererseits,weil Cummins’ Ansatz der sprachlichen Situation der MigrantInnen am ehesten gerecht wird.

17 Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, dass die „Vollständigkeit“ des Mutterspracherwerbs sich hier ausschließlich aufden Kontext (west)europäischer Industrienationen bezieht, an deren Anforderungen die Sprachkompetenzen der Migran-tenkinder letztlich gemessen werden. Ein Spracherwerb, der hier als vollständig gilt, kann selbstverständlich für andere kultu-relle Kontexte dennoch unzureichend sein.

Dem muttersprachlichen Unterricht für Migrantenkinder kommt deshalb im Sinne von Cumminsbzw. Fichtner eine Doppelfunktion zu: Er soll sowohl den vollständigen Erwerb der Muttersprache alsauch die Basis für einen vollständigen Erwerb der Zweitsprache sichern. Wie viel Zeit für diese Aufga-ben im Rahmen der Volksschule zur Verfügung steht, lässt sich anhand eines Vergleichs unterschiedli-cher Modelle ableiten (vgl. Reich/Roth 2002):

Es existieren international1. zweisprachige Two-Way-Immersions-Programme (Kinder der Sprachmehrheit und der Sprach-

minderheit werden gemeinsam unterrichtet, und zwar während der gesamten Schulzeit und in bei-den Sprachen zu gleichen Teilen),

2. zweisprachige Language-Maintenance-Programme (die Muttersprache der Sprachminderheit wirdals Unterrichtssprache für einen wesentlichen Teil des Unterrichts verwendet und als Gegenstandunterrichtet),

3. zweisprachige transitorische Programme (die Muttersprache der Sprachminderheit dient in denersten Schuljahren als Unterrichtssprache und wird nach und nach durch die Mehrheitsspracheersetzt),

4. Immersionsprogramme (die Kinder der Sprachminderheit erhalten zwar keinen muttersprachli-chen Unterricht, dafür aber speziellen Unterricht in der Zweit-, d. h. in der Mehrheitssprache, undzwar von eigens dafür qualifizierten, selbst meist zweisprachigen LehrerInnen) und

5. Submersionsprogramme (der Unterricht verläuft in der Mehrheitssprache; zusätzlich kann ent-weder muttersprachlicher Unterricht und/oder Stützunterricht in der Zweitsprache angebotenwerden).

Wie in praktisch allen europäischen Ländern, so sind auch in Österreich die Bedingungen die des letztge-nannten Typs: Es wird darauf vertraut, dass Migrantenkinder die Zweitsprache durch den Kontakt zu denKindern ihrer Klasse und infolge des ausschließlich deutschsprachigen Unterrichts gleichsam „von selbst“erlernen. Von den VolksschullehrerInnen wird erwartet, dass sie einem oft erheblichen Teil der Klasse dieneue Sprache sozusagen „nebenher“ und zusätzlich zum regulären Unterrichtsstoff vermitteln. Vom mut-tersprachlichen Unterricht aber, sofern die Schulen einen solchen anbieten, wird erwartet, sowohl Mutter-als auch Zweitsprache der Migrantenkinder zu festigen, Persönlichkeits- und Identitätsbildung zu unterstüt-zen und die Bikulturalität insgesamt zu fördern (de Cillia 2003) – dies alles in durchschnittlich etwa zwei,höchstens sechs Wochenstunden. Die Möglichkeiten sind schon aus diesen Gründen als stark begrenzt zubezeichnen, sie sind es aber auch noch in anderer Hinsicht: Der überwiegende Teil der muttersprachlichenLehrerInnen steht Jahr für Jahr von neuem in einem befristeten Dienstverhältnis, selbst nach längeren unun-terbrochenen Beschäftigungszeiten (Çınar/Davy 1998: 51). Daraus und aus der rechtlichen Ausgestaltungder Dienstverhältnisse in der Mehrzahl der Fälle als Sondervertragsverhältnisse (Çınar/Davy 1998: 52) resul-tiert für die LehrerInnen die Unmöglichkeit einer längerfristigen Lebensplanung und für den muttersprachli-chen Unterricht eine insgesamt randständige Position, da er, über die genannten Umstände hinaus, auchnicht zu den Pflichtgegenständen gehört, nicht benotet wird und in seinem Zustandekommen von der An-zahl der Anmeldungen abhängig ist (de Cillia 2003).

Dass der muttersprachliche Unterricht selbst unter diesen Bedingungen Wirkung zeigt, belegengleich mehrere österreichische Untersuchungen: Migrantenkinder, die auch in ihrer Erstsprache alpha-betisiert werden, lernen die Zweitsprache schneller und leichter (Selber 1994), verfügen im Deutschenüber einen größeren Wortschatz (Strnad 1996) und schreiben differenziertere und variationsreicheredeutschsprachige Texte (Grosse 2000). Zudem wirkt sich der muttersprachliche Unterricht hochsignifi-kant angstmindernd aus (Schiesser/Theurl 2001) und steht damit in direkter Verbindung zur VariableSelbstvertrauen/Angst, die gerade bei Angehörigen von Sprachminderheiten über den zweitsprachli-

2. Individuelle, soziale und gesellschaftliche Variablen im Zweitspracherwerb von Migrantenkindern in Österreich

275

chen Erfolg wesentlich mitentscheidet (siehe Kapitel 2.1). Untersuchungen zur Situation in Deutsch-land kommen zu demselben Schluss (Fritsche 1982, Apeltauer 1987, Baur/Meder 1992, Nehr/Karajoli1995, Apeltauer 1997) und werden von französischen und niederländischen Studien bestätigt, deren Er-gebnisse sich allerdings auf eine unter wesentlich besseren Bedingungen stattfindende muttersprachli-che Alphabetisierung beziehen: Hier ist die Migrantensprache (Arabisch) im ersten Jahr fast ausschließ-liche, in den folgenden Jahren immer noch teilweise Unterrichtssprache und wird erst nach und nachdurch die Sprache des Einwanderungslandes ersetzt. Kinder, die in dieser Art alphabetisiert wurden,sind nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich in Muttersprache und Zweitsprache jenen Kindernüberlegen, die nur in der Zweitsprache alphabetisiert wurden (Appel 1984, Groux 1998).

Einige der österreichischen Befunde deuten, unabhängig von etwaiger Förderung, auf einen Un-terschied in der Muttersprachkompetenz zwischen Kindern aus dem ehemaligen Jugoslawien und derTürkei hin, der sich mit den im Rahmen der vorliegenden Sprachstandserhebung gemachten Erfah-rungen deckt: Verglichen mit den übrigen untersuchten Migrantenkindern schneiden die Kinder ausder Türkei nicht nur in Deutsch, sondern auch in ihrer Muttersprache etwas schlechter ab (siehe Kapi-tel 1.1., Strnad 1996, Grosse 2000, Olechowski, Hanisch, Katschnig, Khan-Svik & Persy 2002). DieFrage nach den Gründen bleibt in der Literatur offen und wird deshalb im zweiten Teil der vorliegen-den Studie (Abschnitt 3) aufgegriffen.

Zusammenfassend können die wissenschaftlichen Befunde zur Muttersprachförderung sowohl fürKinder aus der Türkei als auch aus dem ehemaligen Jugoslawien als eindeutig positiv bezeichnet wer-den: „Mehrjähriger fachbezogener Unterricht im Medium der Erstsprache ist der stärkste Prädiktorfür einen späteren erfolgreichen Abschluss der Schullaufbahn.“ (Reich/Roth 2002: 20).

Im Rahmen der vorliegenden Studie wurde vor allem die Muttersprachkompetenz der Migrantenkin-der zu Schuleintritt auf ihre Beziehung zur Deutschkompetenz (am Ende der 3. Klasse) hin untersucht;zusätzlich soll nochmals an Ergebnis 4 (siehe Kapitel 2.1) erinnert werden, demzufolge das Interesse bzw.die Beteiligung am muttersprachlichen Unterricht signifikanten Effekt auf die Zweitsprache zeigt. Auchwurde die Deutschkompetenz zu Schuleintritt, über die viele Kinder z. B. infolge eines Kindergartenbe-suchs verfügten, mit der Deutschkompetenz am Ende der 3. Klasse18 in Zusammenhang gebracht.

Eine Überprüfung der Auswirkungen des Muttersprachunterrichts selbst erwies sich als nicht sinn-voll, da es innerhalb der Gruppe der untersuchten Kinder zu viele „Einzelfälle“ (in Bezug auf die ver-schiedenen Varianten dieses Unterrichts und die Anzahl der absolvierten Jahre) gab; in der statisti-schen Auswertung wären demzufolge zu viele Kinder unberücksichtigt geblieben. Angemerkt sei hierauch, dass jede Überlegung zum muttersprachlichen Unterricht und seinen Auswirkungen unter demAspekt der Bedingungen angestellt werden sollte, unter denen er stattfindet. Studien, die seine Wir-kung auf die Zweitsprache direkt und ohne Berücksichtigung der Bedingungsvariablen berechnen,vereinfachen die Zusammenhänge allzu sehr.19

Es wurden in Anbetracht der Befunde aus der Literatur folgende Annahmen formuliert:

• Hypothese 4 (siehe Kapitel 2.1, Tabelle 2): Ein hohes Ausmaß an Aktivität im muttersprachlichenUnterricht geht mit hoher Deutschkompetenz des Kindes am Ende der 3. Klasse einher.

• Hypothese 25: Je höher die Muttersprachkompetenz eines Kindes zu Schuleintritt ist, desto höherist seine Kompetenz in der Zweitsprache Deutsch am Ende der 3. Klasse.

• Hypothese 26: Je höher die Deutschkompetenz eines Kindes zu Schuleintritt ist, desto höher istseine Deutschkompetenz auch am Ende der 3. Klasse.

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

276

18 Ergänzend sei nochmals erwähnt, dass die abhängige Variable in der vorliegenden Untersuchung ausnahmslos die Deutsch-kompetenz der Kinder am Ende der 3. Klasse war.

19 Vgl. dazu die Studie von Olechowski, Hanisch, Katschnig, Khan-Svik & Persy 2002.

Erhoben wurden Deutsch- und Muttersprachkompetenz im Rahmen der Sprachstandserhebung derStudie „Bilingualer Spracherwerb in der Migration“. Die Ergebnisse lauten:

Tabelle 6: Deutschkompetenz nach Muttersprachkompetenz zu Schuleintritt und

Deutschkompetenz zu Schuleintritt

Muttersprachkompetenz zu Schuleintritt N = 53 p <,011

Deutschkompetenz zu Schuleintritt N = 63 p <,001

N = Anzahl der Kinder, p = Signifikanz

Die Auswertung bestätigte die Annahmen der Hypothesen 4 sowie 25 und 26:

• Ergebnis 4 (siehe Kapitel 2.1, Tabelle 2): Die Kinder unterscheiden sich in ihrer Deutschkompetenzhinsichtlich ihrer Aktivität im muttersprachlichen Unterricht (als Indikator für erstsprachliche Motivat-ion): Kinder, die im muttersprachlichen Unterricht sehr, durchschnittlich oder unterschiedlich aktivsind, schneiden in der Zweitsprache Deutsch signifikant besser ab als Kinder, die sich wenig oder garnicht beteiligen.

• Ergebnis 25: Je höher die Muttersprachkompetenz eines Kindes zu Schuleintritt ist, desto höher istseine Kompetenz in der Zweitsprache Deutsch am Ende der 3. Klasse.

• Ergebnis 26: Je höher die Deutschkompetenz eines Kindes zu Schuleintritt ist, desto höher ist seineDeutschkompetenz auch am Ende der 3. Klasse.

2.6 Zwischenstand: wichtige Variablen und offene Fragen

Eine reine Aneinanderreihung von Untersuchungen zu einzelnen spracherwerbsexternen Faktorenwird der Komplexität individueller, sozialer und gesellschaftlicher Einflüsse auf den Spracherwerb mitSicherheit nicht gerecht. Das Zusammenspiel der Faktoren untereinander – gut erkennbar z. B. an derVariable Selbstvertrauen/Angst – könnte nur in einem komplexen Modell adäquat dargestellt werden.Modelle sind für diesen Bereich jedoch rar: Sie behandeln entweder ausschließlich den Spracherwerbselbst, ohne sich auf soziale Faktoren zu beziehen (Herdina/Jessner 2000), oder ausschließlich sozialeFaktoren angesehener Sprachgemeinschaften, ohne sich auf Migrationsminderheiten anwenden zulassen (Lambert 1979, Clement 1980, Ball 1984, Gardner 1985). Das bislang einzige für den mitteleu-ropäischen Migrationskontext gedachte und empirisch erprobte Modell dürfte das sozialpsychologi-sche Modell von Müller (1997) sein, das allerdings den Mutterspracherwerb der Migrantenkinder völligausklammert und bilinguale Kinder somit beschreibt, als wären sie monolinguale Sprachlernende. InErmangelung eines geeigneten Modells beschränkt sich die nachfolgende Übersicht daher auf einereine Zusammenfassung der unterschiedlichen Ergebnisse, jedoch immer im Bewusstsein der nichtnur für den Migrationskontext bei weitem zu niedrigen Komplexitätsstufe.

Die in der vorliegenden Studie untersuchten Faktoren umfassen solche ohne Einfluss und solche mitschwachem, mit starkem oder sehr starkem Effekt auf den Zweitspracherwerb der Kinder unseres Sam-ples. Die schon in der Literatur als wenig oder gar nicht wirksam bezeichneten Variablen der Persönlichkeitdes Kindes und seiner zweitsprachlichen Motivation haben auch hier entsprechende Ergebnisse gezeigt.Ebenso wenig ist ein Zusammenhang zwischen dem Zweitspracherwerb von Migrantenkindern und denmeisten Variablen des familiären Hintergrunds zu erkennen: Die Deutschkompetenz der Kinder unter-scheidet sich nicht nach Sprachgebrauch mit den Geschwistern und auch nicht nach Eingebundenheit,Zufriedenheit, Bildungszielen oder Deutschkompetenz der Eltern (bzw. eines Elternteils20). Die Aufent-

2. Individuelle, soziale und gesellschaftliche Variablen im Zweitspracherwerb von Migrantenkindern in Österreich

277

20 Die Deutschkompetenz der Mutter zeigte zwar einen Effekt, der jedoch nur schwer interpretierbar sein dürfte (siehe Kapi-tel 2.2).

haltsdauer von Mutter und Kind in Österreich eignet sich ebenfalls nicht als Erklärungsfaktor für zweit-sprachlichen Lernerfolg, und auch in der Kombination von individuellen und schulischen Faktoren findensich kaum aussagekräftigere Variablen: Das „Vorschuljahr“ für Kinder mit mangelnden Deutschkenntnis-sen zeigt sich am vorliegenden Sample als relativ unwirksam; die Position des Kindes in der Klassenge-meinschaft, die möglicherweise nicht nur als Soziabilitätsindikator, sondern auch als mit der VariableSelbstvertrauen/Angst zusammenhängend interpretiert werden könnte, hat nur geringfügigen, der Anteil„ausländischer“ Kinder in der Klasse nur vorsichtig zu deutenden Effekt.21

Der Besuch des deutschsprachigen Kindergartens und die meist darauf zurückzuführendeDeutschkompetenz des Kindes zu Schuleintritt zeigen dagegen sehr deutliche Wirkung, wobei aber inden Befunden aus der Literatur gerade der Kindergarten die Gruppe der Kinder aus dem ehemaligenJugoslawien von der Gruppe der Kinder aus der Türkei unterscheidet. Unterschiedslos bedeutend fürden Sprachlernprozess ist dagegen den Befunden aus der Literatur zufolge die Qualifikation der Leh-rerInnen22 sowie der muttersprachliche Unterricht für Migrantenkinder mit seiner hochsignifikant po-sitiven Wirkung auf das Selbstvertrauen (Schiesser/Theurl 2001) und dem in der vorliegenden Studieuntersuchten Aspekt der muttersprachlichen Motivation, die sich in ihrem Effekt auf den Deutscher-werb als entscheidend stärker erwiesen hat als die zweitsprachliche Motivation. Für die kindlicheDeutschkompetenz von tendenziell großer Bedeutung sind außerdem der Bildungshintergrund der El-tern, die (auch) damit zusammenhängende Muttersprachkompetenz des Kindes zu Schuleintritt unddie Frage, ob der Schuleintritt oder die Schulzeit des Vaters in irgendeiner Form mit seiner Migrationzusammengefallen sind, sodass seine eigene Muttersprachentwicklung migrationsbedingt unter er-schwerten Bedingungen ablaufen musste. Besonders scheinen jedoch die verschiedenen Aspekte dessozioökonomischen Hintergrunds, d. h. Beruf bzw. Einkommen des Vaters und, hochsignifikant, dieAnzahl der Geschwister und die verschiedenen Folgen räumlicher Beengtheit am zweitsprachlichenErfolg der hier untersuchten Kinder beteiligt zu sein.

Es bleiben Fragen offen, die weder in der Literatur beantwortet werden noch in den bisherigenKapiteln unserer Studie geklärt werden konnten: Wie sieht der Sprachgebrauch zwischen Eltern undKindern aus? Warum wirkt sich der deutschsprachige Kindergarten auf die Deutschkompetenz vonKindern aus der Türkei weniger positiv aus als auf die Deutschkompetenz anderer Migrantenkinder?Kann es an der Muttersprachkompetenz liegen, die sich ebenfalls aus ungeklärten Gründen nach Her-kunftsländern unterscheidet? Warum hängt die Muttersprachkompetenz im Übrigen bei türkischenKindern wesentlich stärker vom Bildungsgrad der Eltern ab, als es bei Kindern anderer Herkunft derFall ist, und warum ist gleichzeitig die Qualifikationsstruktur vieler TürkInnen vergleichsweise niedrig?

Anhand der bislang untersuchten Faktoren beginnt sich abzuzeichnen, dass ganz besonders gesell-schaftlicher Kontext, sozioökonomische Bedingungen und bildungspolitische Faktoren (wie etwa dieMöglichkeit eines Kindergartenbesuchs, die Qualifikation der LehrerInnen oder der muttersprachlicheUnterricht) entweder über Variablen wie z. B. Selbstvertrauen/Angst oder aber direkt auf die Deutsch-kompetenz von Migrantenkindern Einfluss nehmen. Es liegt also nahe, weiterhin auf dieser Linie Ant-worten auf die offenen Fragen zu suchen und dabei auch die gesellschaftlich-politischen Bedingungenin den Herkunftsländern der MigrantInnen einzubeziehen. Diese können zwar nicht mehr im Sprach-erwerb der Kinder, wohl aber im Spracherwerb der Eltern eine entscheidende Rolle gespielt haben undimmerhin auf diesem Weg, also indirekt, auch für die Kinder von Bedeutung sein: Ein Kind ist bezüg-

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

278

21 Das bei Olechowski, Hanisch, Katschnig, Khan-Svik & Persy (2001) genannte didaktisch angepasste Vorgehen der LehrerIn-nen bei einem höheren Anteil „ausländischer“ Kinder dürfte sich auch im Fall unserer Studie als Erklärungsansatz eignen.

22 Die Qualifikation der LehrerInnen konnte im Rahmen der vorliegenden Studie nicht untersucht werden, wird hier aber derVollständigkeit halber angeführt.

lich seiner Muttersprachentwicklung in der Migration mehr als sonst auf die sprachliche Kompetenzder Eltern und auf den Input, den sie liefern, angewiesen.

Der zweite Teil der soziolinguistischen Studie wird deshalb den beiden Herkunftsländern und so-mit dem Spracherwerb der Eltern der hier untersuchten Migrantenkinder gewidmet sein. Nach einerüberblicksartigen Darstellung der Grundzüge der Bildungs-, Sprach(en)- und Minderheitenpolitik inder Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien sollen einige relevante Faktoren aus diesem Kontext indie Untersuchung des Deutscherwerbs der Kinder unseres Samples einfließen.

2. Individuelle, soziale und gesellschaftliche Variablen im Zweitspracherwerb von Migrantenkindern in Österreich

279

3. Bildungs-, Sprach(en)- und Minderheitenpolitik der

Herkunftsländer der Migrantinnen als Variablen im Spracherwerb

von Eltern und Kindern

3.1 Bildungs-, Sprach(en)- und Minderheitenpolitik in der Türkei und dem ehemaligen

Jugoslawien im 20. Jahrhundert

3.1.1 Sprach- und Bildungspolitik der Türkei

Im Osmanischen Reich, dessen über sechshundertjähriges Bestehen 1922 endete, war die Sprache derKultur, der Administration, der Wissenschaft und der Kunst das in arabischer Schrift geschriebene Os-manische: eine sowohl lexikalische als auch grammatikalische Synthese aus Arabisch, Persisch und Tür-kisch, wobei der Großteil gerade des Lexikons nicht auf türkischen, sondern auf arabischen und persi-schen Wurzeln basierte. Die osmanische Sprache war, ebenso wie das Bildungswesen insgesamt, aus-schließlich Domäne der Bildungsschicht. Mit der im eigentlichen Sinne türkischen Sprache der bäuerli-chen Bevölkerung gab es kaum Berührungspunkte (Yağmur 2001), und Pläne zur Errichtung von Dorf-schulen wurden nie realisiert, sodass in den 1920er Jahren nur etwa 10% der Gesamtbevölkerung diearabische Schrift und damit die osmanische Sprache lesen und schreiben konnten (Wiethold 1981).

Die Dominanz der Geistlichkeit, die traditionellen Normvorstellungen der islamisch geprägtenGesellschaft und die zunehmend erstarrten Barrieren zwischen Stadt- und Landbevölkerung in Spra-che, Kultur und Lebensstandard verlangten nach tiefgreifender Neuorientierung und bildeten schließ-lich, da die Neuorientierung nicht erfolgte, zusätzlich zu territorialen Zerfallserscheinungen dieGrundlage für das Ende des Osmanischen Reichs. Das Bedürfnis nach einem radikalen Bruch mit derin allen Bereichen religiös geprägten Tradition artikulierte sich im türkischen Befreiungskampf(1919–1923) unter Kemal Pascha (später „Atatürk“), der nach Absetzung des osmanischen Sultans dietürkische Republik proklamierte (29. 10. 1923) und in der Folge eine Fülle von Modernisierungspro-zessen einleitete: Ab 1924 wurden die religiös geführten Schulen geschlossen, das Schulsystem verein-heitlicht, religiöse Belange zur Gänze aus allen öffentlichen Bereichen ausgeklammert, das Tragen tra-ditioneller islamischer Kleidungsstücke untersagt und die fünfjährige Schulpflicht – auch für Mädchen– eingeführt. Das Ergebnis der Reformen, d. h. die Gliederung des Schulwesens in die verpflichtendefünfjährige Grundschule, die darauf aufbauende dreijährige Mittelschule und das drei- bis fünfjährigelise (Lycée), blieb bis in die 1990er Jahre bestehen (Özkara 1988, Doyuran 1990, Wolbert 1991). 1928wurde die mehr als sechs Jahrhunderte hindurch verwendete arabische Schrift abgeschafft und an ihrerStelle, mit einer Übergangsfrist von einem Jahr, die Lateinschrift eingeführt. Um die Schriftreform zuverwirklichen und zugleich die Einbindung der Landbevölkerung ins Schulwesen in Angriff zu neh-men, wurden in Städten und Dörfern Kurse zur Erwachsenenbildung abgehalten und auf diesemWege etwa 2,5 Millionen Menschen alphabetisiert (Wiethold 1981).

Die umfassendste Reform betraf jedoch nicht das Bildungswesen oder die Schrift, sondern dieSprache selbst: Da das Osmanische nur zu einem kleinen Teil auf türkischen Wurzeln basierte und aus-schließlich von der Oberschicht beherrscht wurde, musste es einer grundlegenden Neuerung unterzo-gen werden, um als Staats-, Bildungs- und Umgangssprache für alle Teile der Bevölkerung fungieren zukönnen. Diese Wandlung des Osmanischen zur neutürkischen Schriftsprache war keineswegs nur alsReform des Lexikons, sondern als Sprachrevolution und Teil einer ganzen Kulturrevolution konzipiertund als solche ein zentralistisch angelegtes Unterfangen des Staates (Boeschoten 1997: 360). Zuständigfür sämtliche Belange der Sprachreform war die gegen Ende der 1920er Jahre gegründete Türkische

280

Sprachgesellschaft („Türk Dil Kurumu“, TDK), deren Aufgabe es war, das Osmanische von persi-schen und arabischen Elementen zu „reinigen“ und stattdessen neue, auf türkischen Wurzeln basie-rende Formen und Lexeme einzuführen, um die Standardsprache der Sprache der türkischen Landbe-völkerung anzunähern. Dabei wurde auf vier Arten vorgegangen:1. Es wurden – im Großteil der Fälle – durch Kompositabildung und Derivation völlig neue Lexeme

geschaffen, die zwar auf türkischen Grundlagen beruhten, in der türkischen Umgangssprache bisdahin aber nicht enthalten waren.

2. Es wurden in der osmanischen Standardsprache bereits vorhandene Lexeme türkischen Ursprungsausgewählt und ihr semantischer Umfang um eine zusätzliche abstrakte Bedeutung erweitert, umso abstrakte arabische oder persische Wörter zu ersetzen.

3. Es wurden Ad-hoc-Formen aus indoeuropäischen Lexemen (wie z. B. „okul“ aus dem englischen„school“) gebildet.

4. Es wurde auf Wörter aus anatolisch-türkischen Dialekten, aber auch auf andere Turksprachen so-wie auf alttürkische Formen als Quelle neuer Lexeme zurückgegriffen. Diese letzte Gruppe, undinsbesondere die anatolisch-türkischen Wörter, machten allerdings – ganz im Gegensatz zu den ur-sprünglichen Zielen der Sprachreform – nur den kleinsten Teil der Neueinführungen aus, währendder größere Teil aus Neologismen, alten osmanisch-türkischen Wörtern oder Wörtern aus anderenTurksprachen entstand. Damit war das Neutürkische, verglichen mit dem alten osmanischen Wort-schatz, der Sprache der ländlichen türkischen Bevölkerung nur unwesentlich nähergekommen(Boeschoten 1997: 363).

Als zeitlicher Rahmen für die Wandlung des Osmanischen zum Neutürkischen („Öztürkçe“) war eineerste Phase von 1928 bis Mitte der 1930er Jahre vorgesehen. Als Vorgangsweise wählte man das Publi-zieren neuer Ausdrücke u. a. in Zeitungen und überließ die Wahl der treffendsten neutürkischen Lexe-me der Zeitung lesenden Öffentlichkeit; die besten Vorschläge wurden prämiert. Die Komplexität derMaterie, der Umfang der Neuerungen und auch die als demokratisch konzipierte Vorgangsweise selbstzogen jedoch ein erhebliches Maß an Uneinigkeit und Verwirrung im Sprachgebrauch nach sich:

„The new words that were introduced from various sources, in general were not introduced from above, but thereformers went to great length in consulting the public, for example through questionnaires published in themedia. For many concepts, several options were employed at the same time, and the final new forms only emergedafter several decades. Needless to say, quite apart from the different degrees of acceptance by different groups oflanguage users, that this method per se led to a considerable amount of confusion.“ (Boeschoten 1997: 375)

Die Verständlichkeit der Neuschöpfungen litt aber auch unter dem relativ freizügigen Umgang mitdem sprachlichen Material, bedingt durch die Tatsache, dass bis in die 1960er Jahre hinein an derSprachreform ausschließlich Nicht-LinguistInnen beteiligt waren:

„The TDK came up with multiple proposals for each ,Ottoman‘ lexeme, and it was thought that the public wouldeventually pick the best alternative in each case. However, the new words were far from being transparent and thepublic found most of them very strange and incomprehensible.“ (Boeschoten 1997: 360 f.)

Einer der Effekte der weitaus länger als geplant andauernden, bis 1980 mehr oder weniger konsequentdurchgeführten Sprachreform ist der heute für das Neutürkische charakteristische, je nach politischerOrientierung, nach Kontext und Stil variierende Sprachgebrauch, der – ebenso wie die Suche nachdem neuen Wortschatz – ganz entgegen der ursprünglichen Intention der Reform Sache einer einzigenBevölkerungsschicht der Türkei war und ist: der städtischen Bildungselite.

Wie sich die Sprachreform auf die Landbevölkerung auswirkte, ist auf Grund des nahezu vollstän-digen Fehlens dialektologischer Forschung in der Türkei kaum feststellbar (Boeschoten 1991). Da nur

3. Bildungs-, Sprach(en)- und Minderheitenpolitik der Herkunftsländer als Variablen im Spracherwerb

281

die DorfschullehrerInnen über Informationen zur Sprachreform verfügten, während ein Großteil derLandbevölkerung bis in die 1940er Jahre nicht lesen und schreiben konnte und von den Reformvor-gängen daher grundsätzlich ausgeschlossen war, ist anzunehmen, dass die gesellschaftliche undsprachliche Erneuerung bei der Landbevölkerung nur analog zu einem etwaigen Schulbesuch greifenkonnte. Hier aber zeigt sich eine erste Schattenseite der radikal antireligiösen Orientierung der Reform,die zur Verbesserung der Lebensbedingungen auf dem Land hätte führen sollen, tatsächlich aber eineoft abschreckende Wirkung auf die dörfliche Gesellschaft dieser Zeit hatte: Die mehrheitlich traditio-nell orientierten Familien mussten sich durch den radikalen Bruch mit Tradition und Religion eher indie Defensive gedrängt fühlen; es erforderte von religiösen Eltern bei grundsätzlich nicht bildungs-feindlicher Einstellung dennoch große Überwindung, ihre Kinder und besonders die Töchter in Schu-len zu schicken, in denen man der familiären Lebensform ablehnend oder sogar verurteilend gegen-überstand, wie die Berichte eines türkischen Dorfschullehrers aus den 1950er Jahren zeigen:

„Die staatliche Schule, deren Ausstattung mehr als kümmerlich ist, wird von den meisten Dorfbewohnern alsSchule der Ungläubigen bezeichnet, von der man sich keinerlei Nutzen verspricht. Vor allem die Mädchen werdenvon der Schule ferngehalten.“ (Weische-Alexa 1977: 69)

Dass Radikalität und Tempo der Reformen weite Teile der Bevölkerung überfordert haben dürften,zeigen die Zahlen zur Bildungsbeteiligung: 1970 sind immer noch 43,79% aller Personen ab demsechsten Lebensjahr AnalphabetInnen, wobei der Anteil bei den Männern knapp 30%, bei den Frauensogar fast 60% beträgt und in ländlichen Gebieten wesentlich höher liegt als in den Städten (Weische-Alexa 1977, Wiethold 1981, Schmitt 1985, Doyuran 1990). Aber nicht nur die rigorose Ausklamme-rung traditioneller Inhalte aus dem schulischen Bereich verhinderte in vielen Fällen das Entsteheneiner Vertrauensbasis zwischen Eltern und Schule von vornherein; ebenso problematisch war auch derin extrem kurzer Zeit durchgeführte Wechsel vom arabischen zum lateinischen Alphabet, gegen den esebenfalls Widerstand gab: Da dafür nur ein Jahr vorgesehen war,23 wurden viele der Personen in ländli-chen Gebieten, die – oft als einzige im Dorf – die arabische Schrift lesen konnten, im Ablauf dieseseinen Jahres zu AnalphabetInnen. Eine solche Entwicklung hätte durch langsameres Vorgehen undmittels entsprechender Förderung verhindert werden können. Förderungsmaßnahmen für Erwachse-ne wurden jedoch nur im ersten Jahr nach Beginn der Reformen konsequent durchgeführt (Wiethold1981, Doyuran 1990).

Wie schwierig es aber selbst bei einigen Jahren Grundschulbesuch für Kinder aus bäuerlichen Fa-milien gewesen sein muss (und möglicherweise immer noch ist), die schulisch-kognitive Seite der neu-türkischen Sprache zu erwerben, lässt sich nur erahnen. Die Gespaltenheit und Instabilität des Wort-schatzes und die relativ große lexikalische Entfernung des Neutürkischen von der Sprache der Landbe-völkerung dürften eine Situation herbeigeführt haben, in der adäquate (Schrift-)Sprachbeherrschungerst nach überdurchschnittlich langem Schulbesuch möglich war bzw. ist:

„On one doctrine of the Kemalist revolution the Turkish Language Reform has missed out almost completely,that is populism. The elements borrowed from dialects into the standard language form only a tiny portion of thewhole of neologisms. The Turkish Language Reform was, is and will be a concern of the urban elites.“ (Boescho-ten 1997: 376)

Die Sprachreform, insgesamt ein ambitionierter Modernisierungsversuch, konnte deshalb nur für dietürkische Bildungselite erfolgreich verlaufen; für die Landbevölkerung tat sie es nicht. In dieser Hin-

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

282

23 Zum Vergleich: Für die neueste Reform der deutschen Rechtschreibung in Österreich, Deutschland und der Schweiz (nichtannähernd so umwälzend wie die Reform des gesamten Alphabets in der Türkei) wurde eine Übergangszeit von fast zehnJahren, d. h. von 1996 bis 2005, als notwendig erachtet (Hermann 1996).

sicht ähnelt die Lage der mehrheitlich türkischsprachigen Landbevölkerung jener der zahlreichen Min-sicht ähnelt die Lage der mehrheitlich türkischsprachigen Landbevölkerung jener der zahlreichen Min-derheiten der Türkei, deren Angehörige in ihrem Spracherwerb ebenfalls – allerdings aus anderenGründen – besonderen Bedingungen ausgesetzt waren und sind. Ihre Situation soll im folgenden Ka-pitel dargestellt werden.

3.1.2 Sprachen- und Minderheitenpolitik der Türkei

Auf dem Gebiet der heutigen Türkei war die kulturelle und sprachliche Vielfalt seit jeher besondersgroß. Von den mehr als sechzig auch heute noch gesprochenen, meist autochthonen Sprachen sind dienach SprecherInnenzahl wichtigsten (in alphabetischer Reihenfolge): Abaza, Abchasisch, Adygheisch,Albanisch, Arabisch, Armenisch, Assyrisch, Awarisch, Balkarisch, Bosnisch, Bulgarisch, Gagausisch,Georgisch, Griechisch, Hebräisch, Hemshinli, Hertevin, Inguschisch, Kabardinisch, Karapapachisch,Karatschaiisch, Kasachisch, Kirgisisch, Krimtatarisch, Kumykisch, Kurdisch, Ladino, Lasisch, Osse-tisch, Romanes, Russisch, Tatarisch, Tschetschenisch, Türkisch, Turkmenisch, Turoyo, Uigurisch, Us-bekisch und Zaza (Yağmur 2001). Zur Zeit des Osmanischen Reichs wurde das Türkische selbst nurvon einem – im Vergleich zu heute – geringeren Teil der Bevölkerung vor allem in den ländlichen Ge-bieten gesprochen und nahm damit zunächst ebenfalls die Position einer Minderheitensprache ein, diegegenüber der Staatssprache Osmanisch wenig Ansehen genoss. Wichtiger als die Zugehörigkeit zueiner Sprachgemeinschaft war im Übrigen die Religionszugehörigkeit, die die islamische Mehrheitsbe-völkerung, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit, vor allem organisatorisch von den christli-chen und jüdischen Minderheiten des Osmanischen Reichs trennte.

Zerfallserscheinungen im Westen und Osten des Reichs und der Eintritt in den Ersten Weltkrieggingen ab 1915 mit einem regelrechten Krieg des osmanischen Sultans gegen „innere Feinde“ einher,dem vor allem ein Großteil der armenischen Bevölkerung Anatoliens zum Opfer fiel (Wimmer 1991,Dadrian 1997). Eine zusätzliche groß angelegte Vertreibung von rund 700.000 KurdInnen nach West-anatolien im Jahr 1916 veranlasste zahlreiche Angehörige dieser Minderheit, sich dem türkischen Be-freiungskampf unter Kemal Pascha (Atatürk) zwischen 1919 und 1923 anzuschließen und an dieGründung der Republik 1923 auch die Hoffnung auf territoriale und sprachliche Autonomie zu knüp-fen, die bereits vertraglich zugesichert worden war (Sèvres 1920 und Lausanne 1923, vgl. dazu Schmitt1985, Wimmer 1991, VdSaK 1999).

Mit der Proklamation der laizistischen kemalistischen Republik geht jedoch das in osmanischerZeit verbindende Element der „islamischen Bruderschaft“ verloren. Der ideologische Freiraum, dermit der radikalen Abkehr von religiösen Inhalten entsteht, wird von der Idee der „nationalen Vereini-gung“ ausgefüllt, die mit der Existenz derart zahlreicher, kulturell, sprachlich und weltanschaulich di-vergierender Minderheitengemeinschaften unvereinbar scheint (Schmitt 1985: 141 f.). Ab 1924 werdendeshalb die Sprachen der Minderheiten sowohl in geschriebener als auch gesprochener Form verbotenund ihre Schulen geschlossen.24 Mit dem Verschwinden dieser Sprachen aus Medien, Bildung, Kulturund Öffentlichkeit und der Intensivierung der Modernisierungs- und Zentralisierungspolitik der Re-gierung wächst die Unzufrieden-heit vor allem der zahlenstärksten Minderheit der Türkei und artiku-liert sich in immer häufiger wiederkehrenden Aufständen. Ein erster kurdischer Aufstand wird 1925 imGebiet von Diyarbakır niedergeschlagen und mit der Deportation zahlreicher Familien bestraft. Einweiterer Aufstand im Jahr 1930, in dessen Verlauf etwa 10.000 Aufständische und Angehörige sterben,

3. Bildungs-, Sprach(en)- und Minderheitenpolitik der Herkunftsländer als Variablen im Spracherwerb

283

24 Die einzige Ausnahme bilden die nicht-islamischen Minderheiten (d. h. die armenische, griechische und jüdische Minder-heit), die eigene Schulen betreiben dürfen; da aber der Großteil von ihnen nach den osmanischen Genoziden ab 1915 dasLand bereits verlassen hatte – und weil diese Gruppen in der europäischen Arbeitsmigration so gut wie nicht vertreten sind –,wird hier nicht weiter auf ihre sprachliche Situation eingegangen.

wird mit der Zerstörung von rund 500 Dörfern und ebenfalls mit der Deportation mehrerer 100.000Menschen nach Zentral- und Westanatolien beantwortet (Schmitt 1985, Wimmer 1991, VdSaK 1999).Auf die Legalisierung der Deportation als Maßnahme der „Befriedung“ im Jahr 1934 folgt die Unter-teilung des Staatsgebiets in drei Zonen: In mehrheitlich türkischen Gebieten ist die Ansiedlung vonMinderheitenangehörigen vorgesehen, während in die Gebiete mit Minderheitenbevölkerung tür-kischsprachige Familien zuwandern sollen. Jene Gebiete, in denen Aufstände drohen, sollen dagegennach und nach entvölkert werden (Schmitt 1985, Wimmer 1991, Franz 1994, Havrest 1998). Die Vor-gänge des Jahres 1934 ziehen vereinzelte Widerstandsaktivitäten nach sich, die 1937 in der bis dahingrößten Erhebung, dem Aufstand von Dersim, gipfeln. Nach dem Tod von rund 50.000 Menschen inden ein Jahr lang anhaltenden Kämpfen wird der Aufstand Ende 1938 schließlich niedergeschlagen. Esfolgt die Umsiedlung von 100.000 Angehörigen der kurdischen Minderheit in den Westen des Landes.Von den Deportationen der Jahre 1925 bis 1938 dürften insgesamt etwa 1,5 Millionen Menschen be-troffen gewesen sein (Schmitt 1985, Wimmer 1991, Geismar 1991).

Nach dem Tod Atatürks 1938 wird im Jahr 1945 der Übergang zum Mehrparteiensystem vollzo-gen. Es folgt eine friedlichere Periode, die bis in die 1960er Jahre anhält. Der gesprochene Gebrauchder Minderheitensprachen wird geduldet, und auch der politische Spielraum wird größer, sodass sicheine starke sozialistische Opposition etablieren kann, der sich viele Angehörige der Minderheiten so-wie vor allem Intellektuelle aus der türkischen Mehrheit anschließen (Schmitt 1985). Mit dem Erstar-ken der Opposition wird jedoch das Vorgehen gegen RegierungsgegnerInnen wieder härter. Die zahl-reichen Proteste türkischer, kurdischer und anderer Intellektueller sowie Angehöriger der Landbevöl-kerung werden u. a. mit ständiger Militärpräsenz in Minderheitengebieten sowie 1967 mit dem Erlasseines „Dekrets zur Kulturpflege“ beantwortet, in dem die kurdische Sprache auch in Bezug auf denprivaten Gebrauch verboten wird (Schmitt 1985: 146). Die Rückbesinnung auf den Kemalismus der1920er und 1930er Jahre führt zur Umsiedlung zahlreicher einflussreicher kurdischer Familien in dieWesttürkei und – erneut – zu Deportationen der Bevölkerung ganzer Dörfer in einem Ausmaß, das dieAnfänge der Republik noch übertrifft. Die Deportation, die – entgegen der verharmlosenden Vorstel-lung des Begriffs „Umsiedlung“ – durch die entschädigungslose „Räumung und Zerstörung menschli-cher Siedlungen“ und das „Terrorisieren ihrer Bevölkerung“ charakterisiert ist (Peker 2002: 37), be-deutet für die Betroffenen auch die Vernichtung sozialer Netzwerke:

„Die Bewohner der evakuierten Dörfer mussten auf eigene Faust in die Stadtzentren der Region und die Groß-städte im Westen emigrieren, ohne dass ihnen von den Behörden Plätze gezeigt wurden, wo sie leben konnten. Sieerhielten keine Wohlfahrtsleistungen wie Unterkunft, Arbeit, Gesundheit und Bildung. (. . .) Sie mussten ihr Lebenunterhalb der Armutsgrenze fristen. Familien wurden auseinandergerissen. Aufgrund ihrer Identität waren sie inihrem neuen Lebensumfeld mannigfaltigen Angriffen und Unterdrückung ausgesetzt.“ (Peker 2002: 43)

Von Bevölkerungsverschiebungen gewaltigen Ausmaßes aus dem Osten in den Westen der Türkei imRahmen der verschiedenen Formen der „Binnenmigration“ sind aber nicht nur Angehörige der kurdi-schen Minderheit und nicht nur Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen betroffen. Auch Angehö-rige der alevitischen, assyrischen, nestorianischen, chaldäischen und jezidischen religiösen Minderheit,politische AktivistInnen, im Rahmen von Entwicklungsprojekten oder „internen Sicherheitsoperatio-nen“ Vertriebene und vor allem Menschen ohne wirtschaftliche Zukunft machen einen großen Teil derBinnenmigrantInnen aus (Peker 2002).

Die Abwanderung aus der Dorfgemeinschaft, der Zerfall von Familien, der Verlust sozialer Netzwerkeund der durch Minderheitensprachverbote ausgeübte Druck lassen, wie auch im Minderheitenkontextzahlreicher anderer Staaten, das Phänomen des Sprachwechsels bzw. des Sprachverlusts um sich greifen:Sprachverlust kann bei Kindern beginnen, deren Sprache in der Schule nicht verwendet werden darf; kör-

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

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perliche und strukturelle Gewalt, wie sie in Bezug auf Kinder aus Minderheiten im türkischen Schulwesenmehrfach dokumentiert sind, führen meist sehr schnell zum Verzicht auf die Verwendung der Mutterspra-che. Der schulisch vermittelte Wechsel der Identität wird von den Kindern an die Eltern weitergegeben.Man „schämt sich“ der alten Identität und nimmt auch innerfamiliär vom Gebrauch der Minderheiten-sprache Abstand (Skutnabb-Kangas 1981, 1995). Aber auch die umgekehrte Abfolge ist für den Vorgangdes beginnenden Sprachverlusts dokumentiert: Es sind die Eltern, die oft schon im familiären Kontextund noch vor Schuleintritt der Kinder auf den Gebrauch der Muttersprache verzichten, um Negativfolgenfür die kindliche Schullaufbahn zu vermeiden; an die Kinder wird nur mehr die Majoritätssprache Tür-kisch (die von Angehörigen der Landbevölkerung selbst oft nicht vollständig beherrscht wird) und damiteine bereits veränderte sprachliche Identität weitergegeben. Diese Form der Selbstzensur vor allem kurdi-scher Eltern in den 1940er und 1950er Jahren wird als „Zeit des kurdischen Schweigens“ bezeichnet (Kie-ser 2000), ist aber auch für alle anderen Minderheiten der Türkei und auch für andere Zeitabschnitte belegt:Die elterliche Muttersprachkompetenz geht in vielen Familien nicht mehr auf die Kinder über. Diesewachsen türkischsprachig auf, wissen aber (besonders, wenn sie der Bildungsschicht angehören) um diesprachliche Identität ihrer Eltern oder aber erfahren erst im Erwachsenenalter davon. In der Landbevölke-rung, für die Sprachreformen (siehe Kapitel 3.1.1) und Sprachverbote seit jeher folgenschwerer waren,geht mit der Sprache oft auch das Wissen um die ursprüngliche Identität verloren (Interview Cakır 21. 1.2003, Interview Otuk 9. 4. 2003, Interview Kılıc 10. 4. 2003).

Wie viele Menschen in der Türkei einer der zahlreichen Minderheiten angehören und daher ihreMuttersprache nicht auf schulisch-kognitivem Niveau erwerben können oder konnten,25 lässt sich an-hand der stark divergierenden Angaben schwer feststellen; es dürfte sich aber mindestens um ein Drit-tel der türkischen Gesamtbevölkerung (d. h. rund 20 Millionen Menschen) handeln (Meyer-Ingwersen1995, Motika 2001).

Die Zahl der (ehemaligen) Angehörigen von Sprachminderheiten, die ihre ursprüngliche Sprache auf-gegeben haben, ist noch schwieriger zu ermitteln. Die besondere sprachliche Situation impliziert schon dieinsgesamt außerordentliche Situation und den hohen Druck, der zur Aufgabe der Muttersprache, zurNichtunterscheidbarkeit von der umgebenden Bevölkerung und damit zur Nichtzählbarkeit geführt hat.Hierher gehören ein Teil der Minderheitenangehörigen ganz allgemein sowie viele Opfer von Umsiedlungund Deportation, aber auch BinnenmigrantInnen jeder Art, die, meist aus ökonomischer Not, vor allemaus der Osttürkei in westtürkische Großstädte abgewandert sind. Die Zahlen zur Binnenmigration zeigendeutliche Tendenzen: Bereits 1975 lebten über 20% der türkischen Bevölkerung außerhalb ihrer Geburts-provinz; 1980 lebten 44% aller TürkInnen im städtischen Bereich, und im Jahr 1990 waren allein in Istan-bul 15% der Bevölkerung (d. h. 1,57 Millionen Menschen) ZuwanderInnen aus der Osttürkei.

Hinsichtlich Minderheitensprachen bzw. Sprachverlust ist man daher weitestgehend auf Schätzungenangewiesen; es ist jedoch anhand der vorliegenden Zahlen zur Binnenmigration und zu autochthonenSprachen, abzüglich etwaiger Überschneidungen, für rund 50% der Bevölkerung der Türkei von einer ausverschiedensten Gründen und in variierendem Ausmaß prekären sprachlichen Situation auszugehen.

3.1.3 Sprach- und Bildungspolitik Jugoslawiens

Die Idee eines alle südslawischen Völker vereinigenden Staates geht, ebenso wie der Wunsch nacheiner gemeinsamen Schriftsprache, auf die politische und kulturelle Bewegung des Illyrismus im19. Jahrhundert zurück, dessen konvergierende Ausrichtung im serbischen und kroatischen Raum bis

3. Bildungs-, Sprach(en)- und Minderheitenpolitik der Herkunftsländer als Variablen im Spracherwerb

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25 Mit den Beitrittsplänen zur Europäischen Union wurden die Minderheitensprachverbote bis zu einem gewissen Grad aufge-hoben. Weitgehend unbekannt ist, wie sich diese Änderungen in der Praxis konkret niederschlagen (Interview Kılıc, 10. 4.2003) – für die Eltern der hier untersuchten Kinder kommen sie in jedem Fall zu spät.

in die Anfangszeit des Königreichs Jugoslawien (1918–1941) bestehen blieb. Im Selbstverständnis derstaatstragenden serbisch-kroatisch-slowenischen Nation und ihrer Sprachbezeichnung „Serbokroato-Slowenisch“ waren jedoch weder die relativ großen sprachstrukturellen Unterschiede des Serbischenbzw. Kroatischen zum Slowenischen noch die Existenz bosnischer Moslems mit eigener sprachlicherTradition berücksichtigt (Mayer 1995). Zudem komplizierten sich die Beziehungen zwischen demkroatischen und dem serbischen Landesteil zunehmend, da dem zweiteren Dominanz u. a. auch insprachlicher Hinsicht vorgeworfen wurde, sodass die Sprache in der Folgezeit immer größere politi-sche Bedeutung erhielt (Okuka 1998). Abseits dieser Entwicklung erschwerte aber auch die gesamtpo-litische Instabilität im Königreich die Konzeption einer einheitlichen Bildungspolitik. Die in den ein-zelnen Landesteilen unterschiedlich gegliederten Schultypen versorgten nach 1918 nur ein Viertel derKinder; 1921 waren immer noch 50,5% der Bevölkerung AnalphabetInnen. Erst 1929 gelangen derEntwurf eines einheitlichen Elementar- und Erwachsenenbildungssystems und die Einführung derachtjährigen Schulpflicht, sodass die Analphabetenrate bis 1931 auf 44,6% gesenkt werden konnte(Bachmaier 1983, Mayer 1995).

Vor dem Zweiten Weltkrieg erhielt im kroatischen Raum die „Bewegung für die kroatische Spra-che“, die eine völlige Loslösung vom serbischen Sprachraum zum Ziel hatte, immer größeren Zulauf.Nach der Proklamation des unabhängigen Staates Kroatien (1941) wurde das mittlerweile heikle undemotional aufgeladene Gebiet der Sprache gänzlich für politische Zwecke instrumentalisiert. Die„Säuberung“ von allen als „serbisch“ wahrgenommenen Ausdrücken stellte eines der sprachpoliti-schen Hauptanliegen der Politik der Ustascha dar (Okuka 1998).

Im 1945 neu entstandenen jugoslawischen Staat kommunistischer Ausrichtung hielt die Phase derneuerlich angestrebten „Einheit der Sprache der Serben, Kroaten und Montenegriner“ zunächst füretwa zwei Jahrzehnte an. Die Konvergenz war jedoch nicht von Dauer; mit der Bezeichnung „Serbo-kroatisch“ für die beiden Varianten Serbisch und Kroatisch wurde von kroatischer Seite zunehmendnicht nur sprachlicher, sondern auch politischer Zentralismus mitverstanden und kritisiert, bis schließ-lich 1975 die serbische und die kroatische Variante praktisch in den Rang eigenständiger Schriftspra-chen erhoben wurden. Auch die bosnische Variante, bislang unberücksichtigt, war hier bereits ange-führt (Okuka 1998).

Im schulischen Bereich war das zentrale Anliegen die Bekämpfung des Analphabetismus, der auchMitte der 1950er Jahre noch 25,4% der jugoslawischen Gesamtbevölkerung betraf (Bachmaier 1983),wobei ein deutliches Nord-Süd-Gefälle bestand: Während in Slowenien 11,9% und in Kroatien 29,7%der Bevölkerung keine Schule besucht hatten, waren es in Serbien 43,7% und in Makedonien 50,7%(Breznik 1991). Die Vereinheitlichung des Schulsystems und eine flächendeckende Versorgung desLandes mit Schulen und Heimen für SchülerInnen sollten es zunehmend auch Kindern aus ökono-misch schlechter gestellten Familien ermöglichen, die im neu entstandenen Jugoslawien ab 1958 achtJahre umfassende obligatorische Grundschulbildung zu absolvieren und damit die Berechtigung zumMittelschulbesuch zu erhalten. Da die MittelschülerInnen jedoch vor allem Angehörige von Angestell-tenfamilien waren und Arbeiterkinder demgegenüber nur zu 33%, Bauernkinder nur zu 14% die Mög-lichkeit eines Mittelschulbesuchs hatten, wurde in den 1970er Jahren erneut die Notwendigkeit einerReform des Schulwesens wahrgenommen: Die Trennung der Mittelschulen in berufsorientierte undauf die Hochschulreife vorbereitende Schulen wurde aufgehoben; als Folge davon setzten ab den 70erJahren mehr als 90% der AbgängerInnen einer Grundschule ihre Ausbildung an einer Mittelschulefort. 1971 waren nur mehr 15,1% der jugoslawischen Bevölkerung zu den AnalphabetInnen zu zählen,wobei allerdings die Benachteiligung des Südens gegenüber dem Norden bzw. der Land- gegenüberder Stadtbevölkerung bis in die 1990er Jahre bestehen blieb und auch Frauen generell weniger bil-dungsbeteiligt waren bzw. sind als Männer (Bachmaier 1983, Günther 1998).

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

286

Ab 1990 werden in Slowenien und Kroatien, später auch in Bosnien-Herzegowina und Makedo-nien bereits länger bestehende Unabhängigkeitsbestrebungen manifest. Die Divergenzen zwischenden verschiedenen Varietäten des bosnisch-kroatisch-serbischen Sprachraums werden während derKämpfe erneut thematisiert; sprachliche Unterschiede werden betont und instrumentalisiert (Okuka1998). Auch in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens hält eine Art aggressiver sprachlicher Abgrenzungan, wobei aber „Kernstruktur und Sprachsubstanz sich außerhalb der Reichweite der Sprachreforma-toren befinden“ (Bugarski 1999: 30), sodass die gegenseitige Verständlichkeit nicht gefährdet seindürfte. Dieser linguistisch-kommunikativen Einheit der gesprochenen Sprachvarianten steht die poli-tisch-symbolisch bedeutsame Uneinheitlichkeit der drei schriftsprachlichen Varietäten gegenüber, dieden plurizentrischen Charakter des Bosnisch/Kroatisch/Serbischen ausmachen:

„Als plurizentrisch (. . .) bezeichnet man Sprachen, die auf mehr als eine Weise standardisiert wurden, d. h. diezwei oder mehrere Standardvarietäten haben, die wiederum – abhängig von außersprachlichen Faktoren – entwe-der als Standardvarianten ein- und derselben Sprache oder als getrennte, wenn auch eng verwandte Standardspra-chen funktionieren können.“ (Bugarski 1999: 27)

In der Geschichte der südslawischen Sprachen spielen die politisch-symbolischen, nicht-linguistischenFaktoren eine vergleichsweise große Rolle. Entsprechend handelte es sich bei den Reformen des20. Jahrhunderts kaum je um Reformen der Sprachsubstanz, sondern meist um Reformen der Sprach-bezeichnungen je nach konvergierender oder divergierender Ausrichtung des Sprachraums. Für denschulischen Bereich fielen die sprachpolitischen Maßnahmen so gut wie nicht ins Gewicht, da in jederPhase der Entwicklung die serbische und die kroatische, in neuerer Zeit auch die bosnische Varianteihre jeweils eigene Schriftsprache besaßen.

3.1.4 Sprachen- und Minderheitenpolitik Jugoslawiens

Den slawischen Sprachen der Mehrheitsbevölkerung – Slowenisch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch undMakedonisch – stehen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien die Sprachen von über zwanzigMinderheiten (in alphabetischer Reihenfolge) gegenüber: Albanisch, Bulgarisch, Deutsch, Griechisch,Italienisch, Polnisch, Romanes, Rumänisch, Rusinisch, Russisch, Slowakisch, Tschechisch, Türkisch,Ungarisch, Walachisch sowie die Sprachen einiger weiterer, kleinerer Minderheiten (Breznik 1991).

Die schulische Erziehung im 1918 entstandenen Königreich Jugoslawien war von Beginn an aufdie Erziehung zur nationalen Einheit ausgerichtet. Das zentralistische Staatsmodell, das auch unter denMehrheitsbevölkerungen für Divergenzen sorgte, äußerte sich den Minderheiten gegenüber zwangs-läufig als restriktive Politik, von der vor allem die albanische Minderheit betroffen war: Während derungarischen, rumänischen und deutschen Bevölkerung aus außenpolitischen Überlegungen eine ge-wisse Autonomie zugestanden wurde, war in Bezug auf die albanische Bevölkerung Assimilation dasdeklarierte Ziel. Die Folgen des konstant niedrig gehaltenen Bildungsniveaus in den albanischsprachi-gen Gebieten Südjugoslawiens (1931 war die Analphabetenrate des Kosovo mit 84,2% fast doppelt sohoch wie in den übrigen Landesteilen) waren noch Jahrzehnte später deutlich spürbar (Bachmaier1983, Breznik 1991, Mayer 1995). Noch weniger kam das Bildungswesen allerdings der Minderheit derRoma zugute, die in allen Gebieten Jugoslawiens weitgehend isoliert von der restlichen Bevölkerunglebte und vor dem Zweiten Weltkrieg etwa 300.000 Angehörige zählte (Hadler 1997).

Der Einmarsch deutscher Truppen in Jugoslawien und die Aufteilung des Staatsgebiets unter Ita-lien, Bulgarien, Deutschland und dem für kurze Zeit unabhängigen faschistischen Staat Kroatien be-deutete für die Roma ebenso wie für die jüdische Bevölkerung Jugoslawiens den Beginn willkürlicherMassentötungen und systematischer Liquidierung u. a. in den Konzentrationslagern Jasenovac, Ze-

3. Bildungs-, Sprach(en)- und Minderheitenpolitik der Herkunftsländer als Variablen im Spracherwerb

287

mun und Šabac. Über die Zahl der Roma unter den insgesamt 800.000 Opfern allein auf kroatischemGebiet ist wenig bekannt (Thurner 1994, Zülch 1994, Hadler 1997, Dokumentationsarchiv des öster-reichischen Widerstandes 2001).

Mit der Gründung Jugoslawiens 1945 veränderte sich das Minderheitenschulwesen grundlegend:Die nationalen Minderheiten erhielten das Recht auf Minderheitenschulen bzw. Minderheitenabteilun-gen, in denen der Unterricht ausschließlich in der jeweiligen Minderheitensprache und ab dem drittenSchuljahr im Ausmaß von drei Wochenstunden auch in der Sprache der jeweiligen Teilrepublik abzu-halten war. Das Lehrpersonal setzte sich aus Angehörigen der Minderheiten zusammen; für die Her-ausgabe von Lehrbüchern bzw. für ihre Beschaffung aus dem Ausland war der Staat verantwortlich(Bachmaier 1983: 40–42). Am Beispiel der zur jugoslawischen Teilrepublik Serbien gehörenden Vojvo-dina, einem Landesteil mit besonders hohem Minderheitenanteil, zeigten sich deutlich die positivenFolgen dieser Maßnahmen, besonders nachdem 1977 ein Gesetz erlassen wurde, das sowohl Vorschul-erziehung als auch Grund- und Mittelschulbildung in der jeweiligen Minderheitensprache (im Fall derVojvodina: in Ungarisch, Rumänisch, Slowakisch und Rusinisch26) vorschrieb: Die Bildungsbeteiligungunter Angehörigen der Minderheiten stieg stark an, und die rusinische Minderheit, eine der kleinstenauf jugoslawischem Staatsgebiet, hatte 1991 mit 1,4% sogar die landesweit niedrigste Analphabetenra-te aufzuweisen (Bachmaier 1983, Breznik 1991).

Nicht in allen Landesteilen war jedoch die minderheitensprachliche Versorgung so umfassend wiein der Vojvodina. So erhielt die rumänische Minderheit in Zentral- und Ostserbien, deren Sprache auchals „Walachisch“ bezeichnet wird, zu keiner Zeit muttersprachlichen Unterricht oder gar eigene Schu-len. Die Sprachgemeinschaft war nur als ethnische Gruppe, nicht aber als Nationalität anerkannt; dasFehlen von sprachlichen Rechten und die Dominanz der mehrheitssprachlichen Umgebung führtenzur teilweisen Aufgabe der Sprache und zur Assimilation großer Teile der walachischen Bevölkerung.Dieser Umstand spiegelt sich in den höchst unterschiedlichen Angaben zur Größe der ethnischenGruppe, die 1991 nach offizieller Zählung 20.000, inoffiziellen Quellen zufolge aber 200.000 Angehö-rige hatte (Bieber 2002). Die Bildungsbeteiligung ist erwartungsgemäß niedriger und der Anteil derAnalphabetInnen höher (1991: 18,2%) als bei den mit muttersprachlichem Schulwesen ausgestattetenMinderheiten der Vojvodina (Günther 1998).

Die albanische Minderheit im Kosovo und in Makedonien dagegen verfügte zwar über ein eigenesminderheitensprachliches Schulwesen, war aber von jeher Ziel assimilatorischer Tendenzen. Das Bil-dungswesen in diesen Gebieten, schon im Königreich Jugoslawien auf niedrigem Niveau gehalten, war inder Folge auch im ehemaligen Jugoslawien noch weitgehend unterentwickelt: 1991 waren 12,4% der alba-nischen Bevölkerung (gegenüber 6,8% der serbischen Bevölkerung) AnalphabetInnen (Günther 1998).

Die Minderheit der Roma erhielt, analog zu praktisch allen anderen Staaten Europas, auch im ehemali-gen Jugoslawien keinerlei muttersprachliche und darüber hinaus auch kaum schulische Förderung. Ange-hörige dieser Sprachgemeinschaft weisen deshalb bis heute unter allen Gruppen Jugoslawiens den nied-rigsten Alphabetisierungsgrad auf: Jede/r Vierte ist AnalphabetIn, sechs von zehn Personen haben keineabgeschlossene Grundschulbildung (Günther 1998). Insgesamt hatten 1981 nur 17,2% der jugoslawi-schen Roma alle acht Jahre der Grundschule absolviert (gesamtjugoslawischer Schnitt: 21,1%) und nur4,4% die Mittelschule besucht (gesamtjugoslawischer Schnitt: 34,5%) (Prokić 1989). Die Sprache Roma-nes, reich an Entlehnungen aus den umgebenden Sprachen und dialektal stark gegliedert, wird fast aus-nahmslos innerfamiliär verwendet und je nach Herkunft der Familienmitglieder mit anderen Sprachen ge-mischt. Auf Grund jahrhundertelanger sprachlicher Marginalisierung sowie infolge des Fehlens von Pub-

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

288

26 Da die Angehörigen dieser vier Minderheiten in der österreichischen Arbeitsmigration nicht sehr zahlreich und im vorliegen-den Projekt gar nicht vertreten sind, wird hier nicht weiter auf ihre sprachliche Situation eingegangen.

likationen und Unterricht befindet sich die Sprache in schwacher Position und unterscheidet sich stark jenach Land, Siedlungsgebiet und Familie. Ein Teil der vor allem in Serbien lebenden Roma spricht nicht(mehr) Romanes, sondern ausschließlich Serbisch, ein anderer Teil überwiegend Rumänisch (Matras 1997,Bakker 2001, Bieber 2002). Es sind deshalb vor allem Angehörige der Roma und in geringerem Ausmaßder walachischen Minderheit, die ihre Sprache aufgegeben haben oder diese bzw. die Staatssprache nichtauf schulisch-kognitivem Niveau beherrschen. Der letztgenannte Umstand trifft darüber hinaus auch aufeinen Teil der albanischen Minderheit im Kosovo und in Makedonien zu. Insgesamt dürfte, bei Berück-sichtigung der starken Divergenzen in den Angaben zur Größe der Minderheiten, die Beherrschung derMutter- bzw. der Staatssprache bei etwa 10% der Gesamtbevölkerung des ehemaligen Jugoslawien (d. h.bei ca. 2 Millionen Menschen) mehr oder weniger stark eingeschränkt sein.

3.1.5 Zusammenfassung der relevanten bildungs-, sprach(en)- und minderheitenpolitischen

Variablen

Die vorliegende Studie geht von der Annahme aus, dass es für Kinder in der sprachlich schwierigen Si-tuation der Migration von Bedeutung sein könnte, unter welchen Umständen und in welchem Ausmaßihre Eltern im Herkunftsland die Möglichkeit hatten, ihre Muttersprache – oder aber, bei Aufgabe derMuttersprache, die Staatssprache des Herkunftslandes – zu erwerben: Vollständiger Mutterspracher-werb seitens der Eltern dürfte Kindern in Form eines umfassenden Muttersprach-Inputs besonders inder Migration zugute kommen. Dabei wird hier unter „vollständiger Muttersprachbeherrschung“ nichtnur die alltagssprachlich-kommunikative, sondern besonders auch die schulisch-kognitive Sprachbe-herrschung im Sinne von Cummins verstanden (siehe Kapitel 2.5).27

Für den Spracherwerb unter erschwerten Bedingungen, wie er für einige der beschriebenenSprachgemeinschaften in den Herkunftsländern belegt ist, soll hier der Begriff der „sprachlichen Aus-nahmesituation“ eingeführt werden: Unter einer sprachlichen Ausnahmesituation wird der unvollstän-dige, d. h. der primär außerschulische Mutterspracherwerb oder aber der Verlust der Muttersprache beigleichzeitig unvollständigem Erwerb der Staatssprache (als „neuer Muttersprache“) verstanden. VonEltern, die in ihrem Spracherwerb entsprechenden Bedingungen (Bildungsbenachteiligung, Diskrimi-nierung, Assimilation, Deportation u. a.) ausgesetzt waren, ist anzunehmen, dass sie an ihre Kinder dieMuttersprache nur in der von ihnen selbst erworbenen „unvollständigen“ Form weitergeben könnenbzw. dass sie nicht die Muttersprache, sondern an ihrer Stelle die Staatssprache des Herkunftslandesweitergeben, die allerdings ebenfalls nicht vollständig beherrscht wird.

Entscheidend für den elterlichen Spracherwerb im Herkunftsland dürften die Variablen „Zugehörig-keit zu einer ethnischen Mehrheit oder Minderheit“, „Dauer des Schulbesuchs“, „Funktion der Mutter-sprache als Schulsprache“ und „Funktion der Muttersprache als Staatssprache im Herkunfts- oder ineinem Nachbarland“ sein. Der elterliche Spracherwerb, der je nach Ausprägung der genannten Variablenvollständig oder unvollständig verlaufen konnte, wird in der Migration wiederum seinerseits zur Variableim kindlichen Spracherwerb: Die Faktoren „Vollständigkeit des Mutterspracherwerbs der Eltern“ und„Weitergabe der elterlichen Muttersprache“ dürften maßgeblich dafür sein, welche muttersprachlicheGrundlage dem Kind für den Zweitspracherwerb im Einwanderungsland zur Verfügung steht.

Die Sprachgemeinschaften, die unter den im vorliegenden Projekt untersuchten Migrantenkindernvertreten sind, unterscheiden sich grundlegend bezüglich der angeführten Variablen:1. Für Eltern, die der Bosnisch/Kroatisch/Serbisch sprechenden Mehrheitsbevölkerung des ehema-

ligen Jugoslawien oder der Bildungsschicht der Türkisch sprechenden Mehrheitsbevölkerung der

3. Bildungs-, Sprach(en)- und Minderheitenpolitik der Herkunftsländer als Variablen im Spracherwerb

289

27 Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, dass die „Vollständigkeit“ des Mutterspracherwerbs sich hier ausschließlich aufden Kontext mitteleuropäischer Industrienationen bezieht (siehe Kapitel 2.5).

Türkei angehören, können alle Kriterien des Spracherwerbs und der Weitergabe der Sprache an dieKinder als positiv bezeichnet werden (Zugehörigkeit zu einer Mehrheit, ausreichend langer Schul-besuch, Funktion der Muttersprache als Schulsprache und Staatssprache, daher vollständiger Mut-terspracherwerb und Weitergabe der Muttersprache an die Kinder in der Migration).

2. Bei Angehörigen der Walachisch sprechenden Minderheit des ehemaligen Jugoslawien ist zwar dieMuttersprache nicht Schulsprache, dafür aber – allerdings nur bei ausreichend langem Schulbesuch– die Staatssprache meist gut genug erworben, um als zweite Muttersprache zu fungieren und andie Kinder weitergegeben zu werden.

3. Bei Angehörigen der Albanisch sprechenden Minderheit des ehemaligen Jugoslawien ist die Mut-tersprache zwar Schulsprache, dafür aber die Bildungsbeteiligung vergleichsweise niedrig, sodassoft weder die Mutter- noch die Staatssprache auf schulisch-kognitivem Niveau erworben bzw. andie Kinder weitergegeben werden kann.

4. Für Eltern, die der türkischen Landbevölkerung angehören, ist die Muttersprache zwar Staats- undMehrheitssprache, dafür aber – infolge der Sprachreform – wesentlich schwerer zu erwerben undweiter von der Umgangssprache entfernt als etwa für die Landbevölkerung des ehemaligen Jugo-slawien. Der Schulbesuch war daher bei vielen Eltern zu kurz, um das Neutürkische auf schulisch-kognitivem Niveau zu erwerben und in dieser Form in der Migration an die Kinder weiterzugeben.

5. Für Eltern, die der Minderheit der Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien angehören, ist infolgesprachlicher Marginalisierung, Diskriminierung und Bildungsbenachteiligung eine schulisch-ko-gnitive Muttersprachbeherrschung kaum möglich. Die Sprache, die nirgendwo Staatssprache istund bis vor kurzem auch in keinem Land Schulsprache war, wird in den wenigsten Familien als al-leinige Umgangssprache verwendet und in diesem Sinne auch an die Kinder nur teilweise und nurgemeinsam mit anderen umgangssprachlich beherrschten Sprachen weitergegeben.

6. Im Fall der Angehörigen der Minderheiten der Türkei ist für den elterlichen Spracherwerb eben-falls von besonders schwierigen Bedingungen auszugehen: Da der Erwerb der Muttersprache (undin fast allen Fällen auch der Erwerb der Staatssprache) infolge Sprachverbots bzw. zu kurzen Schul-besuchs nur unvollständig sein konnte, wird die Sprache an die Kinder nur unvollständig bzw. invielen Fällen gar nicht mehr weitergegeben. Eine Ausnahme stellen hier allerdings Minderheiten-angehörige dar, die der Bildungsschicht der Türkei angehören und infolge langer Schulbildung an-stelle der Muttersprache die Staatssprache auf schulisch-kognitivem Niveau erwerben konnten:Für sie gelten ähnliche Voraussetzungen wie für Gruppe 1 (d. h. für die türkischsprachige Bil-dungsschicht). In einer „sprachlichen Ausnahmesituation“ befinden sich daher besonders dieGruppen 4, 5 und 6, teilweise auch Angehörige der Gruppen 2 und 3.

3.2 Einflussfaktoren der Bildungs-, Sprach(en)- und Minderheitenpolitik

3.2.1 Faktoren, die den Spracherwerb der Eltern im Herkunftsland beeinflussen:

Erstsprache, Schulbesuch, Schulsprache und Staatssprache

Um einen eventuell vorhandenen Effekt der Bedingungen des elterlichen Spracherwerbs auf denDeutscherwerb der Kinder in der Migration festzustellen, wurden im Sinne der Erkenntnisse aus derLiteratur zu Bildungs-, Sprach- und Minderheitenpolitik der Herkunftsländer folgende Hypothesenformuliert:

• Hypothese 27: Es liegt die Vermutung nahe, dass die Bedingungen, unter denen die Eltern im Her-kunftsland ihre Muttersprache erworben haben, sich in der Deutschkompetenz der Kinder in der Mi-gration widerspiegeln. Der Deutscherwerb dürfte daher bei Kindern aus der oben angeführten Gruppe

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

290

1 relativ am günstigsten, bei Kindern aus Gruppe 6 relativ am ungünstigsten verlaufen: Es wird ange-nommen, dass Kinder, deren Väter der bosnisch/kroatisch/serbischen Mehrheitsbevölkerung Jugosla-wiens angehören, in Deutsch tendenziell besser abschneiden als Kinder, deren Väter der türkischenMehrheitsbevölkerung angehören; dass Kinder, deren Väter einer Sprachmehrheit angehören, tenden-ziell besser abschneiden als Kinder, deren Väter einer Sprachminderheit angehören; dass Kinder, derenVäter Gruppen mit hoher Bildungsbeteiligung angehören, tendenziell besser abschneiden als Kinder,deren Väter Gruppen mit niedriger Bildungsbeteiligung angehören; dass Kinder, deren Väter einerGruppe angehören, deren Sprache Staatssprache (im Herkunftsland oder in einem anderen Land) ist,tendenziell besser abschneiden als andere Kinder; dass Kinder, deren Väter einer nicht diskriminiertenBevölkerungsgruppe im Herkunftsland angehören, tendenziell besser abschneiden als Kinder, derenVäter einer in Bezug auf den Spracherwerb diskriminierten Bevölkerungsgruppe angehören.

• Hypothese 28: Es liegt die Vermutung nahe, dass für den Spracherwerb türkischer Eltern die Dauerdes Schulbesuchs – infolge der türkischen Sprachreform – entscheidender war als für Eltern aus demehemaligen Jugoslawien. Dieser Umstand dürfte sich ebenfalls in der Deutschkompetenz der Kinderin der Migration widerspiegeln: Es wird angenommen, dass sich Kinder aus der Türkei in ihrerDeutschkompetenz nach der Schulbildung ihrer Väter unterscheiden, Kinder aus dem ehemaligen Ju-goslawien dagegen nicht.

Zur Untersuchung von Hypothese 28 wurde der jeweils höchste erreichte Bildungsabschluss der Väterder Migrantenkinder herangezogen, zur Untersuchung von Hypothese 27 die Erstsprache der Väter; indie Berechnung wurden ausschließlich solche Väter einbezogen, deren Erstsprache zuverlässig in Er-fahrung gebracht werden konnte.28 Alle Daten wurden durch Befragung der Eltern erhoben bzw. ausder sprach(en)politischen Literatur abgeleitet, soweit sie die ethnolinguistischen Gruppen insgesamtbetreffen. Die Ergebnisse lauten:

Tabelle 7: Deutschkompetenz der Migrantenkinder nach Sprache und Schulbildung

des Vaters

Sprache des

Vaters

BKSN = 25

WalachischN = 7

AlbanischN = 2

TürkischN = 5

RomanesN = 3

KurdischN = 3

X s X s X s X s X s X s p

11,60 1,53 11,29 1,70 11,00 1,41 10,60 1,14 10,00 1,00 8,67 2,52 <,001

höchster

erreichter

Bildungs-

abschluss

des Vaters

Mittelschule/Gym. Jugosla-wien = 8 Jahre

oder mehrN = 3

kein AbschlussJugoslawien

= weniger als8 JahreN = 2

StudiumTürkei

= mehr als11 JahreN = 2

PflichtschuleJugoslawien

= genau8 JahreN = 4

Mittelschule/Gym. Türkei

= 8 Jahre odermehrN = 2

PflichtschuleTürkei

= weniger als8 JahreN = 10

X s X s X s X s X s X s p

13,00 1,00 12,00 1,41 11,50 0,71 11,25 1,89 10,50 0,71 7,40 1,51 <,001

N = Anzahl der Kinder, X = Mittelwert der Deutschkompetenz, s = Standardabweichung, p = Signifikanz

Die Auswertung bestätigte die Annahmen von Hypothese 27 und 28:

• Ergebnis 27: Die Kinder unseres Samples schneiden in Deutsch tendenziell entsprechend der Rei-henfolge der oben genannten Gruppen 1 bis 6 ab: Kinder, deren Väter der bosnisch/kroatisch/serbi-schen Mehrheitsbevölkerung bzw. der walachischen oder albanischen Minderheit angehören, schnei-den in Deutsch etwas besser ab als Kinder, deren Väter der türkischen Landbevölkerung oder der Min-

3. Bildungs-, Sprach(en)- und Minderheitenpolitik der Herkunftsländer als Variablen im Spracherwerb

291

28 Vor dem Hintergrund der Lage der Minderheiten in der Türkei dürfte verständlich werden, warum die Erstsprache nur fürwenige Familien bzw. Väter aus der Türkei in Erfahrung gebracht werden konnte.

derheit der Roma angehören, und hochsignifikant besser als die Gruppe der Kinder, deren Väter derkurdischen Minderheit angehören. „Hochsignifikant“ sind die Unterschiede damit nur zwischen der„besten“ und der „schlechtesten“ Gruppe, wobei anzumerken ist, dass alle Gruppen unseres Samples(bis auf die bosnisch/kroatisch/serbische) sehr gering besetzt sind. Anzumerken ist außerdem, dasseine noch exaktere Aufschlüsselung der untersuchten Familien mit statistischen Mitteln infolge mehre-rer „Einzelfälle“ nicht möglich war. Tatsächlich aber spiegelt sich die Situation in den Herkunftslän-dern bei Einbeziehung der Einzelfälle noch genauer in der Deutschkompetenz der Kinder wider: Diebeiden Kinder aus der türkischsprachigen Bildungsschicht und das einzige Kind aus der kurdischenBildungsschicht schneiden in Deutsch ebenso gut ab wie die „beste“ Gruppe (bosnisch/kroatisch/ser-bische Kinder) und unterscheiden sich damit grundsätzlich von der in der Tabelle angeführten „Mehr-heit“ der türkischen und kurdischen Landbevölkerung.

• Ergebnis 28: Für die Deutschkompetenz der hier untersuchten Kinder aus dem ehemaligen Jugosla-wien ist es irrelevant, ob der Vater mehr als acht Jahre, genau acht Jahre oder weniger als acht Jahre langeine Schule besucht hat. Für die Deutschkompetenz der hier untersuchten Kinder aus der Türkei ist dieSchulbesuchsdauer des Vaters dagegen entscheidend: Kinder, deren Väter nur die Pflichtschule besuchthaben (was in der Türkei bis vor kurzem eine Schulbesuchsdauer von fünf Jahren bedeutete), schneidenin Deutsch hochsignifikant schlechter ab als Kinder, deren Väter einen Mittelschul-, Gymnasial- oderStudienabschluss haben (d. h. eine Schulbesuchsdauer von genau acht Jahren oder mehr).

3.2.2 Faktoren, die den Spracherwerb der Kinder in Österreich beeinflussen:

Mutterspracherwerb der Eltern und Weitergabe der elterlichen Muttersprache an die Kinder

Um zu überprüfen, ob ein „vollständiger Erwerb der Muttersprache seitens der Eltern“ sich auf dieMutter- und Zweitsprachkompetenz des Kindes positiv auswirkt, hätten die Eltern der untersuchtenKinder in ihrer jeweiligen Muttersprache getestet werden müssen: dass eine solche „Sprachstandserhe-bung“ bei den Eltern nicht möglich war, versteht sich von selbst. Es wurden daher die muttersprachli-chen LehrerInnen der untersuchten Kinder gebeten, die Kompetenz der Eltern in der Staatssprache desHerkunftslandes – als Ersatz für die Kompetenz in der Muttersprache – einzuschätzen, ausgehend vonder Annahme, dass geringe Kompetenz in der Staatssprache ein Indikator für kurzen Schulbesuch seinkann; ein solcher kurzdauernder Schulbesuch wiederum bedeutet für Angehörige der türkischen Land-bevölkerung den unvollständigen Erwerb des Neutürkischen und für Angehörige sämtlicher Minder-heiten einen unvollständigen Mutterspracherwerb (falls die Minderheitensprache überhaupt Schulspra-che ist) bzw. den unvollständigen Erwerb der Staatssprache als Ersatz für die Muttersprache, sofernzweitere aufgegeben wurde. Es kann daher angenommen werden, dass mit dem Feststellen unvollstän-diger Kompetenz in der Staatssprache des Herkunftslandes zugleich auch diverse „sprachliche Ausnah-mesituationen“ erfasst werden können. Die vor diesem Hintergrund formulierte Hypothese lautet:

• Hypothese 29: Kinder, deren Eltern (hier meist die Mütter) die Staatssprache des Herkunftslandes(Bosnisch/Kroatisch/Serbisch bzw. Türkisch) nach Einschätzung der muttersprachlichen LehrerIn-nen gut beherrschen, schneiden in Deutsch tendenziell besser ab als Kinder, deren Eltern (d. h. meistdie Mütter) die Staatssprache nach Einschätzung der LehrerInnen schlecht beherrschen.

Die Kompetenz jeweils eines Elternteils der Kinder in der Staatssprache des Herkunftslandes wurdezu erfassen versucht, indem die muttersprachlichen LehrerInnen, wie oben erwähnt, gebeten wurden,diese Kompetenz einzuschätzen und auf einer vierstufigen Skala zu bewerten. Da jedoch nicht alleKinder muttersprachlichen Unterricht erhielten, konnte diese Verfahrensweise nur für rund zwei Drit-tel der Eltern (bzw. Elternteile) angewendet werden. Die Ergebnisse lauten:

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

292

Tabelle 8: Deutschkompetenz der Migrantenkinder nach Kompetenz eines Elternteils

in der Staatssprache des Herkunftslandes

Kompetenz

eines Elternteils

in der Staats-

sprache des

Herkunftslandes

sehr gutN = 15

gutN = 14

mittelmäßigN = 6

schlechtN = 4

X s X s X s X s P

11,33 2,09 9,71 1,77 9,50 1,38 6,00 0,00 <,001

N = Anzahl der Kinder, X = Mittelwert der Deutschkompetenz, s = Standardabweichung, p = Signifikanz

Es bestätigte sich die Annahme von Hypothese 29:

• Ergebnis 29: Kinder, deren Eltern (bzw. Mütter) die Staatssprache des Herkunftslandes nach Ein-schätzung der muttersprachlichen LehrerInnen sehr gut, gut oder mittelmäßig beherrschen, schneidenin Deutsch hochsignifikant besser ab als Kinder, deren Eltern (bzw. Mütter) die Staatssprache des Her-kunftslandes nach Einschätzung der LehrerInnen schlecht beherrschen.

Um zu überprüfen, ob die „Weitergabe der elterlichen Muttersprache an das Kind“ einen positiven Ef-fekt, der Verzicht auf die Muttersprache dagegen einen tendenziell negativen Effekt auf den Spracher-werb des Kindes haben kann, wurden in den Elterninterviews, wenn möglich, die tatsächlichen Mut-tersprachen der Mütter und Väter festgestellt sowie genaue Details zum Sprachgebrauch in den Fami-lien erfragt. In die Berechnungen zur Untersuchung der Folgen von Verlust oder Weitergabe der Mut-tersprache wurden letztlich ausschließlich jene Väter bzw. Mütter miteinbezogen, deren Mutterspra-chen zuverlässig in Erfahrung gebracht werden konnten (siehe Tabelle 7 zu den Muttersprachen derVäter). Es liegt allerdings in der Natur der Sache, dass gerade Sprachverlust sehr oft nicht feststellbar ist(und daher auch für viele der hier untersuchten Familien nicht feststellbar war); meist erfolgte er unterhohem Druck und als Folge von Diskriminierung, sodass es für die Betroffenen nicht leicht ist, sich zuihm zu bekennen, sofern sie selbst überhaupt davon Kenntnis haben (siehe Kapitel 3.1.2).

Es wurden vor diesem Hintergrund folgende Annahmen formuliert:

• Hypothese 30: Kinder, an die die Mütter ihre eigene Muttersprache weitergeben konnten, schneidenin Deutsch tendenziell besser ab als Kinder, deren Mütter ihre Muttersprache aufgeben mussten.

• Hypothese 31: Kinder, an die die Väter ihre eigene Muttersprache weitergeben konnten, schneidenin Deutsch tendenziell besser ab als Kinder, deren Väter ihre Muttersprache aufgeben mussten.

Tabelle 9: Deutschkompetenz der Migrantenkinder nach Weitergabe der elterlichen

Muttersprache an das Kind

Die Muttersprache

der Mutter ist mit der

Sprache, die sie mit

dem Kind spricht, . . .

identischN = 37

teilweise identischN = 10

nicht identischN = 4

X s X s X s p

11,59 1,44 9,90 1,20 9,75 0,96 <,001

Die Muttersprache

des Vaters ist mit der

Sprache, die er mit

dem Kind spricht, . . .

identischN = 37

teilweise identischN = 7

nicht identischN = 6

X s X s X s p

11,57 1,46 10,43 0,79 9,33 1,86 <,001

N = Anzahl der Kinder, X = Mittelwert der Deutschkompetenz, s = Standardabweichung, p = Signifikanz

Die Auswertung bestätigte die Annahmen von Hypothese 30 und 31:

• Ergebnis 30: Diejenigen Kinder unseres Samples, denen die Mütter ihre eigene Muttersprache wei-tergeben konnten, schneiden in Deutsch hochsignifikant besser ab als diejenigen Kinder desselbenSamples, deren Mütter ihre Muttersprache nur teilweise oder gar nicht weitergeben konnten.

3. Bildungs-, Sprach(en)- und Minderheitenpolitik der Herkunftsländer als Variablen im Spracherwerb

293

Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

294

Deutschkompetenz am Ende der 3. Klasse:Die Erstsprache der Mutter ist mit der Erstsprache des Kindes . . .

0

2

4

6

8

10

12

14

16

0

2

4

6

8

10

12

14

16

5

5 5

6

6 6

7

7 7

8

8 8

9

9 9

10

10 10

11

11 11

12

12 12

13

13 13

14

14 14

15

15 15

. . . identisch

Testpunkte Deutschkompetenz Ende 3. Klasse

MW = Mittelwert

N = Anzahl der Kinder

p < ,001

Testpunkte Deutschkompetenz Ende 3. Klasse

. . . teilweise identisch

. . . nicht identisch

MW = 11,59 N = 37 MW = 9,90 N = 10

MW = 9,75 N = 4

Deutschkompetenz am Ende der 3. Klasse:Die Erstsprache des Vaters ist mit der Erstsprache des Kindes . . .

0

2

4

6

8

10

12

14

16

0

2

4

6

8

10

12

14

16

5

5 5

6

6 6

7

7 7

8

8 8

9

9 9

10

10 10

11

11 11

12

12 12

13

13 13

14

14 14

15

15 15

. . . identisch

Testpunkte Deutschkompetenz Ende 3. Klasse

MW = Mittelwert

N = Anzahl der Kinder

p = ,001

Testpunkte Deutschkompetenz Ende 3. Klasse

. . . teilweise identisch

. . . nicht identisch

MW = 11,59 N = 37MW = 11,59 N = 37 MW = 9,90 N = 10

MW = 9,75 N = 4

. . . identisch

. . . nicht identisch

. . . teilweise identisch

MW = 11,56 N = 37

MW = 9,33 N = 6

MW = 10,42 N = 7

• Ergebnis 31: Diejenigen Kinder, denen die Väter ihre eigene Muttersprache weitergeben konnten,schneiden in Deutsch tendenziell besser ab als die Kinder, deren Väter diese nur teilweise weitergebenkonnten; sie schneiden außerdem hochsignifikant besser ab als jene Kinder unseres Samples, deren Vä-ter ihre Muttersprache gar nicht weitergeben konnten.

Die beiden Graphiken auf der Vorseite dienen der Veranschaulichung der zuletzt genannten Ergebnis-se: Die Kinder unseres Samples, in deren Familien vollständiger oder partieller Sprachwechsel bzw.Sprachverlust stattgefunden hat („Erstsprache der Mutter bzw. des Vaters mit der Erstsprache des Kin-des nicht identisch bzw. teilweise identisch“), erzielen in Deutsch eine Bewertung von höchstens11 Punkten; bis zu 14 Punkte werden dagegen von jenen Kindern unseres Samples erreicht, in derenFamilien die Muttersprache über Generationen beibehalten wurde („Erstsprache der Mutter bzw. desVaters mit der Erstsprache des Kindes identisch“). [Grafiken]

3.3 Zusammenfassung

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie haben, wie eingangs bereits erwähnt wurde, keinesfalls reprä-sentativen Charakter. Sie eignen sich jedoch vermutlich dazu, Tendenzen aufzuzeigen, die teils den Be-funden aus der Literatur entsprechen, teils aber auch eine neue Richtung einschlagen. An Einflussfak-toren, die sich sowohl in der Literatur als auch im Rahmen des ersten Teils der Untersuchung an unse-rem Sample (siehe Abschnitt 2) als für den Zweitspracherwerb in der Migration bedeutend erwiesenhaben, sind zunächst der Besuch eines deutschsprachigen Kindergartens, die Deutschkompetenz derKinder zu Schuleintritt und der Bildungshintergrund der Eltern zu nennen, allerdings mit der Ein-schränkung, dass sich hierin die Kinder aus der Türkei von den Kindern aus dem ehemaligen Jugosla-wien unterscheiden. Unterschiedslos kommen dagegen die Qualifikation der LehrerInnen29, der mut-tersprachliche Unterricht bzw. die muttersprachliche Motivation der Kinder und die verschiedenenAspekte des sozioökonomischen Hintergrunds zum Tragen, ergänzt durch den wesentlichen Faktorder Muttersprachkompetenz der Kinder bzw. der Eltern.

Nach Untersuchung der genannten Einflussfaktoren, und besonders der muttersprachlichen Kompe-tenz, im ersten Teil der Studie blieben jedoch Fragen offen (siehe Kapitel 2.6), die die relativ großen Unter-schiede im Deutscherwerb zwischen den Kindern aus der Türkei und den Kindern aus dem ehemaligenJugoslawien betrafen und die es naheliegend erscheinen ließen, auch die Herkunftsländer der MigrantIn-nen in die Suche nach relevanten Faktoren einzubeziehen. Dass die nähere Betrachtung sprachrelevanterEntwicklungen in den Herkunftsländern unter Umständen tatsächlich zur Erklärung der Divergenzenbeitragen könnte, zeichnete sich im zweiten Teil der vorliegenden Studie ab (siehe Abschnitt 3): Die ethni-sche Zugehörigkeit der Eltern und die Dauer ihres Schulbesuchs dürften ebenso wie die Funktion der el-terlichen Muttersprache als Schul- und Staatssprache wesentlich darüber mitentscheiden, unter welchenBedingungen der Spracherwerb der Eltern im Herkunftsland stattfand und wie bzw. ob die Muttersprachean die Kinder weitergegeben wurde (siehe Kapitel 3.2.1). Diese muttersprachliche Basis aber bildet ihrer-seits bekanntlich eine der entscheidendsten Grundlagen für das Gelingen des Zweitspracherwerbs derKinder in der Migration (siehe Kapitel 2.5). Die Annahme, dass hinderliche oder diskriminierende Um-stände im elterlichen Spracherwerb sich auch auf die Weitergabe der Muttersprache und damit auf denkindlichen Zweitspracherwerb ungünstig auswirken, lässt sich auf Grund der geringen Größe der hier un-tersuchten Kindergruppe zwar nicht bestätigen, eine diesbezügliche Tendenz lässt sich jedoch andeuten(siehe Kapitel 3.2.2). Die Bedeutung des Mutterspracherwerbs für jeden weiteren Spracherwerb würde da-mit, nach weiterführenden Untersuchungen, unter Umständen um einen neuen Aspekt bereichert.

3. Bildungs-, Sprach(en)- und Minderheitenpolitik der Herkunftsländer als Variablen im Spracherwerb

295

29 Diese konnte, wie erwähnt, im Rahmen der vorliegenden Studie nicht untersucht werden.

4. Zusammenfassung: Konsequenzen

Die vorangehenden Kapitel behandeln Themen, die für moderne Staaten eigentlich unzeitgemäß schei-nen; allein in Europa gehören über 100 Millionen Menschen30 nationalen Minderheiten oder Volks-gruppen an, sodass der ethnisch homogene Staat auch heute noch die große Ausnahme darstellt (Bott-Bodenhausen 1996). Dennoch sind sie „zeitgemäß“ und gleichzeitig alles andere als neu: sprachliche Be-nachteiligung, sprachliche Diskriminierung, Sprachverbote und – als Folgen davon – unvollständigerErwerb der Staatssprache, unvollständiger Erwerb der Muttersprache und schließlich Sprachverzichtund Sprachverlust. Es gab sie in gewissem Ausmaß im ehemaligen Jugoslawien, es gibt sie in unter-schiedlichem Ausmaß in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, und es gab und gibt sie in hohem Maß inder Türkei. Tatsächlich aber handelt es sich nicht um eine Eigenart der Herkunftsländer der MigrantIn-nen: Gerade Sprachverzicht und Sprachverlust sind weltweite Phänomene: Zwischen 20 und 50% derexistierenden Sprachen sind bedroht und werden in diesem Jahrhundert verschwinden (Dressler/deCillia, in Vorb.). Dabei ist es weniger die vielzitierte „Sprachenvielfalt“, deren Gefährdung Besorgnis er-regen sollte; es ist vielmehr die Lage der SprecherInnen selbst. Der vollständige oder teilweise Verzichtauf die Sprache, die man am besten beherrscht, erfolgt kaum je freiwillig, sondern beinahe ausnahmslosunter dem hohen Druck einer sozial, ökonomisch oder politisch prekären Situation. Gerade in solchenKontexten neigen Eltern zur Aufgabe ihrer Muttersprache zugunsten einer dominanten Sprache, umdas Kind zu schützen, und verlassen damit „sicheren Boden“: Wenn Eltern die neue Sprache nicht mut-tersprachlich beherrschen, leidet nicht nur die kindliche Sprachkompetenz, sondern die Kommunikati-on zwischen Eltern und Kind insgesamt (Andersen 1989, Baker 1998, Rindler-Schjerve 2002).

Da Angehörige diskriminierter (Sprach-)Gemeinschaften verstärkt zur Auswanderung tendieren,ist für die Migration von einem besonders hohen Anteil an Familien in „sprachlichen Ausnahmesitua-tionen“ auszugehen – höher, als es offizielle Statistiken vermuten lassen. So wird etwa angenommen,dass rund 30% der ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei allein der kurdischen Minderheit angehören(Six-Hohenbalken 2001); Angehörige der zahlreichen anderen Minderheiten jedoch, besonders aberPersonen, die ihre ursprüngliche Sprache und Identität aufgegeben haben, diese nicht zu erkennen ge-ben oder von den Eltern nie über ihre Zugehörigkeit zu einer Minderheit in Kenntnis gesetzt wurdenund deren Spracherwerb deshalb ebenfalls unter Ausnahmebedingungen stattgefunden haben dürfte,sind mittels solcher Statistiken kaum oder gar nicht erfassbar. Ähnliches gilt u. a. besonders für Ange-hörige der Minderheit der Roma und, wenn auch in eingeschränktem Maß, für die albanische und wala-chische Minderheit aus dem ehemaligen Jugoslawien. Im Übrigen sind Ausnahmebedingungen imSpracherwerb keineswegs auf Minderheiten beschränkt, wie die Situation der mehrheitlich türkisch-sprachigen Landbevölkerung Anatoliens zeigt.

Von den Herkunftsländern zurück nach Österreich: Unvollständiger Erwerb der StaatsspracheDeutsch, unvollständiger Erwerb der Muttersprache der MigrantInnen, Sprachverzicht und Sprach-verlust – alle genannten Phänomene finden sich auch hier. Nicht selten verzichten Eltern auf die Ver-wendung ihrer Muttersprache in dem Glauben, ihre Kinder mit deutschsprachigem Input für die schu-lische Laufbahn ausstatten zu müssen. Noch häufiger verzichten die Kinder selbst mit zunehmendemAlter auf die Verwendung der Muttersprache in dem klaren Bewusstsein ihres geringen Prestiges. Derhäufigste Fall aber dürften Kinder sein, die ohne schulische Muttersprachförderung auskommen müs-sen und schon deshalb kognitiv-akademisches Sprachniveau kaum erreichen können. In vielen Fami-lien mag sich so der unvollständige Spracherwerb oder aber der Verzicht auf die Muttersprache bereitszum zweiten Mal vollziehen: Nach den Eltern im Herkunftsland sind nun die Kinder in der Migration

296

30 Die MigrantInnen sind hier noch nicht mitgerechnet.

davon betroffen. Welche Aufgabe der Bildungspolitik im Einwanderungsland Österreich in diesemSinne vor allem zukommt, lässt sich auch an der vergleichsweise kleinen hier untersuchten Kinder-gruppe und an den Ergebnissen der vorliegenden explorativen Studie klar ablesen: Ein erfolgreichesmultikulturelles Schulwesen ist möglich, und sein effizientestes Instrument ist die Förderung der Mut-tersprache.

Dass der Zweitspracherwerb an sich einen fast „selbstverständlichen“ kindlichen Lernprozess dar-stellt und selbst unter beinahe erdrückend ungünstigen Bedingungen (niedriger sozioökonomischerStatus, Fehlen entsprechender Förderung, unvollständiger Mutterspracherwerb bereits in der Genera-tion der Eltern usw.) erfolgreich verlaufen kann, wenn günstige Bedingungen die Kompensation hin-derlicher Faktoren unterstützen, zeigen zahlreiche Beispiele in Österreich und europaweit. In diesemSinne versteht sich auch der Titel der vorliegenden soziolinguistischen Untersuchung als Bild für einenungleichen Kampf, der dennoch vom Schwächeren gewonnen werden kann.

4. Zusammenfassung: Konsequenzen

297

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Teil II – Soziolinguistische Begleitstudie

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Interviews

1. Interview mit Verena Lammer, Sprachheilpädagogin und Turkologin, Österreichische Gesellschaftfür Sprachheilpädagogik, 31. Jänner 2003.

2. Interview mit Mustafa Cakır, muttersprachlicher Lehrer für Türkisch, 21. Jänner 2003.3. Interview mit Melahat Otuk, Migrantin aus der Türkei, 9. April 2003.4. Interview mit Muhammed Kılıc, muttersprachlicher Berater für Eltern aus der Türkei, REBAS

(Regionale Betreuungsstelle für ausländische SchülerInnen), 10. April 2003.

Interviews

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