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Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1 3 „Archive und Forschung“ Der 73. Deutsche Archivtag in Trier Tagungsbericht von Robert Kretzschmar Bei wunderschönem, sonnigem Wetter findet der 73. Deut- sche Archivtag vom 17. bis 20. September 2002 in Trier statt. Das Tagungszentrum in der Europahalle liegt mitten im Herzen der Stadt, so dass man an den Tischen der umliegenden Cafés und Bistros die von Leichtigkeit geprägte, spätsommerliche Atmosphäre des geschicht- strächtigen Tagungsortes genießen kann. Angereist sind rund 800 Teilnehmer, 538 von ihnen sind Mitglieder des Verbands deutscher Archivarinnen und Archivare. Das Tagungsprogramm weist die stattliche Anzahl von 74 Referentinnen und Referenten aus. „Archive und Forschung“ – unter diesem Rahmen- thema will der Verband deutscher Archivarinnen und Archivare die Rolle der Archive in ihrem Verhältnis zur Forschung, vor allem zu den historischen Disziplinen, von verschiedenen Seiten beleuchten. Einerseits ermöglichen Archive Forschung, indem sie als Dienstleister ihre Bestände für die Nutzung zur Verfügung stellen, anderer- seits sind sie selbst eingebunden in die Forschung, aktiv teilhabend und als Vermittler. Welche Probleme, vor allem aber welche Möglichkeiten sich aus diesem fruchtbaren Spannungsverhältnis ergeben, soll in den verschiedenen Veranstaltungen thematisiert werden. Wenige Wochen zuvor – im August 2002 – hat eine Flut- katastrophe die Bundesrepublik Deutschland heimge- sucht, die auch in Archiven Ost-, Süd- und Norddeutsch- lands teils verheerende Schäden hinterlassen hat. Die Frage, wie man Hilfe leisten kann, wird in verschiedenen Veranstaltungen des Archivtags thematisiert: in der Eröff- nungsansprache, in den Sitzungen einzelner Fachgrup- pen, in der Mitgliederversammlung des Verbands deut- scher Archivarinnen und Archivare 1 und in der Gesprächsrunde mit den ausländischen Archivtagsteil- nehmern. Das Tagungszentrum in der Europahalle ist vom Raum- angebot her etwas beengt, erweist sich insgesamt jedoch als geeignet. Dank der guten Vorbereitung und Organisa- tion durch die Geschäftsstelle des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare verläuft die Tagung rei- bungslos. Veranstaltungen vor der Eröffnung des Archivtags Wie üblich, finden bereits am Tag vor der offiziellen Eröff- nung des Archivtags einige Veranstaltungen statt. So tagt am Dienstag, dem 17. September die „Bundeskonferenz der Kommunalarchivare beim Deutschen Städtetag“ in den Räumen der Stadtbibliothek Trier, die institutionell mit dem Stadtarchiv verbunden ist, während zeitgleich die „Konferenz der Archivreferenten bzw. Leiter der Archivverwaltungen des Bundes und der Länder“ im Kurfürstlichen Palais ihre Sitzung abhält. Eine „Presse- konferenz der Stadt Trier und des Verbands deutscher 1 Vgl. das gedruckte Protokoll in: Der Archivar 55 (2002) S. 387–394. Archivarinnen und Archivare“, die der Ortsausschuss vorbereitet hat und an der für die Stadt deren Kulturdezer- nent Ulrich Holkenbrink und der Leiter der Stadtbiblio- thek und des Stadtarchivs Professor Dr. Gunther Franz sowie für den Verband dessen Vorsitzender Professor Dr. Volker Wahl und Schriftführer Dr. Robert Kretzschmar teilnehmen, findet bei der lokalen Presse sowie beim regio- nalen Fernsehen viel Interesse; Fragen werden insbeson- dere zu den Folgen der Flutkatastrophe in den neuen Län- dern und zur Situation der kommunalen Archive in Rhein- land-Pfalz gestellt. Am Nachmittag des 17. September findet das traditio- nelle „Arbeitsgespräch der ausländischen Archivtagsteil- nehmer“ unter der Leitung des neuen Verbandsvorsitzen- den Professor Dr. Wahl statt, der zunächst die Gelegenheit nutzt, sich persönlich vorzustellen. Im Anschluss werden Berichte zu internationalen Fachtagungen gegeben, so zu dem Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft der mitteleuro- päischen Archivarsverbände in Stettin, das in der Vorwo- che stattgefunden hat, und zu einzelnen Archivtagen aus- ländischer Archivarsverbände. Der stellvertretende Vor- sitzende des VdA – Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare, Dr. Ammerich, berichtet sodann über die Erfahrungen, die der Verband 2001 bei der Durchführung des Tags der Archive gewinnen konnte, und informiert über die Planungen für den nächsten Tag der Archive im Jahr 2004, wobei auch Überlegungen zu einem möglichen zukünftigen Tag der Archive auf europäischer Ebene angestellt werden. Als dritter Themenkomplex wird die aktuelle Flutkatastrophe angesprochen. Dr. Schwippel, Prag, berichtet über die Schäden in der Tschechischen Republik, während der Verbandsvorsitzende auf die Bemühungen des VdA zur Unterstützung der betroffenen Archive eingeht. Am Nachmittag des 17. September tagt ebenfalls der Arbeitskreis „Archivpädagogik und Histori- sche Bildungsarbeit“, wozu auf den Einzelbericht unten zu verweisen ist. Um 18.00 Uhr hat das Land Rheinland-Pfalz zum tradi- tionellen Empfang für die ausländischen Gäste eingela- den. Nach der Begrüßung durch Staatssekretär Roland Härtel sprechen der Verbandsvorsitzende Professor Dr.Wahl und der Präsident der Vereinigung Schweizeri- scher Archivarinnen und Archivare, Andreas Kellerhals vom Schweizerischen Bundesarchiv. Die historischen Viehmarktthermen bieten ein äußerst ansprechendes Ambiente, zumal dort die von den rheinland-pfälzischen und saarländischen Archiven gestaltete Landesausstel- lung „Unrecht und Recht. Kriminalität und Gesellschaft im Wandel 1500–2000” aufgebaut ist, die am Montag, dem 16. September unter Teilnahme zahlreicher Archivtagsteil- nehmer eröffnet worden ist. Den Abend beschließt in der Europahalle Metz der von Lichtbildern begleitete Einfüh- rungsvortrag von Professor Dr. Gunther Franz, in dem er unter Huldigung des Genius Loci „Gestalten der europäi- schen Geistesgeschichte im 2000jährigen Trier” auferste- hen ließ.

„Archive und Forschung“ Der 73. Deutsche Archivtag in Trierfiz1.fh-potsdam.de/volltext/archivar/06149.pdf · Archivare?”, auf diese Frage gibt Professor Dr. Theo Kölzer, Ordinarius

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Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1 3

„Archive und Forschung“Der 73. Deutsche Archivtag in TrierTagungsbericht von Robert Kretzschmar

Bei wunderschönem, sonnigem Wetter findet der 73. Deut-sche Archivtag vom 17. bis 20. September 2002 in Trierstatt. Das Tagungszentrum in der Europahalle liegt mittenim Herzen der Stadt, so dass man an den Tischen derumliegenden Cafés und Bistros die von Leichtigkeitgeprägte, spätsommerliche Atmosphäre des geschicht-strächtigen Tagungsortes genießen kann. Angereist sindrund 800 Teilnehmer, 538 von ihnen sind Mitglieder desVerbands deutscher Archivarinnen und Archivare. DasTagungsprogramm weist die stattliche Anzahl von 74Referentinnen und Referenten aus.

„Archive und Forschung“ – unter diesem Rahmen-thema will der Verband deutscher Archivarinnen undArchivare die Rolle der Archive in ihrem Verhältnis zurForschung, vor allem zu den historischen Disziplinen, vonverschiedenen Seiten beleuchten. Einerseits ermöglichenArchive Forschung, indem sie als Dienstleister ihreBestände für die Nutzung zur Verfügung stellen, anderer-seits sind sie selbst eingebunden in die Forschung, aktivteilhabend und als Vermittler. Welche Probleme, vor allemaber welche Möglichkeiten sich aus diesem fruchtbarenSpannungsverhältnis ergeben, soll in den verschiedenenVeranstaltungen thematisiert werden.

Wenige Wochen zuvor – im August 2002 – hat eine Flut-katastrophe die Bundesrepublik Deutschland heimge-sucht, die auch in Archiven Ost-, Süd- und Norddeutsch-lands teils verheerende Schäden hinterlassen hat. DieFrage, wie man Hilfe leisten kann, wird in verschiedenenVeranstaltungen des Archivtags thematisiert: in der Eröff-nungsansprache, in den Sitzungen einzelner Fachgrup-pen, in der Mitgliederversammlung des Verbands deut-scher Archivarinnen und Archivare1 und in derGesprächsrunde mit den ausländischen Archivtagsteil-nehmern.

Das Tagungszentrum in der Europahalle ist vom Raum-angebot her etwas beengt, erweist sich insgesamt jedochals geeignet. Dank der guten Vorbereitung und Organisa-tion durch die Geschäftsstelle des Verbandes deutscherArchivarinnen und Archivare verläuft die Tagung rei-bungslos.

Veranstaltungen vor der Eröffnung des Archivtags

Wie üblich, finden bereits am Tag vor der offiziellen Eröff-nung des Archivtags einige Veranstaltungen statt. So tagtam Dienstag, dem 17. September die „Bundeskonferenzder Kommunalarchivare beim Deutschen Städtetag“ inden Räumen der Stadtbibliothek Trier, die institutionellmit dem Stadtarchiv verbunden ist, während zeitgleichdie „Konferenz der Archivreferenten bzw. Leiter derArchivverwaltungen des Bundes und der Länder“ imKurfürstlichen Palais ihre Sitzung abhält. Eine „Presse-konferenz der Stadt Trier und des Verbands deutscher

1 Vgl. das gedruckte Protokoll in: Der Archivar 55 (2002) S. 387–394.

Archivarinnen und Archivare“, die der Ortsausschussvorbereitet hat und an der für die Stadt deren Kulturdezer-nent Ulrich Holkenbrink und der Leiter der Stadtbiblio-thek und des Stadtarchivs Professor Dr. Gunther Franzsowie für den Verband dessen Vorsitzender Professor Dr.Volker Wahl und Schriftführer Dr. Robert Kretzschmarteilnehmen, findet bei der lokalen Presse sowie beim regio-nalen Fernsehen viel Interesse; Fragen werden insbeson-dere zu den Folgen der Flutkatastrophe in den neuen Län-dern und zur Situation der kommunalen Archive in Rhein-land-Pfalz gestellt.

Am Nachmittag des 17. September findet das traditio-nelle „Arbeitsgespräch der ausländischen Archivtagsteil-nehmer“ unter der Leitung des neuen Verbandsvorsitzen-den Professor Dr. Wahl statt, der zunächst die Gelegenheitnutzt, sich persönlich vorzustellen. Im Anschluss werdenBerichte zu internationalen Fachtagungen gegeben, so zudem Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft der mitteleuro-päischen Archivarsverbände in Stettin, das in der Vorwo-che stattgefunden hat, und zu einzelnen Archivtagen aus-ländischer Archivarsverbände. Der stellvertretende Vor-sitzende des VdA – Verbandes deutscher Archivarinnenund Archivare, Dr. Ammerich, berichtet sodann über dieErfahrungen, die der Verband 2001 bei der Durchführungdes Tags der Archive gewinnen konnte, und informiertüber die Planungen für den nächsten Tag der Archive imJahr 2004, wobei auch Überlegungen zu einem möglichenzukünftigen Tag der Archive auf europäischer Ebeneangestellt werden. Als dritter Themenkomplex wird dieaktuelle Flutkatastrophe angesprochen. Dr. Schwippel,Prag, berichtet über die Schäden in der TschechischenRepublik, während der Verbandsvorsitzende auf dieBemühungen des VdA zur Unterstützung der betroffenenArchive eingeht. Am Nachmittag des 17. September tagtebenfalls der Arbeitskreis „Archivpädagogik und Histori-sche Bildungsarbeit“, wozu auf den Einzelbericht untenzu verweisen ist.

Um 18.00 Uhr hat das Land Rheinland-Pfalz zum tradi-tionellen Empfang für die ausländischen Gäste eingela-den. Nach der Begrüßung durch Staatssekretär RolandHärtel sprechen der Verbandsvorsitzende ProfessorDr. Wahl und der Präsident der Vereinigung Schweizeri-scher Archivarinnen und Archivare, Andreas Kellerhalsvom Schweizerischen Bundesarchiv. Die historischenViehmarktthermen bieten ein äußerst ansprechendesAmbiente, zumal dort die von den rheinland-pfälzischenund saarländischen Archiven gestaltete Landesausstel-lung „Unrecht und Recht. Kriminalität und Gesellschaftim Wandel 1500–2000” aufgebaut ist, die am Montag, dem16. September unter Teilnahme zahlreicher Archivtagsteil-nehmer eröffnet worden ist. Den Abend beschließt in derEuropahalle Metz der von Lichtbildern begleitete Einfüh-rungsvortrag von Professor Dr. Gunther Franz, in dem erunter Huldigung des Genius Loci „Gestalten der europäi-schen Geistesgeschichte im 2000jährigen Trier” auferste-hen ließ.

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Eröffnung

Am Mittwoch, dem 18. September 2002 begrüßt der Vor-sitzende des VdA um 10.00 Uhr die Archivtagsteilnehmerim vollständig gefüllten Saal Metz der Europahalle inTrier. In seiner Eröffnungsansprache bringt er seine beson-dere Freude darüber zum Ausdruck, dass der ersteArchivtag, für den er als neu gewählter Verbandsvorsit-zender Verantwortung trägt, in Trier stattfindet: Trier istPartnerstadt von Weimar, woraus sich für den Vorsitzen-den, der früher das Goethe- und Schiller-Archiv Weimargeleitet hat und jetzt Direktor des Hauptstaatsarchivs Wei-mar ist, vielfältige persönliche Kontakte ergeben haben. Inseinen Ausführungen zum Rahmenthema des Archivtags„Archive und Forschung” betont der Vorsitzende dieengen Beziehungen zwischen dem Archivarsberuf undder historischen Forschung, die es in ihren vielfältigen Sei-ten auszuleuchten gelte. Die Archivwissenschaftbeschreibt er als eine dezidiert historische Disziplin, wozuer die Worte des früheren Weimarer Archivdirektors WillyFlach zitiert, „dass all unser wissenschaftliches Tun imArchiv nicht Selbstzweck ist, dass die Archivwissenschaftnicht zum Gegenstand welt- und lebensferner Beschäfti-gung eines kleinen Berufskreises werden soll, dass sie viel-mehr ein Beitrag – und ein nicht unwichtiger – zurGesamtheit unserer historischen Forschung ist, dass siesich einordnet in das große und umfassende Werk zurErgründung historischer Wahrheit”. Die Veranstaltungenund Sektionen des Archivtags sollen, so der Vorsitzende,einer kritischen Standortbestimmung der Archive in derForschungslandschaft dienen: Welches Selbstverständnis

haben die Archivarinnen und Archivare heute von derForschung als Aufgabe und Anforderung? Bei der Pla-nung des Archivtags habe man auch bewusst Vertreter derForschung um Beiträge gebeten, damit diese ihre Erwar-tungen an die Archive formulieren können. Ausführlichgeht der Verbandsvorsitzende sodann auf die Folgen derFlutkatastrophe ein, wobei er zunächst seiner Betroffen-heit Ausdruck verleiht. Er verweist auf den im Interneterfolgten Aufruf des VdA vom 19. August 2002 „Flutkata-strophe – Hilfe tut not”, der im Sinne einer „Spenden-börse” einen Anstoß zur Solidarität und Hilfeleistungunter den Archiven selbst geben sollte. Der Archivtag sollenun als Forum zu der Frage dienen, wie man die Hilfenoch wirkungsvoller organisieren kann. Nachdem vieler-orts Rettungsmaßnahmen eingeleitet worden seien, werdees nun auch vor allem darum gehen, wer die Kosten dafürübernimmt. Es könne aber auch schon eine wirksameHilfe sein, wenn die großen Archive und Archivverwal-tungen, die über Restaurierungseinrichtungen verfügen,sich bereit erklären, in Einzelfällen kostenlos beschädigteArchivalien zu restaurieren. Darüber müsse in der Mitglie-derversammlung gesprochen werden.

Der Eröffnungsansprache schließen sich Grußworte an:Nachdem der Minister für Bildung, Wissenschaft und Wei-terbildung des Landes Rheinland-Pfalz, Professor Dr. Jür-gen Zöllner, aus zwingenden dienstlichen Gründenkurzfristig absagen musste, tritt in seiner Vertretung fürdas Gastgeberland Dr. Ottmar Mick von der Aufsichts-und Dienstleistungsdirektion in Rheinland-Pfalz auf. DieGastgeberstadt wird durch deren Oberbürgermeister Hel-mut Schröer hervorragend vertreten, der in launigenWorten vor allem die Einbindung Triers in das Europa vonheute beschreibt. Die Kontakte und die Zusammenarbeitüber Grenzen hinweg stehen auch im Vordergrund derAusführungen von Dr. Cornel Meder, dem Direktor desNationalarchivs in Luxemburg, der im Namen der auslän-dischen Gäste das Wort ergreift. Für den Deutschen Biblio-theksverband thematisiert sodann dessen VorsitzenderDr. Friedrich Geißelmann, Direktor der Universitätsbi-bliothek Regensburg, die gemeinsamen Herausforderun-gen, denen sich Bibliotheken und Archive heute gegen-über sehen. In seiner Eigenschaft als Vizepräsident desInternationalen Archivrats spricht Professor Dr. LorenzMikoletzky, Generaldirektor des ÖsterreichischenStaatsarchvis Wien, ein Grußwort, mit dem er zugleich dieEinladung zum 15. Internationalen Archivkongreß 2004 inWien überbringt.

„Die postmoderne Geschichtstheorie und die Doku-mente” ist der Eröffnungsvortrag von Professor Dr. Win-fried Becker, Passau, überschrieben, der noch am Vormit-tag zum Fachprogramm überleitet. Auf hohem theoreti-schem Abstraktionsniveau unter eingehendem Rekurs aufdie vielfältige einschlägige Literatur legt er ausführlichdar, welches Verständnis das postmoderne Denken vonder Geschichte und der Geschichtswissenschaft hat,womit wohl erstmals die postmodernen Denkansätze aufeinem deutschen Archivtag Gegenstand näherer Betrach-tung sind. Am Ende seines sehr wissenschaftsgeschicht-lich angelegten Vortrags geht Becker auch auf ihre mögli-chen Konsequenzen für die archivische Praxis ein: Ange-sichts des von der Postmoderne besonders unterstriche-nen Nebeneinanders der verschiedensten Deutungsper-spektiven erscheint es ihm notwendig, potentiellesArchivgut möglichst breit zu archivieren und bei derDr. Wahl bei der Eröffnungsansprache.

Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1 5

Überlieferungsbildung von „eng definierten sozialen, kul-turellen oder politischen Prioritätensetzungen” abzuse-hen: „Der Archivar sollte seine Aufgabe darin sehen, derzukünftigen Forschung das Kulturgut seiner und frühererZeiten möglichst umfassend zur Verfügung zu stellen, umnicht von vornherein beschränkte, die Vergangenheit ver-fälschende Deutungshoheiten zu präjudizieren.” Ande-rerseits könne, so Becker, die postmoderne Geschichts-theorie aber auch von der bewährten Methodologie derHistoriker lernen. Eine Grundvoraussetzung geschichtli-chen Arbeitens bleibe die Unterscheidung zwischen doku-mentarischer Rekonstruktion vergangener Geschichtenund dem Dialog mit der Vergangenheit. Beckers Vortrag,der bereits im Internet-Angebot des VdA zugänglich istund im Tagungsband veröffentlicht wird, hat zweifelsfreiFragen angeschnitten, die vom archivfachlichen Diskursaufgegriffen werden sollten. Eine Auseinandersetzungmit den Denkansätzen der Postmoderne aus der Perspek-tive der Archive unter Einbeziehung des aktuellen Diskus-sionsstands der Archivwissenschaft und der heutigenarchivischen Praxis ist längst überfällig; insbesonderewird sich die Bewertungsdiskussion damit zu befassenhaben.

Sektionssitzungen

Am Nachmittag finden sich um 14.00 Uhr die Teilnehme-rinnen und Teilnehmer zu den vier verschiedenen Sekti-onssitzungen ein, deren Gestaltung die auf den Call forpapers angebotenen Beiträge zu Grunde liegen. Ihre The-men kreisen alle um das Rahmenthema „Archive und For-schung”. Folgende Sitzungen stehen auf dem Programm(in Klammern die jeweilige Zahl der Anmeldungen):• Sektion I: Archivwissenschaft und Historische Hilfs-

wissenschaften. Leitung: Dr. Robert Kretzschmar(214)

• Sektion II: Die Rolle der Archive im Netzwerk der For-schung. Leitung: Dr. Günter Buchstab (118)

• Sektion III: Archivrecht und Forschungsfreiheit. Lei-tung: Dr. Diether Degreif (247)

• Sektion IV: Archive als Dienstleister der Forschung –Erwartungen und Möglichkeiten eines zeitgemäßenAngebots. Leitung: Dr. Norbert Reimann (112)Einzelberichte zu den Sektionen finden sich im

Anschluss an diesen Gesamtbericht, soweit sie bei Redak-tionsschluss vorliegen. Die gehaltenen Referate werden imTagungsband mit den einleitenden Moderationen undeinem Bericht zum jeweiligen Diskussionsverlaufgedruckt.

Forum Diplomarchivarinnen und Diplomarchivare (FH)

Um 17.00 Uhr versammelt man sich zum Forum Diplom-archivarinnen und Diplomarchivare, das der zwischen-zeitlich so umbenannte Arbeitskreis unter der Leitung sei-ner neuen Leiterin Beate Dördelmann veranstaltet. Auchhierzu ist auf den nachstehenden Einzelbericht zu verwei-sen.

Empfang der Stadt Trier und Begegnungs- undGesprächsabend

Um 18.30 Uhr lädt die Stadt Trier im Foyer der Europahallezu einem Empfang bei Moselwein und einem kleinenImbiss ein, der gerne angenommen wird. Oberbürger-meister Schröer begrüßt, der Vorsitzende des VdA dankt.Bei dem Begegnungs- und Gesprächsabend der Archiv-tagsteilnehmer, Gäste und Aussteller, der anschließend ab20.00 Uhr in zwei Sälen der Europahalle stattfindet, ist dieTeilnehmerzahl mit 326 Anmeldungen etwas niedriger alserwartet, was wohl mit den attraktiven Lokalen der StadtTrier in unmittelbarer Nähe zur Europahalle bei anhaltendschönem Wetter zusammenhängt.

Veranstaltungen der Fachgruppen und Mitgliederver-sammlung

Die traditionellen Sitzungen der Fachgruppen finden amDonnerstag, dem 19. September 2002 ab 8.30 Uhr statt.Hierzu wird auf die nachstehenden Einzelberichte verwie-sen.

Anschließend wird von 11.00 Uhr bis 13.07 die Mitglie-derversammlung des VdA abgehalten. Über die Tagesord-nung und den Verlauf unterrichtet das veröffentlichte Pro-tokoll.2

Gemeinsame Arbeitssitzung

Die Gemeinsame Arbeitssitzung ist im Einklang mit demRahmenthema des Archivtags unter der Leitung vonDr. Hans Ammerich, Speyer, dem Thema „Archive undhistorische Forschung” gewidmet, wobei hier die For-schung zu Wort kommen soll. „Welche Erwartungen hatder Mittelalter-Historiker bezüglich der Archive undArchivare?”, auf diese Frage gibt Professor Dr. TheoKölzer, Ordinarius für mittelalterliche Geschichte an derUniversität Bonn, eine Antwort. Neben nutzerfreundli-chen Dienstleistungen bei der Bereitstellung von Unterla-gen und Beantwortung schriftlicher Anfragen erwartetKölzer vor allem nach wie vor „einen kompetenten, medi-ävistisch und hilfswissenschaftlich ausgebildeten, selbstforschenden Betreuer, der ihm und seinen Doktorandenaus Interesse an der Sache in jeder Hinsicht beratend undunterstützend zur Seite steht”. Daraus leitet er die Forde-rung nach „einer angemessenen Berücksichtigung medi-ävistischer und hilfswissenschaftlicher Lehrinhalte in derAusbildung” ab, die zugleich eine Stärkung der „klassi-schen” universitären Ausbildung darstellen könne. GroßeMöglichkeiten sieht er in der Zugänglichmachung digita-lisierter Findmittel und Archivbestände im Netz.

„Was erwartet die Stadtgeschichtsforschung von denArchiven”, fragt sodann Professor Dr. Gerhard Fouquet,Wirtschafts- und Sozialhistoriker an der Universität Kiel.Nach einem detaillierten Überblick über die Fragestellun-

2 Wie Anm. 1.

6 Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1

gen und Methoden der modernen Stadtgeschichtsfor-schung plädiert er zunächst an die Adresse der Verant-wortlichen in der Politik, die großen Stadtarchive perso-nell nicht ausbluten zu lassen und die kleinen Stadtarchivedurchgängig mit hauptamtlichen Fachkräften zu beset-zen. Im Blick auf die Überlieferungsbildung spricht er sichfür ein archivisches Selbstverständnis aus, bei dem mansich nicht nur als „Gedächtnis der Verwaltung” begreift,sondern verstärkt auch als Ort systematischer „Überliefe-rungs-Chancen des privaten und gruppengeprägtenLebens sowie der Ökonomie im Nahraum”. Er unter-streicht dabei die Bedeutung von Privat- und Vereinsarchi-ven sowie von Nachlässen aus Industrie, Gewerbe undHandwerk; diese sollten von Kommunalarchiven aktivgesichert werden. Abschließend betont er die Bedeutungder kommunalen Archive in der Forschung selbst und inder Bildungsarbeit. Während es in der Aussprache zu demReferat von Professor Kölzer keine Wortmeldung gibt, for-dert Dr. Soénius, Köln, Professor Fouquet auf, sich eingenaueres Bild von den Kommunal- und Wirtschaftsarchi-ven zu machen; die Sicherung von Nachlässen aus derWirtschaft werde von den Letzteren engagiert betrieben.In seiner Antwort stellt Fouquet klar, dass er nicht dieBedeutung der Wirtschaftsarchive verkenne, dass es aberin vielen Städten keine Firmenarchive und in einigen Län-dern auch keine überregionalen Wirtschaftsarchive gebeund er dann auch eine Verantwortung der Stadtarchivesehe.

„Forschung und Archive – Überlegungen zur wissen-schaftlichen Kooperation”, ist der dritte Beitrag von Pro-fessor Dr. Rainer Hudemann, Zeithistoriker an der Uni-versität Saarbrücken, überschrieben. Mit großer Sach-kenntnis auf der Grundlage eigener Archivstudien imBereich der Zeitgeschichte nutzt Hudemann das Podium,eine Reihe konstruktiv-kritischer, praxisnaher Vorschlägezu einer besseren Kooperation zwischen der Forschungund Archiven zu unterbreiten. Er regt einerseits für dieFestsetzung von Prioritäten in den Archiven eine stärkereKoordination mit aktuellen Forschungsvorhaben an,

erachtet es andererseits aber auch als wünschenswert,dass die Archive noch aktiver auf Forscher und Hoch-schullehrer zugehen, die in ihrem Umfeld Arbeitenbetreuen, um auf neu aufgetauchte oder neu erschlosseneArchivbestände hinzuweisen. Auch bei der Quellensiche-rung sieht er Möglichkeiten zur Zusammenarbeit zwi-schen den Archiven, der Forschung und der Verwaltung,die er an Beispielen näher erläutert. Ausdrücklich bietet erauch seine Bereitschaft an, sich bei Fragen der Überliefe-rungsbildung einzubringen. Die Furcht der Archive, dassVertreter der Forschung automatisch für den Erhalt vonallem und jedem plädieren, sieht er als unbegründet an.Mit welchen Forschern ein Dialog in Bewertungsfragensachlich sinnvoll und tatsächlich eine Hilfestellung fürseine Arbeit sein könne, das fände ein Archiv rasch heraus.Es sei in jedem Fall erforderlich, in komplizierten Zwei-felsfällen das Gespräch mit der Forschung zu suchen unddie wechselseitigen Gesichtspunkte auszutauschen, bevorEntscheidungen fallen. Auch bei der Erschließung ist fürHudemann eine engere Kooperation zu wünschen. Wennbestimmte Themen und vor allem größere Themenfeldervon der Forschung in Angriff genommen werden, solltendie Archive das nach Möglichkeit in ihre Arbeitsplanungeinbeziehen, wie es in Frankreich durchaus üblich sei. Dieprioritäre Aufbereitung solcher Quellen, die von der For-schung besonders dringend gebraucht werden, ließe sichsicherlich auch positiv in der Öffentlichkeit darstellen.Abschließend spricht Hudemann noch einige Gesichts-punkte bei der Nutzung an, die es seines Ermessens zuberücksichtigen gelte; dabei plädiert er ebenfalls für dievertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der For-schung und den Archiven, die er vor allem bei der Hand-habung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen alsnotwendig ansieht. In der Diskussion zu dem Vortrag vonHudemann ergreift zunächst Dr. Wolfgang Stein, Kob-lenz, das Wort, der problematisiert, dass sowohl Hude-mann als auch Kölzer implizit eine Privilegierung des wis-senschaftichen Nutzers unterstellten. Dr. Norbert Rei-mann, Münster, befürwortet, den Ermessensspielraum

Der VdA-Vorstand bei der Mitgliederversammlung.

Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1 7

bei der Freigabe von Akten so weit wie möglich positivzugunsten der Forschung auszuschöpfen, wozu er auchauf das in den meisten Archivgesetzen verankerte Privilegder Wissenschaft gegenüber der privaten Forschung ver-weist. Wünsche der Archivarinnen und Archivare an dieForschung aus der Perspektive des gehobenen Dienstesformuliert sodann Annemarie Berta Müller, Nürnberg.Dabei regt sie unter anderem an, dass Hochschullehrerhäufiger mit den Studierenden Archive besuchen. UlrikeGstettner, St. Pölten in Österreich, stellt kurz ein Projektzur Digitalisierung der Urkunden der niederösterrei-chischen und Wiener Stifte, Klöster, Diözesen und Pfar-reien vor.

Im Auftrag des Verbandsvorsitzenden schließtDr. Ammerich mit der von ihm geleiteten Veranstaltungzugleich auch den 73. Deutschen Archivtag, der um 18.00Uhr mit einem Orgelkonzert im Dom St. Peter „ausklingt”.

Fachmesse „Archivistica” und Rahmenprogramm

Parallel zum Deutschen Archivtag haben die Ausstellerder „Archvistica – Fachmesse für Archivtechnik” ihreStände im Foyer der Europahalle aufgebaut. Wenn derRaum auch etwas beengt ist, so ist andererseits die unmit-

telbare Nähe zu den Tagungsräumen von großem Vorteil.Insbesondere aus den Bereichen EDV/Digitalisierung,Mikroverfilmung, Regalbau und Restaurierung/Konser-vierung sind Aussteller angereist, um über ihre neuestenProdukte zu informieren; auch nutzen viele Verlage dieMöglichkeit. Im Internet-Angebot des VdA sind die Aus-steller zusammengestellt, was noch einmal eine zusätzli-che Werbung für diese, aber auch für die vom VdA durch-geführte Fachmesse „Archivstica” darstellt. Sie ist die ein-zige Fachmesse dieser Art in Europa und hat in den letztenJahren zunehmend an Bedeutung gewonnen.

Im Rahmenprogramm wird eine Vielzahl von Führun-gen und Besichtigungen angeboten: ein StadtrundgangTrier „2000 Schritte – 2000 Jahre”, eine Führung durch dasStadtarchiv/Stadtbibliothek Trier, eine Führung durch das„Römische Trier” und das Karl-Marx-Haus sowie durchdie Ausstellungen „Unrecht und Recht. Kriminalität undGesellschaft im Wandel 1500–2000” in den Viehmarktther-men (siehe oben) und „Luxemburgensia aus Stadtbiblio-thek und Stadtarchiv Trier” im Stadtarchiv/Stadtbiblio-thek Trier.

Die fünf Studienfahren am Freitag, dem 20. September2002 führen 1) in die Stadt Luxemburg, 2) nach Mersch inLuxemburg und zur Abtei Echternach, 3) in das Saarland,4) nach Bitburg und 5) nach Bernkastel-Kues.

Berichte zu einzelnen Arbeitssitzungen der Sektionen, Fachgruppen und Arbeitskreiseauf dem 73. Deutschen Archivtag

Sektionen

Sektion I:Archivwissenschaft und Historische Hilfswissenschaf-tenEinleitend berichtet Dr. Robert Kretzschmar, Stuttgart,als Sektionsleiter, dass die Sektion, wie schon die Teilneh-merzahl zeige, große Resonanz gefunden habe und ihmgegenüber von verschiedener Seite dafür gedankt wordensei, dass die historischen Hilfswissenschaften endlich ein-mal wieder auf einem Deutschen Archivtag thematisiertwürden. Sofort nach dem Call for papers habe er auch vonmehreren Seiten die Anregung erhalten, die Sektion als„Hilferuf“ für die Historischen Hilfswissenschaften zugestalten. Er weist darauf hin, dass in den letzten Jahrenaber auch die Archivwissenschaft nicht gerade häufig aufdem Deutschen Archivtag im Programm stand undzuletzt grundlegend 1996 in Darmstadt behandelt wordenist. Das Rahmenthema des Archivtags habe nun eine Sek-tion zu den Historischen Hilfswissenschaften und derRolle der Archivare bei ihrer Fortentwicklung sowie zurArchivwissenschaft geradezu erfordert. Die Hilfswissen-schaften und die Archivwissenschaft hätten enge Berüh-

rungspunkte und Überschneidungen, doch seien die Mög-lichkeiten des fruchtbaren Dialogs bisher zu weniggenutzt worden. In der Sektion sei zu fragen, wie es derzeitum die Hilfswissenschaften und die Archivwissenschaftsteht, wo und wie sich fruchtbare Wechselwirkungenanbieten und welche Perspektiven sich daraus ergebenkönnen.

„Zur aktuellen Lage der Historischen Hilfswissenschaf-ten in der Bundesrepublik Deutschland“ referiertzunächst Professor Dr. Eckart Henning, Berlin, der sie„als Misere einer ganzen Fächergruppe“ beschreibt, „dielängst randständig geworden ist“. Henning hebt dabei vorallem auf die Entwicklung an den Universitäten ab, wobeier den Rückgang der Historischen Hilfswissenschaften inLehre und Forschung auf den Verlust der Archivarsausbil-dung an den Universitäten zurückführt und auf die „Aus-lagerung des hilfswissenschaftlichen Ausbildungsbedarfsan die Archivschulen“. Konsequenterweise fordert er dieRückverlegung der Marburger Archivschule in die Berlin-Brandenburgische Archivlandschaft und die Errichtungeines Kompetenzzentrums für Quellenkunde und Quel-lenkritik an einer der Berliner Universitäten, bevor erunter fundiertem Rekurs auf die einschlägige hilfswissen-schaftliche Literatur einen aktualisierten Fächerkanonskizziert.

8 Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1

„Überlegungen zur archivischen Erschließung vonspätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Amtsbuch-überlieferungen“ ist das zweite Referat von Dr. KlausNeitmann, Potsdam, überschrieben, der detailliert aufdie Entwicklung der Amtsbücher beim Deutschen Ordeneingeht und daraus am Ende seiner Ausführungen praxis-nahe Forderungen für die Erschließung ableitet. Als zen-tral wird dabei vor allem die Analyse und Darstellung derEntstehungszusammenhänge herausgestellt, die im Rah-men der Erschließung zu leisten sei. Neben der Feststel-lung der Provenienz seien die Arbeitsweise der Kanzlei zuklären, einstmals bestehende Serien zu rekonstruieren undVerluste gezielt zu bestimmen. Bei einzelnen Bändenmüsse exakt analysiert werden, ob sie einen einheitlichenoder kompositorischen Charakter haben.

In der anschließenden Diskussion, an der sich ProfessorDr. Volker Schockenhoff, Potsdam, Professor Dr. GregorRichter, Stuttgart, Professor Dr. Eckart Henning undProfessor Dr. Botho Brachmann beteiligen, wird einer-seits hervorgehoben, das die hilfswissenschaftlich fun-dierte Erschließung von Amtsbüchern bisher nichterschöpfend behandelt worden ist, andererseits aber auchkritisch hinterfragt, ob eine solch aufwendige Erschlie-ßung auf der Grundlage hilfswissenschaftlicher Studienim Alltag geleistet werden kann, ob dies nicht vielmehr imRahmen gesonderter Forschungsprojekte erfolgen müsse.

Professor Dr. Wilfried Reininghaus, Münster, widmetsich sodann der „Quellenkunde und Quellenkritik ausSicht der Archive und der neueren Geschichte“, wobei ersich dezidiert für nutzerorientierte Formen der Erschlie-ßung ausspricht, zu denen er quellenkundliche Aufberei-tungen und sachthematische Inventare zählt. An Beispie-len zur Geschichte der Frühneuzeit und NS-Zeit zeigt erauf, dass die Archivarinnen und Archivare aufgefordertsind, ihr Wissen zu den Quellen und deren Aussagefähig-keit fachgruppenübergreifend aufzubereiten, was zuwenig geschehe. Wenn von einer Krise der HistorischenHilfswissenschaften die Rede sei, müssten die Archivesich fragen, ob diese nicht partiell von ihnen mitverschul-det ist. Quellenkunden sollten Bestandteil eines von denArchiven selbst zu betreibenden Wissensmanagementssein, da die Vorlage von Findbüchern und ihre Präsenta-tion im Internet nicht mehr genug sind, um den Benutzerndie Quellen und ihre Auswertungsmöglichkeiten sinnvollzu vermitteln. Bei der Erarbeitung von quellenkundlichenAufbereitungen könne man lokal, regional oder auch län-derübergreifend ansetzen.

Im Anschluss ergibt sich eine äußerst rege Diskussionunter Beteiligung von Dr. Wolfgang Stein, Koblenz,Angela Ullmann, Bonn, Professor Dr. Eckart Henning,Professor Dr. Franz-Josef Jakobi, Münster, ProfessorDr. Gerhard Pferschy, Graz, Annekatrin Schaller, Mon-heim am Rhein und Dr. Annegret Wenz-Haubfleisch,Chemnitz. Sie kreist vor allem um die Frage des Wertssachthematischer Archivinventare und Quellenkunden,den dafür zu leistenden Aufwand und die Prognostizier-barkeit von Forschungsthemen.

Sind in den beiden Referaten von Neitmann und Rei-ninghaus schon Fragen der archivischen Erschließung inihrem Verhältnis zu hilfswissenschaftlichen Analysenangesprochen und damit Schnittstellen zwischen derArchivwissenschaft und den Historischen Hilfswissen-schaften deutlich geworden, so wendet sich ProfessorDr. Botho Brachmann mit seinem folgenden Referat der

Archivwissenschaft als Disziplin in ihrer Relation zurAktenkunde zu. „Zum Verhältnis von Archivwissenschaftund Aktenkunde im Rahmen des Workflow-Manage-ments“ ist sein Vortrag überschrieben. Darin grenzt er dieArchivwissenschaft und die Historischen Hilfswissen-schaften voneinander ab: Während die genetische undsystematische Aktenkunde den Geschäftsgang bzw.Workflow als „Fluss“ / „Bewegung“ von Unterlagen undInformationen untersuche, setze die Hilfswissenschaftdort an, wo Ensembles von Unterlagen zur„Ruhe“ / „Ablage“, somit zur Speicherung kommen. DieArchivwissenschaft sei daher im Gegensatz zur Akten-kunde eine „Speicherwissenschaft“, zugleich aber aucheine „historisch orientierte Informationswissenschaft“,die emanzipiert neben der Bibliotheks- und Dokumenta-tionswissenschaft bestehe. Anders als Volker Schocken-hoff, der die Archivwissenschaft als eine „Wissenschaft imEntstehen“ sehe, sei er, so Brachmann, der Auffassung,dass die Archivwissenschaft in den letzten Jahrzehntenweit entwickelt worden ist. Dies zeigt er unter Rekurs aufdie archivfachlichen Diskussionen der letzten Jahre auf,wobei er insbesondere auf aktuelle Fragen der Überliefe-rungsbildung und des Quellenwerts archivalischer Über-lieferung eingeht.

Den letzten Vortrag hält Professor Dr. Volker Schok-kenhoff, der sein ursprünglich auf den Call for Papersgemeldetes Thema („Archiv- und Informationswissen-schaft oder Archiv- als Informationswissenschaft“) kurz-fristig umformuliert hat: „Useless information. Archivwis-senschaft und ihre Perspektiven in der Informationsgesell-schaft.“ Schockenhoff erinnert zunächst daran, dass er frü-her der Archivwissenschaft den Charakter einer Wissen-schaft abgesprochen habe, dies aber zwischenzeitlichanders sehe. Anknüpfend an sein Referat, das er 1996 aufdem 67. Deutschen Archivtag in Darmstadt zur Thematikgehalten hat, rekapituliert er kritisch die Entwicklung derArchivwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschlandseit 1945, um dann unter eingehender Bezugnahme aufHans Booms und Terry Cook sein Verständnis von derArchivwissenschaft als einer „Wissenschaft im Entstehen“zu skizzieren. In der demokratischen Informationsgesell-schaft seien die Archive vor allem gefordert, auf derGrundlage in der Gesellschaft zu diskutierender Leitwerteeine Überlieferung zu bilden, in der sich die Totalität desgesellschaftlichen Lebens abbildet. Dabei sei von denInhalten der zu speichernden Informationen auszugehen.

Der Vortrag von Schockenhoff löst erneut eine rege Dis-kussion aus, in der sich Dr. Nils Brübach, Marburg, Pro-fessor Brachmann, Dr. Andrea Schwarz, München,Angela Ullmann, Bonn, und Professor Reininghaus zuWort melden. Thematisiert wird darin die von Schocken-hoff vorgenommene Abgrenzung von „Archivkunde“und „Archivwissenschaft“, die von ihm in Abredegestellte Praxisbezogenheit der deutschen archivwissen-schaftlichen Veröffentlichungen der letzten Jahre, die vonihm weitgehend bestrittene internationale Wahrnehmungder deutschen Archivwissenschaft und die Bedeutung derHistorischen Hilfswissenschaften in der archivarischenund universitären Ausbildung. Kritisch hinterfragt wirdSchockenhoffs Verständnis der archivischen Informations-speicherung. Auf den Vorwurf der mangelnden Berück-sichtigung der Historischen Hilfswissenschaften im Curri-culum der Fachhochschule Potsdam weist Schockenhoffdarauf hin, dass dort das Fach „Document analysis“ ange-

Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1 9

boten wird. Er spricht sich in diesem Zusammenhanggegen eine Vermittlung der Historischen Hilfswissen-schaften „klassischer Prägung“ in der Archivarsausbil-dung aus und vertritt die Auffassung, dass ältere Beständein Archiven von Mediävisten ohne Archivausbildung ver-zeichnet werden könnten.

Dr. Kretzschmar dankt allen Referenten für ihre Bei-träge und dem Auditorium für die engagierte Beteiligungan der Diskussion. Er resümiert, dass die Sektion einer kri-tischen Standortbestimmung sowohl der Hilfswissen-schaften als auch der Archivwissenschaft gedient habe,wobei freilich deutlich geworden sei, dass die Diskussionweitergehen muss. So ist auch als Ergebnis der Sitzungfestzuhalten, dass eine ganze Reihe von Fragen der Klä-rung bedarf: Wie kann der „Krise der historischen Hilfs-wissenschaften“, die in der Sektion so drastisch beschrie-ben wurde, begegnet werden? Wie verhalten sich dieHilfswissenschaften und die Archivwissenschaft zueinan-der in Forschung, Ausbildung und Lehre? Wer soll hier fürwas auf welche Weise zuständig sein? Wie ist die Archiv-wissenschaft zu definieren und was ist ihre Funktion? Wiewäre ein zeitgenössischer Kanon der Historischen Hilfs-wissenschaften, in dem auch die neuesten archivalischenQuellen unter Einschluss elektronischer Unterlagenberücksichtigt sind, in Relation zur Archivwissenschaft zubeschreiben? Die Sektion hat gleichwohl auch Antwortengegeben. Denn sie hat erneut deutlich gezeigt, dass diearchivische Erschließung hilfswissenschaftliche Metho-den und Erkenntnisse integrieren muss und dass dieArchive sich verstärkt in der Quellenkunde und ihrer Ver-mittlung engagieren sollten. Insofern hat die Sektion viel-fältige Anstöße gegeben, die es im Weiteren aufzunehmengilt.

Stuttgart Robert Kretzschmar

beispielhafter Zusammenarbeit von Archiven und For-schung. Vorgestellt wurden die entsprechenden Aktivitä-ten der parteinahen Archive der Politischen Stiftungen(Prof. Dr. Michael Schneider, Bonn: „Von zentraler politi-scher Bedeutung für die Zeitgeschichtsforschung: DieArchive der politischen Stiftungen“), des BundesarchivsKoblenz (Dr. Elke Hauschildt: Das Forschungsprojekt„Geschichte der Sozialpolitik“), des HauptstaatsarchivsHannover (Dr. Thomas Bardelle: „Historische Quellenfrisch auf den Tisch – zur Verzahnung archivischer undhistorischer Forschung an einem Beispiel aus Hannover“),des Sächsischen Bergarchivs Freiberg (Raymond Plache:„Zusammenarbeit zwischen dem Sächsischen Bergarchivund der Technischen Universität Bergakademie Freiberg“)und des Stadtarchivs Marburg (Dr. Ulrich Hussong:„Historische Forschung als Aufgabe in Kommunalarchi-ven“), in denen – unabhängig von der selbstverständli-chen Beratung und Betreuung wissenschaftlicher Nutzer –in unterschiedlichem Ausmaß eigenständige Forschungbetrieben, aber auch mit Forschungseinrichtungen koope-riert wird und die insofern im Netzwerk der Forschunggut positioniert sind. Andererseits wurden aber auch dieProbleme deutlich, die sich in diesem Feld aufgrund dersachlich, finanziell wie auch personell begrenzten Ausstat-tung der Archive ergeben. Nicht überall kann die wün-schenswerte Kooperation aufgrund fehlender Ressourcenin dem Maße gepflegt werden, wie dies an sich nötig wäre.

Trotz der nicht in allen Archiven optimalen Gegeben-heiten läßt sich als Ergebnis der Sitzung festhalten, dassdie Tätigkeiten der historischen Forschung und derArchive viel mehr, als dies bisher schon der Fall ist, mitein-ander verzahnt und aufeinander abgestimmt werden soll-ten. Die Archivare können durch Hinweise auf unausge-wertete Bestände die Forschung anregen und befruchten,wie umgekehrt die Forschung unter Hinweis auf neue Fra-gestellungen und Methoden den Archivaren Anregungenfür die Bewertungs- und Erschließungsarbeiten gebenkann.

St. Augustin Günter Buchstab

Sektion II:Die Rolle der Archive im Netzwerk der Forschung

Die Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten Jahr-zehnten stark verändert. Liberalisierung und Demokrati-sierung des politischen und sozialen Lebens haben zuneuen Fragestellungen und Methoden in der Forschunggeführt. Zu den klassischen Themenfeldern wie Staat,Religion und Wirtschaft traten Bereiche wie Sozialge-schichte, Mentalitätsgeschichte, Geschlechtergeschichte,Regional- und Lokalgeschichte usw. Mit der Ausweitungder Themenpalette und ihrer Differenzierung sind nichtnur neue Fragen an den Rohstoff der Historiker, die Quel-len, sondern auch an deren Hüter, die Archive und Archi-vare, gestellt. Diese Entwicklung bedeutet für Historikerwie Archivare hinsichtlich der Erschließung und Auswer-tung der Masse historischer Quellen, die in den Archivenliegen, eine erkenntnistheoretische Herausforderungersten Ranges. Hierzu kommt die steigende Erwartungder Archivträger an ihre Archive, die eigene Geschichte zuerforschen, neue Themenfelder zu erschließen, die gewon-nenen Erkenntnisse an ein breiteres Publikum populär-wissenschaftlich zu vermitteln, das Bildmaterial in einerGesellschaft, die von einer zunehmenden Visualisierunggeprägt wird, mehr zu nutzen, neue Methoden aufgrunddes technischen Umbruchs durch die elektronische Daten-verarbeitung zu erproben usw.

Die Sektionssitzung unter der Leitung von Dr. GünterBuchstab, St. Augustin, diente der Bestandsaufnahme

Sektion III:Archivrecht und Forschungsfreiheit

Am 18. September 2002 begrüßt SitzungsleiterDr. Degreif, Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, im Saal Glou-cester der Europahalle Trier eine überaus große Zahl anKolleginnen und Kollegen zu der dem Thema „Archiv-recht und Forschungsfreiheit” gewidmeten Sektionssit-zung. Mit diesem ebenso spannenden wie im täglichenDienstbetrieb oftmals lästigen, weil arbeitsintensiven Pro-blemfeld hat sich, wie der Sitzungsleiter in seinen einfüh-renden Worten hervorhebt, eine Vielzahl der Anwesendentagtäglich auseinander zu setzen. In das Bewusstsein einerbreiteren Öffentlichkeit drang das Thema aber erst mitdem in nahezu allen Medien seinen Niederschlag finden-den Streit über die Herausgabe der von der Staatssicher-heit zu Altkanzler Helmut Kohl angelegten Akten.

Das Bundesverwaltungsgericht folgte in seinem in derStreitsache Helmut Kohl gegen die Bundesbeauftragte fürdie Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, ergangenen Urteilim Wesentlichen der Rechtsauffassung des ehemaligenBundeskanzlers und untersagte damit der Birthler/Gauck-Behörde die Herausgabe der Akten und Informa-tionen, die Helmut Kohl als Person der Zeitgeschichte

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sowie als Amts- und Funktionsträger betreffen. Inder Urteilsbegründung hält sich das Gericht streng anden Wortlaut des am 14. November 1991 vom 12. Deut-schen Bundestag verabschiedeten Stasi-Unterlagengeset-zes. Dessen Formulierungen sind seiner Auffassung nachunmissverständlich und entsprechen vollkommen demWillen des Gesetzgebers.

Besondere Bedeutung kommt dabei dem Halbsatz in§ 32 zu, der eine Einschränkung bei der Herausgabe vonUnterlagen mit personenbezogenen Informationen zumZweck der politischen und historischen Aufarbeitung derStasi-Tätigkeit festlegt. Rechtlich zulässig sei die Einsichtin Unterlagen mit „personenbezogenen Informationenüber Personen der Zeitgeschichte, Inhaber politischerFunktionen oder Amtsträger in Ausübung ihres Amtes”nur dann, wenn diese Personen „nicht Betroffene oderDritte sind”. Im Falle Kohl sei demnach die Sachlage ein-deutig. Er wurde durch die Stasi gerade als Amts- undFunktionsträger zielgerichtet ausspioniert und habe des-halb den Status des Betroffenen.

Im Zentrum der sich an dieses Urteil und seine Begrün-dung anschließende Diskussion stand und steht das Pro-blem, wie eine verfassungsrechtlich tragbare Balance zwi-schen Presse-, Wissenschafts- und Informationsfreiheitund dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestim-mung aussehen könnte. Konkret geht es um die Frage, obder ominöse Halbsatz in § 32 des Gesetzes, der den juristi-schen Sieg Helmut Kohls begründete, gestrichen werdensoll und falls ja, ob das Persönlichkeitsrecht von Personender Zeitgeschichte dann noch hinreichend geschützt ist.

Die kurz vor der Sommerpause im Juli dieses Jahresvom Bundestag verabschiedete Novellierung des Stasi-Unterlagengesetzes ist Anfang September in Kraft getre-ten. Es ermöglicht, dass Stasi-Akten zu Forschungs-zwecken über Personen der Zeitgeschichte, Inhaber politi-scher Funktionen oder Amtsträger grundsätzlich zur Ver-fügung gestellt werden können, „soweit es sich um Infor-mationen handelt, die ihre zeitgeschichtliche Rolle, Funk-tions- oder Amtsausübung betreffen”. Die Aktualität desThemas dieser Sektionssitzung ist daher fast mit den Hän-den zu greifen.

Die von Professor Dr. Polley, Archivschule Marburg,in gewohnt souveräner Art und Weise unter dem Titel„Die Schutzfristverkürzung – dogmatische Bemerkungenzu einem Alltagsproblem” vorgetragenen Überlegungenverstehen sich nach seinen Worten eher als rahmenge-bende, auf Grundpfeiler der Gesetzgebung und rechtswis-senschaftlichen Dogmatik hinweisende Einführung. Mitdem Thema haben auch ausländische Staaten ihre liebeNot. In der Gesamtkonzeption des archivischen Benut-zungsrechts stehen diese Staaten sogar um einigesschlechter da als die Bundesrepublik.

Beim Nichtvorhandensein eines Systems der Schutz-und Sperrfristen ist für eine über einen Antrag auf Zugangzu Archivgut zu treffende Entscheidung in jedem Fall einearbeitsintensive Prüfung erforderlich, ob der Inhalt desArchivguts einen der Tatbestände erfüllt, bei denen dasRecht auf Zugang zu öffentlichen Unterlagen beschränktwerden kann. Im europäischen Vergleich kann die Bun-desrepublik als ein Land bezeichnet werden, in dem es alsFolge ebenso kompetenter wie umsichtiger Anwendungdes gesetzlichen Regelwerks der Archivgutbenutzungüber viele Jahre hinweg so gut wie zu keinen gerichtlichen

Streitigkeiten gekommen ist. Dieser glückliche Umstandberuht vor allem auf zwei Eigenschaften.

Als erstes ist die Geschlossenheit des archivischenBenutzungsrechts als bereichsspezifische Regelung zunennen. Dieser Umstand ermöglicht die Konzentrationauf wenige Paragraphen, welche Grundlegung undBeschränkung des Benutzungsanspruchs zusammenfas-sen. Der zweite Vorteil des archivgesetzlichen Benut-zungsrechts in Deutschland basiert auf dem System derSchutz- oder Sperrfristen. Die anschließend von dem Refe-renten vorgestellte verwaltungsrechtsdogmatische Klassi-fikation kennzeichnet den deutschen Lösungsweg iminternationalen Vergleich noch besser. Das bereichsspezifi-sche System des Archivbenutzungsrechts folgt mit seinenzugangsbeschränkenden wie -begünstigenden Elementeneinem gestuften Modell.

Bis zum Ablauf der Schutz- oder Sperrfristen bestehtein generelles Benutzungsverbot. Über die gesetzlich vor-gesehene Möglichkeit einer Schutzfristverkürzung ist das-selbe mit einem Erlaubnisvorbehalt gepaart und wirdsomit gemildert. Sobald die Sperr- oder Schutzfristenjedoch abgelaufen sind, wird zwar eine generelle Benut-zungserlaubnis wirksam. Doch existieren zwei Arten vonVerbotsvorbehalten: mögliche Verlängerung der Schutz-frist einerseits und andererseits mögliches absolutes odereingeschränktes Benutzungsverbot über fristenunabhän-gige salvatorische Schutzregelung in besonderen Fällen.

Dieses Klassifikationsmodell steht in einem Regel-Aus-nahme-Verhältnis, was für die Anwendung des Benut-zungsrechts hilfreich ist. Für die Bewältigung der mitSchutzfristverkürzungen in Zusammenhang stehendenFragen vertraut Professor Polley auf die Anwendbarkeitdes Sprichworts: „Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt erauch Verstand.” Aus dem Auditorium werden imAnschluss an die mit viel Applaus bedachten Ausführun-gen des Referenten zunächst keine Nachfragen gestellt.

Dr. Schäfer, Staatsarchiv der Freien und HansestadtHamburg, setzt sich im zweiten Beitrag der Sektion mitder Problematik der Übermittlung personenbezogenerDaten aus Archivgut vor Ablauf der Schutz- oder Sperr-fristen auseinander. Die Weiterverarbeitung derartigerDaten unterliegt in zweifacher Hinsicht einer Beschrän-kung: in personeller Hinsicht auf den Benutzer ebenso wiein sachlicher Hinsicht auf den Benutzungszweck. DieDaten dürfen vom Benutzer weder an Dritte übermitteltnoch zu anderen Zwecken weiterverarbeitet werden.Diese Feststellung veranlasst den Referenten, die Vor-schriften der Archivgesetze des Bundes und der Länder,welche die Verkürzung von Schutz- oder Sperrfristenermöglichen, als Sackgassenregelungen zu bezeichnen.

Anschließend stellt Dr. Schäfer die Auflagen zusam-men, mit denen eine Verkürzung der Schutz- oder Sperr-fristen zu verbinden ist. Setzt sich ein Benutzer über dieseAuflagen hinweg, so besteht die Möglichkeit, neue Ver-kürzungsanträge von Schutz- oder Sperrfristen oder imschlimmsten Fall gar die Erteilung einer Benutzungsge-nehmigung zu versagen. Die dabei zu beachtenden Regu-larien werden abschließend in extenso erörtert.

Die profunden Ausführungen Dr. Schäfers regen dasAuditorium zu zahlreichen Nachfragen und Ergänzungenan. Dr. Boberach, früher Bundesarchiv Koblenz, sprichtdie Problematik der sekundären Nutzung von Datenban-ken an und erinnert an die im Bundesarchiv früher prakti-zierte Handhabe: Sobald nämlich einem Benutzer für ein

Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1 11

bestimmtes Forschungsvorhaben Akteneinsicht gewährtworden ist, muss einem anderen Benutzer für das gleicheVorhaben ebenfalls eine solche Genehmigung erteilt wer-den, und zwar selbst dann, wenn es lediglich um eineÜberprüfung der Ergebnisse des ersten Benutzers geht.Hier sieht Dr. Boberach ein einklagbares Recht. Im Zusam-menhang mit der durch die Publikation „Hitlers willigeVollstrecker” von Daniel J. Goldhagen hervorgerufenenheftigen öffentlichen Diskussion fragt Dr. Lang, Stadtar-chiv Albstadt, ob das Anliegen eines Rezensenten, ausge-wertete Quellen überprüfen zu wollen, als Forschungsvor-haben definiert werden könne? Die Frage wird einhelligbejaht.

Dr. Jancker, Diözesanarchiv Rottenburg-Stuttgart,spricht mit seiner Frage das vielen Kolleginnen und Kolle-gen hinlänglich bekannte Problem des InternationalenSuchdienstes in Bad Arolsen an. Vor dem Hintergrund,dass diese Organisation nicht dem deutschen Recht unter-liegt, fragt er, wie sich in diesem Fall die Weitergabe perso-nenbezogener Daten gestalten kann? Die vom Referentenerörterten möglichen Sanktionen bei Nichteinhaltungerteilter Auflagen für die Benutzung von Archivgut regenzu weiteren Nachfragen und Präzisierungen an (FrauHoffmann, Stadtarchiv Waghäusel; Frau Dr. Kling,Bern).

Aus kommunaler Sicht setzt sich Dr. Bönnen, Stadtar-chiv Worms, mit dem Datenschutz im Archivwesen aus-einander. Er hebt die beträchtliche archiv- und gesell-schaftspolitische Relevanz von Benutzungsfragen undSperrfristproblemen für die von ihm vertretene Archiv-sparte hervor. In seinen mit großem Engagement undÜberzeugung vorgetragenen Erkenntnissen kommt ernaturgemäß auch auf die in seinem Bundesland derzeitgeltenden archivgesetzlichen Regelungen zu sprechen.Für die große Mehrheit kommunaler Archive konstatierter in der Genehmigungspraxis die Anwendung desGrundsatzes, zeitgeschichtliche Arbeitsvorhaben so weitals möglich zu realisieren und die Forschung zu erleich-tern. Im Fall des von ihm geleiteten Archivs sieht er sichbedauerlicherweise an das rheinland-pfälzische Landesar-chivgesetz mit seinen eher restriktiven Zugangs- undBenutzungsregelungen gebunden.

In der bisherigen Diskussion um Fragen des Archiv-rechts und der Weiterentwicklung der gesetzlichenGrundlagen haben die in den Kommunalarchiven reich-lich vorhandenen Erfahrungen kaum den ihnen eigentlichzukommenden Niederschlag gefunden. Dr. Bönnen hofft,dass dies bei etwa notwendig werdenden Nivellierungenarchivgesetzlicher Bestimmungen in Rheinland-Pfalzmöglich werden wird. Die kommunalen Archive habennämlich die Landesbestimmungen über die Nutzung vonArchivgut auszuführen. Eine Nivellierung des Landesar-chivgesetzes wird aus Sicht der Kommunalarchive fürebenso sinnvoll wie dringlich erachtet. Dabei böte sich vorallem die Möglichkeit zur Reflexion über die im bundes-weiten Vergleich als zu lang empfundenen Schutz- bzw.Sperrfristen, zur Präzisierung von Rechtsbegriffen und zuÄnderungen beim Archivalienzugang. Als besonders vor-dringlich wird eine stärkere Abstimmung in der Ausle-gung zentraler unbestimmter Rechtsbegriffe genannt.Erhebliche Probleme bereitet in der täglichen Arbeit auchdas durch die Gesetze faktisch vorgegebene „Wissen-schaftlerprivileg”. Der Referent plädiert vehement füreinen offeneren Wissenschaftsbegriff und räumt dem

Grundsatz weitestmöglicher Öffnung oberste Priorität ein.Dabei entstehende eventuelle Probleme lassen sich bereitsim Vorfeld der Benutzung durch ausführliche persönlicheBeratungsgespräche ausräumen. Da sich an den von denZuhörern viel beachteten Beitrag eine kurze Pauseanschließt, sollen eventuelle Fragen in der Schlussdiskus-sion vorgebracht werden.

Kollege Dr. Rest, Bundesarchiv Koblenz, erläutert undbegründet nach der Pause mit seinen Ausführungen über„Die Zwischenarchive des Bundes im Spannungsfeld zwi-schen Sicherung und Nutzung” fünf, auf langjährigeErfahrungen und zahllose Diskussionen zurückgehendeThesen. Zunächst einmal gewährleistet das Zwischenar-chivverfahren die vollständige Erfassung der Unterlagenund damit die Sicherung des Archivguts. Hierbei verbin-den sich zwei elementare Grundinteressen in ökonomi-scher und vorteilhafter Weise miteinander. Das Interesseder Behörde an einer optimalen und wirtschaftlichen Ver-wahrung des nicht mehr aktuellen, jedoch noch auf Zeitbenötigten Schriftguts wird gewahrt. Damit einher gehtder Wunsch des Bundesarchivs, das Schriftgut der ober-sten Bundesbehörden möglichst früh und umfassend zuerfassen.

Ein zweiter mit der Institution Zwischenarchiv verbun-dener wesentlicher Vorteil besteht für das Bundesarchiv inder möglichen frühzeitigen Erfassung der Unterlagen derBehörden. Der Archivar erhält somit die notwendigeBewertungs- und Erschließungsbasis. In diesem Zusam-menhang versäumt es der Referent nicht, auf zwei dasBundesarchiv tangierende Problembereiche hinzuweisen.Zum einen droht bei jedem Regierungswechsel die Gefahr,dass „Handakten” oder „private Unterlagen” mitgenom-men, damit zugleich dem Zwischenarchiv und der Bewer-tung durch den Archivar vollständig entzogen werden. Inden staatlichen Beständen lassen sich folglich nicht immeralle Entscheidungsfindungen und -wege nachvollziehen.Die als Verschlusssache eingestuften Unterlagen bildeninsofern ein Problem, als die Dienststellen nicht zur Fest-setzung von Offenlegungsfristen zu bewegen sind.

Die dritte These von Dr. Rest lautet: das Zwischenar-chivverfahren formt das Bewertungsmodell „Bundesar-chiv”. Das Bewertungsmodell ist landläufig als „Federfüh-rungsmodell” bekannt, kann aber auf Grund des hierar-chischen Verwaltungsaufbaus sehr schillernd sein. DieseErkenntnis führt zu einer weiteren Konkretisierung desModells als „Bundesregierungsmodell” oder „Ministerial-modell”, das eine adäquate und abgestimmte Überliefe-rungsbildung gewährleistet. Darüber hinaus bewirkt diePriorität der Überlieferungsbildung auf der Regierungs-ebene, dass der Erfassungsaufwand bei nachgeordnetenStellen erheblich reduziert werden kann. Als weitererpositiver Effekt des Zwischenarchivverfahrens zeigt sichdie Bewertungshoheit des Bundesarchivs. Während beiUnterlagen, die nicht über das Zwischenarchiv in das Bun-desarchiv gelangen, die abgebenden Stellen die sich imBundesarchivgesetz findende Formulierung, dass dieBewertung „im Benehmen mit” dem Archiv stattfindensoll, als eine Art Mitentscheidungsrecht verstehen, schafftdas Zwischenarchivverfahren eine gewisse räumliche wiezeitliche „Distanz” der Behörde zu ihren abgegebenenAkten. Für die Behörde ist es letztlich ziemlich gleichgül-tig, was im Zwischenarchiv nach Ablauf der Aufbewah-rungsfrist mit den Akten geschieht: Überführung ins End-archiv oder Kassation.

12 Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1

Seiner fünften These liegt die Überzeugung zu Grunde,dass das Zwischenarchivverfahren nicht nur das Basisma-terial für die Bewertung garantiert. Vielmehr wirkt es sichauch in erheblichem Maß auf die Nutzungen im Bundesar-chiv aus, indem es dessen Nutzungshoheit stärkt. Mehr als30 Jahre altes Archivgut der Ministerien befindet sich imBundesarchiv und steht somit Forschern und „Jeder-mann” zur Einsichtnahme zur Verfügung, es sei denn,dass es noch bestimmten Schutz- oder Sperrfristen unter-liegt. Die sich im Bundesarchivgesetz – § 5 Absatz 8 – fin-dende Bestimmung, wonach die Öffnungsklauseln auchfür die noch bei den Behörden befindlichen Schriftgutteilezutreffen und Nutzer dieselben nach Ablauf der maxima-len Aufbewahrungsfrist von 30 Jahren in den Behördennutzen können, ist nach den Worten des Referenten obso-let. Von wenigen Ausnahmen abgesehen gibt es bei denMinisterien kein Schriftgut, das älter als 30 Jahre ist.

Nach Ablauf der Sperrfristen obliegt es dem Bundesar-chiv in alleiniger Zuständigkeit, über den Zugang zu demArchivgut zu entscheiden, und zwar auch über denZugang zu den weniger als 30 Jahre alten Unterlagen. Inletzterem Fall ist die Rechtslage aber erheblich komplexer.Es ist nämlich eine Unterscheidung zu treffen zwischenSchriftgut der Ministerien, bei dem die Aufbewahrungs-fristen ja noch laufen, einerseits und Archivgut mit bereitsabgelaufenen Aufbewahrungsfristen andererseits. Wäh-rend im ersten Fall die jeweilige oberste Bundesbehördenach Maßgabe von § 39 GGO über eine vorzeitige Benut-zung entscheidet, obliegt die Entscheidung im zweitenFall gemäß § 5 Bundesarchivgesetz dem Archiv. Gerademit seinen Ausführungen über die rechtlichen Bestim-mungen für den Zugang zu den im Zwischenarchiv desBundesarchivs verwahrten Unterlagen, deren Aufbewah-rungsfrist von 30 Jahren noch nicht abgelaufen ist, hatDr. Rest das besondere Interesse der Zuhörer geweckt. Lei-der kann aus Zeitgründen keine Diskussion mehr stattfin-den.

Privatdozent Dr. Lilienthal, Gedenkstätte Hadamar,fragt sich in seinem Beitrag über „Die Doppelfunktion derGedenkstätten als Archivbenutzer und als Archiv”, wiedie Gedenkstätten mit den ihnen zur Verfügung stehen-den personenbezogenen Daten umgehen. Mit den ausBeobachtungen und Anfragen gewonnenen Einsichtensoll ganz bewusst kein systematischer Überblick zu demProblem gegeben werden. Die eine Seite der Doppelfunk-tion – „Gedenkstätten als Archive” – beleuchtet der Refe-rent im ersten Teil seiner Ausführungen. Bei den über einArchiv verfügenden Gedenkstätten finden sich, entspre-chend der Geschichte des Gedenkortes, Bestände unter-schiedlicher Natur und unterschiedlichen Umfangs. DieseFeststellung wird am Beispiel des Archivs der Gedenk-stätte Dachau bzw. Hadamar verdeutlicht. Gegenüber her-kömmlichen Archiven verfügen Gedenkstätten über einenweiter gefassten Auftrag. Sie arbeiten vorwiegend mit per-sonenbezogenen Unterlagen. Dieser Umstand geht auf dieaus dem Selbstverständnis als „Gedenkstätte an dieOpfer” abgeleitete Funktion zurück.

Hier stellt sich naturgemäß die Frage, wie handhabenGedenkstätten bzw. deren Archive den Datenschutz? Sierichten sich bei der Nutzung ihrer Bestände, vor allemihrer personenbezogenen Unterlagen im Allgemeinennach den Archivgesetzen des Bundeslandes, in dem sieihren Sitz haben. Bei der Handhabung des Datenschutzesin der Praxis unterscheidet man in Hadamar ebenso wie in

einigen weiteren kleineren Gedenkstätten zwischen derNutzung durch überlebende Opfer, deren Angehörige,Forscher und Behörden sowie der Nutzung für diegedenkstättenpädagogische Arbeit. Während eine Benut-zung durch die erstgenannte Gruppe eindeutig geregeltist, stellt sich bei der pädagogischen Arbeit die Frage desDatenschutzes vielfältiger dar. Bei den Arbeiten an denvorwiegend aus dem Gedanken an verstorbene Opfer he-raus entstandenen Opferlisten und Gedenkbücher habensich in der Regel keine persönlichkeitsrechtliche Schwie-rigkeiten ergeben. Anders sieht es bei den in den letztenJahren vermehrt begonnenen Vorhaben aus, mit denennoch lebender Opfer gedacht werden soll.

Bei der zweiten Seite der Doppelfunktion – „Gedenk-stätten als Benutzer von Archiven” – fasst sich der Referentkurz, da die Gedenkstättenmitarbeiter wie alle anderenBenutzer selbstverständlich den Bestimmungen derjeweils gültigen Archivgesetze und Benutzungsordnun-gen sowie Datenschutzbestimmungen unterliegen. Aneinigen Beispielen verdeutlicht Dr. Lilienthal zum Schlussseines Referates die Bandbreite der Zusammenarbeit zwi-schen Archiven, archivähnlichen Einrichtungen undGedenkstätten. Mehrere Nachfragen zeigen, dass die vomReferenten vorgestellte Problematik auf großes Interessegestoßen ist. Die Frage von Herrn Dr. Häusler, Archivdes Diakonischen Werkes der EKD Berlin, nach der rechtli-chen Regelung der Nutzungsbedingungen beantwortetder Referent mit dem Hinweis auf die mit der personenbe-zogene Daten abgebenden Stelle unbedingt zu treffendeVereinbarung. Datenschutzrechtliche Bestimmungen sindjedenfalls einzuhalten. Bei der Weitergabe personenbezo-gener Daten vor Ablauf der Schutz- und Sperrfristen anNutzer zum Zweck pädagogischer Arbeit können hin-sichtlich der Anonymisierung zum Beispiel andere Aufla-gen erteilt werden als bei einer Publikation. Dr. Schäferstellt nochmals unmissverständlich klar, dass er die Über-mittlung personenbezogener Daten an Gedenkstätten vorAblauf der entsprechenden Schutz- und Sperrfristen inder Regel für nicht zulässig erachtet.

Der Sitzungsleiter freut sich, dem Auditorium nocheinen sechsten, im offiziellen Archivtagsprogramm nichtausgedruckten Beitrag ankündigen zu können. Die Refe-rentin bereichert die Sitzung nicht nur inhaltlich, sondernlockert die Männerriege auch visuell auf. Frau Dr. Klingstellt ihren deutschen Kolleginnen und Kollegen „Dashistorische Archiv der Post, Telefon und Telegraf Unter-nehmen der Schweiz in Bern” vor und führt sie in das seitOktober 1999 in Kraft befindliche Schweizer Archivgesetzsowie die Schutzfristfrage ein. Das vorgestellte Archiv,kurz PTT-Archiv genannt, ist zum einen ein ehemaligesUnternehmensarchiv, das durch die geänderte Gesetzes-lage eine neue rechtliche Grundlage erhalten hat. Zumandern wandelte sich für das PTT-Archiv durch die Priva-tisierung im staatlichen Dienstleistungssektor seine Auf-gabe.

Nach der 1998 erfolgten Trennung des Postsektors vomBereich der Telekommunikation behielt die Schweizeri-sche Post ihren Status als „selbständige Anstalt des öffent-lichen Rechts”, der Telecombereich erfuhr eine Neugrün-dung als „Swisscom AG”, einer Aktiengesellschaft untermehrheitlicher Bundesbeteiligung. Die Führung des PTT-Archivs obliegt seit dem 1. Januar 1999 der Regie der „Stif-tung für die Geschichte der Post und Telekommunika-tion”. Die Archivgründung stellt eine typisch schweizeri-

Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1 13

sche pragmatische Lösung dar. Unter rechtlichen undorganisatorischen Aspekten bringt sie jedoch einige Pro-bleme mit sich.

Im zweiten Teil ihrer mit großer Aufmerksamkeit ver-folgten Ausführungen macht die Referentin das Audito-rium in kompetenter Art und Weise mit den Einzelheitendes am 1. Oktober 1999 in Kraft getretenen Bundesgeset-zes über die Archivierung vertraut. Ihr besonderes Augen-merk gilt dabei den Regelungen der Nutzung, insbeson-dere der Schutzfristen und der personenbezogenen Akten.

Aus Zeitgründen muss auf eine Schlussdiskussion lei-der verzichtet werden. Dem Sitzungsleiter bleibt nur nochDank zu sagen – der Berichterstatterin Frau Borrmann,Archivschule Marburg, dem aufmerksamen und geduldi-gen Auditorium ebenso wie den Referenten, vor allemFrau Kollegin Dr. Kling, die es trotz Zeitproblemen vor-bildlich verstanden hat, die wesentlichen Punkte ihresVortrags herauszuarbeiten.

Wiesbaden Diether Degreif

Sektion IV:Archive als Dienstleister der Forschung – Erwartungenund Möglichkeiten eines zeitgemäßen Angebots1

Unter der Sitzungsleitung von Dr. Norbert Reimann,Münster, wurden folgende Referate gehalten– Dr. Reiner Nolden, Trier: Das Stadtarchiv und die

Stadtbibliothek Trier als stadt- und landesgeschicht-liche Forschungsstätte

– Dr. Ulrich Nieß, Mannheim: Findmittel multimedial –eine Antwort der Archive auf die Internetgeneration?

– Dr. Dieter Heckmann, Berlin: Hilfswissenschaften alsPortale zu digitalisierten Beständen

– PD Dr. Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe: Das Projekt„Wanderungsbewegungen im Umfeld der Revolution1848/49“

– Dr. Peter Rückert, Stuttgart – Dr. Alois Haidinger,Wien: Wasserzeichen im Internet: Zur Digitalisierungder Wasserzeichenkartei Piccard und der Wasserzei-chen Klosterneuburger Handschriften.

1 Tagungsbericht lag bei Redaktionsschluss nicht vor.

Fachgruppen

Fachgruppe 1:Archivare an staatlichen ArchivenVor Eintritt in die Tagesordnung dankt der Vorsitzendeder Fachgruppe, Dr. Robert Kretzschmar, zunächst ganzherzlich seinem Vorgänger in diesem Amt, Dr. DietherDegreif, für die umsichtige Fachgruppenarbeit, die vie-len interessanten Sitzungen, die er geleitet hat, und fürsein Engagement für den Verband insgesamt als Mitglieddes Vorstands sowie des Geschäftsführenden Vorstands(Beifall). Das Programm der Fachgruppensitzung siehtzwei Blöcke vor, in denen aktuelle Themen aufgegriffenwerden. Zunächst steht eine neues Element der Ausbil-dung auf der Tagesordnung, sodann die neue ISO-Normzum records management.

„Verzahnung von Theorie und Praxis – die Transferar-beiten in der Ausbildung des höheren Dienstes an derArchivschule Marburg“, lautet der Vortrag von Dr. Nils

Brübach, Archivschule Marburg, der über die Ziele die-ses neuen Elements in der Ausbildung und über ersteErfahrungen berichtet, die damit gewonnen werden konn-ten.1 Die in der Ausbildung des höheren Dienstes auf derGrundlage der neuen Ausbildungs- und Prüfungsordnun-gen des Bundes und der Länder seit dem 1. Januar 2000eingeführte „Transferphase“ soll eine engere Verzahnungvon Theorie und Praxis ermöglichen; von den Referenda-rinnen und Referendaren ist in einem „Transferbericht“jeweils ein Problem aus der Praxis eines Archivs oder einerBehörde darzustellen und ein Lösungsvorschlag dazu zuentwickeln. Brübach beschreibt den typischen Ablauf derErstellung einer solchen Arbeit von der Themenfindungbis zur Abgabe und gibt einen Überblick über die bishergewählten Themen. Aus der Sicht der Beteiligten hat sichden ersten Erfahrungen nach dieses neue Element in derAusbildung bewährt, einmal weil es Theorie und Praxiszusammenführt, zum anderen weil es auf die Entwicklungumsetzbarer Strategien ausgerichtet ist.

Dem Referat von Dr. Brübach schließen sich zwei Vor-träge an, die auf abgeschlossenen Transferarbeiten basie-ren und als Beispiele für diese dienen sollen. Dr. MarcusStumpf vom Staatsarchiv Münster referiert über „Archi-vische Erschließung zwischen gesetzlichem Auftrag undknappen Ressourcen. Das Beispiel Münster“.2 Ausgehendvon einer Analyse der Erschließungsrückstände im Staats-archiv Münster und ihrer Ursachen entwickelt StumpfLösungsvorschläge zu ihrer Beseitigung, indem er auf Ele-mente des „New Public Management“ zurückgreift. Kon-kret schlägt er eine alle Bestände und Rückstände einbe-ziehende Prioritätenliste, eine saubere Projektplanung fürjede einzelne Erschließungsmaßnahme, gezielte Informa-tionen und Schulungen bei allen beteiligten Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern, die Festlegung von Standards hin-sichtlich der Ordnung und Verzeichnung sowie die Ein-richtung eines Referats für die Planung sowie das opera-tive und strategische Controlling der Projekte vor.

„Die Archivierung von Planfeststellungsunterlagen ausGroßprojekten am Beispiel des Planfeststellungsverfah-rens über die Erweiterung des Stuttgarter Flughafens(1982–1987)“, ist das Thema des Vortrags von Birgit Hoff-mann, Wolfenbüttel, mit dem die Ergebnisse einer weite-ren Transferarbeit dargestellt werden. Die Idee zu ihr ent-stand während des Behördenpraktikums der Referentinam Regierungspräsidium Stuttgart. Am Beispiel der poli-tisch kontroversen Erweiterung des Stuttgarter Flugha-fens wurden die Planfeststellungsunterlagen, die auf denverschiedenen Verwaltungsebenen (Regierungspräsi-dium Stuttgart, Umwelt- und VerkehrsministeriumBaden-Württemberg, kommunale und private Trägeröffentlicher Belange) nach der Methodik der in Baden-Württemberg praktizierten horizontalen und vertikalenBewertung detailliert bewertet. Welche Erkenntnisse sichdaraus für den methodischen Ansatz der archivübergrei-

1 Da der Vortrag in einem der nächsten Hefte des Archivar gedruckt wer-den soll, wird hier auf eine eingehende Wiedergabe verzichtet. Verwie-sen sei auch auf die Einleitung zu dem soeben erschienenen Band vonNils Brübach (Hrsg.): Archivierung und Zugang. Transferarbeiten des34. Wissenschaftlichen Kurses der Archivschule Marburg (Veröffentli-chungen der Archivschule Marburg 36). Marburg 2002, in dem 10 Transfer-arbeiten gedruckt sind.

2 Das Referat gab im Wesentlichen die Ergebnisse der Transferarbeit wie-der, die gedruckt vorliegt; Marcus Stumpf: Das Staatsarchiv Münsterzwischen archivgesetzlichem Auftrag und knappen Ressourcen: DerArbeitsbereich Erschließung. In: ebenda, S. 271–297.

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fenden Bewertung mit dem Ziel einer gesamtgesellschaft-lichen Überlieferungsbildung ergeben haben, legt Hoff-mann im Einzelnen dar.3

Jeweils nach den Referaten erfolgt eine Aussprache.Insbesondere der Vortrag von Dr. Stumpf löst eine regeDiskussion aus, an der sich neben den Referenten viele deranwesenden Archivarinnen und Archivare beteiligen. Dervorgestellte Lösungsansatz zur Bewältigung der Rück-stände bei den Erschließungsarbeiten findet großeZustimmung, wobei die geschilderte Situation als reprä-sentativ für viele Archive erachtet und über entspre-chende Ansätze zur Bewältigung von Erschließungsrück-ständen in anderen Archiven berichtet wird. Das Ausbil-dungselement „Transferarbeit“ wird in zweierlei Hinsichtkritisch hinterfragt. Zum einen wird in Zweifel gezogen,dass über kurz oder lang genügend Themen zur Verfü-gung stehen werden, zum anderen wird in Abrede gestellt,dass Referendarinnen und Referendare hinreichendeErfahrungen und Kenntnisse der jeweiligen Verhältnissein den Häusern haben, um Lösungsansätze entwickeln zukönnen, die in der Praxis tragen. Ein Kollege aus Bayernberichtet, dass man auch dort die Einführung archivfachli-cher Arbeiten im Rahmen der Ausbildung in Erwägunggezogen, dann jedoch wieder verworfen hat. All dem wirdseitens der Referenten, des Sitzungsleiters und mehrererTeilnehmer entgegengehalten, dass es nach den bisherigenErfahrungen mit den Transferarbeiten an der Archiv-schule Marburg in keiner Weise an Ideen zu interessantenThemen gemangelt hat und dass oft gerade der unverbo-gene Blick neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geeig-net ist, Verkrustungen zu erkennen und Dinge zu optimie-ren; die archivfachliche Diskussion könne durch solcheArbeiten nur belebt werden. Insgesamt neigt man zu einerpositiven Beurteilung der Transferarbeiten, wobei sichsowohl Dr. Stumpf als auch Frau Hoffmann auf derGrundlage ihrer Erfahrungen dezidiert für dieses neueElement in der Ausbildung aussprechen. Zu dem Vortragvon Frau Hoffmann wird die Nachfrage gestellt, ob dieVeröffentlichung ihrer Analysen, in denen aktuelle Sach-verhalte aus den Registraturen der betroffenen Dienststel-len publik gemacht werden, nicht zu Schwierigkeiten mitdiesen führen können, wozu die Referentin mitteilt, dassdiese Offenlegung selbstverständlich mit allen Betroffe-nen abgestimmt wurde. In einer Wortmeldung wird ihreArbeit als beispielhaft für eine ganzheitliche Bewertungs-strategie gewürdigt, die auf ein Abbild der gesellschaftli-chen Totalität zielt.

Das letzte Referat hält Dr. Michael Wettengel zu demThema „Normierung der Schriftgutverwaltung. Zu einerneuen ISO-Norm aus staatlicher Sicht“.4 Mit der Veröffent-lichung der ISO 15489–1 und des dazugehörigen Interna-tionalen Fachberichts liegt erstmals eine internationaleNorm zur Verwaltung und Aufbewahrung von Unterla-gen vor, die bei privaten Unternehmen oder bei öffentli-chen Einrichtungen im Zuge der Geschäftstätigkeit bzw.Aufgabenerfüllung entstehen. Der Referent stellt einge-

3 Die Arbeit von Hoffmann liegt ebenfalls gedruckt vor: Birgit Hoff-mann: Zur Bewertung von Planfeststellungsunterlagen aus Großpro-jekten am Beispiel des Planfeststellungsverfahrens über die Erweiterungdes Stuttgarter Flughafens (1982–1987). In: Robert Kretzschmar(Hrsg.): Methoden und Ergebnisse archivübergreifender Bewertung.2002. S. 83–115.

4 Der Vortrag von Dr. Wettengel soll ebenfalls in einer der nächsten Aus-gaben des Archivar gedruckt werden.

hend dar, wie es zu dieser Norm gekommen ist, was sie imEinzelnen regelt und welchen Nutzen sie hat. Dazu führter aus, dass die Norm eine Rahmenrichtlinie darstellt, diekonkret genug ist, um Grundsätze, Funktionen und Ele-mente der Schriftgutverwaltung klar zu benennen, dasssie andererseits weit genug gefasst ist, um alternative Ver-fahren zuzulassen und nationale Regelungen danebenbestehen zu lassen. Durch den weltweiten Konsens überGrundsätze, Methoden und Arbeitsabläufe der Schriftgut-verwaltung wurde die Plattform für eine internationaleVerständigung und eine Verbesserung der Arbeitsverfah-ren und Instrumentarien in diesem Bereich geschaffen,was gerade vor dem Hintergrund der Entwicklung in derInformationstechnologie und den wachsenden globalenVerflechtungen als Glücksfall anzusehen ist. Darüber hi-naus kann die Norm für eine Stärkung des Qualitätsbe-wusstseins in der Schriftgutverwaltung nützlich seinsowie als Grundlage für eine Qualifizierung und Profes-sionalisierung des Personals dienen. Abschließend fordertWettengel die Archivarinnen und Archivare dazu auf, sichaktiv an der Normungsarbeit zu beteiligen und die Umset-zung zu unterstützen.

In der „Aktuellen Stunde“ der Fachgruppe, die sichunmittelbar anschließt, informiert Dr. Kretzschmar überdie 2. Frühjahrstagung der Fachgruppe, die am 5. Juni 2002in Schleswig stattfand, und über die aktuellen Planungenfür die weiteren Frühjahrstagungen. Die 3. Frühjahrsta-gung wird am 28. März 2003 in Berlin zu dem Thema„Organisation der Nutzung. Konzeptionen und Erfahrun-gen“ stattfinden; die Planung liegt in den Händen vonFrau Haker vom Bundesarchiv, die dem Vorstand desVdA angehört. Für die folgenden Jahre haben sich dieStaatsarchive Leipzig (Thema: Adelsarchive) und Münster(Thema: Urkundenerschließung) bereit erklärt, die Früh-jahrstagung auszurichten. Der Fachgruppenvorsitzendebittet um Anregungen zu weiteren Frühjahrstagungensowie zu Themen, die auf den Fachgruppensitzungen aufdem Deutschen Archivtag behandelt werden sollten.Abschließend berichtet er kurz über die Planungen für dennächsten „Tag der Archive“ sowie die Arbeit eines neu ein-gesetzten „Ausschusses für Öffentlichkeitsarbeit“ inner-halb des Vorstands des VdA und des „ArbeitskreisesArchivische Bewertung“. Mit einem Dank an die Referen-tin und die Referenten schließt er die Sitzung.

Stuttgart Robert Kretzschmar

Fachgruppe 2:

Archivare an Stadtarchiven und Archiven sonstigerGebietskörperschaften

Mit einem herzlichen Dankeschön an die frühere Fach-gruppenvorsitzende Frau Prof. Dr. Antjekathrin Graß-mann (Stadtarchiv Lübeck) eröffnete die 2001 in Cottbusgewählte neue Vorsitzende Gabriele Viertel (StadtarchivChemnitz) die diesjährige Fachgruppensitzung. NebenGabriele Viertel wird die Fachgruppe 2 im Vorstand desVdA durch folgende Kolleginnen und Kollegen vertreten:Stefan Benning M.A. (Stadtarchiv Bietigheim-Bissingen),Dr. Hans-Heinrich Ebeling (Stadtarchiv Duderstadt),Katharina Tiemann (Westfälisches Archivamt Münster),Dr. Klaus Wisotzky (Stadtarchiv Essen). In ihrer Eröff-nungsansprache unterstrich Gabriele Viertel das Bemühenauf der Suche nach Lösungen, in künftigen Fachgruppen-

Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1 15

sitzungen trotz knapper Zeitkontingente der gewünsch-ten Themenvielfalt gerecht zu werden. Ein möglicher Wegkönne die stärkere Vernetzung mit der Bundeskonferenzder Kommunalarchive beim Deutschen Städtetag (BKK)sein, deren Tätigkeitsfelder im zweiten Teil der Fachgrup-pensitzung durch ihren neuen Vorsitzenden Dr. Ernst OttoBräunche vorgestellt wurden.

Als erster Referent der Sitzung berichtete Dr. Ernst OttoBräunche zunächst in seiner Funktion als Direktor desStadtarchivs Karlsruhe aus der Praxis eines Großstadt-archivs – sein Thema: „Aufgabenschwerpunkte des Stadt-archivs Karlsruhe – Positionierung im großstädtischenKulturangebot“. Die Stellung von Karlsruhe als ehemaligebadische Landeshauptstadt mit heute rund 270.000 Ein-wohnern ist der Grund dafür, dass die Stadt über ein aus-gesprochen dichtes Kulturangebot u.a. mit 16 Museen, 5öffentlichen Bibliotheken und 7 Archiven verfügt. WelcheStellung das Stadtarchiv als zentraler städtischer stadtge-schichtlicher Dienstleister in der dichten Kulturlandschafteinnimmt, sollte Thema der nachfolgenden Ausführungensein. Drei Aufgabenkomplexe bilden dabei die Schwer-punkte im Bereich der historischen Bildungsarbeit desStadtarchivs Karlsruhe: Publikationen – Ausstellungen –Erinnerungsarbeit.

1) Publikationen: Drei feste Publikationsreihen („Veröf-fentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs“, „Forschun-gen und Quellen zur Stadtgeschichte. Schriftenreihe desStadtarchivs Karlsruhe“, „Häuser- und Baugeschichte“)stehen dem Stadtarchiv zur Verfügung, um stadtge-schichtliche Forschungsergebnisse sowie Beiträge exter-ner Autorinnen und Autoren zu veröffentlichen. Hinzukommen weitere Publikationen außerhalb dieser Reihen,u.a. die Gesamtstadtgeschichte aus dem Jahr 1998. DreiBeispiele zeigen einerseits die enge Verbindung zwischenErschließungsarbeit und historischer Bildungsarbeit,andererseits auch die Kooperation zwischen Archiv undMuseum. Als Besonderheit ist anzumerken, dass die ohne-hin engen Kontakte des Stadtarchivs zur Stadtgeschichtli-chen Sammlung, heute Stadtmuseum im Prinz-Max-Palais, durch den Zusammenschluss der beiden Einrich-tungen im Jahr 1998 zum „Institut für Stadtgeschichte“intensiviert wurden. Jubiläen verschiedener Institutionen(100 Jahre elektrische Eisenbahn, 100 Jahre KarlsruherRheinhafen, 75 Jahre Berufsfeuerwehr) wurden zumAnlass genommen, Aktenbestände zu übernehmen undzu erschließen sowie Publikationen herauszugebenjeweils in Verbindung mit einer Ausstellung, die von derÖffentlichkeit bei allen drei Projekten auf eine sehr guteResonanz stieß.

2) Ausstellungen: In Abgrenzung zu den Museen vorOrt wurde in den vergangenen Jahren im StadtarchivKarlsruhe die Leitlinie entwickelt, im Stadtarchiv selbstlediglich Ausstellungen zu erarbeiten, die unmittelbar aufdie eigenen Bestände bezogen sind. Die Beispiele „Dur-lach in historischen Fotos im Pfinzgaumuseum in Dur-lach“, „Die 68er in Karlsruhe – Plakate und Bilder zur Stu-dentenbewegung“ sowie eine Ausstellung zu Carl Benz,der im heutigen Karlsruher Stadtteil Mühlburg geborenwurde, erwiesen sich nicht nur als sehr öffentlichkeits-wirksam, sondern wirkten sich auch im Hinblick auf dieErschließung sehr positiv aus, da die Bestände zum Teilneu bzw. intensiver erschlossen wurden.

3) Erinnerungsarbeit: Neben der jährlichen Anfertigungvon Jubiläumslisten durch das Stadtarchiv als Entschei-

dungshilfe für die politischen Gremien ist das Stadtarchivfederführend für die Organisation des 27. Januar, desGedenktages an die Befreiung von Auschwitz, zuständigsowie an der Vorbereitung des 9. November beteiligt. DerAuftrag von der Politik, ein Gedenkbuch für die ermorde-ten Jüdinnen und Juden zu erstellen, in digitaler Form wieauch als tatsächliches Buch ist als längerfristiges Projekt zuverstehen, mit dem historische Erinnerungsarbeit vereintmit bürgerschaftlichem Engagement von Seiten des Stadt-archivs geleistet wird.

Alle genannten Aktivitäten tragen in einem erheblichenMaße dazu bei, der Bürgerschaft, der Verwaltung und derPolitik zu verdeutlichen, welch wichtige Rolle Archive inder Gesellschaft einnehmen und dass daher ihre Unterhal-tung und sachgemäße Ausstattung unerlässlich ist. Diehistorische Bildungsarbeit, so Bräunche, wirkt sich auchpositiv auf die Erschließung und Ergänzung der Beständeaus, und das in einem finanziell tragbaren Rahmen.

Als zweiten Redner begrüßte die Vorsitzende den Leiterdes Stadtarchivs Münsingen, Dr. Roland Deigendesch.Seine Aufgabe an diesem Vormittag sollte es sein, denAusführungen von Dr. Ernst Otto Bräunche das Tätig-keitsfeld eines kleinen kommunalen Archivs entgegenzu-stellen. Einleitend wies Deigendesch auf den Umstandhin, dass in Zeiten knapper Kassen zunehmend über dieNotwendigkeit von Archivarbeit diskutiert wird, vorallem auch in kleineren Kommunen, die über das Archiv-pflegenetz der Kreisarchive in Baden-Württemberg mitbe-treut werden. Die Allzuständigkeit kleiner Stadtarchive,häufig als Ein-Mann- bzw. als Eine-Frau-Archiv geführt,hat oftmals zur Folge, dass die „klassischen“ archivischenAufgaben wie Bewertung, Übernahme und Erschließungvernachlässigt werden. Den Zeitaufwand für die von ihmzu verantwortenden Tätigkeitsbereiche beschrieb Deigen-desch wie folgt: allgemeine Organisation und Verwaltung,Mikroverfilmung, Digitalisierung (10%), Führung vonSammlungen und Bibliothek (15%), Benutzerbetreuung,Bearbeitung von Anfragen (15%), Betreuung der Museen(30%), besondere Projektarbeit (30%). Projektarbeit heißtim Stadtarchiv Münsingen z. B. die Durchführung einesInterviewprojektes mit russlanddeutschen Spätaussied-lern in einer Stadt, in der etwa 20% Spätaussiedler leben,in Ergänzung zu bereits vorhandenen schriftlichen Quel-len. Zu dem Tätigkeitsbereich Übernahme und Bereitstel-lung archivischer Sammlungen zählen in Münsingenebenfalls die Mikroverfilmung der lokalen Tageszeitungsowie die Digitalisierung des historischen Bildbestandes.Wenngleich die beschriebenen Tätigkeitsfelder abseits derarchivischen Kernaufgaben liegen, sind sie nach Einschät-zung von Deigendesch nicht nur sinnvoll, sondern lebens-notwendig für den Fortbestand eines kleinen Stadtarchivs.Seine Begründung: Ein kommunales Archiv in einerGemeinde mit einer Einwohnerzahl unter 50.000 genießtin aller Regel keinen politischen Bestandsschutz. Aller-dings, der Schlüssel zu einem dauerhaften kommunalpoli-tischen Rückhalt liegt in der Vermittlung von Sinn undErtrag archivfachlicher Arbeit. Auch für die Bürgerinnenund Bürger zeigt sich der Nutzen eines Archivs dannbesonders deutlich, wenn sie das Archiv selbst als Dienst-leister in Anspruch nehmen können. Sehr häufig geschiehtdies über die Nutzung der Zeitungs- und Bildbestände.Bei allen Aktivitäten darf nie die Zielgruppenorientierungaußer Acht gelassen werden. Dazu zählen Jugendliche,aber auch gesellschaftliche Randgruppen und Minoritä-

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ten, um deutlich zu machen, dass Archive ebenfalls einenBeitrag zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen leisten kön-nen. Zum Schluss seines Beitrages griff Deigendesch einThema auf, das alle Archive gleichermaßen betrifft – dieÜberlieferungsbildung in Zeiten digitaler Systeme. Hierappellierte er an die Bundeskonferenz der Kommunalar-chive, an Archivberatungsstellen und regionale Standes-organisationen, archivische Forderungen in diesem Kon-text gebündelt vorzutragen, Strategien zu entwickeln, umzu vermeiden, dass jedes Archiv einzeln und auf sichgestellt das überaus schwierige Thema selbst zu bewälti-gen versucht. Zusammenfassend betonte Deigendeschnochmals seine Auffassung, dass insbesondere der Samm-lungsbereich und eine ansprechende Öffentlichkeitsarbeiteine existentielle Bedeutung für kleinere Stadtarchivehaben.

In der sich anschließenden Diskussion betonteDr. Bräunche nach Rückfrage von Prof. Franz-JosefJakobi, Leiter des Stadtarchivs Münster, ob es sich beidem Institut für Stadtgeschichte in Karlsruhe um einenkooperativen Zusammenschluss oder um ein neues hie-rarchisches Dach handele, dass der Kontakt zwischenMuseum und Archiv schon immer recht eng gewesen seiund das Stadtmuseum allein nicht hätte weiter existierenkönnen. Zudem sei die neu gebildete Organisationseinheitihm insgesamt unterstellt. Die Frage, ob in den von Bräun-che beschriebenen Ausstellungen auch das jeweils ent-standene Findbuch präsentiert würde, beantwortete ernegativ, nahm die Anregung jedoch gern auf.

Im Folgenden stellte Bräunche die Bundeskonferenzder Kommunalarchive (BKK) beim Deutschen Städtetagvor, da nach wie vor davon auszugehen ist, dass dieseInteressenvertretung den wenigsten Kolleginnen und Kol-legen bekannt ist. Die BKK ist ein Fachausschuss des Deut-schen Städtetages, der 1990 gegründet wurde und in derRegel zweimal pro Jahr, davon einmal am Dienstag desDeutschen Archivtages tagt. Der BKK gehören derzeit 23Mitglieder an: 4 aus Nordrhein-Westfalen (Götz Bettge –Stadtarchiv Iserlohn, Dr. Hans Budde – RheinischesArchiv- und Museumsamt Brauweiler, Dr. Kurt Ort-manns – Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr, Dr. NorbertReimann – Westfälisches Archivamt Münster), 3 ausBaden-Württemberg (Ernst Otto Bräunche – StadtarchivKarlsruhe, Wolfgang Kramer, Kreisarchiv Konstanz,Dr. Roland Müller – Stadtarchiv Stuttgart), je 2 ausBayern (Dr. Michael Diefenbacher, Stadtarchiv Nürn-berg, Dr. Robert Zink – Stadtarchiv Bamberg), Nieder-sachsen (Dr. Ernst Böhme – Stadtarchiv Göttingen,Dr. Karl Josef Kreter – Stadtarchiv Hannover), Sachsen(Sigrid Häßler – Historisches Archiv des Vogtlandkreises,Gabriele Viertel – Stadtarchiv Chemnitz) und Sachsen-Anhalt (Ralf Jacob – Stadtarchiv Halle, Sibylle Pentzeck– Stadtarchiv Zeitz), je 1 Mitglied aus Brandenburg (Ralf-Rüdiger Targiel – Stadtarchiv Frankfurt/Oder), Hessen(Hans-Georg Ruppel – Stadtarchiv Offenbach), Mecklen-burg-Vorpommern (Gerd Giese – Stadtarchiv Wismar),Rheinland-Pfalz (Dr. Michael Martin – Stadtarchiv Lan-dau), Saarland (Dr. Irmgard Becker – Stadtarchiv Saar-brücken), Schleswig-Holstein (Prof. Dr. AntjekathrinGraßmann – Stadtarchiv Lübeck) und Thüringen (KlausBrodale – Stadtarchiv Gera). Die Stadtstaaten sind miteinem Mitglied vertreten, derzeit durch Dr. Jürgen Wet-zel(Landesarchiv Berlin).

Die BKK versteht sich als Interessenvertretung überund im Deutschen Städtetag. Sie dient dem Erfahrungs-austausch insgesamt, der Beratung der Spitzenverbände,u.a. durch die Vorbereitung von Empfehlungen sowie derBeratung von Trägern kommunaler Archive. Derzeitbestehen 5 Unterausschüsse: Aus- und Fortbildung (Lei-tung: Dr. Norbert Reimann), Archivtechnik (Leitung:Dr. Hans Budde), EDV (Leitung: Dr. Robert Zink),Bewertung (Leitung: Dr. Irmgard Becker), HistorischeBildungsarbeit (Leitung: Dr. Michael Diefenbacher).

Es folgte ein Kurzbericht über die Sitzung am Randedes Deutschen Archivtages in Trier: Die Arbeit der BKKsoll mehr Transparenz erfahren1) durch regelmäßige Berichterstattung in der Sitzung der

Fachgruppe 2 auf dem Deutschen Archivtag,2) durch regelmäßige Berichte in der Zeitschrift Der Archi-

var, in den jeweiligen Informationsblättern auf Bundes-länderebene sowie mündlich in den Sitzungen kommu-naler Arbeitsgemeinschaften,

3) durch ein Internet-Angebot über den Deutschen Städte-tag mit Informationen über die Sitzungen, Arbeitser-gebnisse der Unterausschüsse und Empfehlungen derBKK. Die Bereitstellung eines Internet-Angebotes liegtfederführend in den Händen des EDV-Unterausschus-ses. Ebenso wird er sich mit einem Positionspapier desStädtetages zur Einführung des E-Government befas-sen.Darüber hinaus war in der Sitzung ein Positionspapier

„Zukunft der Stadt? – Stadt der Zukunft! – Die Archive:Gedächtnis der Stadt“ Thema, das von einer Arbeits-gruppe der BKK erarbeitet worden war. Dieses Papier istals Reaktion auf die „Leipziger Resolution für die Zukunftder Stadt“ zu verstehen, die im Mai 2001 von der 31.Hauptversammlung des Deutschen Städtetages verab-schiedet worden war. Um auch in schwierigen finanziellenZeiten die Leistungsfähigkeit der Kommunen und derkommunalen Selbstverwaltung zu erhalten, sollen dieKommunen überprüfen, welche Aufgaben noch vonihnen selbst wahrgenommen werden und welche in eineandere Trägerschaft übergeben werden können. DasErgebnis des BKK-Papiers: Zentrale Aufgaben wie Bewer-tung, Erschließung, Sicherung und Bereitstellung zur Nut-zung müssen in der Trägerschaft verbleiben. Dagegenkönnen Bereiche wie Bestandserhaltung, Digitalisierungoder auch Projekte im Rahmen der Historischen Bildungs-arbeit durchaus an Dritte vergeben werden, wenn diefachliche Verantwortung weiterhin beim Archiv verbleibt.Das Papier kann insgesamt als Papier der kommunalenSpitzenverbände angesehen werden, da zwischenzeitlichder Deutsche Städtetag wie auch der Deutsche Landkreis-tag zugestimmt haben.

Aufgrund der diesjährigen Hochwasserkatastrophewurde das Thema Katastrophenschutz im Archiv in derBKK-Sitzung ausführlich diskutiert. Die ArbeitsgruppeKatastrophenschutz wird die bereits in Arbeit befindlicheEmpfehlung vor dem Hintergrund der in diesem Sommergemachten Erfahrungen nochmals überarbeiten. Darüberhinaus wird der Feuerwehrausschuss des Städtetages eineausführliche Stellungnahme abgeben, die ebenfalls abge-wartet wird. Der Unterausschuss Bewertung wird eineEmpfehlung erarbeiten mit dem Ziel der Beibehaltungbzw. Wiedereinführung von Aktenordnungen mit Aufbe-wahrungsfristen bzw. Anbietungsfristen. Die diesjährigeFortbildung der BKK wird vom 16.–18. 10. 2002 in Bitter-

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feld u.a. zu den Themen Archivrecht und Bestände derWirtschaft in Kommunalarchiven veranstaltet. Die Fortbil-dung 2003 wird sich mit dem Thema Katastrophenschutzbefassen.

In der sich anschließenden Diskussion stellte sich fürden Leiter des Stadtarchivs Bocholt, Dr. Hans Oppel, dieFrage, wie die Verbindung zwischen der BKK und demGemeinde- bzw. Kreistag aussieht, zumal etwa zwei Drit-tel der Kolleginnen und Kollegen in den Kommunalarchi-ven durch die letzgenannten Gremien vertreten werden.Der Leiter des Westfälischen Archivamtes in Münster,Dr. Norbert Reimann, wies auf eine Vereinbarung von1990 hin, nach der die BKK für den Deutschen Städte- undGemeindebund und den Landkreistag tätig ist. Im Sinneeiner besseren Vernetzung zwischen der Fachgruppe 2und der BKK soll künftig die Sitzung der BKK im Rahmendes Deutschen Archivtages zwischen 14 und 16 Uhr eineGemeinschaftssitzung mit der Fachgruppe 2 sein, um derinhaltlichen Diskussion mehr Raum zu bieten, was bei denanwesenden Kolleginnen und Kollegen auf eine großeResonanz stieß.

Die Folgen der diesjährigen Hochwasserkatastrophebeschäftigten die Anwesenden insbesondere unter demAspekt, wie finanzielle Mittel, so sie denn bereitgestelltwerden sollten, die betroffenen Archive erreichen. Einbewegender Bericht einer Vertreterin des StadtarchivsPirna machte noch einmal sehr deutlich, wie verheerenddie Lage in den betroffenen Regionen unmittelbar war undwie enorm die Folgeschäden sind. Die Vorsitzende berich-tete, dass das Sächsische Innenministerium eine Erhebungder Schadenshöhe durchführt, diese aber noch nicht abge-schlossen sei. Prof. Jakobi (Stadtarchiv Münster) schlugvor, eine Kurzresolution in der sich anschließenden Mit-gliederversammlung des VdA durch die Vorsitzende vor-tragen zu lassen. Der Vorschlag wurde einmütig ange-nommen. Der Text lautete: „Die Fachgruppe 2 im VdA for-dert mit Entschiedenheit, die Sanierung des durch dieHochwasserkatastrophe des Sommers 2002 geschädigtenArchivgutes in den Katalog der Forderungsmaßnahmenauf Bundes- und Landesebene aufzunehmen und Mög-lichkeiten zur Finanzierung von Sanierungsmaßnahmendurch entsprechende Antragsverfahren zu eröffnen.“

Der Leiter des Stadtarchivs Stuttgart, Dr. Roland Mül-ler, wies auf eine Fortbildungsveranstaltung der Arbeits-gemeinschaft der hauptamtlichen Archivare in Baden-Württemberg hin, die am 9./10. 4. 2003 angeboten wer-den soll. Themen wie Archivbau und Sammlungen seienin der Vorplanung genannt worden, weitere Themenvor-schläge können gern noch eingereicht werden.

Zum Abschluss der diesjährigen Fachgruppensitzungauf dem Deutschen Archivtag hielt Doris Naumann vomStadtarchiv Plauen einen Vortrag über die „Wiederent-deckung der bürgerlichen Frauenbewegung in Plauen –Wege und Rezeptionsformen historischer Forschung“, einProjekt in einem Kommunalarchiv mittlerer Größe, das1991 durch die zufällige Entdeckung eines in Vergessen-heit geratenen Plauener Frauen-Vereins angestoßen wor-den war. Im Mittelpunkt standen zunächst die bürgerlicheFrauenbewegung und die Frauenvereine als wichtigsteOrganisationsform von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis1933. Es galt festzustellen, worauf weibliches Engagementabzielte und was die bürgerliche Frauenbewegung imKontext der wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheitenin Plauen charakterisierte. Das Zusammentragen von

Quellen erforderte umfangreiche Recherchen. Eigenstän-dige Überlieferungen von Frauenvereinen waren imStadtarchiv nicht vorhanden. Da im amtlichen Schriftver-kehr nur wenige gesonderte Akten in Bezug auf Frauen-vereine angelegt wurden, galt es, Einzelbetreffe in zumTeil mäßig verzeichneten Akten herauszufinden. Derarchiveigene Quellenfundus nebst Archivbibliothekwurde jedoch auch noch in einem erheblichen Maße ange-reichert durch Bestände anderer Archive, Bibliothekenund Dokumentationsstellen, u.a. des VogtlandmuseumsPlauen und der Vogtlandbibliothek. Kontakte zu Nachfah-ren erbrachten erfreulicherweise Erinnerungsberichte,Fotos und sonstige persönliche Dokumente. Die Erfah-rung habe gezeigt, dass insbesondere die Akzeptanz desStadtarchivs in der Öffentlichkeit und die behördliche Ein-bindung die Kooperation mit anderen Institutionen in derForschungs- und Rezeptionsphase erheblich erleichtern.1993 erschien eine erste umfassende Forschungsarbeit. DieFrauengeschichtsforschung sollte als eine Facette derStadtgeschichte verstanden werden, die die historischinteressierte Bevölkerung über die Einbindung frauenge-schichtlicher Angebote in die kulturelle Infrastruktur derStadt erreichen sollte. Es folgten weitere Veröffentlichun-gen, Vorträge sowie themenspezifische Stadtführungen –Projekte, die u.a. von der städtischen Gleichstellungsstelleideell wie finanziell gefördert wurden, ohne inhaltlichbestimmend zu sein. Einen Höhepunkt bildete die Aus-stellung „Frauen – Jahre – Leben“, die gemeinschaftlichvom Stadtarchiv und dem Vogtlandmuseum veranstaltetwurde – ein Beispiel für eine gelungene Zusammenarbeitzwischen Museum und Archiv zu einem TeilbereichPlauener Frauengeschichte, die auch zukünftig Beachtungfinden sollte.

Mit einem herzlichen Dank an alle Beteiligten beendetedie Vorsitzende die diesjährige Fachgruppensitzung.

Münster Katharina Tiemann

Fachgruppe 3:

Archivare an kirchlichen Archiven

Dass Archivarsversammlungen trotz der frühen Anfangs-zeit von 8.30 Uhr muntere Veranstaltungen sein können,bewies die diesjährige Sitzung der Fachgruppe 3. Die 81Teilnehmenden, unter denen sich auch einige Interessierteaus anderen Fachgruppen befanden, zeigten eine starkeResonanz auf die gehaltenen Vorträge.

Kurzfristig ins Programm genommen wurde ein Bei-trag von Camilla Weber vom Bischöflichen ZentralarchivRegensburg zu den ehemals dort verwahrten katholischenOstkirchenbüchern und deren Rückführung nach Polen,die unter Genealogen und Archivaren zum Teil heftigeKritik hervorgerufen hatte (siehe Beitrag in diesem Heft,S. 41, sowie mehrere Beiträge zum Thema „Wem gehörendie ostdeutschen Kirchenbücher?“, in: Genealogie 26(2002) 154–167). Die Referentin führte aus, dass die 3361Kirchenbuch-Bände aus den Bistümern Ermland, Kulm,Gnesen, Leslau und Pl,ock während des 2. Weltkriegs vonstaatlichen Stellen als sippenkundlich wertvolle Unterla-gen beschlagnahmt und vor der heranrückenden Frontnach Westen evakuiert worden waren. Von der alliiertenBesatzungsmacht wieder unter kirchliche Aufsichtgestellt, gelangten die Kirchenbücher auf Umwegen in dasBischöfliche Zentralarchiv Regensburg, wo sie seit 1978treuhänderisch verwahrt wurden. Die schon früh erhobe-

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nen polnischen Rückübertragungsansprüche wurden niegrundsätzlich bestritten, aber unter Verweis auf die unsi-chere politische Lage der polnischen Kirche lange abge-wiesen. Dies änderte sich nach dem Ende des Kommunis-mus. Unter Zustimmung des deutschen und des polni-schen Staates wurden die Kirchenbücher als Kirchenguteingestuft, über das die Kirche auf der Grundlage deskanonischen Rechts entscheiden kann. Danach sind diekatholischen Pfarreien, in denen die Matrikel entstanden,die Eigentümerinnen der Kirchenbücher, da sie trotz desAustauschs der Bevölkerung als Institution fortbestehen.Nach der Grundsatzentscheidung der DeutschenBischofskonferenz zur Abgabe der Kirchenbücher Ende2000 konnte das Regensburger Bistumsarchiv Regelungenzur fachgerechten Unterbringung und frei zugänglichenBenutzung in Polen vertraglich festschreiben, woraufhinim Juni 2002 die Übergabe an kirchliche Archive in Gne-sen, Pelplin und Allenstein erfolgte.

In der offen und konstruktiv geführten Diskussionwurde auf die Gefahr hingewiesen, dass die Abgaben vonpolnischer (auch staatlicher) Seite als Präzedenzfall fürbestehende weitere Rückführungsansprüche herangezo-gen werden dürften; davon sei sowohl evangelisch-kirch-liches als auch staatliches Archivgut betroffen. Dazuberichtete die Fachgruppenleitung, dass der VdA-Vorsit-zende auf Initiative der Fachgruppe ein Schreiben an dieDeutsche Bischofskonferenz gerichtet hat, in dem diebestehenden Sorgen zum Ausdruck kamen und um Stel-lungnahme gebeten wurde. In seiner Antwort verwies derSekretär der Bischofskonferenz darauf, dass die besondereRechtslage nach dem katholischen Kirchenrecht einen Prä-zedenzfall für weitere Rückführungen nicht-katholischenArchivgutes ausschlösse. Der Leiter des EvangelischenZentralarchivs in Berlin, Dr. Hartmut Sander, in dessenArchiv sich der größte Bestand evangelischer Ostkirchen-bücher befindet, machte die gegensätzliche Rechtsauffas-sung der evangelischen Kirche deutlich, nach der dieevangelischen Kirchengemeinden als Gebietskörperschaf-ten des öffentlichen Rechts mit dem vollständigen Verlustihrer Gemeindeglieder untergegangen sind. Demnach istdie Evangelische Kirche der Union als Rechtsnachfolgerinder ehemals preußischen Kirchengemeinden Eigentüme-rin der Kirchenbücher. Die Diskussion kreiste aber nichtnur um rechtliche Fragen. Beklagt wurde allseits, dass diekatholischen Kirchenarchive vorab nicht in die Entschei-dungsfindung einbezogen wurden. Schließlich wurde derBegriff des Kirchengutes problematisiert, der nach Mei-nung mehrerer Teilnehmer nicht als Gegensatz zumBegriff des Kulturgutes aufgefasst werden könne. Eswurde deutlich, dass eine genaue Verhältnisbestimmungder Begriffe Kirchengut und Kulturgut, die sowohl demkirchlichen Rechtsanspruch auf selbständige Regelungihrer Angelegenheiten als auch den kulturellen Verpflich-tungen der Kirche gerecht wird, ein Desiderat kirchlicherArchivarbeit darstellt.

Der zweite Vortrag von Dr. Andreas Metzing (Archivder Evangelischen Kirche im Rheinland, Außenstelle Bop-pard) über „Die Überlieferungen der linksrheinischenevangelischen Lokalkonsistorien der napoleonischen Zeit“bot weniger Anlass zu kontroverser Diskussion, dafür aberumso mehr spannende Einblicke in ungewöhnlicheArchivbestände (Veröffentlichung vorgesehen in: Ausevangelischen Archiven Nr.43, 2003). In den 1798 vonFrankreich annektierten Gebieten waren auf der Grund-

lage der Organischen Artikel von 1802 völlig neue kirchli-che Verwaltungsstrukturen auf rationalistischer Grund-lage entstanden. Pfarrgemeinden wurden aufgelöst unddie Gläubigen zu etwa 6000 Personen umfassenden Konsi-storialkirchen zusammengefasst, an deren Spitze ein starkvon Nicht-Theologen geprägtes Lokalkonsistorium stand.Die auf mittlerer Ebene vorgesehenen Inspektionen (für dieLutherischen) bzw. Synoden (für die Reformierten) und diegeplanten lutherischen Generalkonsistorien in Mainz undKöln konnten sich bis zum Ende dieses verwaltungshisto-rischen Zwischenspiels 1814/15 allerdings nicht etablie-ren, so dass nur die Lokalkonsistorien eigenes Schriftguthinterlassen haben. Sie finden sich heute im Zuständig-keitsbereich der Archive der Evangelischen Kirchen imRheinland (Düsseldorf/Boppard) , in der Pfalz (Speyer)und in Hessen und Nassau (Darmstadt). Sehr häufig sinddiese Unterlagen allerdings in Bestände aus vor- odernachfranzösischer Zeit integriert worden und nicht mehrals eigene Provenienz erkennbar. Eine weitere Schwierig-keit besteht darin, dass die drei genannten Archive auchUnterlagen von Lokalkonsistorien aufbewahren, derenSitz nicht zu ihrer heutigen regionalen Zuständigkeit zählt.Der Referent formulierte daher drei Ziele, die von denbetroffenen Archiven gemeinsam erreicht werden sollten:Die Schaffung einer archivübergreifenden Übersicht derüberlieferten Bestände, die Einigung auf vergleichbareErschließungsstandards sowie, langfristig, die virtuelleRekonstruktion der ursprünglichen Verwaltungsstruktu-ren in Form eines gemeinsamen Inventars.

Die Diskussion wurde belebt durch Beiträge aus denkatholischen Archiven, die vergleichbare Erfahrungen mitUnterlagen aus der Zeit der französischen Zugehörigkeitbesitzen. Es zeigte sich, dass eine Verzeichnung bislangfast überall gegenüber der Erschließung größerer und stär-ker nachgefragter Bestände zurückstand. Aufgrund derlückenhaften Überlieferung hielten mehrere Teilnehmereine Einzelblattverzeichnung für angebracht. Ein Anspornzur Erschließung und zur Schaffung eines Inventars stelltdas 200. Jubiläum der französischen Annexion und derSäkularisation dar, das auch Gegenstand der diesjährigenTagung des Arbeitskreises Landeskirchengeschichte inGüstrow sein wird. Vielleicht erwacht damit auch das bis-her ausbleibende Forscherinteresse an diesen Beständen.

Einen Überblick über die „Schutz- und Sperrfristen fürkirchliches Archivgut“ bot der Vortrag von Karsten Küh-nel (Stadtarchiv Hof). Nach einer Rekapitulation der Prin-zipien der staatlichen Archivgesetzgebung, die den kirch-lichen Archiven als Vorbild eigener Rechtsvorschriftendiente, verglich der Referent die geltenden kirchlichenSchutzfristen. Während die katholische Archivanordnungeine allgemeine Schutzfrist von 40 Jahren festlegt, sehendie meisten evangelischen Archivgesetze eine Öffnungder Unterlagen 30 Jahre nach ihrer Entstehung vor. Bei per-sonenbezogenen Unterlagen gilt überwiegend eineSchutzfrist von 30 Jahren nach dem Tod bzw. 110 oder 120Jahre nach der Geburt, wenn der Todeszeitpunkt nichtfeststellbar ist. Bei den jüngsten evangelischen Archivge-setzen ist die Tendenz zur Verkürzung dieser Frist auf 10Jahre nach dem Tod bzw. 90 Jahre nach der Geburt fest-stellbar. Einen Sonderfall stellen die Archive der katho-lischen Ordensgenossenschaften dar, in denen zumeistnur Benutzungsordnungen gelten, die keine Selbstver-pflichtung zur Öffnung der Archive nach außen beinhal-ten. Damit ging der Vortrag über zu der Frage der Öffent-

Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1 19

lichkeit kirchlicher Archive. Das Vorhandensein einesberechtigten Benutzungsinteresses, das die meisten kirch-lichen Vorschriften fordern, führt nicht überall automa-tisch zu einem Anspruch auf Archivaliennutzung; einigeKirchenarchivgesetze, darunter das der katholischen Kir-che, bleiben hinsichtlich der Benutzungserlaubnis beieiner Kann-Vorschrift. Ein Versagen der Benutzungser-laubnis wird sich aber auch dort an festen Kriterien – wieder Abwendung einer Gefährdung des Wohls der Kirche –orientieren müssen, wo diese nicht explizit formuliertsind. Gleichwohl betonte der Referent, dass die Benut-zungserlaubnis entsprechend der hierarchischen Strukturder katholischen Kirche ein Gnadenakt bleiben müsse undbegründete dies mit der besonderen pastoralen Funktionder Kirchenarchive. In dem Maße, in dem sich die Zieleund Interessen der Kirchen von denen der säkularisiertenGesellschaft unterschieden, müssten sich die Archive alsWerkzeuge der Kirche verstehen und unter Umständendie archivischen Schutzfristen dazu nutzen, die Kirche vorantikirchlichen Bestrebungen zu schützen. Damit spracher sich auch deutlich gegen ein allgemeines Recht derÖffentlichkeit auf die Benutzung kirchlicher Archive aus.

Besonders der letzte Teil des Vortrags rief unter denAnwesenden zum Teil heftige Kritik hervor. Mehrfachwurde nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die evan-gelischen Kirchenarchive öffentlich zugängliche Archiveund damit Teil kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit sind. DieKirchensteuerzahler hätten ein Recht auf Einsichtnahmein kirchliche Unterlagen. Auch die protestantische Rege-lung der Archivbenutzung auf kirchengesetzlicherGrundlage wurde als notwendig verteidigt. Die salvatori-schen Klauseln würden als Vorsorge gegen einen mögli-chen Missbrauch ausreichen. Auch katholische Archivarewandten sich gegen eine Klassifizierung der Benutzungs-erlaubnis als Gnadenakt. In juristischer Hinsicht mögedies so erscheinen, aber die Praxis sei liberal. Die Versa-gung der Benutzung würde der Kirche häufiger zumNachteil gereichen als die Öffnung der Archive. Die kirch-lichen Archive, so die einhellige Meinung des Plenums,brauchen die Öffentlichkeit nicht zu scheuen, sondernunterstützen insbesondere die wissenschaftliche For-schung.

Die gehaltvollen Fachbeiträge und die offene Ausspra-che machten die Fachgruppensitzung für alle Teilnehmen-den zu einem konstruktiven Erlebnis. Die Verbindung derFachgruppenmitglieder soll weiter gestärkt werden. Dazuverständigte man sich auf die Schaffung einer interkonfes-sionellen Mailing-Liste und eines gemeinsamen Internet-Portals (www.kirchenarchive.de).

Berlin Michael Häusler

Fachgruppe 4:

Archivare an Herrschafts-, Familien- und Hausarchiven

Am 19. September 2002 hielt die Fachgruppe 4 im Rahmendes 73. Deutschen Archivtages in Trier ihre turnusmäßigeSitzung in der ehemaligen Schatzkammer der TriererStadtbibliothek/Stadtarchiv ab. Als Hausherr begrüßteProf. Dr. Gunther Franz 43 Mitglieder und Gäste zur Sit-zung und ging in seiner Ansprache kurz auf dieGeschichte der gemeinsamen Institutionen und des Hau-ses ein. Anschließend sprach Reichsgraf Rudolf von Kes-selstatt, Schloss Föhren, über das im Stadtarchiv alsDepositum verwahrte Familienarchiv der Reichsgrafen

von Kesselstatt, mit rund 250 Regalmetern das bedeutend-ste Adelsarchiv der Region.

Das Thema der Fachgruppensitzung lag schwerpunkt-mäßig auf der Geschichte und Nutzung von Adelsarchi-ven in der ehemaligen DDR und der Tschechoslowaki-schen Republik. In seinem Vortrag „Vom Volkseigentumzum Depositum – Zur Situation der Gutsarchive im Bran-denburgischen Landeshauptarchiv“ ging WernerHeegewaldt, Potsdam, auf die Überlieferungssituationund die (Be)Nutzung der durch die Bodenreform in derSowjetischen Besatzungszone im Jahre 1945 entschädi-gungslos enteigneten Guts- und Herrschaftsarchive Bran-denburgs ein. Die nach DDR-Recht als Volkseigentum inden Staatsarchiven aufbewahrten Adelsarchive unterlie-gen seit der Verabschiedung des Entschädigungs- undAusgleichsleistungsgesetzes (EALG) vom 1. Dezember1994 künftig neuen gesetzlichen Bestimmungen. Die Alt-eigentümer bzw. ihre Erben bekamen die gesetzliche Mög-lichkeit, die Restitution oder finanzielle Entschädigung fürVermögensschäden und enteignete Mobilien (z. B. Kunst-gegenstände, Bibliotheken, Archive) zu fordern. DasELAG räumt den bisherigen Besitzern (Staatsarchive derneuen Bundesländer) nur einen unentgeltlichen Nieß-brauch auf 20 Jahre bei bestimmten Voraussetzungen ein.Deshalb bemüht sich das Brandenburgische Landeshaupt-archiv, im Vorfeld eines späteren Verwaltungsverfahrensmit den Anspruchsberechtigten eine einvernehmlicheRegelung der künftigen Nutzung zu erreichen.

Mit ihrem Vortrag „Adelsarchive in Sachsen zwischenstaatlichem Anspruch und Familientradition vom 19. Jahr-hundert bis zur Gegenwart“ untersuchte Birgit Richtervom Sächsischen Staatsarchiv Leipzig die Situation deretwa 260 Rittergutsarchive aus dem Territorium des frühe-ren Leipziger Kreises seit der Verfassung von 1831. Aus-führlich stellte sie das Zusammenspiel zwischen privatenund öffentlichen Archive vor allem bei der Überlieferungder Patrimonialgerichtsakten im 19. Jahrhundert dar, refe-rierte über den Beginn der „Archivpflege“ in Sachsen unddas Interesse für die Privatarchive durch das Aufblühender Landesgeschichtsforschung sowie der Editionstätig-keit der Geschichts- und Altertumsvereine. Wie in denanderen Ländern der Sowjetischen Besatzungszonewurde nach der Vertreibung oder Flucht der Rittergutsbe-sitzer 1945 von der Landesverwaltung Sachsen am 17. Mai1946 die „Anordnung über die Sicherstellung und Verwer-tung des nichtlandwirtschaftlichen Inventars der durchdie Bodenreform enteigneten Gutshäuser“ zur Sicherung,Erfassung und Übernahme der Archive erlassen. Zwi-schen 1946 und 1954 gelangten dadurch an das SächsischeLandeshauptarchiv und die neu entstandenen staatlichenArchive in Bautzen, Altenburg, Glauchau und Leipzigetwa 400 Adelsarchive. In den 1960er Jahren wurden danndie Gutsarchive aus der Bodenreform mit den älterenPatrimonialgerichtsarchiven provenienzmäßig zusam-mengeführt, so dass bis heute etwa 850 Rittergutsfondsbeim sächsischen Archivwesen aufbewahrt werden. DieEigentumsverhältnisse und die Nutzung der privatenAdelsarchive basieren gegenwärtig auf dem „Gesetz überstaatliche Ausgleichsleistungen für Enteignungen aufbesatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grund-lage ...“ (AusglLeistG) vom 1. Dezember 1994. Von den inSachsen derzeit anhängigen sechzehn Verfahren über dieRückübereignung von Rittergutsarchiven konnten zwi-schenzeitlich drei abgeschlossen werden. Abschließend

20 Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1

gab die Referentin noch einen kurzen Überblick über diezwischenzeitlich von den staatlichen sächsischen Archi-ven geleisteten Erschließungs- und Verzeichnungsarbei-ten an den ihnen anvertrauten Rittergutsarchiven.

Nach einer kurzen Pause stellte Dr. Eduard Mikusek,Leiter der Außenstelle Zitenice (Schüttenitz) des Bezirks-archivs Litomerice (Leitmeritz), „Das Lobkowitzer Haus-archiv. Die Nutzung eines Privatarchivs nach der Restitu-tion in der Tschechischen Republik“ vor. Durch die Nach-kriegsgeschichte der Tschechoslowakischen Republik gin-gen auch die Archive der Raudnitzer und Melniker Liniendes Fürstenhauses Lobkowitz 1948 entschädigungslos anden Staat über und wurden in die staatliche Archivverwal-tung integriert. Das Schlösschen Schüttenitz aus demBesitz des Prager Domkapitels wurde zum Verwahrungs-ort des Lobkowitzer Gesamtarchivs bestimmt. NachdemMitglieder des Hauses Lobkowitz bei der kommunisti-schen Machtergreifung am 25. Februar 1948 noch dietschechoslowakische Staatsbürgerschaft innehatten, standder Familie nach dem Restitutionsgesetz vom 21. Februar1991 die Rückübereignung ihrer Archive zu. Dasselbe galtfür die Archive der Familien Cernin und Kolowrat. Wäh-rend die Familie Lobkowitz das Eigentum an ihren Archi-ven erhielt, bleibt das Archiv unter staatlicher Betreuungam bisherigen Ort weiterhin untergebracht. Je nach denvertraglichen Absprachen nehmen die neuen EigentümerEinfluss auf die Nutzung ihrer Archivbestände. Diese Auf-lagen reichen von einem Genehmigungsvorbehalt für dieVorlage aller Archive bei einer Lobkowitzer Linie bis zurÜbertragung der Entscheidung über die Nutzung – auchjüngerer Bestände – an den zuständigen staatlichen Archi-var. Abschließend stellte der Referent fest, dass sich in derTschechischen Republik durch die Rückgabe der Archivean die berechtigten Adelsfamilien aufgrund des Restitu-tionsgesetzes keine grundlegenden Änderungen bei derNutzung und Benutzung dieser umfangreichen böhmi-schen Adelsarchive ergeben haben.

Den Abschluss der Fachgruppensitzung bildete derVortrag von Jan Fernhout, Den Haag, „Oranienbaumund Den Haag. Die Erschließung eines gemeinsamendeutsch-niederländischen privaten Archivbestandes“. ImRahmen eines DAAD-Stipendiums wurden von ihm dienach Kenntnissen aus dem 19. Jahrhundert im Archiv desHerzogs von Anhalt-Dessau befindlichen Archivalien desholländischen Statthalters Wilhelm II. (1626–1650) näheruntersucht. Sie lagern heute im Landesarchiv Oranien-baum. Nach dem Blick auf die Statthalterschaft WilhelmsII. von Oranien-Nassau beschäftigte sich der Referent mitden Oranienbaumer Archivalien, mit der Frage ihrer Ver-lagerung von Den Haag nach Oranienbaum, ihrerursprünglichen Zusammensetzung, dem wechselndenOrdnungs- und Gliederungsprinzip des Bestandes. Zielund Ergebnis dieser Untersuchungen kann es nur sein,einen aus der Überlieferungsgeschichte vorgegebenenArchivführer über die Archive von Wilhelm II. in Oranien-baum und Den Haag herauszugeben.

Von Seiten der zahlreichen in- und ausländischenTeil-nehmer kam die Anregung, zumindest die beiden Beiträgevon Herrn Heegewaldt und Frau Richter zu drucken unddadurch einem größeren Publikumkreis bekanntzuma-chen.1

Regensburg Martin Dallmeier

1 Die genannten Beiträge werden demnächst im Archivar veröffentlicht.

Fachgruppe 5:

Archivare an Archiven der Wirtschaft

Wie der diesjährige Archivtag insgesamt, so stand auchdie Fachgruppensitzung der Wirtschaftsarchivare unterdem Eindruck der verheerenden Flutkatastrophe, die inden Städten und Gemeinden entlang der Elbe wertvollesArchivmaterial zerstört oder stark beschädigt hat. Betrof-fen waren davon auch Archive der Wirtschaft, so z.B. dasZeitungsarchiv der Sächsischen Zeitung, das zu ca. 60 %dem Wasser zum Opfer gefallen war.

Der Vorsitzende der Fachgruppe, Dr. Ulrich S. Soénius(Köln), trug ein Anliegen von Dr. Dirk Appelbaum(Mönchengladbach), vor, der die deutschen Wirtschaftsar-chivare um Hilfestellung bei der Beseitigung der Katastro-phenfolgen insbesondere beim Archiv für Technik- undIndustriegeschichte des Tschechischen National-Mu-seums in Prag aufforderte.

Dr. Petra Listewnik (Leipzig) berichtete, dass nochgrößere Schäden durch schnelle, fachkompetente undengagierte Hilfe der Archivare verhindert werden konn-ten. Hilfsangebote oder -ideen bat sie an das SächsischeWirtschaftsarchiv zu richten. Diese könnten so gebündeltund vor Ort gebracht werden.

Arne Rössel, Hauptgeschäftsführer der Industrie- undHandelskammer Trier, die ihr neues Tagungszentrum ingroßzügiger Weise zur Verfügung gestellt hatte, begrüßtedie ca. 40 Anwesenden und stellte die WirtschaftsregionTrier vor.

Michael Jurk (Frankfurt/Main) eröffnete danach dieVortragsreihe der Fachgruppensitzung, die unter derÜberschrift „Wirtschaftsarchive und Forschung“ stand. Erstellte mit seinem Beitrag „Das Unternehmensarchiv derDresdner Bank in der unternehmenshistorischen For-schung“ zunächst in aller Kürze die Genese des Unterneh-mensarchivs und seiner Bestände dar. Bankarchive, soJurk, seien im Vergleich zu anderen Archiven der Wirt-schaft eher Nachzügler. Erst in den 60er und 70er Jahrendes 20. Jahrhunderts könne man die ersten Gründungenprofessioneller Archive verzeichnen. Viele dieser Archiveseien aber durchaus schon älter. Sie seien vorher allerdingseher so genannte „Pseudo-Archive“ oder Dokumentatio-nen gewesen. Die Dresdner Bank stellt in dieser Hinsichtkeine Ausnahme dar: Aus der Zeit von ca. 1904 bis 1942/43 hätten sich 22.000 Firmendossiers, also etwa 200 lfd.Meter erhalten. Hjalmar Schacht, der spätere Reichswirt-schaftsminister, habe sich im „Archiv“ seine ersten Sporenverdient. Diese Dokumentation sei im Übrigen fast voll-ständig überliefert und der Forschung zugänglich. Mitihrer Hilfe ließen sich gleichsam die Strukturen ganzerIndustrieregionen nachvollziehen.

Erst durch den zunehmenden öffentlichen Druck sei esdann am 1. September 1999 zur Einrichtung eines profes-sionell geführten Historischen Archivs bei der DresdnerBank gekommen. Den Spekulationen über die Ver-strickung des Kreditinstituts in die nationalsozialistischeWirtschafts- und Finanzpolitik wollte man mit der Aufar-beitung der eigenen Geschichte durch ein unabhängigesForschungsprojekt begegnen. Ein Forscherteam unterFederführung des Hannah-Arendt-Instituts für Totalita-rismusforschung in Dresden beschäftigt sich seither mitder Geschichte der Dresdner Bank im Zeitraum von 1931bis 1957. Bis zum Abschluss dieses Projekts seien dieBestände noch gesperrt, stünden aber danach selbstver-

Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1 21

Fachgruppe 6:

Archivare an Archiven der Parlamente, der politischenParteien, Stiftungen und Verbände

Auf Einladung des Landtages Rheinland-Pfalz versam-melten sich die Mitglieder der Fachgruppe 6 am 17. Sep-tember 2002 in Mainz, um auf ihrer ersten Arbeitssitzungaktuelle Fragen der Parlamentsdokumentation zu disku-tieren. Edgar Wagner, Leiter der Abteilung Informations-dienste, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, begrüßte die 36Teilnehmer im Namen des Landtagspräsidenten Grimmund des Landtagsdirektors Prof. Dr. Gebauer. Der Vorsit-zende der Fachgruppe Dr. Buchstab würdigte zunächstanlässlich des singulären Jubiläums von „25 Jahre Ehren-vorsitzender der Fachgruppe“ die Verdienste GerhardEyckers als des „Nestors der modernen Parlamentsarchi-vistik und -dokumentation“.

Dr. Monika Storm, die Leiterin des Referats Archiv,Parlamentsdokumentation und Bibliothek, stellte dann inVortrag und Führung durch die Räume Organisation,Struktur und Bestände ihres Arbeitsgebietes vor. Dabeibeleuchtete sie vor allem den Bereich des Parlamentsar-chivs. In ihren Ausführungen konzentrierte sie sich dabeinicht nur auf Rheinland-Pfalz, sondern schilderte dieSituation der Landtagsarchive der deutschen Bundeslän-der allgemein. In der anschließenden Diskussion wurdedie Frage thematisiert, inwieweit die Parlamentsdoku-mentationen überhaupt klassische Archive für die Parla-mentsverwaltung werden wollen, und auf die Notwen-digkeit der aktiven Akquisition hingewiesen.

In einem weiteren Referat zum Thema Parlamentsspie-gel berichtete Dr. Storm über den Verlauf und die Ergeb-nisse des Projektes „Portallösung Parlamentsspiegel“.Unter der Leitung von Rheinland-Pfalz hatte die Konfe-renz der Landtagsdirektoren 2001 eine Arbeitsgruppe mitdem Auftrag eingesetzt, bis April 2002 die Realisierungeiner Portallösung, die eine länderübergreifende Sucheermöglichen sollte, zu prüfen und eine detaillierte Kosten-analyse zu erstellen. Der Prototyp des Portals wurde denTeilnehmern vorgestellt, jedoch darauf hingewiesen, dassdie Realisierung vorerst verschoben wurde. Der Parla-mentsspiegel als institutionelle Einrichtung von Bundes-tag, Bundesrat, den Bundesländern und den Organen derEuropäischen Union wird in optimierter Form auch künf-tig auf die herkömmliche Weise fortgeführt. Dort werdendie Bestände der einzelnen Bundesländer, die über Inter-net recherchierbar sind, vorgehalten. Jedoch hat das LandBaden-Württemberg seinen Ausstieg aus dieser Einrich-tung ab dem Jahr 2004 angekündigt. Mit der Präsentationdes Internetauftritts der rheinland-pfälzischen Parla-mentsdokumentation www.pados.rlp.de endete diesesReferat.

Aus aktuellem Anlass wurde die Frage der Archi-vierung digitaler Fotos aufgeworfen. Die Fachgruppen-mitglieder diskutierten die Problematik der ungeklärtenDauerarchivierung und Wahrung der Authentizität, ver-wiesen auf die rechtlichen Probleme bei der Digitali-sierung alter Fotos und betonten den akuten Handlungs-bedarf bei der Archivierung von Internet- und Intranet-Präsentationen.

Nach einer Führung durch das Abgeordnetenhaus unddas Landtagsgebäude und einem gemeinsamen Mittages-sen auf Einladung des Landtags Rheinland-Pfalz besich-tigten die Teilnehmer am Nachmittag das Zweite Deut-

ständlich der historischen Forschung zur Verfügung. Umden Fortbestands des Archivs auch über das Ende diesesForschungsvorhabens hinaus zu sichern, wurde dieEugen-Gutmann-Gesellschaft ins Leben gerufen, die u. a.durch ihre Öffentlichkeitswirksamkeit die historische For-schung bei der Dresdner Bank verstetigen soll, getreu demMotto: „Weniger Weihrauch, mehr Forschung“.

Nachdem durch dieses erste Referat der Beitrag einesUnternehmensarchivs für die wissenschaftliche Erfor-schung der Wirtschaftsgeschichte herausgestellt wordenwar, wandte sich Dr. Michael Farrenkopf (Bochum) derBedeutung der Branchenarchive im Spannungsfeld zwi-schen Archiv und Forschung zu. Am Beispiel des Bergbau-Archivs zeigte er auf, wie Branchenarchive am Wissens-transfer beteiligt seien.

Auf allen drei Ebenen des Wissensmanagements, sostellte Farrenkopf fest, seien Archive präsent: Sie bildetendie Datengrundlage durch Aufbewahrung des Archiv-materials, sie vermittelten Informationen durch Benutzer-beratung, Erstellung von Findmitteln sowie Bestände-übersichten, und schließlich seien sie durch eigene histori-sche Forschungen und entsprechende Publikationen auchan der Entstehung von Wissen beteiligt. Der Schwerpunktliege aber – und das gelte auch für das Bergbau-Archiv –auf den ersten beiden Stufen. Auf ihnen trage das BBAbesonders effektiv zum Wissenstransfer bei, wie die stei-genden Besucherzahlen, nicht zuletzt nach Freischaltungdes Archiv-Portals www.archive.nrw.de, zeigen. Aberauch die verschiedenen konventionell veröffentlichtenBeständeübersichten hätten wesentlich zu einem Anstiegder Benutzerzahlen beigetragen.

Farrenkopf zeigte dann anhand der in den letzten zehnJahren unter Benutzung der Bestände des Bergbauarchivsbetriebenen Forschungsvorhaben, dass das Bemühen desArchivars um die Kommunizierung von potenziellen For-schungsthemen nicht immer erfolgreich sei. Nur wenigetechnikgeschichtliche Untersuchungen seien in dem ange-sprochenen Zeitraum durchgeführt worden, obgleich dasvom BBA verwahrte Aktenmaterial dafür eine hervorra-gende Datenbasis liefern würde. Er folgerte daher, dassArchive solche vernachlässigten Themen selber aufgreifenund in der Forschung tätig werden sollten.

Der Beitrag „Forschung im Unternehmensarchiv – dasBeispiel Merck-Archiv“ von Dr. Sabine Bernschneider-Reif musste leider wegen Erkrankung der Referentin aus-fallen. In der Diskussion griffen die Teilnehmer sogleichdas von Farrenkopf zuletzt angesprochene Thema auf undbestätigten die Erfahrung, dass Angebote der Archive andie Forschung oftmals nicht angenommen würden. Viel-mehr träten die Wissenschaftler grade mit der gegenteili-gen Forderung an die Archivare heran, sich bei Bewertungund Verzeichnung mehr an den Forschungsthemen zuorientieren. Trotzdem kam man insgesamt zu der ab-schließenden Bewertung, dass Archive der Wirtschaft,seien es Unternehmens-, Branchen- oder regionale Wirt-schaftsarchive, einen festen Platz in der Wissenschafts-und Forschungslandschaft einnehmen. Dennoch solltensie offensiver für bearbeitenswerte Themen werben.

Köln Christian Hillen

22 Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1

sche Fernsehen in Mainz. Der Leiter des HistorischenArchivs Veit Scheller referierte über die wesentlichenDaten und Einrichtungen des ZDF und vermittelte danneinen intensiven Einblick in die Arbeit der HauptabteilungABD (Archiv, Bibliothek, Dokumentation). Diese stellt alszentraler Dienstleistungsbetrieb für die Produktion unddas Programm auch die Verwertungseinrichtung des ZDFdar. Das Herzstück dieser Einrichtung bilden Programm-archiv und Programmdokumentation. Alle Materialiender seit 1963 archivierten Sendetätigkeit des ZDF sindüber fünf Datenbanken erschlossen, digitale Programm-und Audioarchive befinden sich im Aufbau. Eine Führungdurch die einzelnen Teilbereiche der Hauptabteilung unddie Demonstration der Arbeit mit den Datenbankenschlossen diese beeindruckende Besichtigung ab.

Zur zweiten Arbeitssitzung der Fachgruppe 6 versam-melten sich 47 Kolleginnen und Kollegen am Donnerstag,den 19. September 2002, in der Europahalle in Trier.Zunächst stellte Dr. Manfred Anders vom Zentrum fürBestandserhaltung in Leipzig das aus der Restaurierungs-werkstatt der Deutschen Bücherei in Leipzig entstandeneund seit 1998 privatisierte Zentrum vor und gab danneinen kompakten Überblick über die neuen Verfahren undTechnologien zur massenweisen Entsäuerung, Konservie-rung und Restaurierung von Archiv- und Bibliotheksgut.

Die sich anschließenden sieben Referate widmeten sichdem zweiten Schwerpunkt dieser Arbeitssitzung mit demThema „‚Parteien im Parlament‘ – Fraktionsakten in deut-schen Archiven“. Erstmals wurden damit auf dem Deut-schen Archivtag die Akten der Fraktionen in Bundestag,Landtagen und im Europaparlament vorgestellt. Die Ver-treter der Parteiarchive – Dr. Regine Jägers für das Archivfür Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung, Dr. Renate Höpfinger für das Archivfür Christlich-Soziale Politik der Hanns-Seidel-Stiftung,Antje Sommer und Holger Feldmann-Marth für dasArchiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stif-tung, Dr. Monika Faßbender für das Archiv des Libera-lismus der Friedrich-Naumann-Stiftung, Dr. ChristophBecker-Schaum für das Archiv „Grünes Gedächtnis“der Heinrich-Böll-Stiftung und Dr. Jochen Weichold fürdas Archiv demokratischer Sozialismus der Rosa-Luxem-burg-Stiftung – berichteten über Umfang, Laufzeit, Bedeu-tung, Erschließungszustand und Zugänglichkeit dieserBestände. Es wurde jeweils auf vorhandene Überlie-ferungslücken und auf die Schwierigkeiten vor allem beider Bestandsbildung und Klärung von Provenienzen hin-gewiesen. (Sämtliche Referate werden im vollen Wortlautin der nächsten Nummer der Mitteilungen der Fach-gruppe 6 abgedruckt.) Akten der Parlamentsfraktionen,vor allem in den Landtagen, werden nicht ausschließlichvon den jeweiligen Parteiarchiven, sondern bei den einzel-nen Parteien in unterschiedlichem Maße auch von denstaatlichen Archivverwaltungen übernommen und archi-viert. Einhellig betonten die Referenten die enge Verbin-dung und Verschränkung der Fraktionsakten mit denNachlässen der Parlamentarier. Dem Deutschen Bundes-tag, der über ein spezielles Projekt die Erschließungsarbei-ten sowohl der Fraktionsakten im Bundestag wie der Par-lamentariernachlässe ermöglicht, wurde der Dank derParteiarchive für diese Unterstützung ausgesprochen.

München Renate Höpfinger

Fachgruppe 7 und 8:

Archive an Medienarchiven und Archivare anHochschularchiven und Archiven wissenschaftlicherInstitutionen

Unter der Leitung von Veit Scheller M. A. (ZDF Mainz)und Dr. Dieter Speck (Universitätsarchiv Freiburg) wid-meten sich die Fachgruppen in ihrer gemeinsamen Sit-zung im gut besuchten Kaiserthermen-Saal der Verwer-tung von Bildbeständen in Archiven, Museen undMedieneinrichtungen. Dabei stellte Dr. Sabine Happ(Universitätsarchiv Heidelberg) das Projekt „Erfassung,Erschließung und digitale Speicherung der Bildbeständedes Universitätsarchivs Heidelberg“ vor, das seit Januar2001 aus Mitteln der Klaus-Tschira-Stiftung befristetgefördert wird. Das Bildarchiv umfasst ca 7.600 Einzel-Fotografien, mehr als 1.000 Fotos in Alben, 4.000 Glasplat-ten, 2.500 Dias bzw. Ektachrome, 8.500 Negative sowie ein-zelne graphische Exponate. Während des Projekts warenauch umfangreiche Ordnungsarbeiten und konservatori-sche Maßnahmen erforderlich. Die Digitalisierung erfolgtmittels eines handelsüblichen Flachbett-Scanners. ZurBilderschließung wird das leicht zu handhabende Pro-gramm „Fotofinder“ der Firma TeachScreen Software inBad Birnbach genutzt. Den Erfordernissen des Archivs fol-gend, wurden zwei Datenbanken angelegt, und zwar Ein-zelporträts von Personen (vornehmlich Professoren),wobei die Eingabemaske auch Raum für biographischeInformationen bietet und die Verzeichnung durch Schlag-worte weitere Recherchemöglichkeiten – etwa nach Ver-tretern eines bestimmten Fachs – eröffnet. Die Fotos wer-den mit einer relativ geringen Auflösung von 150 dpi ein-gescannt, die sich jedoch im täglichen Gebrauch sehrbewährt hat, da die Bilddateien einerseits noch eine rechtgute Qualität haben, andererseits aber nicht allzuviel Spei-cherkapazität verschlingen und problemlos mit E-Mailversandt werden können. Die zweite Datenbank umfasstalle übrigen Aufnahmen, von Gebäuden, Personengrup-pen, universitären Ereignissen und Gegenständen. Inihrem instruktiven „Werkstattbericht“ berichtete die Refe-rentin auch über Recherchemöglichkeiten des Programms,Aspekte der Sicherung und der Anlage der Datenbanken.Da das Projekt am 30. Juni 2003 endet, wird die angestrebteInternet-Recherche voraussichtlich im Herbst 2003 mög-lich sein.

Am Beispiel des Fotonachlasses Willy Pragher imStaatsarchiv Freiburg präsentierte Dr. Martin Stingl (Frei-burg) Überlegungen zu einer Vermarktungskonzeption.Denn das Staatsarchiv Freiburg verwahrt mit der Foto-sammlung Willy Pragher den größten und geschlossen-sten Fotografen-Nachlass in einem baden-württembergi-schen Staatsarchiv mit rund 1 Million Bildern. 1908 in Ber-lin geboren, reüssierte Pragher bereits in den 30er Jahrenals freiberuflicher Fotograf, arbeitete während des Zwei-ten Weltkrieges als Werbefachmann bei einer Ölfirma inRumänien und geriet dort in sowjetische Gefangenschaft.Ende 1949 kehrte er aus Sibirien wieder nach Deutschlandzurück, ließ sich in Freiburg nieder, baute sich dort eineneue Existenz als Fotograf und Bildjournalist auf und ver-starb 1992. Der gesamte, von Pragher gut geordnete Foto-bestand unter Einschluss der weitgehend erhaltenen Vor-kriegsaufnahmen wurde 1993 vom Land Baden-Württem-berg aus Mitteln der Kulturgutstiftung gekauft und wirdseither im Staatsarchiv Freiburg verwahrt. Der Kaufver-

Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1 23

trag verpflichtet dazu, die Sammlung der Publizistik undder Forschung zugänglich zu erhalten und sie auf Dauerals eine Einheit zu behandeln. Mit dem Ankauf gingen dieVerwertungsrechte an den Bildern in umfassender Weiseauf das Land Baden-Württemberg über. Der Referentbeleuchtete die Nutzungssituation und berichtete insbe-sondere über die guten Erfahrungen des StaatsarchivsFreiburg in der stetigen Zusammenarbeit mit einem Buch-verlag in den letzten Jahren. Für die Zukunft plant dasStaatsarchiv Freiburg die modernen Vertriebsmöglich-keiten des Internet für dieses Bildarchiv zu nutzen. Ausge-hend von einer Darstellung und Problematisierung ver-schiedener Szenarien zur Erreichung dieses Ziels, die imStaatsarchiv Freiburg diskutiert wurden, plädierte derReferent grundsätzlich für eine für das Archiv kosten-günstige Kooperation mit einem Anbieter einer in derRegel kommerziellen Bilddatenbank im Internet – anstelleeiner eigenen Lösung. Nach Einschätzung Stingls dürfteeine Kooperationslösung vor allem im Hinblick auf dietechnischen und personellen Folgekosten nicht nur billi-ger sein, sondern auch die bessere Gewähr dafür bieten,dass der primär anvisierte zahlende Kundenkreis (profes-sionelle gewerbliche Nutzer) auch tatsächlich erreichtwird. Das Staatsarchiv Freiburg besitzt bereits erste Erfah-rungen mit diesem Modell aus einem befristeten Pilotpro-jekt mit einem Verlagsunternehmen und baut jetzt seinInternet-Angebot1 aus, um durch eine repräsentative Aus-wahl von Pragher-Fotos Kooperationspartner und privateNutzer besser als bisher auf den facettenreichen Bestandaufmerksam zu machen und auf dieser Grundlage aktivan mögliche Partner heranzutreten. Der Aufwand lohntsich, denn die Fotosammlungen der Archive zählen zuderen größten Schätzen und sind für die Öffentlichkeits-wirksamkeit eines Archivs ebenso wichtig wie GoldeneBullen, handgezeichnete historische Karten oder Serienmittelalterlicher Amtsbücher.

In einem ebenfalls anregenden Beitrag diskutierteDr. Erich Weinreuter (Kirchheim/Teck) die „Positionie-rung öffentlich-rechtlicher Bildarchive im Trend der Kom-merzialisierung“. Dabei bot er zunächst eine Positionsbe-schreibung der Bildarchive mit ihren teilweise bis in dieAnfänge der Fotografie reichenden Beständen, die ausunterschiedlichen Materialien und Formaten bestehen, diestark divergierenden Lagerbedingungen unterliegen unddie teilweise vom Zerfall bedroht sind. Außerdem ist einunterschiedlicher Erschließungsgrad zu konstatieren, esexistieren uneinheitliche Erschließungskriterien undäußerst unterschiedliche Ordnungssysteme. Die „Druck-welle des Internets“ führt zu einer verstärkten Kommer-zialisierung des Bildmarktes. Bildung, Kunst und Kulturnehmen zunehmend teil an der digitalen Kommunikation,Institutionen entwickeln immer mehr ihre virtuellenAbbilder. Virtuelle Bildarchive erzeugen neue Paradig-men in der Bildrecherche, neue Formen der Distributionund weiten den Konsumentenmarkt aus. Ferner illu-strierte er die unterschiedlichen Kernaufgaben von Archi-ven und Agenturen, diskutierte die Anforderungen anBilddatenbanken, wobei Eigenentwicklungen langwierig,teuer und problematisch erscheinen, und stellte verschie-dene Kooperationsmodelle und Recherchen auf verteiltenDatenbanken vor. Als Fazit bleibt, dass die Positionierung

1 Vgl. Martin Stingl: Fotos der Sammlung Willy Pragher im Internet, in:Archivnachrichten 19 (1999), S. 2.

der öffentlich-rechtlichen Bildarchive im Internet durchZusammenschlüsse zu großen Querschnitt-Archiven beiFortbestand eigenständiger Gesamtarchive eine Zielvor-gabe sein könnte.

Saarbrücken Wolfgang Müller

Arbeitskreise

Forum Diplomarchivarinnen und Diplomarchivare (FH)

Auf dem diesjährigen „Forum”, das von der neuen Spre-cherin des Arbeitskreises, Beate Dördelmann, Münster,geleitet wurde, berichtete Gabriele Scholz, Bergheim,über den Ausbildungsberuf Fachangestellte für Medien-und Informationsdienste aus der Sicht eines kommunalenAusbildungsarchivs. Es folgte der Beitrag von Udo Her-kert, Stuttgart, der das Verfahren zum Aufstieg vomgehobenen in den höheren Dienst des Landes Baden-Württemberg darstellte. Beiden Vorträgen schlossen sichangeregte Diskussionen an, die das große Interesse derTeilnehmer an diesen Themen widerspiegelten.

Mit der Bitte, von den ausgelegten Umfragebögen zurZufriedenheit und zu Themenvorschlägen möglichst zahl-reich Gebrauch zu machen, endete diese Veranstaltung,und die Kolleginnen und Kollegen konnten der Einladungzum Empfang der Stadt Trier folgen.

Münster Beate Dördelmann

Arbeitskreis „Archivpädagogik und historischeBildungsarbeit”

Der Arbeitskreis „Archivpädagogik und historische Bil-dungsarbeit”, geleitet von Dr. Erika Münster-Schröer,widmete sich in diesem Jahr dem Thema „Junge Forscherim Archiv: Geschichtswettbewerb des Bundespräsidentenals Herausforderung und Chance”. Die Veranstaltungwurde von etwa 150 Teilnehmern besucht.

Prof. Dr. Wolfgang Jacobmeyer, seit über 20 Jahren imwissenschaftlichen Beirat und in der Zentraljury der Kör-ber-Stiftung vertreten, sprach zum Thema: „Schülererfah-rungen bei der Spurensuche im Archiv”. Die Grundlagefür seine Ausführungen bildete die Auswertung derArbeitsberichte von Wettbewerbsteilnehmern aus demZeitraum von 1974 bis 2001. Berücksichtigt wurden dabeinur diejenigen Preisträger, die mit hohen Preisen ausge-zeichnet wurden.

Die von den Schülern am meisten benutzten Archivewaren Kommunalarchive, gefolgt von den Staatsarchiven.Aber auch Zeitungs-, Universitäts- , Kirchen- und Schular-chive befanden sich darunter. Neben vielfach positivenErfahrungen beklagten die jungen Forscher eine Ungleich-behandlung durch das Archivpersonal, das Schüler – inGegensatz zu Benutzern aus dem Hochschulbereich –nicht selten „von oben herab” behandele. Der Referentbetonte, dass es nicht sachgerecht sei, Benutzer nach Rang-ordnungen zu unterscheiden, da Schülerinnen und Schü-ler als Mitglieder der kommenden Erwachsenengeneratio-nen anzusehen seien, die dann auch ihre Anforderungenan die Archive formulieren würden und deren Finanzie-rung zu sichern hätten. Er verwies auf den Bildungsauf-trag der Archive, den diese für sich produktiv wahrneh-

24 Der Archivar, Jg. 56, 2003, H. 1

men sollten. Beim Geschichtswettbewerb gebe es schließ-lich die Chance, sich eine eigene Klientel zu formen. Diesesollten die Archive im Sinne „außerschulischer Lernorte”unbedingt nutzen.

Prof. Dr. Franz-Josef Jakobi referierte über „Die Schü-lerwettbewerbe und die städtische Erinnerungskultur –Das Beispiel Münster”. Er stellte zunächst heraus, dassArchive wie kaum andere als Hüter und Bildner derSchriftüberlieferung eines fest umrissenen regionalen,lokalen und funktionalen Einzugsbereiches einen „Erinne-rungsort besonderer Art” darstellten, wobei vier Punktezu benennen seien: das traditionelle Aufgabenspektrumder Pflege und Erschließung der historischen Schriftüber-lieferung, die Teilhabe an der geschichtswissenschaftli-chen Forschungs- und Publikationstätigkeit, der Auf- undAusbau digitalisierter Informationsangebote, um denAnspruch eines jederzeit aktivierbaren institutionalisier-ten Gedächtnisses von Staat und Gesellschaft aufrechter-halten zu können, sowie die aktive Teilhabe an der histori-schen Bildung.

In diesen Kontext ordnete Jacobi die Planung undDurchführung der Geschichtswettbewerbe ein, die mitimmer wieder überraschenden Ergebnissen eine weitereinnerstädtische Kommunikation anregten und so zumBestandteil einer städtischen Erinnerungskultur würden.Dies zeige sich in Münster beispielsweise an Arbeiten zurGeschichte des Nationalsozialismus, zur Geschichte derZwangsarbeit oder auch an Beiträgen zur Sozial- undWirtschaftsgeschichte (z. B. der Wettbewerb „Unser Ort –Heimat für Fremde?”). Sein Fazit : Sowohl bei der Verwal-tung, im Rat und auch in der Stadtöffentlichkeit sei unbe-stritten, dass das Stadtarchiv eine wichtige Funktion imBereich von Schule und Kultur ausübe und die städtischeErinnerungskultur dadurch außerordentlich positivbeeinflusst werde.

Eine Referentengruppe, bestehend aus StudiendirektorGünther Heidt, Gymnasium Saarburg, sowie den Studen-ten und ehemaligen Wettbewerbsteilnehmern SimoneArends, Holger Brittmacher und Sandra Prinz, berich-tete über: „Lange Wege – kurzer Draht. Grenz-Archiver-

fahrungen von Schülerinnen und Schülern eines Gymna-siums im äußersten Westen von Rheinland-Pfalz”. Dabeikamen zum einen die Perspektive eines betreuenden Leh-rers, zum anderen die von Schülern zur Sprache. Heidterläuterte die Notwendigkeit der Vorbereitung vonArchivbesuchen mit den Schülern, z. B. durch Vorgesprä-che in den Archiven, erste Sichtungen von Findbüchern,Training der voraussichtlichen Quellenarbeit, Einführun-gen in die Paläographie, Leseübungen unterschiedlicherSchriften im Unterricht etc. Einen wichtigen Raum nahmdie Organisation der Archivbesuche ein, da von Saarburgaus, wo sich die Schule befindet, oftmals lange Wegezurückzulegen waren, die mit den Öffnungszeiten derEinrichtungen zu koordinieren waren. Da auch Archive inFrankreich wie z. B. die „Archives Départementales deMoselle” oder die „Archives Municipales” in Metzberücksichtigt werden müssen, spielen die Fremdspra-chenkenntnisse eine große Rolle.

Die ehemaligen Schüler berichteten über Schwierigkei-ten verschiedenster Art: z. B. Ausleihzettel auszufüllen,geeignete Quellen aufzufinden, Handschriften zu entzif-fern, Mikrofilm-Lesegeräte zu benutzen oder trotz langenSuchens keine brauchbare Überlieferung gefunden zuhaben. Herausgestellt wurde, dass diese Erfahrungen sichhinsichtlich des selbständigen Arbeitens letztendlich sehrpositiv ausgewirkt hätten. Ein besonderes Komplimenterhielt das Trierer Stadtarchiv: Die dort tätigen Damen hat-ten mehrfach auch zehn Minuten nach Dienstschluss nochoffene Ohren für ihre jungen Benutzer.

Es folgte eine angeregte Diskussion über die unter-schiedliche Behandlung von Archivbenutzern sowie Ser-viceaufgaben von Archiven zum einen. Zum anderenstand der „Bildungsauftrag der Archive” im Mittelpunkt.

Abschließend wurden alle Interessierten dazu eingela-den, an der „Europäischen Tagung für Archivpädagogik”,veranstaltet von der Europäischen Kommission, der Kör-ber-Stiftung und des Arbeitskreises „Archivpädagogikund Historische Bildungsarbeit im VdA”, teilzunehmen,die vom 19. bis 21. Juni 2003 in Bocholt stattfindet.

Ratingen Erika Münster-Schröer