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Mirina Grosz | Seraina Grünewald (Hrsg.) Festschrift für Rolf H. Weber Wandel Recht und

Rolf H. Weber war von 1995 bis 2016 Ordinarius an der ...Filmdarsteller George Clooney seinen Werbeslogan «Nespresso, what else?» in die Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit gestreut

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Page 1: Rolf H. Weber war von 1995 bis 2016 Ordinarius an der ...Filmdarsteller George Clooney seinen Werbeslogan «Nespresso, what else?» in die Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit gestreut

ISBN 978-3-7255-7400-1

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Rolf H. Weber war von 1995 bis 2016 Ordinarius an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Als herausragender Forscher und akademischer Lehrer hat er Aussergewöhnliches geleistet. In seinem wissenschaftlichen Werk hat er wiederholt vorherrschende disziplinäre Grenzen gesprengt; sein vielfäl-tiges und umfangreiches Schaffen umfasst Themen aus verschiedenen sowohl privatrechtlichen als auch öffentlich-rechtlichen Rechtsbereichen und schreckt auch nicht vor interdisziplinären Fragestellungen zurück. Seit jeher sind seine Forschungsschwerpunkte von seinem besonderen Interesse am gesellschaftlichen und technologischen Wandel geprägt. Aus Anlass seines 65. Geburtstags ehren ihn 15 seiner ehemaligen und gegenwärtigen Doktorierenden und Assistieren-den mit einer Festschrift mit dem Titel «Recht und Wandel», um diesen Aspekt seines Lebenswerks in unterschiedlichen Rechtsbereichen aufzugreifen. Welche Grenzen das Recht Neuerungen und Veränderungen setzt bzw. wie es gezielt als Steuerungsinstrument Wandel fördern kann, sind nur einige der Fragen, die in diesem Sammelwerk angesprochen werden.

Mirina Grosz | Seraina Grünewald (Hrsg.)

Festschrift für Rolf H. Weber

Wandel Rechtund

B402455-FS Weber Recht und Wandel_DUZ.indd 1,3,5 12.08.16 13:10

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Recht und WandelFestschrift für Rolf H. Weber

Herausgegeben von

Mirina Grosz Dr. iur., Rechtsanwältin, Lehrbeauftragte im Fachbereich Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät der Universität Basel

und

Seraina GrünewaldProf. Dr., Rechtsanwältin, Assistenzprofessorin für Finanzmarktrecht an der Universität Zürich

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, vorbehalten. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmun-gen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.

© Schulthess Juristische Medien AG, Zürich · Basel · Genf 2016 ISBN 978-3-7255-7400-1

www.schulthess.com

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Inhaltsübersicht

Klimaabgaben, Stromabgaben, Energieabgaben – Rechtliche Verhaltenssteuerung hin zur Energiewende? ............................................ 1 MIRINA GROSZ

Zuerst der Freihandel dann die Moral? Konsumentenschutzrechtliche Tendenzen im internationalen Handelsrecht ............................................................................................... 41 RIKA KOCH

Die Information im Wandel des Informations- und Kommunikationsrechts .............................................................................. 67 LENNART CHROBAK / DOMINIC OERTLY

Öffentlicher Rundfunk – Quo Vadis? ....................................................... 91 ULRIKE I. HEINRICH

Entstauben oder Entsorgen: Die Figur der Person der Zeitgeschichte hat ausgedient – eine Neupositionierung tut Not .......... 111 RENA ZULAUF / MAJA SIEBER

Die Zukunft des Datenschutzes in einer globalisierten Welt ................ 147 DOMINIC N. STAIGER

Cross Border Cloud Computing und Discovery-Risiken ...................... 165 MICHAEL VLCEK

Produktkompatibilität – Systemschutz durch Immaterialgüterrechte? ........................................................................... 181 DIRK SPACEK

Wettbewerbsverbote als Ancillary Restraints beim Unternehmenskauf ................................................................................... 225 STEPHANIE VOLZ

Negativzinsen im Aktiv- und Passivgeschäft von Banken ..................... 245 JEAN-MARC SCHALLER

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Inhaltsübersicht

X

Rethinking Bank Corporate Governance: Why We Should not Dismiss (Quasi-) Partnership Models ..................................................... 275 VALÉRIE MENOUD

Basisinformationsblatt: Gute Produktinformation oder «Bett des Prokrustes»?.............................................................................................. 295 RAINER BAISCH

Reputation im Finanzmarktrecht............................................................ 325 THOMAS ISELI

Ein Staatsfonds für die Schweiz? ............................................................ 353 SERAINA GRÜNEWALD

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Produktkompatibilität – Systemschutz durch Im-materialgüterrechte?

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung ....................................................................................................... 183 II. Begriff der Kompatibilität .............................................................................. 185 III. Die Kompatibilität und das Patentrecht .......................................................... 186

1. Rechtliche Grundlagen ............................................................................. 186 2. Ausgewählte Rechtsprechung zur Kompatibilität im Patentrecht ............ 190 3. Patentrechtliche Prüfungsansätze zur Kompatibilität ............................... 193

IV. Die Kompatibilität und das Markenrecht ....................................................... 194 1. Rechtliche Grundlagen ............................................................................. 194 2. Bundesgerichtsentscheid «Lego III» ........................................................ 197 3. Bundesgerichtsentscheid «Nespresso» ..................................................... 200 4. Weitere Rechtsprechung zur Kompatibilität im Markenrecht .................. 203 5. Markenrechtliche Prüfungsansätze zur Kompatibilität ............................. 204

V. Die Kompatibilität und das Designrecht ........................................................ 206 1. Rechtliche Grundlagen ............................................................................. 206 2. Ausgewählte Rechtsprechung zur Kompatibilität im Designrecht ........... 209 3. Designrechtliche Prüfungsansätze zur Kompatibilität .............................. 211

VI. Die Kompatibilität und das Urheberrecht ....................................................... 214

–––––––––––––– ∗ Dr. iur., LL.M., Rechtsanwalt, Zürich. Der Autor dankt Frau RAin, Dr.iur. Saskia Eschmann für ihre markenrechtliche Ana-

lyse zur Kompatibilität in: Aktuelle Juristische Praxis (AJP) 12/2011, 1639 ff. und Herrn RA, Prof. Dr. iur., Executive M.B.L. – HSG, Jürg Simon, in Erinnerung an spannende Patentprozesse zur Kompatibilität.Weiterer Dank gebührt Frau MLaw Sa-har Milani für die kritische Durchsicht des Manuskripts.

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VII. Die Kompatibilität und das Lauterkeitsrecht .................................................. 215 1. Rechtliche Grundlagen ............................................................................. 215 2. Ausgewählte Rechtsprechung zur Kompatibilität im UWG ..................... 217 3. Prüfungsansätze zur Kompatibilität im UWG .......................................... 220

VIII. Fazit ................................................................................................................ 221

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I. Einleitung Der Ausdruck «Kompatibilität» (oder «Interoperabilität») hat in den letzten Jahren einen starken Bedeutungszuwachs erlebt. Obwohl der Begriff kein neuer ist, hängt seine mediale Präsenz eng mit dem Aufstieg US-amerikanischer Technologieunternehmen zusammen. Eine Ursache bildete z.B. der Vorwurf an das US-amerikanische Unternehmen Microsoft, Schnitt-stelleninformationen seines Betriebssystems nicht ausreichend offenzulegen und dadurch die kompatible Interaktion mit anderen Betriebssystemen zu erschweren.1 Dieser Vorwurf mündete in einem kartellrechtlichen Verfahren, das vor dem Europäischen Gerichtshof mit einem Entscheid zu Lasten von Microsoft abgeschlossen wurde. Microsoft wurde unter Zwangsgeld ver-pflichtet, seinen Konkurrenten zu angemessenen Bedingungen Zugang zu Interoperabilitätsinformationen zu gestatten.2 Eine ähnliche Stossrichtung beschreitet derzeit die EU-Kommission auf politischer Ebene. Sie fordert von diversen Mobilfunkgeräteherstellern die Einführung eines europa weit einheitlichen Standards kompatibler Handy-Ladegeräte ab Jahresbe-ginn 2017.3

Kompatibilität hat aber nicht nur im virtuellen Informatiksektor, sondern auch in der realen Produktionswelt an Relevanz gewonnen. Seitdem der Filmdarsteller George Clooney seinen Werbeslogan «Nespresso, what else?» in die Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit gestreut hat, dürfte jedem Men-schen das raffinierte Kaffeemaschinen- und -kapselsystem des Unternehmens Nestlé bekannt sein. Es hat sich als Erfolgsprodukt in privaten Haushalten und in der Unternehmenswelt durchgesetzt. Aufsehen erregte Nestlé mit der Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens gegen das Schweizer Unternehmen Denner, als letzteres begann, mit Nespresso-Kaffeemaschinen kompatible

–––––––––––––– 1 Siehe dazu J. PALFREY/U. GASSER, Interop, The Promise and Perils of Highly Inter-

connected Systems, New York, 2012, 25 ff. mit allgemeinen Ausführungen zur In-teroperabilität von Informatiksystemen.

2 Siehe Entscheid der EU-Kommission vom 12. Juli 2006 in Sachen T-201/04: Die EU-Kommission stellte fest, dass Microsoft seiner Verpflichtung zur Offenlegung von Schnittstellen nicht ausreichend nachgekommen war und verhängte für den Zeit- raum vom 16. Dezember 2005 bis 20. Juni 2006 eine Busse in der Höhe von EUR 280.5 Millionen.

3 Siehe z.B. H. STEIER, Einheitliche Ladegeräte für Handys ab 2017, Neue Zürcher Zeitung vom 13. März 2014, verfügbar unter: <http://www.nzz.ch/digital/einheitliche-ladegeraete-fuer-handys-ab-2017-1.18262317>.

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Denner-Kaffeekapseln herzustellen und zu vertreiben. Nestlé stützte sein Vorgehen unter anderem auf eine für Kaffeekapseln beanspruchte Formmar-ke.4 Weitere Prozesse wurden zwischen denselben Parteien auf patentrechtli-cher Basis ausgefochten.5

Wer die bisherige Rechtsprechung des Immaterialgüterrechts studiert, wird feststellen, dass ähnliche Auseinandersetzungen schon in der Vergangenheit vorgefallen sind, z.B. bei kompatiblen Ersatzbestandteilen für Tubenköpfe, Rasierklingen oder Scharnieren für Fenster- und Türflügel.6 Die Problematik ist nicht so neu wie sie erscheint. Vielmehr scheint sie phasenweise «einge-schlafen» und im Wandel der Zeit in spezifischen Wirtschaftssegmenten wieder «aufgewacht» zu sein. In diesem Zusammenhang wird oft eine fun-damentale Kritik am Immaterialgüterrecht laut. Drei Thesen sind dabei weit verbreitet:7

- Immaterialgüterrechte blockieren den Wettbewerb und verhindern den Vertrieb kompatibler Ersatzprodukte;

- mit Immaterialgüterrechten wird eine «Abschottung» von Produkt-Systemen vor kompatibler Ausseneinwirkung erzwungen;

–––––––––––––– 4 Vgl. die zwischenzeitlich für nichtig erklärte Formmarke von Nestlé CH-Nr. P-486

889, verfügbar unter: <www.swissreg.ch>. 5 Zur Historie des markenrechtlichen Verfahrens siehe auch Handelsgericht des Kan-

tons St. Gallen vom 10. Januar 2011 (HG.2011.10-HGP). Zur Historie des patent-rechtlichen Verfahrens siehe BGE 137 III 324 mit Hinweisen auf das vorinstanzliche Verfahren vor dem Schweizer Bundespatentgericht.

6 Siehe Handelsgericht des Kantons Zürich vom 22. November 1998, sic! – Zeitschrift für Immaterialgüter-, Informations- und Wettbewerbsrecht 1999, 148 sowie Blätter für Zürcherische Rechtsprechung (ZR) 98/1999, 120 ff., 127 («Tubenkopf»); BGE 73 II 194 ff. («Gillette-Rasierklingen»); BGE 87 II 54 ff. («Scharniere für Fenster- und Türflügel»).

7 Zum Begriff des «Systemmarkts» siehe z.B. Vorabklärungen der schweizerischen Wettbewerbskommission zu Service- und Wartungsabonnomenten für Aufzüge in Recht und Politik des Wettbewerbs (RPW) 2011/1, 77 ff. und zu Netzwerkgeräte Cis-co Systems in RPW 2014/2, 353 ff. Siehe auch z.B. die geäusserte Kritik von A. RUSCH, Kunst am Fuss, Aktuelle Juristische Praxis (AJP) 3/2015, 545 ff. mit Be-zugnahme auf markenrechtlich geschützte Form- und Farbgestaltungen und deren Auswirkungen auf den Innovationswettbewerb. Siehe auch allgemein M. JOVANOVIC, Die kartellrechtlich unzulässige Lizenzverweigerung, Immaterialgüter als Essential-Facilities: Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen, Diss., Zürich/Basel/Genf 2007, 30 ff.

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- nur das Kartellrecht kann – und muss – hier ergänzend eingreifen.

Der Autor erlaubt sich die kritische Gegenfrage: Stimmt das wirklich? Eine eindeutige Antwort darauf wird der vorliegende Beitrag nicht erbringen kön-nen. Denn die Kompatibilitätsdebatte ist nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine faktisch geprägte. Es sind letztlich die Marktteilnehmer selbst, die entscheiden ob, wann und wie sie ihre Immaterialgüterrechte für oder gegen Kompatibilitätszwecke effektiv einsetzen. Dennoch können und sollen die drei Thesen mit Blick auf die herrschende Immaterialgüterrechtsordnung und Rechtsprechung dogmatisch kritisch hinterfragt werden. Dieser Fragestellung soll sich der Beitrag nachfolgend widmen.

II. Begriff der Kompatibilität Der Ausdruck «Kompatibilität» ist ein technisch und wirtschaftlich geprägter Terminus. Er kennzeichnet die Austauschbarkeit, Vereinbarkeit und Gleich-wertigkeit von Produkteigenschaften. Technisch gesehen lässt sich Kompati-bilität noch enger definieren als ein Miteinanderfunktionieren von Teilen aufgrund einer gleichen oder ähnlichen Bauform.8

Welche rechtlichen und wirtschaftlichen Interessen stehen bei der Kompati-bilität auf dem Spiel? Aus der Sicht von Konsumenten bringt der Ausdruck Kompatibilität nur Positives mit sich: Kompatibilität fördert die Substituier-barkeit durch Ersatzprodukte und damit die Benutzerfreundlichkeit. Für den Anbieter eines kompatiblen Ersatzprodukts impliziert der Begriff Kompatibi-lität eine Gelegenheit zur Marktpenetration, d.h. zur Überwindung vorbeste-hender, von Konkurrenten geschaffenen Marktbarrieren. Für den Original-hersteller eines Produkts oder Produktesystems bringt Kompatibilität mit anderen Konkurrenzerzeugnissen erhöhten Wettbewerbsdruck mit sich. Die Kompatibilitätsdebatte ist in diesem Dreiecksverhältnis anzusiedeln. Es sind letztlich diese Interessen und Motive, die wettbewerbspolitisch auf dem Spiel stehen. Sie sind die Antriebsfedern der jeweiligen Akteure.

Der Ausdruck Kompatibilität lässt sich in immaterialgüterrechtlichen Erlas-sen nicht auffinden. Wie nachfolgend gezeigt wird, bestehen aber gesetzliche Vorschriften und Hinweise in Lehre und Rechtsprechung, welche diese Thematik aufgreifen.9 Ein Blick in die Lehre und Rechtsprechung wird zei-–––––––––––––– 8 Duden, Das Fremdwörterbuch, 11. Aufl., Berlin 2015, 573. 9 Siehe dazu später im Einzelnen unter Ziff. III. ff.

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gen: Die immaterialgüterrechtlichen Grundlagen und die Rechtsprechung sprechen sich erstaunlich oft pro Kompatibilität aus. Die Kompatibilitätsde-batte ist zudem nicht so neu wie sie erscheint. Sie ist nur gegenwärtig und es ist im Grunde ein Zeugnis unserer beschränkten historischen Wahrneh-mungsfähigkeit, dasjenige, das uns gegenwärtig beschäftigt, immer wieder gerne als «neu» zu bezeichnen. Oder wie TIM WU in einem ähnlichen Zu-sammenhang einmal sagte: «…the place we find ourselves now is a place we have been before, albeit in different guise».10

III. Die Kompatibilität und das Patentrecht

1. Rechtliche Grundlagen

Das Patentrecht wird im schweizerischen Bundesetz über die Erfindungspa-tente (PatG)11 geregelt. Gemäss Art. 1 Abs. 1 PatG werden für neue und gewerblich anwendbare Erfindungen Erfindungspatente erteilt. Was sich in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt, ist aber nicht paten-tierbar (Art. 1 Abs. 2 PatG). Art. 1 PatG gibt die positiven Schutzvorausset-zungen eines Patents wieder: Neuheit, Nicht-Naheliegen und gewerbliche Anwendbarkeit einer technischen Erfindung. Diese Voraussetzungen sind materielle Erfordernisse jedes Patents. Allerdings werden sie von den zu-ständigen Registerbehörden nicht geprüft. Die Prüfung im patentrechtlichen Anmeldeverfahren beschränkt sich auf formelle Kriterien und auf das Vor-liegen gesetzlicher Ausschlussgründe (Art. 59 Abs. 2 i.V.m. Art. 1, 1a und 2 PatG).12 Patente werden ohne Gewährleistung des Staates erteilt (Art. 1 Abs. 3 PatG).13 Art. 1a, 1b und 2 PatG geben eine Auflistung von Elementen wieder, die vom Patentschutz aus rechtspolitischen Überlegungen ausge-schlossen sind, z.B. der menschliche Körper, Gensequenzen, biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen und Tieren, Erfindungen, deren Ver-–––––––––––––– 10 T. WU, The Master Switch, The Rise and Fall of Information Empires,

New York 2010, 14; siehe auch N. FERGUSON, Civilization, The West and the Rest, London 2011, Seitennummerierung «xix» ff.

11 Bundesgesetz über die Erfindungspatente vom 25. Juni 1954, SR 232.14. 12 A. BRINER, Patentierungsvoraussetzungen, in: R. von Büren/L. David (Hrsg.),

Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht (SIWR), Band IV, Basel/Genf/München 2006, 49 ff.

13 Siehe zum Formal- und Vorprüfungsverfahren im Einzelnen auch W. STIEGER, Das Schweizerische Patenterteilungsverfahren – Rückblick und Vorschau, in: W. Larese (Hrsg.), Kernprobleme des Patentrechts, Bern 1988, 92.

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wertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstossen würde, oder Verfahren der Chirurgie, Therapie und Diagnostik. Dabei han-delt es sich um die sog. negativen Schutzausschlussgründe der Patentie-rung.14 Sind die positiven Schutzvoraussetzungen eines Patents nicht erfüllt oder liegen gar negative Schutzausschlussgründe vor, lebt ein einmal erteil-tes Patent mit einem latenten Nichtigkeitsrisiko. Denn gemäss Art. 26 PatG ist jedermann mit nachweisbarem Interesse jederzeit berechtigt, auf Klage hin die Nichtigkeit eines Patents festzustellen, wenn dieses den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht.15

Art. 8 PatG hält fest: «Das Patent verschafft seinem Inhaber das Recht, an-deren zu verbieten, die Erfindung gewerbsmässig zu benützen». Dies be-schreibt das Ausschliesslichkeitsrecht eines Patentinhabers. Der konkrete Schutzumfang eines Patents ist einzelfallweise und anhand der in der hinter-legten Patentschrift ausformulierten Patentansprüche mittels Auslegung zu ermitteln.16

Für die Frage der Kompatibilität erweisen sich das Ausschliesslichkeitsrecht und der konkrete Schutzumfang eines Patents als entscheidend. Ein Teil der Lehre subsumiert nämlich unter das Ausschliesslichkeitsrecht die Herstel-lung von Ersatzteilen.17 Wer ein Ersatzteil zu einem patentrechtlich ge-schützten Erzeugnis herstellt und gewerblich anbietet, verletzt demgemäss dieses Patent. Die Lehrmeinungen zum Ausschliesslichkeitsrecht i.S.v. Art. 8 PatG erweisen sich denn auch als differenzierter: So schreibt z.B. HEINRICH:

«Wenn das Ersatzteil als solches unter die Ansprüche eines Patents fällt und alle Merkmale wenigstens eines Patentan-spruchs erfüllt, (…) liegt eine Patentverletzung vor. (…). Wenn andererseits das Ersatzteil überhaupt nicht zum patent-

–––––––––––––– 14 Zu den einzelnen Ausschlussgründen und zum rechtspolitischen Hintergrund siehe

auch BRINER (Fn. 12), 72 ff. 15 Zur Nichtigkeitsklage im Patentrecht siehe auch C. ENGLERT, Legitimation, Zustän-

digkeit und Kognition, in: W. Larese (Hrsg.), Kernprobleme des Patentrechts, Bern 1998, 286 f.

16 Siehe dazu T. CALAME, Schutzbereich des Patents, in: R. von Büren/L. David (Hrsg.), Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht (SIWR), Band IV, Basel/Genf/München 2006, 408 ff.

17 Siehe dazu z.B. P. HEINRICH, Kommentar zum Schweizerischen Patentgesetz und den entsprechenden Bestimmungen des Europäischen Patentübereinkommens, 2. Aufl., Bern 2010, Art. 8 N 8.07.

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geschützten Teil der Vorrichtung (z.B. Maschine) gehört, liegt keine Patentverletzung vor. (…). Problematisch sind diejeni-gen Fälle, in denen die Erfindung darin besteht, mehrere Tei-le in sinnvoller Weise zu kombinieren. (…). Wenn dann ein Teil ausgewechselt wird, das funktionell zur Erfindung ge-hört, (…) fällt die Lieferung des Ersatzteils (…) unter das Pa-tent».18

Die patentrechtliche Beurteilung kompatibler Ersatzprodukte erweist sich somit als wesentlich komplexer. Sie erfordert zuerst eine Prüfung, ob ein gegenständliches Ersatzprodukt die technischen Eigenschaften von mindes-tens einem Patentanspruch aufweist. Nebst einer solchen punktuellen Beur-teilung ist auch eine holistische Beurteilung erforderlich. Ein kompatibles Ersatzprodukt kann keine Eigenschaften einzelner Patentansprüche aufwei-sen, indes eine identische Kombination unterschiedlicher Eigenschaften wie-dergeben. Die sog. «Kombinationserfindung» ist im Patentrecht weitgehend anerkannt.19 Bei der Kombinationserfindung besteht die Eigentümlichkeit nicht im Schutz einzelner technischer Eigenschaften, sondern im Zusam-menwirken verschiedener, selbständiger Eigenschaften.20 Es handelt sich um Fälle, bei denen zwei oder mehrere aus dem Stand der Technik vorbekannte – also nicht geschützte – Elemente auf neue Art und Weise derart kombiniert werden, dass sie funktionell zusammenwirken (im Unterschied zur sog. «Aggregationserfindung»).21

Einen ähnlichen Ansatz wie HEINRICH vertreten BLUM/PEDRAZZINI.22 Noch deutlicher spricht sich STIEGER dafür aus, dass die Auswechslung eines durch ein Patent nicht selbständig geschützten, aber möglicherweise erfin-dungsfunktionalen Ersatzprodukts «grundsätzlich zulässig» sei. Die Grenze des Zulässigen sei erst überschritten, wenn die Ausbesserung/Reparatur wirt-schaftlich einer Neuherstellung der gesamten patentgeschützten Vorrichtung

–––––––––––––– 18 HEINRICH (Fn. 17), Art. 8 N 23 ff. 19 R. BLUM/M. M. PEDRAZZINI, Das Schweizerische Patentrecht, 2. Aufl., Bern 1975,

144. 20 BLUM/PEDRAZZINI (Fn. 19), 142. 21 HEINRICH (Fn. 17), Art. 1 N 133. 22 BLUM/PEDRAZZINI (Fn. 19), 142 ff.

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gleichkomme.23 Weiter bemerken STIEGER (für das schweizerische Patent-recht) und BERNHARDT/KRASSER (für das deutsche Patentrecht), die Herstel-lung sog. «erfindungsfunktioneller Teile» greife noch nicht in das Aus-schliesslichkeitsrecht von Art. 8 PatG ein. Ein Eingriff sei erst gegeben, wenn ein (Teil-)Produkt alle erfindungswesentlichen Merkmale einer Kom-binationsfunktion aufweise. Es müsse ein Verhalten vorliegen, das der Her-stellung der ganzen Sache gleichkomme (sog. «Baukastenprinzip»).24

Eine weitere, vom materiellen Schutzbereich des Patents losgelöst zu prü-fende Thematik ist der Tatbestand der Patentverletzung. Der spezifische Verletzungsakt wird in Art. 66 PatG separat geregelt. Sanktioniert sind so-wohl direkte wie auch indirekte Patentverletzungshandlungen: Art. 66 lit. a PatG hält die direkte Patentverletzung fest («Wer die patentierte Erfindung widerrechtlich benützt»). Art. 66 lit. d PatG hält die indirekte Patentverlet-zung fest («Wer zu diesen Handlungen anstiftet, bei ihnen mitwirkt, ihre Begehung begünstigt oder erleichtert»). Ein klassisches Anwendungsbeispiel für eine indirekte Patentverletzung ist das Anbieten und Inverkehrbringen von Mitteln, die zur Verwendung in einem patentrechtlich geschützten Pro-dukt oder Verfahren geeignet und bestimmt sind.25 In solchen Konstellatio-nen ist die Rechtswidrigkeit dieser Handlungen akzessorischer Natur, d.h. die Handlungen sind rechtswidrig, wenn die spätere Verwendung dieser Mittel in einem Produkt oder Verfahren eine Patenverletzung darstellen.26 Dies zeigt: Selbst wer isoliert betrachtet patentunbelastete Erzeugnisse ver-treibt, kann unter Umständen eine indirekte Patentverletzung begehen, wenn diese später zur Verwendung in einem patentrechtlich geschützten Produkt oder Verfahren geeignet und bestimmt sein könnten.27 Die rechtliche Beur-

–––––––––––––– 23 W. STIEGER, Die Rechte aus dem Patent und aus der Patentanmeldung, in: C. Bert-

schinger/P. Münch/T. Geiser (Hrsg.), Schweizerisches und europäisches Patentrecht, Basel/Genf/München 2002, Rz. 11.56.

24 STIEGER (Fn. 23), Rz. 11.59; W. BERNHARDT/R. KRASSER, Patentrecht, Ein Lehr- und Handbuch zum deutschen Patent- und Gebrauchsmusterrecht, Europäischen und in-ternationalen Patentrecht, 7. Aufl., München 2016, 544 ff.

25 Siehe M. M. PEDRAZZINI/C. HILTY, Europäisches und schweizerisches Patent- und Patentprozessrecht, 3. Aufl., Bern 2008, 340; siehe auch CALAME (Fn. 16), 457.

26 Siehe dazu z.B. BGE 129 III 588 ff., («Schiffchenstickmaschine») sowie STIEGER (Fn. 23), Rz. 11.153 mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung.

27 Siehe dazu z.B. BGE 129 II 591 sowie darauf referenzierend CALAME (Fn. 16), 458: «Der Tatbestand von PatG 66 d ist unstreitig erfüllt, wenn an sich patentfreie Er-zeugnisse ausdrücklich zur Verwendung für den patentierten Zweck angeboten wer-

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teilung indirekter Verletzungshandlungen ist stark vom Einzelfall abhän-gig.28 Um diese Erläuterungen nun etwas konkreter zu vertiefen, soll nach-folgend der Blick auf ausgewählte Rechtsprechungsbeispiele gerichtet wer-den.

2. Ausgewählte Rechtsprechung zur Kompatibilität im Pa-tentrecht

Im Entscheid über vorsorgliche Massnahmen «Metallbeschichtete Diaman-ten»29 befand das Handelsgericht Zürich, das Anpreisen von Waren zur spä-teren Verwendung für einen patentierten Zweck sei rechtsverletzend.30 Streitgegenständlich war, ob der Vertrieb von Schleifmitteln, die in Kunst-stoffbindemittel eingebettete Diamanten enthielten, das Patent der Klägerin verletzt. Beim Patent der Klägerin31 handelte es sich um ein kombiniertes Stoff- und Verfahrenspatent zur Herstellung von Schleifmitteln, demgemäss synthetische Diamanten mit einer elektrisch leitenden Metallschicht überzo-gen werden. Die Beklagte vertrieb (nur) nickel- und kupferbeschichtete syn-thetische Diamantkristalle. Sie vertrat dabei den Standpunkt, dass sie durch den Vertrieb dieser Erzeugnisse das Patent der Klägerin nicht verletze. Eine Patentverletzung werde höchstens von ihren Abnehmern begangen, wenn diese die Diamanten als Schleifmittel verwenden oder ein Verfahren zur Herstellung von Schleifmitteln daraus entwickeln würden.32 Das Handelsge-richt Zürich befand, es liege zwar grundsätzlich keine Patentverletzung vor, wenn ungeschützte Stoffe, konstruktive Elemente oder Vorrichtungen zur Ausübung eines patentierten Verfahrens geliefert würden. Dies gelte aber nicht, wenn ein Warenlieferant sie ausdrücklich zur Verwendung für den patentierten Zweck anpreise. Im vorliegenden Fall erschien es glaubhaft,

den oder wenn sich diese zu keinem anderen Zweck eignen als zur patentgemässen Verwendung».

28 Siehe mit Hinweisen zu weiterführender Kasuistik z.B. A. HESS-BLUMER, Teilnahme-handlungen im Immaterialgüterrecht unter zivilrechtlichen Aspekten, sic! – Zeitschrift für Immaterialgüter-, Informations- und Wettbewerbsrecht 2003, 103 f.

29 Handelsgericht des Kantons Zürich, «Metallbeschichtete Diamanten I» und Handels-gericht des Kantons Zürich «Metallbeschichtete Diamanten II», beide besprochen und auszugsweise wiedergegeben in: Schriften zum Medien- und Immaterialgüterrecht (SMI) 1984, 235 ff. und 239 ff.

30 So auch erwähnt in PEDRAZZINI/HILTY (Fn. 25), 340 f. 31 Patent CH-Nr. PS 468243 (mittlerweile ausgelaufen). 32 HGer ZH, «Metallbeschichtete Diamanten I» (Fn. 29), 237.

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dass die Beklagte einer Vielzahl von Schleifmittelherstellern die Herstellung patentverletzender Schleifmittel ermöglichen und so den Patentschutz der Klägerin aushöhlen könnte.33 Die Beklagte hatte es insbesondere unterlassen darzulegen, wie die Diamanten von ihren Abnehmern benutzt werden könn-ten, ohne das Verfahrenspatent der Klägerin zu verletzen.34 Eine indirekte Patentverletzung i.S.v. Art. 66 lit. d PatG wurde deshalb bejaht.35 Damit fällte das Handelsgericht Zürich ein Urteil, das sich gegen die Zulässigkeit des Vertriebs von Ersatzprodukten ausspricht. Es ist im Endergebnis als Urteil contra Kompatibilität zu bewerten.

In einem späteren Entscheid «Tubenherstellungsmaschine»36 befand das Handelsgericht, dass keine Patentverletzung vorliege, wenn ein Dritter pa-tentrechtlich nicht beanspruchte und nicht geschützte Maschinenwerkzeuge für eine Maschine liefert, die bezüglich anderer Merkmale patentiert ist.37 In diesem Urteil war streitgegenständlich, ob die Lieferung von Matrizen, Dor-nen, Stempeln und Materialgebern eine Begünstigung zur Verletzung einer patentgemässen Kombinationserfindung darstelle, und zwar eines Verfahrens zur Herstellung von Formkörpern. Den Matrizen, Stempeln und Materialge-bern kam nach Auffassung des Handelsgerichts innerhalb der patentgemäs-sen Kombination eine funktional wichtige Rolle zu. Obwohl die Beklagte diese Teile millimetergetreu nachbaute, wurden eine direkte und eine indi-rekte Patentverletzungshandlung hingegen verneint. Die Werkzeuge verwirk-lichten kein einziges der im Patentanspruch enthaltenen Gestaltungs- bzw. Kombinationsmerkmale.38 Mit diesem Urteil sprach sich das Handelsgericht Zürich somit für die Zulässigkeit kompatibler Ersatzprodukte, mithin im Endergebnis pro Kompatibilität aus.

–––––––––––––– 33 HGer ZH, «Metallbeschichtete Diamanten I» (Fn. 29), 238. 34 HGer ZH, «Metallbeschichtete Diamanten II» (Fn. 29), 244. 35 HGer ZH, «Metallbeschichtete Diamanten I» (Fn. 29), 238. 36 Handelsgericht des Kantons Zürich vom 22. Oktober 1998 («Tubenherstellungsma-

schine»), besprochen und auszugsweise wiedergegeben in: Blätter für Zürcherische Rechtsprechung (ZR) 98/1999, 120 ff., 125 ff. sowie Handelsgericht des Kantons Zü-rich vom 22. Oktober 1998 («Tubenkopf»), sic! – Zeitschrift für Immaterialgüter-, Informations- und Wettbewerbsrecht 1999, 148 ff.

37 Auch erwähnt in PEDRAZZINI/HILTY (Fn. 25), 340 f. mit weiteren Ausführungen. 38 Siehe dazu Auszüge aus Handelsgericht des Kantons Zürich vom 22. Oktober 1998

(«Tubenkopf»), sic! – Zeitschrift für Immaterialgüter-, Informations- und Wett- bewerbsrecht 1999, 151 f.; STIEGER (Fn. 23), Rz. 11.166 mit einer Zusammenfassung sowie PEDRAZZINI/HILTY (Fn. 25), 340 mit weiteren Ausführungen.

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In der deutschen Rechtsprechung lassen sich ähnliche Urteile auffinden, die sich ebenfalls gestützt auf ähnliche Überlegungen entweder contra oder pro Kompatibilität aussprachen, je nach konkreter Auslegung des Schutzumfangs des klägerischen Patents.39

Andere Rechtsprechungsbeispiele haben ähnliche Dispute behandelt, die aber weniger mit kompatibilitätsbezogener Argumentation, sondern mit bra-chialer Methodik gelöst wurden. Wie eingangs erwähnt, müssen patentierba-re Erfindungen neu und gewerblich anwendbar sein. Sie dürfen sich nicht aus dem Stand der Technik ergeben (Art. 1 PatG). Sind diese Voraussetzungen bei einem Patent nicht erfüllt, kann ein gesamtes Patent unter gegebenen Voraussetzungen widerklageweise für nichtig erklärt werden. Genau dies wurde z.B. im Bundesgerichtsentscheid «Scharniere für Fenster- und Türflü-gel» vorgenommen.40 In diesem Entscheid war die Nachahmung eines Fens-ter- und Türscharniers streitgegenständlich. Der Kläger produzierte und ver-trieb ein Scharnier für Fenster- und Türflügel und hatte ein schweizerisches Patent für den Scharniermechanismus erwirkt. Die Beklagte verkaufte ein dem Erzeugnis der Klägerin ähnliches Scharnier in denselben Grössen, das mit den vom Kläger zwecks Montage seines Scharniers vertriebenen Werk-zeugen kompatibel eingesetzt werden konnte. Das Handelsgericht Zürich erklärte in Gutheissung der Widerklage der Beklagten das klägerische Patent als nichtig und wies damit auch alle übrigen geltend gemachten patentrecht-lichen Ansprüche des Klägers ab. Dies zeigt: Auch die allgemeinen Schutz-voraussetzungen eines Patents können Grundlage eines brachialen Gegenan-griffs bilden. Sind die allgemeinen Voraussetzungen eines kompatibilitäts-verhindernden Patents nicht erfüllt, kann dieses in seiner Gesamtheit via Nichtigkeitsklage «zerstört» werden. Die Frage der Kompatibilität wird dadurch im Keim erstickt.

Die Kasuistik zeigt: Je nach Auslegung des Schutzumfangs bzw. des Aus-schliesslichkeitsrechts und Prüfung der Schutzvoraussetzungen eines Patents lässt sich im Einzelfall pro oder contra Kompatibilität argumentieren. Dies erfordert hohen technischen Sachverstand und geschickte Argumentation. Im Weiteren gilt: Selbst wer sich bei der Herstellung kompatibler Ersatzproduk-–––––––––––––– 39 Siehe z.B. die Urteile des deutschen Bundesgerichtshofs (BGH): BGH («Flügel-

radzähler»), Zeitschrift für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR) 2004, 758 (contra Kompatibilität) sowie BGH («Laufkranz»), Zeitschrift für gewerb-lichen Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR) 2006, 837 (pro Kompatibilität).

40 BGE 87 II 54 ff.

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te ausserhalb des materiellen Schutzbereichs eines Patents bewegt, riskiert eine Rechtsverletzung zu begehen, wenn die spätere Verwendung von Er-satzprodukten eine Patentverletzung akzessorisch begünstigen, erleichtern oder dazu anstiften könnten (siehe Art. 66 lit. d PatG: indirekte Patentverlet-zung). Eine fallsituativ-konkrete Prüfung des indirekten Verletzungstatbe-stands unter Art. 66 lit. d PatG sollte einer materiellen, patentrechtlichen Beurteilung kompatibler Ersatzprodukte unter Art. 8 PatG deshalb immer vorbehalten bleiben.

3. Patentrechtliche Prüfungsansätze zur Kompatibilität

Aus den bislang gesichteten Gesetzesbestimmungen, Lehrmeinungen und der Kasuistik lässt sich ein patentrechtlicher Prüfungsansatz für kompatible Er-satzprodukte herauskristallisieren:41

(i) Bei der Herstellung kompatibler Ersatzprodukte ist in einem ers-ten Schritt zu prüfen, ob diese in den erfindungswesentlichen Inhalt eines Patents eingreifen oder nicht. Diese Frage muss im Einzelfall bzw. anhand der zugrundeliegenden Patentschrift und darin ausformulierten Patentansprüche überprüft werden. Eine pauschale Antwort gibt es nicht. Dem Juristen sind dabei die Hände gebunden, denn diese Fragen können nur von einem zu-gelassenen Patentanwalt42 abschliessend beurteilt werden. Je nach Ausgang der Prüfung kann für Ersatzprodukte sowohl pro als auch contra Kompatibilität argumentiert werden.

(ii) In einem zweiten Schritt ist kategorisch zu prüfen, ob beim streitgegenständlichen Patent allenfalls keine Aggregations-, sondern eine Kombinationserfindung vorliegt. Bei einer Kombi-nationserfindung ist zu prüfen, ob das Ersatzprodukt durch seine kompatible Interaktion mit dem Originalprodukt die erfin-dungswesentlichen Eigenschaften der patentrechtlich geschütz-ten Kombination (d.h. das konkrete Zusammenwirken von Ei-genschaften) aufweist oder nicht. Je nach Ausgang der Prüfung

–––––––––––––– 41 Siehe im Einzelnen oben Ziff. III.1. 42 Zum geschützten Berufstitel Patentanwalt und den entsprechenden Anforderungskrite-

rien Bundesgesetz über die Patentanwältinnen und Patentanwälte vom 20. März 2009 (Patentanwaltsgesetz, PAG; SR 935.62).

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kann für Ersatzprodukte sowohl pro als auch contra Kompatibi-lität argumentiert werden.

(iii) Schliesslich ist fallsituativ-konkret zu prüfen, ob das Herstellen und Inverkehrbringen eines kompatiblen Ersatzprodukts auf-grund der voraussichtlichen späteren Verwendung eine Patent-verletzung möglicherweise akzessorisch begünstigen, erleich-tern bzw. zu einer solchen anstiften könnte. Dies kann unter Umständen als indirekte Patentverletzung bewertet werden (Art. 66 lit. d PatG).

(iv) Ebenfalls nicht zu vernachlässigen ist die kritische Prüfung der Grundvoraussetzungen eines Patents. Patentierbare Erfindungen müssen neu und gewerblich anwendbar sein. Sie dürfen sich nicht aus dem Stand der Technik ergeben (Art. 1 PatG). Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, kann zu einer brachialen Lösung geschritten werden: Ein kompatibilitätsverhinderndes Patent kann in seiner Gesamtheit widerklageweise für nichtig erklärt werden. Auch dieses Instrument lässt sich im Endergeb-nis pro Kompatibilität (d.h. zugunsten eines kompatiblen Er-satzprodukts) einsetzen.

IV. Die Kompatibilität und das Markenrecht

1. Rechtliche Grundlagen

Das Markenrecht wird im schweizerischen Bundesetz über den Schutz von Marken und Herkunftsangaben (MSchG)43 geregelt. Gemäss Art. 1 MschG ist eine Marke ein «Zeichen, das geeignet ist, Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von solchen anderer Unternehmen zu unterscheiden». Dies gibt die positive Schutzvoraussetzung einer Marke wieder. Art. 2 lit. b MSchG schreibt sodann, dass «Formen, die das Wesen der Ware ausma-chen», und «Formen der Ware oder Verpackung, die technisch notwendig sind», vom Markenschutz ausgeschlossen sind. Dies beschreibt einen der sog. absoluten Schutzausschlussgründe. Absolute Ausschlussgründe können

–––––––––––––– 43 Bundesgesetz über den Schutz von Marken und Herkunftsangaben vom 28. August

1992, SR 232.11.

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einer Marke bereits im Anmeldeverfahren44 oder aber erst später im Rahmen einer zivilprozessualen Nichtigkeitsklage ihren Untergang bescheren.45 Schliesslich schreibt Art. 13 Abs. 2 MSchG, der Markeninhaber könne ande-ren verbieten, ein Zeichen zu gebrauchen, das nach Art. 3 Abs. 1 MSchG vom Markenschutz ausgeschlossen ist. Diese Bestimmung umschreibt den Schutzumfang einer Marke bzw. den konkreten Inhalt des markenrechtlichen Ausschliesslichkeitsrechts.46

Mit Blick auf die Kompatibilitätsdebatte erweist sich der absolute Aus-schlussgrund von Art. 2 lit. b MSchG als höchst relevant: Vom Marken-schutz ausgeschlossen sind «Formen, die das Wesen der Ware ausmachen und Formen der Ware oder Verpackung, die technisch notwendig sind». Wer somit in Erwägung zieht, die Form eines kompatiblen Ersatz- oder Teilpro-dukts als Marke zu schützen, ist potentiell mit Vorwürfen der Nichtigkeit konfrontiert, wenn sich diese Form für ein Produkt der betreffenden Art als technisch notwendig erweist. Umgekehrt ist demjenigen, der kompatible Ersatzprodukte herstellt, der Versuch nahegelegt, sich mit diesem Instrument gegen den Markeninhaber zur Wehr zu setzen.

Das Markenschutzgesetz nennt keine Legaldefinition des Begriffs der techni-schen Notwendigkeit. Auch die Botschaft zum Markenschutzgesetz liefert eher generische Erklärungen: «Buchstabe b nimmt die Form, die das Wesen der Ware (…) ausmacht sowie die technisch bedingte Form der Ware oder Verpackung vom Markenschutz aus. Dadurch soll vermieden werden, dass Waren- und Verpackungsformen als Marken monopolisiert werden, die zwar nicht Gemeingut (Bst. a) sind, die sich jedoch aufgrund der Art, Bestimmun-gen, Verwendungsweise usw. der betreffenden Ware geradezu aufdrängen. –––––––––––––– 44 Siehe dazu z.B. K. TROLLER, Grundzüge des Schweizerischen Immaterialgüterrechts,

2. Aufl., Basel/Genf/München 2005, 102 ff. 45 Zur widerklageweisen Geltendmachung der Nichtigkeit einer Marke siehe z.B.

L. DAVID/M. FRICK/O. M. KUNZ/M. U. STUDER/D. ZIMMERLI, Der Rechtsschutz im Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, in: R. von Büren/E. Marbach (Hrsg.), Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht (SIWR), Band I/2, 3. Aufl., Bern 2011, 61 und 125 ff.

46 Zum markenrechtlichen Ausschliesslichkeitsrecht bzw. zum Verbotsanspruch siehe auch TROLLER (Fn. 44), 185 ff. sowie E. MARBACH, Markenrecht, in: R. von Bü-ren/L. David (Hrsg.), Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht (SIWR), Band III/1, 2. Aufl., Bern 2009, Rz. 1451 ff. Der Verweis auf Art. 3 Abs. 1 MSchG ist als Hinweis auf die Lehre und Praxis zur Verwechselbarkeit eines Erzeugnisses mit einer Marke zu verstehen.

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Es wird Sache der Amts- und Gerichtspraxis sein, anhand von Einzelfällen die Kriterien für die Schutzfähigkeit von Formmarken festzulegen».47 Diese Ausführungen sind unpräzis, denn der Gesetzestext von Art. 2 lit. b MSchG sprach von Beginn seiner Legiferierung an von «technisch notwendig» und nicht «technisch bedingt».48 Der Ausdruck «technisch bedingt» wurde in der parlamentarischen Beratung bewusst auf Antrag der Nationalratskommission durch den Ausdruck «technisch notwendig» ersetzt. Massgeblich sollte sein, ob ein angestrebter technischer Zweck «durch andere zumutbare Gestal-tungsmöglichkeiten» erreicht werden kann oder nicht.49 Durchgesetzt hat sich darauf gestützt die Meinung, dass Art. 2 lit. b MSchG eine ergänzende Bestimmung für Formmarken gemäss Art. 2 lit. a MSchG darstellt (lit. a umschreibt den allgemeinen Ausschlussgrund von Zeichen, die «Gemeingut» sind, lit. b umschreibt spezifisch technisch notwendige Formen).50 Das Bun-desgericht bestätigte dies im Jahre 2003 sprichwörtlich: «Die besonderen Schutzausschlussgründe von Art. 2 lit. b MSchG konkretisieren spezifisch für Formmarken den Kern der absoluten Freihaltebedürftigkeit».51

Die Lehre spricht sich zum rechtspolitischen Hintergrund dieses Ausschluss-grundes deutlicher und konkreter aus: So äussern z.B. WANG, MEIS-SER/BOHREN, DAVID und WILLI mehr oder weniger einstimmig, dass funkti-onale Formen von Teilen eines Produktes unter Art. 2 lit. b MSchG vom Markenschutz ausgeschlossen sein sollten, wenn die «mechanische Kompa-tibilität» mit anderen Produkten darunter leidet.52 NOTH äussert zur Prüfung

–––––––––––––– 47 Botschaft zu einem Bundesgesetz über den Schutz von Marken und Herkunftsangaben

(Markenschutzgesetz, MSchG) vom 21. November 1990, BBl 1991, 1 ff., 20. 48 Siehe dazu Bundesgesetz über den Schutz von Marken und Herkunftsangaben (Mar-

kenschutzgesetz, MSchG) vom 28. August 1992, BBl 1992, 891 ff., 891. 49 Siehe dazu BGE 129 III 541, E. 3.2.2. 50 Siehe dazu M. STREULI-YOUSSEF, Zur Schutzfähigkeit von Formmarken, sic! – Zeit-

schrift für Immaterialgüter-, Informations- und Wettbewerbsrecht 2002, 795. 51 Siehe BGE 129 III 514, E. 2.2. 52 Siehe M. WANG, Die schutzfähige Formgebung, Eine Untersuchung der materiellen

Voraussetzungen des muster-, urheber- und markenrechtlichen Schutzes von Waren-formen, Diss., St. Gallen 1998, 349; D. MEISSER/D. BOHREN, Perpetuierter Patent-schutz durch Formmarken?, Schriften zum Medien- und Immaterialgüterrecht (SMI) 1995, 225 ff.; L. DAVID, Markenschutzgesetz, Muster- und Modellgesetz, Kommentar Schweizerisches Privatrecht, in: H. Honsell/N. Peter Vogt/L. David (Hrsg.), Kom-mentar zum Schweizerischen Privatrecht, Art. 2 N 48 (sinngemäss); C. WILLI, Mar-kenschutzgesetz, Systematische Darstellung und Kommentierung des Markenrechts

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der Eintragungsfähigkeit einer Marke unter den absoluten Ausschlussgrün-den von Art. 2 lit. b MschG ebenfalls deutlich: «Ist die Form der Ersatz- bzw. Bestandteile durch die Bestimmung der Ware oder durch die Notwen-digkeit der Kompatibilität mit der Hauptware vorgegeben, so ist ein strenge-rer Massstab angezeigt».53 Es bestehen keine Zweifel, dass der Gesetzgeber mit Art. 2 lit. b MschG bewusst Weichen gestellt hat. Die Kompatibilität ist dem Markenschutzgesetz nicht fremd. Um den Aspekt aber etwas konkreter zu beleuchten, soll nachfolgend ein Blick in ausgewählte Rechtsprechungs-beispiele geworfen werden.

2. Bundesgerichtsentscheid «Lego III»

Als einer der wohl bedeutendsten höchstrichterlichen Entscheide zur mar-kenrechtlichen Beurteilung der Kompatibilität erweist sich der Bundesge-richtsentscheid «Lego III».54 In diesem Entscheid lag dem Bundesgericht folgender Sachverhalt vor: Der dänische Hersteller von Lego-Steinen (LEGO Systems A/S; «Lego») hinterlegte am 1. April 1993 eine Reihe von Form-marken in der Schweiz für ihre Lego-Klemmbausteine in verschiedenen Konfigurationen (mit jeweils zwei bis acht aufgesetzten Noppen).55 Am 9. März 2000 klagte die dänische Konkurrentin (Mega Bloks Inc.; «Mega Bloks»), die seit den 1980er Jahren ähnliche Klemmbausteine produziert, die mit den LEGO-Bausteinen kompatibel sind, gegen die von LEGO hinterleg-ten Formmarken. Sie beantragte deren Nichtigerklärung, weil diese technisch notwendig i.S.v. Art. 2 lit. b MSchG seien. Das Handelsgericht des Kantons Zürich kam erstinstanzlich zum Schluss, dass sämtliche Merkmale der hin-terlegten Marken technisch zwingend seien und hiess die Nichtigkeitsklage gut.56 Gegen dieses Urteil erhob Lego eine Beschwerde an das Bundesge-richt, die mit einem kassatorischen Rückweisungsentscheid an die erste In-stanz gutgeheissen wurde. Die erste Instanz wurde aufgefordert, den Sach-

unter Einbezug der europäischen und internationalen Gesetzgebung, Zürich 2002, Art. 2 N 195.

53 M. NOTH, in: M. Noth/G. Bühler/F. Thouvenin (Hrsg.), Markenschutzgesetz (MSchG), Bern 2009, Art. 2 N 46.

54 BGE 129 III 514 ff. sowie zweiter letztinstanzlicher Entscheid BGer vom 3. Juli 2012, 4A_20/2012.

55 Vgl. die zwischenzeitlich für nichtig erklärten Formmarken CH-Nrn. 411 469; 433 265; 433 266; 433 267; 433 268.

56 Siehe Handelsgericht des Kantons Zürich vom 17. Dezember 2002, Blätter für Zür-cherische Rechtsprechung (ZR) 102/2003, 115.

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verhalt genauer zu prüfen. Nachdem die erste Instanz ein aufwendiges, jahre-langes Beweisverfahren zur Zumutbarkeit von alternativen Formen für Lego-Bausteine durchgeführt hatte, gelangte es zum selben Endresultat wie im ersten Urteil. Dagegen erhob Lego erneut Beschwerde an das Bundesgericht. Diese Beschwerde wurde vom Bundesgericht mit Entscheid vom 3. Juli 2012 definitiv abgewiesen.57 Die markenrechtliche Schutzfähigkeit der Form von LEGO-Klemmbausteinen wurde damit in der Schweiz definitiv verneint. Nachfolgend sollen die Kernaussagen dieses letztinstanzlichen Bundesge-richtsentscheides («Lego III») zusammengefasst und analysiert werden.

Das Bundesgericht nahm im «Lego III»-Entscheid eine dogmatische Viertei-lung von bei Formmarken zu beachtender Kriterien vor. Es unterschied zwi-schen (i) Formen, die das Wesen der Ware ausmachen, (ii) technisch not-wendigen, (iii) technisch bedingten und (iv) technisch mitbeeinflussten Formen.58 Diese Vierteilung stellt nicht eine eigene Kreation des Bundesge-richts dar. Sie wurde in der Lehre bereits vorgeebnet.59 Das Bundesgericht führte aus, dass Formen, die das Wesen der Ware ausmachen, und technisch notwendige Formen vom Markenschutz grundsätzlich ausgeschlossen sind. Insbesondere sei es nicht Zweck des Markenschutzes, technische Lehren, die dem zeitlich beschränkten Patentschutz zugänglich sind,60 über das zeitlich unbeschränkte Markenrecht61 zu perpetuieren.62 Technisch bedingte Formen sind nicht unterscheidungskräftig und könnten deshalb den Markenschutz in der Regel nicht erlangen. Allerdings seien Ausnahmen vorbehalten, wenn sie aufgrund ihrer Originalität unterscheidungskräftig wirken oder sich aus-nahmsweise kennzeichenmässig im Verkehr durchgesetzt haben. Technisch mitbeeinflusste Form sind grundsätzlich markenschutzfähig, sofern sie Un-terscheidungskraft aufweisen.63 Technisch notwendig sei eine Form dann,

–––––––––––––– 57 Siehe BGer vom 3. Juli 2012, 4a_20/2012. 58 BGE 129 III 514, E. 2.4.1, 2.4.2, 2.4.3. und 2.4.4. 59 Siehe dazu z.B. MARBACH (Fn. 46), Rz. 515 ff. 60 Siehe dazu Art. 14 PatG: «Das Patent kann längstens bis zum Ablauf von 20 Jahren

seit dem Datum der Anmeldung dauern». 61 Siehe dazu Art. 10 Abs. 1 MSchG «Die Eintragung ist während zehn Jahren vom

Hinterlegungsdatum an gültig» sowie Abs. 2 «Die Eintragung wird jeweils um zehn Jahre verlängert, wenn ein Verlängerungsantrag vorliegt und die in der Verordnung dafür vorgesehenen Gebühren bezahlt sind».

62 Siehe dazu BGE 129 III 514, ff. E. 2.2 f.; zu diesem Aspekt siehe auch MEIS-SER/BOHREN (Fn. 52), 225 ff.

63 Siehe BGE 129 III 514, E. 2.4.4, 2.4.3 und 2.4.4.

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wenn Konkurrenten für ein Produkt der betreffenden Art keine alternative Form technisch zur Verfügung steht oder zugemutet werden kann. Konkur-renten nicht zuzumuten sind weniger praktische, weniger solide oder mit grösseren Herstellungskosten verbundene Formgebungen.64 Diese Ausfüh-rungen werfen bereits eine praktische Frage auf: Was ist ein Produkt der betreffenden Art i.S.v. Art. 2 lit. b MSchG? Wie eng oder wie breit ist dieses zu definieren? Weiter stellt sich die Frage, ob die Kompatibilität eines Pro-dukts – d.h. dessen konkretes Zusammenwirken mit anderen Produktbestand-teilen – in die Definition eines Produkts der betreffenden Art i.S.v. Art. 2 lit. b MSchG miteinbezogen werden darf. Auf diese Fragen wird nachfol-gend noch zurückzukommen sein.

Hinsichtlich der für die Klemmbausteine konkret beanspruchten Formmar-ken von Lego differenzierte das Bundesgericht: Die als Form beanspruchten, auf den Quadern von Spielbausteinen aufgesetzten «Noppen» seien nicht die einzige zumutbare Form zur Fixierung von Spielbausteinen.65 Die von den Noppen der strittigen Lego-Bausteine vermittelte Klemmwirkung gehöre nicht zum Wesen der Ware «Spielbaustein».66 Mit anderen Worten: Zwecks Kompatibilität gewählte Formen gehören nach Auffassung des Bundesge-richts nicht zwingend zum Wesen der Ware i.S.v. Art. 2 lit. b MSchG. Nach einer äusserst aufwendigen, jahrelangen Beweisaufnahme erachtete es das Handelsgericht Zürich im zweiten Urteil aber als erwiesen, dass sämtliche mit den Lego-Bausteinen kompatiblen wie auch sämtliche nicht kompatiblen Alternativformen mit massiv höheren Herstellungskosten verbunden und deshalb unzumutbar, d.h. technisch notwendig sind. Dieser Umstand führte aus Sicht des Handelsgerichts zur erneuten Gutheissung der Nichtigkeitskla-ge von Megablocks.67 Auch das erste Bundesgerichtsurteil («Lego II») hatte bestätigt, dass sogar geringfügige Mehrkosten zur Unzumutbarkeit der Wahl einer anderen Warenform führen können, wenn diese in Anbetracht aller Umstände nicht zumutbar erscheinen.68 Damit wurde die Klage von Mega-blocks geschützt und die für Lego-Klemmbausteine hinterlegten Formmar-ken von Lego definitiv für nichtig erklärt. Megablocks wurde so der Weg zu einem ungestörten Absatz kompatibler Klemmbausteine freigegeben. Im –––––––––––––– 64 Siehe BGE 129 III 514, E. 2.4.4. 65 Siehe BGE 129 III 514, E. 3.1.3. 66 Siehe BGE 129 III 514, E. 3.1.3. 67 Siehe Handelsgericht des Kantons Zürich vom 23. November 2011 (HG030309),

E. 3b/ee. 68 Siehe BGer vom 3. Juli 2012, 4A_20/2012, E. 3.2.

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Endergebnis ist dies als immaterialgüterrechtlicher Entscheid pro Kompatibi-lität zu qualifizieren.

Das Ergebnis des Entscheids ist begrüssenswert. Die Schaffung technischer Kompatibilität ist bei zahlreichen Produktsystemen volkswirtschaftlich er-wünscht.69 Das Bundesgericht hat die Kompatibilität einer Form mit anderen Produkteigenschaften aber nicht dem Wesen einer Ware i.S.v. Art. 2 lit. b MSchG zugerechnet.70 Unglücklicherweise könnte dies so verstanden wer-den, dass die Kompatibilität unter Art. 2 lit. b MschG nicht geprüft werden müsste. Ferner hat das Bundesgericht den Aspekt der Kompatibilität bei der Definition des Produkts der betreffenden Art und bei der Prüfung der Zu-mutbarkeit alternativer Formen nicht geprüft. Gerade unter letzterem Aspekt (Zumutbarkeit) hätte aber möglicherweise Spielraum dazu bestanden. Zu Recht regt deshalb ESCHMANN an (allerdings im Zusammenhang mit einem anderen Entscheid), den Aspekt der Kompatibilität auch in die Prüfung der Zumutbarkeit von Formalternativen miteinzubeziehen.71

3. Bundesgerichtsentscheid «Nespresso»

Als weiter erwähnenswert erweist sich der neuere Bundesgerichtsentscheid «Nespresso».72 Wie schon eingangs erwähnt, versuchte die Nestlé AG («Nestlé») im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Handelsgericht St. Gallen gestützt auf eine Formmarke in Form einer Kaffeekapsel der Denner AG («Denner») die Herstellung und den Vertrieb von mit ihrem Produktsystem

–––––––––––––– 69 Siehe dazu bestätigend S. ESCHMANN, Kompatibilität und der markenrechtliche

Schutzausschlussgrund der technischen Notwendigkeit, Aktuelle Juristische Praxis (AJP) 2011, 1639 ff., 1648.

70 Siehe BGE 129 III 514, E. 3.1.3. 71 Siehe ESCHMANN (Fn. 69), 1648 ff., die Folgendes vorschlägt: Im Rahmen der Zu-

mutbarkeitsprüfung soll eine Interessenabwägung vorgenommen werden. Dabei sei dem Interesse der Abnehmer an kompatiblen (oftmals günstigeren) Produkten eines zweiten Wettbewerbers sowie dem volkswirtschaftlichen Interesse an Rationalisie-rung und Standardisierung i.d.R. der Vorzug zu geben. Lediglich in Ausnahmefällen könne sich eine stärkere Gewichtung der Einzelinteressen des (Vor-) Markenan-melders rechtfertigen, namentlich dann, wenn sein Produkt von Vornherein auf eine Kombination mit weiteren Nebenprodukten ausgerichtet ist und der Markterfolg vom Absatz dieser Nebenprodukte stark abhängt.

72 Siehe BGer vom 28. Juni 2011, 4A_178/2011 (in der amtlichen Sammlung BGE 137 III 324 ff.).

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kompatiblen Kaffeekapseln zu verbieten.73 Hier stellte sich die Frage, ob es immaterialgüterrechtlich zulässig ist, ein ganzes Produktsystem von anderen Wettbewerbern abzuschotten, indem man die Form eines Ersatzproduktes (wie z.B. einer Kaffeekapsel) als Marke schützt und dieses Ersatzprodukt just diese Form aufweisen muss, damit es mit dem eigenen Systemprodukt (wie z.B. einer Kaffeemaschine) kompatibel zusammenwirken kann. Der zu untersuchende Kreis möglicher Alternativformen wurde vom Handelsgericht St. Gallen als «mit den derzeit erhältlichen Nespresso-Maschinen kompatible Kaffeekapseln» festgelegt.74 Das Produkt der betreffenden Art i.S.v. Art. 2 lit. b MSchG wurde damit relativ eng definiert. Ein Expertengutachten im Verfahren vor dem Handelsgericht St. Gallen gelangte gestützt darauf zum Schluss, die Formmarke von Nestlé (die Kaffeekapsel-Form) sei grundsätz-lich markenschutzfähig i.S.v. Art. 2 MSchG. Nur der sog. «Flansch» (d.h. der untere Rand der Kapsel) sei technisch notwendig i.S.v. Art. 2 lit. b MSchG. Die Form eines Kegelstumpfs hingegen könne innerhalb gewisser Grenzen des Markenrechts frei gewählt werden. Die konische Form der Nes-presso Kapsel sei deshalb nicht zwingend technisch notwendig i.S.v. Art. 2 lit. b MSchG.75 Allerdings gelangte das Handelsgericht St. Gallen in seinem Endentscheid zur Gesamtbeurteilung, die Marke sei technisch beeinflusst und deshalb nur schwach unterscheidungskräftig.76 Folglich bestehe keine Verwechslungsgefahr zwischen der Denner-Kapsel und der Nestlé-Formmarke. Denn die Denner-Kapsel unterscheide sich von der nur schwach unterscheidungskräftigen Nestlé-Formmarke ausreichend.77

Anzumerken zur Prozesshistorie ist noch Folgendes: Der erstinstanzliche Entscheid des Handelsgerichts St. Gallen über den Erlass vorsorglicher Mas-snahmen78 wurde von Nestlé angefochten und an das Bundesgericht weiter-

–––––––––––––– 73 Siehe dazu oben Ziff. I. 74 Siehe z.B. BGer vom 28. Juni 2011, 4A_178/2011, in E. 2.1 rückweisend erwähnt. 75 Siehe Handelsgericht des Kantons St. Gallen vom 21. Mai 2013 (HG.2011.199),

verfügbar unter: <www.gerichte.sg.ch/home/dienstleistungen/rechtsprechung/kantons gericht/entscheide-2013>, 15 ff.

76 Siehe Handelsgericht des Kantons St. Gallen vom 21. Mai 2013 (Fn. 75), 24 und 33 ff. mit weiteren Hinweisen.

77 Siehe Handelsgericht des Kantons St. Gallens vom 21. Mai 2013 (Fn. 75), 37 mit weiteren Hinweisen.

78 Siehe Handelsgericht des Kantons St. Gallen vom 10. Januar 2011 (HG.2011.10-HGP), verfügbar unter: <www.gerichte.sg.ch/home/dienstleistungen/rechtsprechung/ kantonsgericht/entscheid_2011>.

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gezogen. Das Bundesgericht konnte in seinem Entscheid keine nennenswer-ten Ausführungen zur technischen Notwendigkeit vornehmen. Denn es hatte nur zu beurteilen, ob die durch die Vorinstanz vorgenommene Festlegung des Produkts der betreffenden Art, d.h. der zu untersuchende Kreis möglicher Alternativformen auf «mit den derzeit erhältlichen Nespresso-Maschinen kompatiblen Kaffeekapseln» willkürlich gewesen sei oder nicht.79 Das Bun-desgericht befand, aus dem Markenrecht ergebe sich nicht, dass als Produkt der betreffenden Art i.S.v. Art. 2 lit. b MSchG, für welche alternative For-men bestehen müssen, zwingend «Kaffee» oder «gemahlener Kaffee» gel-te.80 Es sei nicht willkürlich, wenn für die Beurteilung des absoluten Schutz-ausschlussgrundes unter Art. 2 lit. b MSchG nicht unbesehen auf das für die Marke beanspruchte Warenverzeichnis von Nestlé bzw. die darin genannte Warengattung («Kaffee») abgestellt werde. Schliesslich könne der Marken-anmelder das Warenverzeichnis frei wählen. Er wäre damit in der Lage, den Schutzausschlussgrund i.S.v. Art. 2 lit. b MschG durch eine weite Fassung seines Warenverzeichnisses zu umgehen. Das Bundesgericht hob gleichwohl hervor, dass es bisher abgelehnt habe, die technische Notwendigkeit einer Form direkt aufgrund der Kompatibilität mit einem vorbestehenden Produk-tesystem zu bejahen.81

Mit den Entscheiden des Handelsgerichts des Kantons St. Gallen und des Bundesgerichts in Sachen «Nespresso» liegen wiederum wegweisende Ent-scheide pro Kompatibilität vor, wenn auch mit einer anderen Begründung als im Entscheid «Lego-III». Ausschlaggebend war hier die ausreichende Unter-scheidbarkeit bzw. mangelnde Verwechselbarkeit von Denner-Kapseln mit der nur schwach unterscheidungskräftigen Nestlé-Formmarke. Beachtung verdient aber der Umstand, dass als Produkt der betreffenden Art i.S.v. Art. 2 lit. b MschG relativ eng auf «mit den derzeit erhältlichen Nespresso-Maschinen kompatible Kaffeekapseln» abgestellt wurde. Als bedauernswert erweist sich wiederum, dass die Kompatibilität bei der Prüfung der Zumut-barkeit alternativer Formen (wie im «Lego III»-Entscheid) nicht geprüft wurde.82

–––––––––––––– 79 Siehe BGer vom 28. Juni 2011, 4A_178/2011, E. 2. 80 Siehe BGer vom 28. Juni 2011, 4A_178/2011, E. 2 Abs. 3; zum Produkt der betref-

fenden Art siehe auch oben Ziff. IV.2. 81 Siehe BGer vom 28. Juni 2011, 4A_178/2011, E. 3.2.2. 82 Siehe Verweis in Fn. 74.

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4. Weitere Rechtsprechung zur Kompatibilität im Marken-recht

Es bestehen noch weitere nennenswerte Rechtsprechungsbeispiele, die sich mit ähnlichen markenrechtlichen Kompatibilitätsfragen auseinandergesetzt haben. Statt vieler sei an dieser Stelle auf die Bundesgerichtsentscheide «Ka-talysatorenträger»83 und «Smarties»84 verwiesen. In beiden Fällen wurden für die obgenannten Produkte hinterlegten Formmarken – d.h. eine dreidi-mensionale Form für Katalysatoren und eine enge Röhrenform für Smarties-verpackungen – juristisch aufrechterhalten. Beide Klagen auf eine Nichtiger-klärung der betroffenen Formmarken wegen technischer Notwendigkeit i.S.v. Art. 2 lit. b MSchG wurden abgewiesen. Nach Auffassung des Bun-desgerichts war der Ausschlussgrund der technischen Notwendigkeit i.S.v. Art. 2 lit. b MschG beide Male nicht erfüllt. Der Ausschlussgrund sei nur gegeben, wenn aus technischen Gründen keine andere Form mehr möglich ist oder vernünftigerweise verwendet werden kann.85 Beide Entscheide sind im Endergebnis als Entscheide contra Kompatibilität zu bewerten; verpa-ckungsbezogene Formen wurden darin als Marken geschützt. Als beach-tenswert erweist sich aber der Bundesgerichtsentscheid «Zigarettenverpa-ckung»,86 in dem eine quaderförmige Formmarke für Zigarettenverpa-ckungen aufgrund des Vorliegens nur einer zumutbaren Alternative als nicht technisch notwendig i.S.v. Art. 2 lit. b MSchG qualifiziert wurde. Ob dies als numerische Festlegung des Bundesgerichts qualifiziert werden kann, ist un-sicher und nach Auffassung des Autors eher zu verneinen. Das Bundesge-richt befand aber, die streitgegenständliche Form sei «technisch bedingt» und könne nur ausnahmsweise durch ihre Originalität unterscheidungskräftig wirken oder sich beim Publikum als Markenzeichen durchsetzen.87 Die Mar-keninhaberin hätte nicht glaubhaft gemacht, dass diese Marke sich beim schweizerischen Publikum alleine aufgrund dieser beanspruchten Form

–––––––––––––– 83 Siehe BGer vom 26. April 2004, 4C.57/2004. 84 Siehe BGE 131 III 121 ff. 85 Siehe BGE 131 III 121, E. 7 sowie BGer vom 26. April 2004, 4C.57/2004, E. 4.2. 86 BGer vom 23. Mai 2005, 4A.8/2006: Abweisung Verwaltungsgerichtsbeschwerde,

kommentiert in: sic! – Zeitschrift für Immaterialgüter-, Informations- und Wett-bewerbsrecht 2006, 666 ff.

87 BGer vom 23. Mai 2005, 4A.8/2006 (Fn. 86), 666.

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durchgesetzt hätte.88 Die Formmarke wurde deshalb in ihrem Bestand nicht geschützt. Damit lag im Endergebnis ein Entscheid pro Kompatibilität vor.

Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur technischen Notwendigkeit im Markenrecht lässt sich somit dahingehend zusammenfassen, dass eine Form grundsätzlich dann technisch notwendig ist, wenn zur Lösung eines techni-schen Problems entweder (i) keine einzige alternative Form verfügbar ist oder (ii) sie sich nicht als zumutbar erweist. Zumutbar ist nur eine gleich praktische, gleich solide und in der Herstellung gleich günstige Formalterna-tive.89

5. Markenrechtliche Prüfungsansätze zur Kompatibilität

Den bisherigen Erörterungen lässt sich entnehmen, dass auch im Marken-recht Spielraum zur Durchsetzung kompatibler Produkte besteht. Der Aus-schlussgrund der technischen Notwendigkeit gemäss Art. 2 lit. b MSchG bietet dazu Abhilfe:

(i) Ein erster Prüfungsansatz für die Beurteilung kompatibler Er-satzprodukte liegt in der unter Art. 2 lit. b MSchG vorzuneh-menden Definition des technischen Problems und der massge-blichen technischen Lösung für ein Produkt der betreffenden Art. Wird diese Definition breit gezogen, lassen sich relativ leicht zumutbare und gleichwertige Alternativformen auffinden. Eine Marke sollte diesfalls eher selten als technisch notwendig oder technisch bedingt qualifiziert werden. Wird die Definition enger gezogen, liegt die Annahme einer technischen Notwen-digkeit oder technischen Bedingtheit näher.90

(ii) Ein zweiter Prüfungsansatz liegt in der Zumutbarkeit gleichwer-tiger Alternativformen für Konkurrenten. Wie im «Lego-III»-Entscheid erwähnt, sind weniger praktische, weniger solide oder mit grösseren Herstellungskosten verbundene Formgebungen Konkurrenten nicht zumutbar.91 Dieser Ansatz eröffnet Spiel-raum für wettbewerbspolitische Argumentation. Es ist Rechts-

–––––––––––––– 88 BGer vom 23. Mai 2005, 4A.8/2006 (Fn. 86), 667. 89 Siehe auch in dieser Art wiedergegeben bei ESCHMANN (Fn. 69), 164. 90 Siehe dazu oben Ziff. IV.2. und Ziff. IV.3. als Beispiele. 91 Siehe dazu oben Ziff. IV.2.

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anwältinnen und -anwälten hier nahegelegt, diesen Spielraum mit Argumentation und dem Einbringen aussagekräftiger Be-weismittel zu nutzen. Im «Lego III»-Entscheid wurde er erfolg-reich genutzt und die (kompatibilitätsverhindernden) Marken wurden im Endergebnis für nichtig erklärt.92

(iii) Ein dritter Prüfungsansatz ist die technische Mitbeeinflussung von Marken. Wie aus dem «Nespresso»-Entscheid hervorgeht, wird eine technisch mitbeeinflusste Formmarke tendenziell als «schwache» Marke qualifiziert. Einer Formmarke bescheidet dies zwar noch keinen Untergang (i.S. einer Nichtigkeit). Es re-duziert aber das Risiko, dass ein kompatibles Erzeugnis mit die-ser Formmarke verwechselbar sein könnte. Bei Erzeugnissen, die sich ausreichend von einer nur schwachen Marke unter-scheiden, geht die Lehre und Rechtsprechung überwiegend von einer mangelnden Verwechslungsgefahr aus.93

(iv) Schliesslich lässt sich die Frage der Zweckwidrigkeit i.S.v. Art. 2 Abs. 2 ZGB94 (Rechtsmissbrauch) aufwerfen. Weil der Zweck einer Marke in der Herkunftsfunktion der mit ihr ge-kennzeichneten Produkte besteht, sollte dieser Zweck nicht ohne Weiteres auf die Funktions- und Bauweise eines übergeordneten Produktsystems erstreckt werden können, um jenes vor kompa-tibler Aussenwirkung abzuschotten. Nach Auffassung des Au-tors lässt sich dieser (Billigkeits-)Aspekt im Einzelfall aufwer-fen und überprüfen. Eine abschliessende Antwort dazu lässt sich nur mit Zurückhaltung abgeben. Immerhin haben Gerichte (Bil-ligkeits-)Aspekte in diesem Zusammenhang selbst erwähnt, so z.B. im «Lego III»-Entscheid, wo das Bundesgericht ausführte, es sei nicht Zweck des Markenschutzes, technische Lehren, die dem zeitlich beschränkten Patentschutz zugänglich sind, über das zeitlich unbeschränkte Markenrecht zu perpetuieren.95 Die Vorinstanz (Handelsgericht Zürich) führte noch deutlicher aus: «Wer eine Formmarke, die von Gesetzes wegen den Zweck hat,

–––––––––––––– 92 Siehe dazu oben Ziff. IV.2. 93 Siehe dazu oben Ziff. IV.3. 94 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (SR 210). 95 Siehe dazu oben unter Ziff. IV.2. bzw. BGE 129 III 514, E. 2.2 f.; zu diesem Aspekt

siehe auch MEISSER/BOHREN (Fn. 52), 225 ff.

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Waren eines Unternehmens von solchen anderer Unternehmen zu unterscheiden, dafür einträgt, um Konkurrenzprodukte, die berechtigterweise seit Jahrzenten gleiche Form und Masse auf-weisen, vom Markt zu verdrängen, handelt rechtsmissbräuch-lich».96 Die Gerichte scheinen somit für Billigkeitserwägungen durchaus empfänglich zu sein, wenn es um Kompatibilitätsfra-gen geht.

V. Die Kompatibilität und das Designrecht

1. Rechtliche Grundlagen

Das Designrecht wird im schweizerischen Bundesetz über den Schutz von Design (DesG)97 geregelt. Gemäss Art. 1 DesG schützt dieses «Gestaltungen von Erzeugnissen oder Teilen von Erzeugnissen, die namentlich durch die Anordnung von Linien, Flächen, Konturen oder Farben oder durch das ver-wendete Material charakterisiert sind». Gemäss Art. 2 DesG ist ein Design schutzfähig, «soweit es neu ist und Eigenart aufweist». Dies sind die positi-ven Schutzvoraussetzungen eines Designs. Art. 4 lit. c DesG schreibt sodann, der Designschutz sei ausgeschlossen, wenn die Merkmale eines Designs «ausschliesslich durch die technische Funktion des Erzeugnisses» bedingt sind. Dies stellt einen sog. absoluten Schutzausschlussgrund eines Designs dar. Ähnlich wie im Markenrecht können auch absolute Schutzausschluss-gründe einem Design im Anmeldeverfahren oder erst später im Rahmen eines Zivilprozesses (Nichtigkeitsklage) seinen Untergang bescheren.98 Mit Blick auf die Kompatibilitätsdebatte erweist sich der absolute Ausschluss-grund von Art. 4 lit. c DesG ebenfalls als äusserst relevant. Art. 9 DesG legt das Ausschliesslichkeitsrecht eines Designs fest. Gemäss Art. 9 DesG ver-leiht das Designrecht einem Rechtsinhaber das Recht, anderen zu verbieten, ein Design zu gewerblichen Zwecken zu gebrauchen.

Die Lehre zu Art. 4 lit. c DesG spricht sich nicht gleich detailliert zur Kom-patibilität aus wie die Lehre zum Markenrecht.99 Dies hat verschiedene Ur-sachen, hängt aber möglicherweise auch mit der jüngeren bzw. erfahrungs-–––––––––––––– 96 Handelsgericht des Kantons Zürich vom 17. Dezember 2002, Blätter für Zürcherische

Rechtsprechung (ZR) 102/2003, 115. 97 Bundesgesetz über den Schutz von Design vom 5. Oktober 2001, SR 232.12. 98 Zu diesbezüglichen Ausführungen im Markenrecht siehe oben Ziff. IV.1. 99 Zu diesbezüglichen Ausführungen im Markenrecht siehe oben Ziff. IV.1.

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ärmeren Natur des neuen DesG zusammen.100 HEINRICH bemerkt, dass Formelemente, die ausschliesslich technischen Zwecken dienen, «nicht auf einen ästhetischen Zweck» i.S. des DesG ausgerichtet sind. Entscheidend sei, ob die technische Funktion «alle Einzelheiten der betrachteten Form» dik-tiert.101 Verglichen mit der «technischen Notwendigkeit» und den «zumutba-ren Alternativformen» im Markenrecht102 lässt sich hier ein stärker formu-liertes Erfordernis der «Ausschliesslichkeit» entnehmen. Für die Erreichung der gleichen technischen Funktion dürfen keinerlei andere, zumutbare Ge-staltungsvarianten zur Verfügung stehen. Wenn auch nur eine Formalternati-ve besteht, ist das Design nicht ausschliesslich durch seine technische Funk-tion bedingt und ein Designschutz bleibt grundsätzlich möglich.103 CELLI/HYZIK präzisieren, dass unter Art. 4 lit. c DesG die Gestaltung durch eine Funktion des Erzeugnisses determiniert sein muss, die mit dem Ge-brauch des Erzeugnisses zusammenhängt. Eine isolierte Technizität der Funktion im Sinne des Patentrechts ist nicht erforderlich.104

Im Gegensatz zur EU-Geschmacksmustergesetzgebung sieht das Schweizer DesG keine explizite Sonderregelung für Ersatzteile und Verbindungsele-mente vor. Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 98/71/EG vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen («EG-RL»)105 schreibt vor, dass der Designschutz für Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses ausgeschlossen ist, die zwangsläufig in ihrer genauen Form und ihren genau-

–––––––––––––– 100 Das DesG ist erst am 5. Oktober 2001 in Kraft getreten. Das MSchG ist bereits seit

1992 in Kraft. 101 P. HEINRICH, Kommentar Schweizerisches Designgesetz, Zürich 2002, Art. 4

N 4.06 ff. 102 Zu diesbezüglichen Ausführungen im Markenrecht siehe oben Ziff. IV.1. 103 Siehe R. MIRKO STUTZ/S. BEUTLER/M. KÜNZI, Kommentar zum Designgesetz,

Bern 2006, Teil B, Art. 4 N 40 ff.; siehe auch S. ESCHMANN/F. THOUVENIN, Das revi-dierte Schweizer Designrecht – Neue Antworten auf alte Fragen – Tagung vom 26./27. Februar 2002, sic! – Zeitschrift für Immaterialgüter-, Informations- und Wett-bewerbsrecht 2002, 466, die erwähnen, einem Designer solle es nicht zum Nachteil gereichen, wenn er mittels einer neuen Form zusätzlich einen neuen technischen Ef-fekt erzielt. Formen dürfen grundsätzlich auch technisch beeinflusst sein.

104 A. CELLI/M. HYZIK, in: R. Staub/A. Celli (Hrsg.), Kommentar zum Bundesgesetz über den Schutz von Design, Zürich/Basel/Genf 2003, Art. 4 N 26; ebenso HEINRICH (Fn. 101), Art. 4 N 4.12.

105 Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen (ABl. L 289 vom 28. Oktober 1998, S. 28).

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en Abmessungen nachgebildet werden müssen, «damit das Erzeugnis mit einem anderen Erzeugnis mechanisch zusammengebaut oder verbunden oder in diesem, an diesem oder um dieses herum angebracht werden kann, sodass beide Erzeugnisse ihre Funktion erfüllen» (sog. «Must fit»-Klausel für Ver-bindungselemente).106 Wenn das Erzeugnis aber dem Zweck dient, den Zu-sammenbau oder die Verbindung einer Vielzahl von untereinander aus-tauschbaren Teilen innerhalb eines modularen Systems zu ermöglichen, besteht gemäss Art. 7 Abs. 3 EG-RL eine Gegenausnahme und der Design-schutz bleibt möglich (sog. «Lego-Klausel»).107

Die überwiegende Schweizer Lehre hält dafür, dass die europäische «Must fit»-Regelung für Verbindungselemente unter Art. 7 Abs. 2 EG-RL auch für das Schweizer DesG analog gelten solle, wenn kein gestalterischer Freiraum bei der Formgebung eines Designs bestehe.108 Denn die EG-RL verfolge dieselbe Zielsetzung wie Art. 4 lit. c DesG, namentlich den Schutzausschluss von Gestaltungselementen, für die es keine Alternative gibt. Diese Auffas-sung wurde vom Bundesgericht unter dem alten Schweizer Muster- und Mo-dellgesetz (MMG)109 auf Verbindungselemente zwischen einem Tonkopf und dem Schwenkarm eines Plattenspielers ausdrücklich bejaht.110 Als be-merkenswert an diesem Entscheid erweist sich, dass die Kompatibilität als ein mögliches Kriterium für die technisch-funktionale Bedingtheit eines Designs i.S.v. Art. 4 lit. c DesG ausdrücklich genannt wird.111 Ein solcher direkter Bezug fehlt unter der geltenden Rechtsprechung im Markenrecht. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zum Markenrecht hat es bislang verweigert, den Aspekt der Kompatibilität als eine technische Notwendigkeit i.S. von Art. 2 lit. b MSchG zu qualifizieren.112 In der Schweizer Gesetzge-

–––––––––––––– 106 Art. 7 Abs. 2 EG-RL. 107 Art. 7 Abs. 3 EG-RL. Die Tragweite dieser Gegenausnahme ist bis heute unklar und

Gegenstand von Debatten. 108 STUTZ/BEUTLER/KÜNZI (Fn. 103), Art. 4 N 46; CELLI/HYZIK (Fn. 104), Art. 4 N 29;

HEINRICH (Fn. 101), Art. 4 N 4.33 und 4.39. 109 Bundesgesetz vom 30. März 1990 betreffend die gewerblichen Muster und Modelle,

SR 232.12. 110 Siehe BGE 113 II 77, E. 3c. 111 Siehe die vorherigen Ausführungen zu Art. 7 EG-RL und zur analogen Anwendbar-

keit in der Schweiz. 112 Siehe die vorherigen Ausführungen zur Kompatibilität im Markenrecht oben Ziff.

IV.2., IV.3. und IV.4.

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bung fehlt zudem eine Gegenausnahme für modulare Erzeugnisse wie in der «Lego-Klausel» von Art. 7 Abs. 3 EG-RL.113

2. Ausgewählte Rechtsprechung zur Kompatibilität im De-signrecht

Die Rechtsprechung zur Kompatibilität unter dem neuen Designgesetz er-weist sich als spärlich. Die überwiegende Rechtsprechung zur ausschliesslich technisch-funktionalen Bedingtheit von Designs erging unter dem alten MMG. Als unter dem neuen DesG relevanter Entscheid erweist sich wohl der Entscheid über vorsorgliche Massnahmen des Handelsgerichts Zürich «Lichtschalter» vom 8. November 2002: Streitgegenständlich waren hier für Lichtschalter oder Steckdosen (teilweise kombiniert) hinterlegte quaderför-mige Designs. Die hinterlegten Designs wurden trotz ihres technisch-motivierten Hintergrundes nicht als ausschliesslich technisch bedingt i.S.v. Art. 4 lit. c DesG qualifiziert. Allerdings wurde dem Design ein nur geringer Schutzumfang zuerkannt. Eine Verletzung des streitgegenständlichen De-signs durch das beklagte Konkurrenzunternehmen, das ähnliche Schalter und Steckdosen in seiner Produktelinie führte, wurde verneint, weil sich die Pro-dukte ausreichend von den hinterlegten (schwachen) Designs unterschie-den.114 Der Entscheid lässt keine direkten Schlussfolgerungen zur Kompati-bilität im Designrecht zu. Er bestätigt aber die hohen Anforderungen an den Ausschlussgrund von Art. 4 lit. c DesG und zeigt den Spielraum auf, tech-nisch motivierten Designs durch Abstandswahrung erfolgreich ausweichen zu können.

Als für die Kompatibilität aufschlussreicher erweisen sich die älteren Ent-scheide «Volvo-Kotflügel»115 oder «Tête de Lecture»116: Im Entscheid «Volvo-Kotflügel» lag ein Streit zwischen dem Unternehmen AB Volvo («Volvo») und der Ersatzteilherstellerin Fritz Herren AG vor. Die Fritz Her-ren AG vertrieb mit den Produkten von Volvo kompatible Kotflügel. Volvo –––––––––––––– 113 Siehe A. KUR, Die Auswirkungen des neuen Geschmacksmusterrechts auf die Praxis,

Zeitschrift für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR) 2002, 664; ebenso CELLI/HYZIK (Fn. 104), Art. 4 N 29.

114 Handelsgericht Zürich vom 8. November 2002 (HG020045/Z04), E. 2c/ee, 4e, f., besprochen von J. MÜLLER/M. BERGER, sic! – Zeitschrift für Immaterialgüter-, Infor-mations- und Wettbewerbsrecht 1999 2003, 725.

115 BGE 116 II 471 ff. 116 BGE 113 II 77 ff.

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unternahm den Versuch, dies gestützt auf ein für Kotflügel hinterlegtes Mo-dell unter dem MMG zu verbieten.117 Das Bundesgericht befand, das Modell sei nicht schutzfähig (allerdings ohne eine öffentlich zugängliche Begrün-dung).118 Es kann nur gemutmasst werden, dass der technisch motivierte Hintergrund des Modells wohl ausschlaggebend war. Im Entscheid «Tête de Lecture» versuchte das Unternehmen N.V. Philips Gloeilampenfabrieken in Eindhoven («Philips»), den Unternehmen Zafira S.A. und Zafira Central S.A. in Fribourg («Zafira») zu verbieten, in der Schweiz kompatible Ersatz-teilnadeln für Plattenspieler von Philipps zu verkaufen. Philips stützte sich dabei auf zwei international für Leseköpfe von Plattenspielern hinterlegte Modelle unter dem MMG.119 Eine widerrechtliche Nachahmung beider Mo-delle durch Zafira wurde mangels Schutzfähigkeit verneint (auch hier leider ohne eine öffentlich zugängliche Begründung).120 Ebenfalls in diese Rich-tung deutend ist der Bundesgerichtsentscheid «Kohlepapier»121, in dem der Muster- und Modellschutz für die Gestaltung eines Kohlepapiers mit Metall-pigmentbelag auf der Rückseite verneint wurde, weil dies vorwiegend Nütz-lichkeitszwecken diene bzw. eine technische Wirkung anstrebe.122 Der Ent-scheid kam Herstellern ähnlicher Kohlepapiere, wenn als Ersatzteil für damals vertriebene Kopier- und Druckgeräte gedacht, zugute. Heute erweist sich dieser Sachverhalt kaum mehr als relevant, weil die meisten Kopier- und Druckgeräte nicht mehr mit Kohlepapier, sondern digital arbeiten.

In der Rechtsprechung zum DesG und zum alten MMG lässt sich somit eine doch beträchtliche Anzahl von Entscheiden pro Kompatibilität auffinden. Im Gegenzug liegen wenige ältere Entscheide contra Kompatibilität vor. Bei-spielsweise befand das Obergericht Appenzell am 21. November 1995, dass Eck-Glastüren für Sauna-Kabinen unter dem MMG schutzfähig seien, zumal

–––––––––––––– 117 BGE 116 II 471, Sachverhalt A (ehemaliges Modell Nr. 107 439). 118 BGE 116 II 471, E. 2 (die Begründung ist nicht öffentlich zugänglich und nur zu-

sammengefasst mit: «Schutzfähigkeit des hinterlegten Kotflügels als Modell ver-neint»).

119 BGE 113 II 77, Sachverhalt A (ehemalige Modelle GP 214 und GP 215). 120 BGE 113 II 77, E. 2. 121 BGer vom 18. Oktober 1954, Schriften zum Medien- und Immaterialgüterrecht (SMI)

1955, 71. 122 BGer vom 18. Oktober 1954, Schriften zum Medien- und Immaterialgüterrecht (SMI)

1955, 71; siehe auch Erwähnung in STUTZ/BEUTLER/KÜNZI (Fn. 103), Art. 4 N 33.

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die Eckformen auch ästhetisch bedingt seien.123 Für einen Ersatzhersteller ähnlicher Eck-Glastüren, die kompatibel mit vorbestehenden Saunas wären, könnte dieser Entscheid contra Kompatibilität interpretiert werden. Auch in diese Richtung deutet der ältere Entscheid «Cone», demgemäss die konische Form eines Uhrglases nicht ausschliesslich technisch vorgegeben und somit grundsätzlich schutzfähig ist.124 Dieser Entscheid könnte ebenfalls zum Nachteil von Ersatzteil-Uhrglas-Herstellern ausgelegt werden. Ob diese bei-den «contra-Kompatibilität»-gerichteten Entscheide aber unter dem neuen DesG und mit Blick auf die mittlerweile in der EU reglementierte «Must-fit»-Klausel in Art. 7 EG-RL von einem Schweizer Gericht heute gleich beurteilt würden, ist ungewiss.

3. Designrechtliche Prüfungsansätze zur Kompatibilität

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass sich im Designrecht für kompatible Formerzeugnisse ähnliche Abgrenzungsfragen wie im Marken-recht stellen. Immerhin ist in Art. 4 lit. c DesG ein Unterschied im Aus-schluss ausschliesslich technisch bedingter Designs zu sichten. Der Aus-schlussgrund räumt durch seine absolute Formulierung weniger Argumentationsspielraum ein als die technische Notwendigkeit i.S.v. Art. 2 lit. b MSchG.125 Unter Art. 4 lit. c DesG genügt bereits die objektive Mög-lichkeit einer technisch anderen Konstruktion, um dem Ausschlussgrund zu entfliehen.126 Beachtenswert ist die auf europäischer Ebene wirksame Rege-lung in Art. 7 EG-RL für «Must-Fit»-Erzeugnisse, die eine nicht zu unter-schätzende Ausstrahlungswirkung auf die praktische Handhabung von Art. 4 lit. c DesG in der Schweiz hat.127 Bei einer EG-RL-konformen Auslegung des DesG kann die Kompatibilität als ein Kriterium für den Ausschluss tech-nisch-funktionaler Bedingtheit i.S.v. Art. 4 lit. c DesG angesehen werden.128 Ein solcher direkter Bezug ist im Markenrecht zumindest unter der geltenden Rechtsprechung noch nicht erstellt. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung –––––––––––––– 123 Siehe Obergericht Appenzell vom 21. November 1995, Schriften zum Medien- und

Immaterialgüterrecht (SMI) 1996, 155 ff. 124 Siehe BGer vom 18. April 1991, Schriften zum Medien- und Immaterialgüterrecht

(SMI) 1991, 393 ff. 125 Siehe dazu oben Ziff. V.1. 126 Siehe dazu oben Ziff. V.1. 127 Siehe dazu oben Ziff. V.1. 128 Siehe die bisherigen Ausführungen zu Art. 7 EG-RL und zur analogen Anwendbarkeit

in der Schweiz oben Ziff. V.1.

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zum Markenrecht hat es bislang unterlassen, den Aspekt der Kompatibilität direkt als eine Form der technischen Notwendigkeit i.S. von Art. 2 lit. b MSchG zu qualifizieren.129

Auch unter dem Designgesetz bestehen mithin Spielräume zur Durchsetzung von mit Konkurrenzprodukten kompatiblen Ersatzprodukten. Nachfolgend sollen die wichtigsten Prüfungsansätze zusammengefasst werden:

(i) Ein erster Prüfungsansatz zur Beurteilung der Kompatibilität liegt in der unter Art. 4 lit. c DesG vorzunehmenden Definition des technischen Problems und der massgeblichen Lösung für die beanspruchte Gestaltung. Wird diese Definition breit vorge-nommen, wird eine Gestaltung tendenziell seltener i.S.v. Art. 4 lit. c DesG als «ausschliesslich technisch bedingt» qualifiziert werden. Wird die Definition des technischen Problems enger gefasst, liegt die Annahme einer ausschliesslich technisch be-dingten Gestaltung wieder näher.130

(ii) Ein zweiter Prüfungsansatz liegt im Vorhandensein bzw. Auf-zeigen technischer Alternativen. Liegt zumindest eine techni-sche Alternative vor, ist das Design gemäss Art. 4 lit. c DesG grundsätzlich nicht ausschliesslich technisch bedingt.131

(iii) Ein dritter Prüfungsansatz liegt im konkreten Schutzumfang ei-nes Designs. Je technisch motivierter ein Design ist, desto schwächer wird sein Schutzumfang tendenziell beurteilt werden. Dementsprechend leichter wird es Konkurrenten fallen, mit nur wenigen Unterschieden Abstand vom schwachen Design zu wahren, um eine Rechtsverletzung zu vermeiden.132

(iv) Ein vierter Prüfungsansatz ist ebenfalls im konkreten Schutzbe-reich eines Designs zu orten: Der Schutzbereich eines Designs erstreckt sich auf Gestaltungen, die gleiche wesentliche Merk-male aufweisen und den gleichen Gesamteindruck erwecken wie ein bereits eingetragenes Design (Art. 8 DesG).133 Demzu-

–––––––––––––– 129 Siehe die Ausführungen zum Markenrecht oben unter Ziff. IV.2., IV.3. und IV.4. 130 Dazu sinngemäss oben Ziff. V.1. 131 Siehe dazu oben Ziff. V.1. 132 Siehe dazu die Beispiele oben unter Ziff. III.1. 133 HEINRICH (Fn. 101), Art. 8 N 8.06 ff.; STUTZ/BEUTLER/KÜNZI (Fn. 103), Art. 9 N 23.

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folge sollten Ersatzteile zu einem designrechtlich geschützten Produkt vertrieben werden können, wenn diese die visuellen Ei-genschaften des gegenständlichen Designs gar nicht wiederge-ben. Werden also z.B. nur innere (Ersatz-)Bauteile einer design-geschützten Lampe vertrieben – die für Abnehmer während deren üblichen Gebrauchs gar nicht visuell wahrnehmbar sind – liesse sich dies jedenfalls nicht gestützt auf das Designrecht un-terbinden.134

(v) Als fünfter, wenn auch generellerer Prüfungsansatz können auch die allgemeinen Schutzvoraussetzungen eines Designs dienen. Art. 2 DesG fordert als positive Grundvoraussetzung die Eigen-art und Neuheit eines Designs. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, besteht – ähnlich wie im Patentrecht – zusätzliches Anfechtungspotential. Insbesondere neuheitsschädliche Offen-barungen vor dem Registrierungsdatum eines Designs werden klagenden Designrechtsinhabern öfters wirkungsvoll entgegen-gehalten und können zur Nichtigkeitserklärung eines Designs führen.135

(vi) Zu guter Letzt ist nach Auffassung des Autors wiederum die Frage der Zweckwidrigkeit i.S.v. Art. 2 Abs. 2 ZGB (Rechts-missbrauch) aufzuwerfen. Weil der Zweck eines Designs in der gestalterischen Individualisierung eines Erzeugnisses besteht, sollte er nicht leichtfertig auf die Funktions- und Bauweise eines übergeordneten Produktsystems erstreckt werden können, um dieses vor kompatibler Aussenwirkung abzuschotten. Nach Auf-fassung des Autors lässt sich dieser (Billigkeits-)Aspekt im Ein-zelfall aufwerfen und überprüfen. Eine abschliessende Antwort darauf ist aber nur mit Zurückhaltung abzugeben.

–––––––––––––– 134 So sinngemäss auch R. STAUB, in: R. Staub/A. Celli (Hrsg.), Kommentar Designrecht,

Zürich 2003, Art. 9 N 33 und 52. 135 Zur Nichtigkeitsklage im Patentrecht siehe z.B. oben Ziff. III.

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VI. Die Kompatibilität und das Urheberrecht Das Bundesgesetz über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (URG)136 regelt den Schutz der Urheber und Urheberinnen von Werken der Literatur und Kunst (Art. 1 URG). Werke geniessen urheberrechtlichen Schutz, sofern sie geistige Schöpfungen der Literatur und Kunst sind, und einen individuellen Charakter aufweisen (Art. 2 Abs. 1 URG).

Kompatibilitätsfragen zwischen künstlerischen oder literarischen Werken untereinander stellen sich in der Praxis kaum. Als relevant erweist sich die Thematik aber im Software-Bereich. In Art. 2 Abs. 3 URG heisst es: «Als Werke gelten auch Computerprogramme». Software geniesst in der Schweiz urheberrechtlichen Schutz, wenn deren Programmaufbau bzw. -struktur ei-nen individuellen Charakter aufweist.137 Kompatibilitätsfragen stellen sich bei Computerprogrammen häufig, insbesondere dann, wenn verschiedene Computerprogramme miteinander interagieren müssen. Dies ist regelmässig der Fall bei der Installation von Anwendersoftware auf einem fremden (Dritt-)Betriebssystem138 oder bei grösseren Systemintegrationen (z.B. bei der Integration von Software in die vorbestehende Informatikumgebung eines Unternehmens).139 Das URG bietet für diese Problematik einen aus-drücklichen Lösungsmechanismus: Art. 21 URG statuiert ein zwingendes Recht von Nutzern zur Entschlüsselung von Computerprogrammen, sofern dieses für die Entwicklung, Wartung oder für den «Gebrauch von interope-rablen Computerprogrammen» erforderlich ist (sog. Recht zur «Dekompilie-rung»). Die Verwendung der durch die Entschlüsselung gewonnenen Infor-mationen bleibt auf die Herstellung der Interoperabilität mit einem anderen Computerprogramm beschränkt. Die gewonnenen Informationen dürfen

–––––––––––––– 136 Bundesgesetz über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte vom 9. Oktober

1992, SR 231.1. 137 Siehe dazu weiterführend M. ARN, Urheberrechtlicher Schutz der Software, in:

R. von Büren/L. David (Hrsg.), Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbs-recht (SIWR), Band II/2, Basel/Genf/München 1998, 1 ff.

138 Siehe dazu auch G. FRÖHLICH-BLEULER, Urheberrechtliche Nutzungsbefugnisse des EDV-Anwenders, Aktuelle Juristische Praxis (AJP) 1995, 569 ff. mit weiterführenden Beispielen.

139 Zur Systemintegration siehe z.B. D. SANGIORGIO, Systemintegration und -implementierung, in: G. Fröhlich-Bleuler (Hrsg.), Softwareverträge, Zürich/Basel/ Genf 2004, 151 ff.

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nicht für andere Zwecke eingesetzt oder sog. an Dritte weitergegeben wer-den.140

Soweit ersichtlich stellt Art. 21 URG die einzige explizite, gesetzliche Grundlage zur Kompatibilität in einem immaterialgüterrechtlichen Erlass dar, wenn auch nur auf Computerprogramme zugeschnitten. Gemäss Art. 21 URG ist es zulässig, mit Drittsoftware kompatible Software zu entwickeln und zu verbreiten. Dies impliziert noch keine Zulässigkeit der Übernahme fremder Software-Codes. Es gestattet nur, aber immerhin, ein Recht zur Ent-schlüsselung (Dekompilierung), d.h. zur Rekonstruktion und Überführung des Quellcodes in Objektcodesprache und Herstellung einer eigenen, mit einem Drittprodukt kompatiblen Software.141

VII. Die Kompatibilität und das Lauterkeitsrecht

1. Rechtliche Grundlagen

Das Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG)142 dient der Sicherung eines lauteren und unverfälschten Wettbewerbs. Es garantiert einen Wettbewerb, der nicht durch geschäftsmoralisch zu beanstandende Handlungen gestört wird.143 Das UWG erhält oft dann Relevanz, wenn im-materialgüterrechtliche Sondernormen nicht zur Anwendung gelangen.144 Das UWG ist in komplexer Weise in die Gesamtrechtsordnung eingebettet und konkurriert deshalb mit den Vorschriften des Immaterialgüterrechts.145 Prägender Unterschied zwischen dem UWG und dem Immaterialgüterrecht ist die relative bzw. quasideliktische Natur des UWG. Die Anwendbarkeit –––––––––––––– 140 D. BARRELET/W. EGLOFF, Das neue Urheberrecht, Kommentar zum Bundesgesetz

über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte, 3. Aufl., Bern 2008, Art. 21 N 4 f. 141 Der Software-Code und/oder die gegenständliche Software-Architektur bleiben urhe-

berrechtlich gemäss Art. 10 URG geschützt. Siehe weiterführend dazu auch Recht-sprechung wie z.B. «Source Code», Obergericht Zürich vom 11. Oktober 2010, sic! – Zeitschrift für Immaterialgüter-, Informations- und Wettbewerbsrecht 2011, 230.

142 Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 19. Dezember 1986, SR 241. 143 J. MÜLLER, Einleitung und Generalklausel, in: R. von Büren/L. David (Hrsg.),

Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht (SIWR), Band V/1, 2. Aufl., Basel/Frankfurt am Main 1998, 20.

144 R. H. WEBER, E-Commerce und Recht, 2. Aufl., Zürich 2010, 198. 145 C. BAUDENBACHER, Lauterkeitsrecht, Kommentar zum Gesetz gegen den unlauteren

Wettbewerb (UWG), Basel/Genf/München 2001, Art. 1 N 64.

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des UWG hängt vom spezifischen Nachweis eines qualifiziert unlauteren Verhaltens ab. Demgegenüber verkörpern Immaterialgüterrechte einen abso-luten, d.h. gegenüber jedermann geltend machbaren Schutz.146

Die Generalklausel von Art. 2 UWG hält fest: «Unlauter und widerrechtlich ist jedes täuschende oder in anderer Weise gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstossende Verhalten oder Geschäftsgebaren, welches das Verhältnis zwischen Mitbewerbern oder zwischen Anbietern und Abnehmern beeinflusst». Die Bestimmungen von Art. 3-8 UWG geben eine längere Liste von sog. Spezialtatbeständen wieder, welche spezifische Verhaltensweisen als unlauter taxieren. Jedes Wettbewerbsverhalten, das durch einen Spezial-tatbestand der Art. 3-8 UWG aufgegriffen wird, ist ohne weiteres auch un-lauter im Sinne der Generalklausel i.S.v. Art. 2 UWG. Die Anwendung der Generalklausel fällt aber nicht erst dann in Betracht, wenn ein Verhalten keinen Spezialtatbestand erfüllt. Art. 2 UWG dient vielmehr auch bei der Auslegung der Spezialtatbestände als Leitschnur.147

Das UWG enthält keine ausdrückliche Regelung zur Kompatibilität. Die Lehre stellt aber vereinzelt Bezüge zur Kompatibilität her. So schreibt z.B. BAUDENBACHER im Zusammenhang mit der Generalklausel von Art. 2 UWG: «(…) ist (…) der Vertrieb von Ersatzteilen für Geräte eines anderen Herstellers grundsätzlich zulässig. Das ergibt sich schon daraus, dass die äussere Gestaltung bei Ersatzteilen technisch bedingt ist. Der «Imitator» muss allerdings der Verwechslungsgefahr so weit als möglich entgegenwir-ken, z.B. durch demonstratives Anbringen seiner (von der Originalmarke deutlich abweichenden) eigenen Marke (…)».148 Ebenso bestätigt MÜLLER: «Herstellung und Auslieferung von Ersatzteilen für fremde Erzeugnisse sind grundsätzlich erlaubt, wenn das Ersatzteil keinen patent- oder modellrechtli-chen Schutz geniesst. Unlauter bleibt dabei aber die Täuschung über die tatsächliche Herkunft der Ersatzteile».149 Daraus ergibt sich erstens, dass die technische Bedingtheit nicht nur im Marken- oder Designrecht,150 sondern auch im Lauterkeitsrecht eine Rolle spielt. Im Vordergrund des lauterkeits-rechtlichen Irreführungsschutzes stehen kennzeichnungskräftige Merkmale von Produktausstattungen. Diese können im Einzelfall als marktrelevante –––––––––––––– 146 BAUDENBACHER (Fn. 145), Art. 1 N 88. 147 MÜLLER (Fn. 143), 56; BAUDENBACHER (Fn. 145), Art. 2 N 7. 148 BAUDENBACHER (Fn. 145), Art. 2 N 226. 149 MÜLLER (Fn. 143), 75, mit Verweisen auf BGE 116 II 475 ff. («Kotflügel»). 150 Zu diesem Aspekt siehe oben Ziff. IV.1. ff. und V.1. ff.

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Hinweise verstanden werden und sind deshalb geeignet, eine Irreführung von Abnehmern herbeizuführen.151 Eine solche Kennzeichnungskraft dürfte bei technisch motivierten Merkmalen eines Produkts aber selten vorliegen. So schreiben DAVID/JACOBS zur Spezialbestimmung von Art. 3 lit. d UWG (Irreführung über die Betriebsherkunft): «Naheliegende Waren- und Verpa-ckungsformen oder technisch bedingte Gestaltungen haben keine Kennzeich-nungskraft. Sie sind dem Verkehr grundsätzlich freizuhalten und eigenen sich nicht zur Monopolisierung für eine bestimmte Ware oder Dienstleistung».152 Zweitens spricht sich die Lehre aber auch für eine aktive Handlungspflicht der Marktteilnehmer zur Verhinderung von Irreführungen über die Herkunft ihrer Ersatzteilprodukte aus. SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER führen schliesslich zur Spezialbestimmung von Art. 3 lit. b UWG (unrichtige oder irreführende Angaben) aus: «Es ist vielmehr im Interesse des weit verstande-nen und auch vom UWG bezweckten Schutzes sowie der Förderung des Wettbewerbs, eine die Kompatibilität bezweckende Nachahmung zu gestat-ten».153 Im Ergebnis ähnliche Aussagen bringen PEDRAZZINI/PEDRAZZINI154 vor. Damit liegen doch viele Lehrmeinungen vor, die sich für eine kompati-bilitätsfreundliche Auslegung des UWG aussprechen.

Zur Kompatibilität und dem UWG besteht eine reichhaltige Rechtsprechung, die nachfolgend noch kurz vertieft werden soll.

2. Ausgewählte Rechtsprechung zur Kompatibilität im UWG

Im bereits erwähnten Entscheid «Scharniere für Fenster- und Türflügel»155 war die patentrechtliche und lauterkeitsrechtliche Nachahmung eines Fens-ter- und Türscharniers streitgegenständlich. Das Handelsgericht Zürich wies darin auch Ansprüche aus unlauterem Wettbewerb ab.156 Der Kläger rügte darauf vor Bundesgericht eine falsche Anwendung des UWG. Das Bundes-gericht befand, bei den Scharnieren beider Parteien handle es sich um ausge-

–––––––––––––– 151 Siehe dazu z.B. L. DAVID/R. JACOBS, Schweizerisches Wettbewerbsrecht, 5. Aufl.,

Bern 2012, Rz. 234 ff. 152 Siehe DAVID/JACOBS (Fn. 151), Rz. 236. 153 P. SPITZ/S. BRAUCHBAR BIRKHÄUSER, in: Bundesgesetz gegen den Unlauteren Wett-

bewerb (UWG), Handkommentar, Bern 2010, Art. 3 lit. b N 73. 154 M. M. PEDRAZZINI/F. A. PEDRAZZINI, Unlauterer Wettbewerb UWG, 2. Aufl., Bern 2002,

Rz. 4.24 mit Verweis auf den Entscheid BGE 108 II 327 ff. («Bausteine»). 155 Siehe BGE 87 II 54 ff. 156 Siehe dazu oben Ziff. III.1.

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sprochene Massenartikel ohne Spielraum für Verzierungen oder individuelle Ausgestaltungen. Die Vorinstanz hätte rechtlich zutreffend gefolgert, dass beide Gelenkstücke nicht anders als zylinderförmig gestaltet werden könn-ten. Von der Beklagten könne daher nur eine etwas abweichende Gestaltung der Scharnierköpfe verlangt werden.157 Der Kläger zeigte in seiner Beru-fungsschrift zeichnerische Vorschläge auf, wie eine Ausführung hätte gestal-tet werden können, die sich von seinem Erzeugnis genügend unterscheide. Das Bundesgericht befand, all diese Ausführungsarten seien der Beklagten nicht zumutbar. Sie hätten wegen des massiv grösseren Materialbedarfs und zusätzlicher Arbeitsgänge in der Ausführung unzumutbare Mehrkosten her-beigeführt.158 Diese (Kosten-)Erwägungen erinnern stark an die Überlegun-gen zur technischen Notwendigkeit und Zumutbarkeit alternativer Formen in den markenrechtlichen Entscheiden «Lego III» und «Nespresso».159 Art. 2 lit. b MSchG und Art. 4 lit. c DesG einerseits sowie das UWG andererseits scheinen von denselben wettbewerbspolitischen Zweckgedanken zur Kom-patibilität geprägt zu sein. Dieselben Interessenabwägungen wurden vom Bundesgericht im älteren Entscheid «Druckknopfschalter»160 vorgenommen, in welchem das Bundesgericht auch unter UWG-Gesichtspunkten zwischen «technisch bedingten» und «nicht technisch bedingten» Produktausstattun-gen unterscheidet.161

Aus lauterkeitsrechtlicher Perspektive erwähnenswert erweist sich auch der Bundesgerichtsentscheid «Gillette-Rasierklingen»:162 Das Bundesgericht hatte hier zu beurteilen, ob es der Konkurrentin Belras AG gestattet sei, Ra-sierklingen der Gilette Safety Razor Comp. («Gillette») mit einem genau übereinstimmenden Stanzbild zu vertreiben. Die Rasierklingen konnten auf bestehenden Rasierköpfen von Gillette unproblematisch aufgesetzt werden. Das Bundesgericht stützte sich in diesem Entscheid auf die umstrittene «Umwegtheorie», wonach für immaterialgüterrechtlich ungeschützte Er-zeugnisse nicht über den Umweg des UWG ein spezialgesetzlicher Schutz konstruiert werden könne.163 Das Bundesgericht führte wörtlich aus: «Daher –––––––––––––– 157 BGE 87 II 54, E. 3. 158 BGE 87 II 54, E. 3. 159 Siehe dazu oben Ziff. IV.2. und IV.3. 160 BGE 79 II 316 ff. 161 BGE 79 II 316, E. 2-4. 162 BGE 73 II 194 ff. 163 Siehe BGE 116 II 472 mit weiteren Hinweisen; siehe auch BGE 112 II 364, BGE 110

IV 107, BGE 107 II 89, BGE 104 II 332, BGE 84 II 227, BGE 80 II 174; dazu weiter-

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kann die Nachahmung der technisch bedingten, aber nicht durch eines der genannten Spezialgesetze geschützten Gestaltung eines Erzeugnisses auch unter der Herrschaft des UWG nicht beanstandet werden».164 Die Um-wegtheorie ist in der herrschenden Lehre höchst umstritten. Ein grosser Teil der Lehre lehnt die Umwegtheorie ab, weil sie fälschlicherweise eine Befrei-ung vor UWG-Subsumtionen suggeriert (im Sinne, dass ausserhalb des Im-materialgüterrechts frei nachgeahmt werden könne).165 Dies ist in einer solch absoluten Form abzulehnen.166 Nachahmungen sind nicht frei zulässig, wenn sie sich im Einzelfall unter dem UWG eben als unlauter erweisen.167 Im Weiteren befand das Bundesgericht, die Beklagte hätte ihrer Pflicht, alles vorzukehren, um Verwechslungen ihrer Klinge mit denjenigen der Klägerin zu verhindern, genügt, indem sie auf ihren Klingen und der Verpackung in grosser und deutlicher Schrift ihre Wortmarke «Helvetia» angebracht hatte. Dies sei ein unmissverständlicher Hinweis, dass es sich um ein Schweizer Produkt handelt, während jedermann weiss, dass Gilette ein nordamerikani-sches Unternehmen sei.168 Weitere nennenswerte Entscheide, die ähnliche Beurteilungen vorgenommen haben, sind z.B. die bereits unter dem Design-recht abgehandelten Entscheide «Volvo-Kotflügel»169 und «Tête de Lec-ture»170 oder der Entscheid «Wäschetruhe».171 Immerhin als Entscheid cont-ra Kompatibilität zu erwähnen ist der (strafrechtliche) UWG-Entscheid «Elektrischer Heizofen»,172 in dem aufgrund eines eingeholten Gutachtens befunden wurde, dass bei der Ausstattung eines elektrischen Heizapparats keine technisch bedingte Notwendigkeit vorlag und die Angeschuldigten deshalb zu Recht gestützt auf Art. 13 lit. d (alt)UWG zu einer Strafe verur-

führend E. PAHUD, Zur Kritik an der Umwegtheorie, sic! – Zeitschrift für Immaterial-güter-, Informations- und Wettbewerbsrecht 2004, 804.

164 BGE 73 II 194, E. 2. 165 So etwa suggeriert in A. JENNY, Die Nachahmungsfreiheit, Zürich 1997, Rz. 335 f. 166 Statt vieler siehe z.B. BAUDENBACHER (Fn. 145), Art. 1 N 87 ff. mit weiteren Hinwei-

sen; PEDRAZZINI/PEDRAZZINI (Fn. 154), Rz. 3.05; ebenso PAHUD (Fn. 163), 5 ff. und WEBER (Fn. 144), 213.

167 So z.B. D. SPACEK, Schutz von TV-Formaten, eine rechtliche und ökonomische Be-trachtung, Zürich 2005, 196.

168 BGE 73 II 194, E. 4. 169 BGE 116 II 471 ff.; siehe auch oben Ziff. V.2. 170 BGE 113 II 77 ff.; siehe auch oben Ziff. V.2. 171 BGE 92 II 202 ff. 172 BGE 88 IV 79 ff.

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teilt wurden.173 Insgesamt ist aber eine doch erhebliche Anzahl (wenn nicht sogar überwiegende Mehrheit) lauterkeitsrechtlicher Entscheide pro Kompa-tibilität festzustellen.

3. Prüfungsansätze zur Kompatibilität im UWG

Unter dem UWG besteht ein beträchtlicher, einzelfallorientierter Argumenta-tionsspielraum zur Durchsetzung kompatibler Ersatzprodukte. Die überwie-gende Mehrheit der Lehre und Rechtsprechung spricht sich für das kompa-tible Ersatzteilgeschäft aus. Nachfolgend sollen die aus der Lehre und Rechtsprechung gewonnenen Prüfungsansätze kurz zusammengefasst wer-den:174

(i) Das Lauterkeitsrecht weist ähnliche Prüfungsansätze und Inte-ressenabwägungen wie das Marken- und Designrecht auf. Sind Merkmale einer Produktausstattung technisch notwendig oder bedingt, mangelt es ihnen in der Regel an einer wettbewerbsre-levanten Kennzeichnungskraft und deren Nachahmung ist zu-mindest aus lauterkeitsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Es scheint, dass die Rechtsprechung unter dem Lauterkeitsrecht begrifflich nicht zwischen «technisch notwendigen» und «tech-nisch bedingten» Ausstattungen unterscheidet (wie etwa im markenrechtlichen Entscheid «Lego III»175). Beide Termini werden in der UWG-Rechtsprechung eher als Synonyme ver-wendet.

(ii) Der Vertrieb kompatibler Ersatzteile wird unter dem UWG grundsätzlich als zulässig angesehen. Es braucht qualifiziert ir-reführender oder rufausbeutender Umstände, damit ein solches Verhalten im Einzelfall als unlauter i.S. des UWG beurteilt wird.

(iii) Der Vertrieb kompatibler Ersatzprodukte wird dann nicht als unlauter angesehen, wenn einer Irreführungsgefahr mit konkre-ten Massnahmen aktiv entgegengesteuert wird (z.B. eine be-

–––––––––––––– 173 BGE 88 IV 79, E. 2. 174 Siehe zum Ganzen oben Ziff. VII.1. und Beispiele in Ziff. VII.2. 175 Siehe dazu oben Ziff. IV.2.

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wusst andere Beschriftung des Produktes oder der Verpackung mit Namen oder Kennzeichen des Konkurrenzbetriebes).

VIII. Fazit Die am Anfang dieses Beitrags exponierten drei Thesen sind dem Leser noch einmal rückblickend in Erinnerung zu rufen:

– Immaterialgüterrechte blockieren den Wettbewerb und verhindern den Vertrieb kompatibler Ersatzprodukte;

– mit Immaterialgüterrechten wird eine «Abschottung» von Produkt-Systemen vor kompatibler Ausseneinwirkung erzwungen;

– nur das Kartellrecht kann – und muss – hier ergänzend eingreifen.

Basierend auf den in diesem Beitrag erarbeiteten Erkenntnissen gelangt der Autor zu folgendem Schluss:

Die drei oben genannten Thesen erweisen sich als dogmatisch undifferen-ziert, wenn nicht sogar als falsch. Die Erkenntnisse aus diesem Beitrag haben gezeigt, dass sämtliche Immaterialgüterrechtserlasse den Aspekt der Kompa-tibilität über die Schutzvoraussetzungen, die Schutzausschlussgründe sowie eng definierte Schutzumfänge adressieren. Wie die Lehre und Rechtspre-chung zudem bestätigt, sind die Schutzvoraussetzungen, Schutzausschluss-gründe und Schutzumfänge von Immaterialgüterrechten wettbewerbspoli-tisch motiviert und deshalb offen für eine wettbewerbsfreundliche Interpretation. Der Autor stört sich am häufig verwendeten Ausdruck «Im-materialgüter- und Wettbewerbsrecht». Immaterialgüterrecht ist Wettbe-werbsrecht. Nicht nur sollen Immaterialgüterrechte langfristig betrachtet Innovationen fördern,176 auch die internen Schranken von Immaterialgüter-rechten dienen gerade der freien Wettbewerbssicherung.177 Sie können und sollen im Interesse einer freien Wettbewerbsordnung ausgelegt werden.

–––––––––––––– 176 Zur ökonomischen Rechtfertigung von exklusiven Immaterialgüterrechten siehe z.B.

H. SCHÄFER/C. OTT, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 3. Aufl., Berlin/Heidelberg/New York 2000, 577.

177 Zu den rechtspolitischen Motiven der immaterialgüterrechtlichen Schrankenbestim-mungen im Einzelnen siehe oben Ziff. III.1., IV.1. und V.1.

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Nachfolgend seien die im Rahmen dieses Beitrags erarbeiteten, immaterial-güterrechtlichen Spielräume zur Kompatibilität noch einmal abschliessend resumiert:

(i) Kompatible Ersatzprodukte können unter gegebenen Umständen mit patentrechtlich geschützten Erfindungen kollidieren. Wie die Rechtsprechung und Lehre gezeigt hat, kann je nach patent-rechtlichem Schutzumfang unterschiedlich und wirksam pro Kompatibilität argumentiert werden. Am ehesten als für kompa-tible Ersatzprodukte bedrohlich erweisen sich die sog. «Kombi-nationserfindungen». Bei diesen Erfindungen besteht die Eigen-tümlichkeit im neuartigen Kombinieren von nicht zwingend geschützten Einzeleigenschaften untereinander. Unter Umstän-den können solche Kombinationen gerade einen kompatiblen Interaktionsmechanismus beschreiben. Für kompatible Ersatz-produkte kann dies das Vorliegen einer Patentverletzung impli-zieren.178

(ii) Kompatible Ersatzprodukte können unter gegebenen Umständen mit geschützten Kennzeichen- oder Gestaltungsrechten kollidie-ren (z.B. Marken oder Designs). Doch sind technisch notwendi-ge bzw. ausschliesslich technisch bedingte Elemente vom Mar-ken- oder Designschutz grundsätzlich ausgeschlossen. Die Notwendigkeit bzw. Bedingtheit solcher Elemente orientiert sich an der Zumutbarkeit für Konkurrenten, auf alternative Formen bzw. Gestaltungen auszuweichen. Dieser Aspekt liefert Spielraum für eine wettbewerbsfreundliche Argumentation. Im Einzelfall kann durch Nutzung dieses Spielraums wirksam pro Kompatibilität argumentiert werden.179

(iii) Das Urheberrechtsgesetz gewährleistet die Interoperabilität von Computerprogrammen ausdrücklich (Art. 21 URG). Soweit er-sichtlich ist das Urheberrechtsgesetz der einzige immaterialgü-terrechtliche Erlass, der eine explizite Grundlage für kompatible Softwareerzeugnisse statuiert.180

–––––––––––––– 178 Siehe dazu im Einzelnen oben Ziff. III. 179 Siehe dazu im Einzelnen oben Ziff. III. und V. 180 Siehe dazu im Einzelnen oben Ziff. VI.

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(iv) Das Lauterkeitsrecht (UWG) spricht sich gemäss der Lehre und Rechtsprechung überwiegend pro Kompatibilität aus. Lauter-keitsrechtlich sind Hersteller kompatibler Ersatzprodukte aber gehalten, konkrete Massnahmen zur Vorbeugung vor Irrefüh-rungen bzw. Verwechslungen mit Originalherstellern vorzukeh-ren.181

Entgegen der drei eingangs erwähnten Thesen, erweist sich die Immaterial-güterrechtsordnung und Rechtsprechung als erstaunlich stark pro Kompatibi-lität ausgerichtet. Der faktische Einsatz von Immaterialgüterrechten zur ge-zielten Kompatibilitätsverhinderung ist jedoch ein anderes (empirisches) Thema, das in diesem Beitrag nicht untersucht wird.

Als Gegenstrategie zu einer kompatibilitätsfreundlichen Auslegung des Im-materialgüterrechts verbleibt Originalherstellern nur noch eine letzte «basti-on de la résistance»: Die technische Inkompatibilität. Wer eine ältere Den-ner-Kaffeekapsel in eine der neueren Nespresso-Maschinen einzusetzen versucht, sollte sich nicht wundern, wenn die Kapsel aus unerklärlichen Gründen nicht reinpassen oder zerfetzt im Halter steckenbleiben könnte. Konkurrenten werden immer bestrebt sein, ihren Produktbau soweit wie möglich vor produktfremder Ausseneinwirkung zu isolieren. Basierend auf der eigenen Wahrnehmung des Autors als praktisch tätiger Anwalt wird zwi-schen zahlreichen Unternehmen ein technischer Wettstreit gelebt, Produkte fortlaufend in neuen, mit Konkurrenzprodukten gezielt inkompatiblen Versi-onen herzustellen. Unternehmen verschaffen sich damit für eine beschränkte Zeit Ruhe bis die Konkurrenz eines Tages wieder «nachgebaut» hat – ein Zyklus, der ein wenig an das Wettrüsten militärischer Streitkräfte erinnert, wenngleich in einem zivilisierteren Rahmen. Systemtheoretisch offenbart sich dabei ein altbekanntes Schema: Wo das Recht monopolistischen Bestre-bungen Barrieren setzt, eröffnet die Technologie neue Horizonte.182

–––––––––––––– 181 Siehe dazu im Einzelnen oben Ziff. VII. 182 Zum Wechselverhältnis zwischen Technologie und Recht siehe auch WEBER

(Fn. 144), 262 ff. mit weiterführenden Hinweisen zum Digital Rights Management («DRM»). DRM beschreibt technische Schutzvorrichtungen, die das Urheberrecht als Regelungsmechanismus weitgehend technisch substituieren. Zur kartellrechtlichen Beurteilung siehe neu S. MUSY/A. ALBERINI, Design Change: quelles limites posées par le droit de la concurrence? In: Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR), Band 135 (2016), 135 ff.

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Und so erwacht ein technischer Gegenzyklus zum Leben bis das Recht ihn – im Wandel der Zeit – wieder einmal einfangen wird. Doch dies ist Zu-kunftsmusik und bildet nicht Gegenstand dieses Beitrags.