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Der philosophische Gedanke und seine Geschichte Aus den Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften Jahrgang 1936. Phil.-Hist. Klasse. Nr. 5 I. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Geschichte der Philosophie als Gegenstand der Forschung, Darstellung und Lehre dem Denken un- serer Tage wieder ein Gegenstand der Sorge geworden ist. Im Anfang des Jahrhunderts sah es anders aus. In vielbändigen Kompendien schien das Wissen um Vergangenheit und Werdegang des philosophischen Ge- dankens erarbeitet und wohl aufgehoben zu sein. Der Streit der Auf- fassungen schlief freilich nicht, aber er betraf nicht das Ganze und nicht das „Faktische", wie man es verstand. Der Historismus hat diesen Traum zerstört. Die Gesichtspunkte, unter denen gewertet, ausgelesen, ge- deutet und zusammengebaut wurde, sind uns als zeitbedingte fragwürdig geworden; Zusammenhänge, die einleuchtend schienen, die Einheiten von Perioden und Richtungen, die als gegeben galten, erscheinen uns einseitig; die Grenzen des Tatsächlichen und des Rekonstruierten haben sich als zweideutig erwiesen. Die große Erarbeitung des Gesamtbildes, die nach dem Tode Hegels begann und so viel positives Wissen gezeitigt hat, hat nicht zum Ziele geführt. Indem sie zu Ende ging, zeigte sich, daß sie uns vielmehr aufs neue an den Anfang stellte. Dieses Schicksal teilt die Geschichte der Philosophie zwar mit fast aller Geschichtsforschung. Aber nicht überall ist es so fühlbar, und nicht über- all hat es zu solcher Vielspältigkeit geführt. Als Lehrgegenstand wird sie auf diese Weise fast illusorisch. Stellt man den Lernenden, wie es die Sachlage erfordert, nicht nur vor die Vielheit der Systeme und Lehr- meinungen, sondern auch noch vor die der Deutungen und Auffassungen, so nimmt man ihm jede Möglichkeit, sich in dieser uferlosen Mannig- faltigkeit zurechtzufinden; man bringt ihn, statt zur Orientierung und zum Verstehen, geradezu zur Verzweiflung an allem Verstehen, ja zu vor- zeitiger Ernüchterung und Abwendung. Er sucht, wie jeder seelisch Ge- sunde, naturgemäß den geistigen Gehalt des weltanschaulichen Denkens; und er bekommt, vor den Relativismus der „Meinungen über Meinungen" gestellt — so muß es ihm scheinen —, lauter Surrogate. Wo die Unent- schiedenheit durch die Art des Lehrstoffes habituell wird, da entwöhnt sich der sich bildende Intellekt der Entscheidung — und damit auch des Verarbeitens und des Erkennens. l Hartmann, Kleinere Schriften II Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 10/30/13 5:48 PM

Abhandlungen zur Philosophie-Geschichte || 1. Der philosophische Gedanke und seine Geschichte

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Der philosophische Gedanke und seine GeschichteAus den Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften

Jahrgang 1936. Phil.-Hist. Klasse. Nr. 5

I.Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Geschichte der Philosophie

als Gegenstand der Forschung, Darstellung und Lehre dem Denken un-serer Tage wieder ein Gegenstand der Sorge geworden ist. Im Anfang desJahrhunderts sah es anders aus. In vielbändigen Kompendien schien dasWissen um Vergangenheit und Werdegang des philosophischen Ge-dankens erarbeitet und wohl aufgehoben zu sein. Der Streit der Auf-fassungen schlief freilich nicht, aber er betraf nicht das Ganze und nichtdas „Faktische", wie man es verstand. Der Historismus hat diesen Traumzerstört. Die Gesichtspunkte, unter denen gewertet, ausgelesen, ge-deutet und zusammengebaut wurde, sind uns als zeitbedingte fragwürdiggeworden; Zusammenhänge, die einleuchtend schienen, die Einheitenvon Perioden und Richtungen, die als gegeben galten, erscheinen unseinseitig; die Grenzen des Tatsächlichen und des Rekonstruierten habensich als zweideutig erwiesen. Die große Erarbeitung des Gesamtbildes,die nach dem Tode Hegels begann und so viel positives Wissen gezeitigthat, hat nicht zum Ziele geführt. Indem sie zu Ende ging, zeigte sich, daßsie uns vielmehr aufs neue an den Anfang stellte.

Dieses Schicksal teilt die Geschichte der Philosophie zwar mit fast allerGeschichtsforschung. Aber nicht überall ist es so fühlbar, und nicht über-all hat es zu solcher Vielspältigkeit geführt. Als Lehrgegenstand wird sieauf diese Weise fast illusorisch. Stellt man den Lernenden, wie es dieSachlage erfordert, nicht nur vor die Vielheit der Systeme und Lehr-meinungen, sondern auch noch vor die der Deutungen und Auffassungen,so nimmt man ihm jede Möglichkeit, sich in dieser uferlosen Mannig-faltigkeit zurechtzufinden; man bringt ihn, statt zur Orientierung undzum Verstehen, geradezu zur Verzweiflung an allem Verstehen, ja zu vor-zeitiger Ernüchterung und Abwendung. Er sucht, wie jeder seelisch Ge-sunde, naturgemäß den geistigen Gehalt des weltanschaulichen Denkens;und er bekommt, vor den Relativismus der „Meinungen über Meinungen"gestellt — so muß es ihm scheinen —, lauter Surrogate. Wo die Unent-schiedenheit durch die Art des Lehrstoffes habituell wird, da entwöhntsich der sich bildende Intellekt der Entscheidung — und damit auch desVerarbeitens und des Erkennens.l H a r t m a n n , Kleinere Schriften II

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Der philosophische Gedanke und seine Geschichte

Hier liegt offenbar irgendwo ein Fehler in der Rechnung der Ge-schichtsforschung und Darstellung. Die Frage ist: wo liegt er ? In derbloßen Unvollständigkeit des Erarbeiteten kann er nicht liegen; die Er-fahrung hat gelehrt, daß alle Vervollständigung ihn nur noch fühlbarermacht. Man wird ihn wohl oder übel in der Grundeinstellung der histo-rischen Arbeit suchen müssen. Um ihn aufzudecken aber bedarf es einesweiten Ausholens.

Alles, was wir im Leben unsere Erkenntnis nennen, ist in Wirklichkeitein Gemenge von Erkenntnis und Irrtum. Ein direktes Kriterium derWahrheit haben wir nicht; Wahrheit ist kein greifbares Inhaltsmomentam Erkannten, sondern ein Verhältnis zu etwas, was wir nicht anders alseben durch unsere Erkenntnis kennen, zum Gegenstande. Alle Bewahr-heitung geht den umständlichen Weg der Bewährung am Gegenstande.Das Gegenstandsbewußtsein kann sie im Leben meist nicht abwarten, esgreift vor, ergänzt, kombiniert und nimmt das ungeprüfte Produkt fürWahrheit. Auch die Wissenschaften sind nicht frei davon, jeder For-schende weiß es wohl und rechnet mit der Irrtumsquelle; aber auch ermuß mit der noch vagen Chance des Treffens rechnen, das Unerwiesenehypothetisch gelten lassen, wobei die richtige Einschätzung des Gewiß-heitsgrades ihm niemals sicher sein kann. Es entstehen Theorien, werdenumstritten und verfochten und müssen wieder fallen gelassen werden.Immerhin korrigieren sie sich im Laufe der Zeit; die Wissenschaftschreitet fort, und was sich als stichhaltig erweist, besteht fort.

In der Philosophie ist das weit schwieriger. Sie geht ihrem Wesen nachauf das Ganze, Letzte, Grundsätzliche, auf dasjenige also, was amwenigsten in begrenzter Erkenntnis faßbar ist. Sie neigt darum von jeheram meisten zum freien Ergänzen, Konstruieren, Phantasieren. Die un-zugänglichsten Gegenstände verführen am stärksten zu konstruktivemDenken. Und es darf nicht verschwiegen werden, eben diese Gegenständesind es, die von vornherein die phantasievollen Köpfe anziehen, die nüch-terneren aber in heilsamer Distanz halten. In den meisten ihrer Reprä-sentanten ist die Philosophie von vorgefaßten Weltbildern ausgegangen,in die sie dann nachträglich hineinzwängen mußte, was der jeweiligeHorizont ihrer Gegenstände ihr zu bewältigen aufgab. Die so entste-henden Gedankenbauten sind die sogenannten philosophischen Systeme:sie konstruieren ein Ganzes vor Bewältigung der einschlägigen Problemeund entscheiden diese dann aus den Konsequenzen des Ganzen heraus.

Das sind wohlbekannte Dinge, sie würden keines Wortes bedürfen,wenn es sich um sie allein handelte. Aber es handelt sich nicht um sieallein. Die Philosophie besteht nicht in jenen Konstruktionen allein; esgeht stets neben diesen und von ihnen gleichsam verhüllt eine andere Artgedanklicher Arbeit einher, die an den Problemen fortschreitet, die ana-lysiert, untersucht, eindringt und die Tendenz hat, nichts als das Er-weisbare gelten zu lassen. Es ist die Seite der Philosophie, die sie mit dengesunden Tendenzen aller Wissenschaft gemein hat.

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Neben dem Systemdenken schreitet das Problemdenken. Meist arbeitetes in denselben Köpfen, die auch Systembildner sind. Oft widerstreiteteines dem anderen in ein und demselben Kopfe. Dennoch lassen sichdurch alle Zeiten hin unschwer zwei Typen von Denkern unterscheiden:solche, die vorwiegend Systemdenker sind, und solche, die vorwiegendProblemdenker sind. Die ersteren sind in der Überzahl. Die Meister derScholastik gehören fast ohne Ausnahme hierher, erst im späten Nomina-lismus bricht die Gegentendenz durch; im Altertum waren Plotin undProklus von dieser Art, in der Neuzeit Bruno, Spinoza, Wolf, Fichte,Schelling, Hegel. Der Problemdenker sind weniger. Man kann ihrenTypus in Platon und Aristoteles relativ rein repräsentiert sehen; aberauch Descartes, Leibniz und Kant lassen ihn deutlich erkennen. IhrSignum ist, daß sich ihr Denken entweder überhaupt nicht in ein Systemfügt oder doch es ständig überschreitet und durchbricht.

Aber nicht auf die Typik der Denker kommt es hier so sehr an wie aufdie beiden Typen des philosophischen Denkens selbst, die sich in ihrerArbeit bald scheiden, bald vermengen. Die eine Denkweise hängt an derSystemkonsequenz, sucht diese durchzuführen um jeden Preis; nicht aufdas Eindringen, sondern auf die Einstimmigkeit kommt es ihr an. Siekann dabei nicht umhin, die Probleme zu vergewaltigen; sie läßt er-zwungene Lösungen gelten. Oder aber, wenn die Probleme sich demSystem nicht fügen wollen, neigt sie dazu, sie abzuweisen, für falsch ge-stellte Fragen zu erklären.

Die andere Denkweise geht der Problemkonsequenz nach. Sie ent-scheidet nicht vor, setzt kein Weltbild voraus, auf das alles hinauslaufenmuß, oder ist doch bereit es jederzeit zu revidieren. Sie läßt sich ihrePrinzipien nicht geben, sie sucht erst nach ihnen. Sie geht von den Pro-blemen aus, die sie vorfindet, oder auf die sie im Vordringen stößt', umLösung der Probleme ist es ihr zu tun, und wenn sie sie nicht lösen kann,so verharrt sie im Suchen und in der Ungewißheit. Sie weist keine Pro-bleme ab, weil sie in ihrer Rechnung nicht aufgehen; sie harrt bei ihnenaus, geht jeden Weg mit ihnen, wohin immer sie führen mögen. DieProblemkonsequenz zwingt sie, den aufgeführten Gedankenbau immerwieder zu durchbrechen. Darum erscheint sie, vom System aus gesehen,meist als „inkonsequent".

Daran scheiden sich eindeutig die beiden Wege, ob es dem Denken umEinheit des Gedankenbaus geht oder um Erkenntnis. Sie scheiden sichhieran innerlich eindeutig auch da, wo sie äußerlich unlösbar in der Ge-dankenarbeit eines Denkers ineinander verwoben sind. Es ist im Grundeein Unterschied der denkerischen Haltung, des philosophischen Ethos.Das eine Mal geht es um das Verteidigen und Beweisen einer stand-punktlichen Position, das andere Mal um das Erringen von Einsicht undWahrheit. Darum ist, was das Systemdenken hervorbringt, ein zeitlichBedingtes, ein ephemeres Gebäude, was das Problemdenken erringt,dauernde Errungenschaft der Erkenntnis, ein Überzeitliches.

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Der philosophische Gedanke und seine Geschichte

So wenigstens ist es im Grundsätzlichen: die Systeme wechseln, sie sinddie Kartenhäuser des Gedankens, die leiseste Erschütterung läßt sie zu-sammenstürzen; die Einsichten der Problemforschung bleiben, siehalten sich im Kommen und Gehen der Systeme. Sie stürzen nicht mit,wenn diese zusammenbrechen. Sie kehren wieder, auf ihnen wird weiter-gebaut ; an ihnen gibt es den stetigen Gang fortschreitender Erkenntnis.

Und nicht an den Einsichten allein hängt dieser stetige Gang. DieProbleme selbst vielmehr haben geschichtliche Kontinuität. Nichtfreilich daß jeder Denker jedes Problem faßte, auch nicht daß sie alle vonAnbeginn schon da wären. Wohl aber geht ein Problem, einmal aufge-deckt, weiter — durch die Reihe der Lösungsversuche —, und zwar solange, bis es wirklich gelöst ist. Da aber philosophische Probleme ab-gründig sind und so leicht nicht zu einer wirklichen Lösung gelangen, sosind sie es, die das Denken sehr verschiedener Köpfe und ganzer Zeit-alter inhaltlich verbinden.

Das gilt natürlich nicht von den besonderen Problemstellungen und-fassungen, auch nicht von der jeweiligen Problemlage, die dem er-reichten Stande des Wissens in bestimmter Zeit eigen ist, wohl aber vonden eigentlichen Problemgehalten. Was wir das Problem der Seele, desGuten, der Gerechtigkeit, der Substanz nennen, ist nicht etwas will-kürliches, nicht menschengemacht; es sind unabweisbare, sich immerwieder aufdrängende, von keiner Zeitlage und keiner Interessenrichtungabhängige Grundfragen. Man kann sie im eigenen Denken wohl ver-fehlen, kann sie auch ignorieren, an ihnen vorbeileben, aber man kann siedamit nicht aus der Welt schaffen, nicht hindern, daß sie immer wiederauftauchen. Denn eben die Welt, wie sie einmal ist, und unser Leben inihr gibt sie uns auf. Der Mensch kann ihnen grundsätzlich nicht ent-fliehen, weil es nicht in semer Macht steht, die Welt zu ändern.

Auf Grund dieser Überlegungen läßt sich nun in einem sehr be-stimmten Sinne fragen: was hat die Geschichtsschreibung der Philo-sophie bisher geleistet ? Hat sie sich um den bleibenden Gewinn in derGeschichte der Gedanken bemüht, um Einsichten und Errungenschaften ?

Daß sie auch diese mit verzeichnet, soweit sie zum inhaltlichen Ganzengehören, ist selbstverständlich. Es fragt sich aber, ob sie das Erkenntnis-gut auch als solches unterschieden und aus dem Augenblickswerk derSysteme herausgehoben hat. Es hätte dazu einer besonderen Bemühungbedurft, einer solchen, die zunächst auf das Wiedererkennen der Pro-bleme geht. Die Problemgehalte eben liegen nicht immer vordergründigzutage, sie verbergen sich hinter oft ganz anders geformten Fragestel-lungen der Denker. Sie verraten sich oft nur im scheinbar Peripheren —in dem wenigstens, was von den Systemen aus peripher dasteht; und voll-ends sind sie nicht an den Begriffen oder Termini erkennbar, denn nichtsist beweglicher in der Geschichte als Begriffsbildung und Terminologie.Derselbe Ausdruck wechselt schon von einem Denker zum anderen dieBedeutung, über längere Zeiträume hin muß das, was er besagte, immererst rekonstruiert werden. Und dafür genügen die Systemzusammen-

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hänge genau so wenig wie die der epochalen Anschauungen; mit denersteren gewinnt man stets nur das Vordergründige und Ephemere imGedankenbau eines Denkers, mit den letzteren nur die vorphiloso-phischen Voraussetzungen und Vorurteile. Es bedarf schon des Wieder-erkennens der durchgehenden Problemgehalte, um tiefer einzudringen.Für diese aber muß man das Organ haben, muß selbst als Suchender undForschender in ihnen stehen, muß also selbst systematischer Denker sein.

Grundsätzlich ist hier zu sagen: das Organ des Verstehens über dieZeiträume geschichtlicher Distanz hin wächst einem erst in der Arbeit anden Problemen. Denn da es sich in diesem Verstehen um ein Wiederer-kennen der Problemgehalte handelt, so kann man geschichtlich verstehennur das, woran man das eigene Denken erprobt hat. Der reine Historiker,der selbst nicht Philosoph ist, kann das nicht. Er kann es genau so wenig,wie er Geschichte der Mathematik schreiben könnte, ohne Mathematikerzu sein. Der Unterschied ist nur, daß das im letzteren Falle eine Selbst-verständlichkeit ist, die zu bezweifeln niemandem einfallen würde,während es im Falle der Philosophie, wo jeder Dilettant sich einbildenkann, Philosoph zu sein, erst bei einem hohen Stande denkerischer Er-fahrung einsichtig wird.

Was also hat die Geschichtsforschung der Philosophie bisher geleistet ?Bei dieser Frage ist in erster Linie an die großen Darstellungen im19. Jahrhundert zu denken, neben welche die Gegenwart noch nichtsGleichwertiges zu stellen hat, — an das Lebenswerk Johann EduardErdmanns, August Brandis', Heinrich Ritters, Karl Prantls, EduardZellers, Kuno Fischers, Wilhelm Windelbands, sowie aller derer, die imgleichen Geiste geforscht und in ihrer Weise zu dem Gesamtbilde beige-tragen haben, das uns diese „klassische" Epoche der Geschichtsschrei-bung hinterlassen hat. Nicht auf die mannigfachen Unterschiede der Ein-stellung und Auffassung kommt es hierbei an, nicht auf Bewertung, Be-tonung und Gewichtsverlegung, sondern einzig auf das methodischeGrundmoment, die Art der Fragestellung und des Suchens selbst.In diesem Punkt läßt sich eine bemerkenswerte Einheitlichkeit ver-zeichnen.

Es muß gesagt werden: diese klassische Geschichtsschreibung stand imwesentlichen unter der Frage nach dem Gedanken, der Meinung (Lehr-meinung), der Anschauungsweise, dem System. Man fragte nach demhistorischen Faktum. Aber man verstand das Faktum einer Philosophieals Gedankenfaktum. Man fragte sich bei jedem Denker: ,,was hat er ge-lehrt, was hat er recht eigentlich gemeint, welche Gesamtanschauung hater erstrebt"; man fragte nicht: „was hat er gesehen, erkannt, begriffen,welche Errungenschaften hinterließ er". Es unterliegt freilich keinemZweifel, daß auch bei solchem Vorgehen manche Errungenschaft, mancheunverlierbare Einsicht mit verzeichnet wurde; wer diese Darstellungenmit kritischem Blick liest, kann weit mehr aus ihnen gewinnen, als sie derTendenz nach geben. Aber er muß die Auslese selbst vollziehen, und dazumuß er den systematischen Sinn für Probleme mitbringen, an dem die

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Darstellungen selbst es fehlen lassen. Es gehört dazu die besinnlichereFrage nach Erkenntnis und Irrtum1.

Es ist gewiß nicht so, daß die Meister dieser Geschichtsschreibungnichts getan hätten als die gedanklichen Gebäude der philosophischenWeltbilder zu rekonstruieren. Sie haben Zusammenhänge, Gegensätze,Querverbindungen, Abhängigkeiten, Richtungen und Tendenzen, sowiederen Wirkung aufeinander herausgearbeitet. Es fehlt auch nicht anmancherlei kritischer Erwägung; wobei es freilich die Frage ist, wie weitihr eigenes philosophisches Denken die Höhe der maßgebenden Ge-sichtspunkte besaß. Auffallend aber bleibt es, daß sie alle im Maße ihrerHingabe an die Denkweise der behandelten Systematiker der Magie derSysteme verfallen; ihr eigenes Denken wird gleichsam hineingezogen indie Bahnen der Systemkonsequenz, es wird von der Macht des größerenGedankens eingefangen und unfrei gemacht. Jeder Gesichtspunkt, dereinem „System" nicht immanent ist, scheint ihnen unangemessen, ja un-historisch, sie lehnen ihn darum ab. Was übrig bleibt in einer solchen Ge-schichtsschreibung der Philosophie, ist schließlich doch nicht viel mehrals die Reihe der Weltbilder und Systeme.

Nun sind aber, im ganzen genommen, gerade die Systeme Produkte dervorentworfenen Konzeptionen, Vorurteile und Konstruktionen, d. h. siesind im wesentlichen gerade die Irrtümer der Philosophie, das Vergäng-liche, oder doch zum mindesten das Fragwürdige in ihr. Was man aufdiese Weise darstellte, ist also in der Hauptsache nicht so sehr die Ge-schichte menschlicher Erkenntnisse, als die Geschichte menschlicher Irr-tümer. Die so verstandene und dargestellte Geschichte der Philosophie

1 Was es mit dem Unterschied im Fragen nach der „Lehrmeinung" und nachder „Errungenschaft" auf sich hat, läßt sich nur an Beispielen zeigen. DunsScotus gelangte zu einer Fassung des Individualitätsbegriffs, die unter den Vor-aussetzungen des von ihm festgehaltenen Universalienrealismus nicht auswertbarwar. Er „meinte" etwas durchaus Unausdenkbares und stieß damit auf berechtigteKritik; aber er „entdeckte" trotzdem als erster den unverlierbaren Sinn echterqualitativer (nicht bloß numerischer) „Einzigkeit", so wie ihn viel später Leibnizherausgearbeitet hat. — Ahnlich ist es mit Kants berühmter Lösung der drittenAntinomie. Er „meinte" den Gegensatz von Ding an sich und Erscheinung alsBedingung der Möglichkeit einer Koexistenz von Kausalität und Freiheit. Ermachte damit den transzendentalen Idealismus zur Voraussetzung dieser Lösung.Eben diese Voraussetzung aber ist mit Recht bestritten worden. Ist die Lösungder Antinomie damit hinfällig geworden ? So zu urteilen wäre kurzsichtig. Nichtauf den Idealismus kommt es hier an, sondern auf die Zweiheit heterogenerSeinsschichten mit verschiedener Seinsweise — in der einen Welt und selbst inder Einheit des Menschenwesens. Das ist es, was Kant „sah", was er durchseinen Idealismus hindurch „entdeckte". Vgl. meine Schrift „Diesseits vomIdealismus und Realismus", Berlin 1924. — Allgemein: was die großen Denker„wissen" und in ihre „Lehre" aufnehmen, ist selten identisch mit dem, was sie„sehen" oder „entdecken". Die wenigsten Entdecker wissen es ganz, was eigent-lich sie entdeckt haben; sie teilen fast alle das Schicksal des Columbus. Erst dieEpigonen wiesen es.

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ist recht eigentlich das von Kant geschilderte ,,Herumtappen", das des„sicheren Ganges einer Wissenschaft" entbehrt1.

Diese Tendenz ist alt. Man kann sie bis in die antike Doxographie hin-ein zurückverfolgen, kann sie in der Tätigkeit der Kommentatorenwiederfinden2. Sie stammt also nicht erst aus dem Interesse eigentlicherGeschichtsforschung, sie stammt aus einer gewissen Populäreinstellungzur Philosophie, die sich an das zunächst Greifbare hält, an das mehrAuffallende, Laute, Bunte, an das, was allgemein beachtet und be-sprochen wird, was Berühmtheit erlangt. Das ist niemals die ver-schwiegene, esoterische Arbeit an den Problemen mit ihren meist sehrbescheiden anmutenden Resultaten; um so mehr aber ist es die Lehr-meinung, das Diktum, das Weltbild, das System. Es hat in sehr ver-schiedenen Zeiten Begeisterung für die großen Prachtbauten des Ge-dankens, rein um ihrer selbst willen, gegeben. Oft war es die Freude amKonstruktiven als solchen, oft das metaphysische Bedürfnis, oft auch dieFlucht aus der Wirklichkeit, manchmal wohl gar bloß intellektuellesSensationsbedürfnis oder Gedankenschwelgerei. Das ernsteste unter denMotiven dieser Art, der Drang, die Welträtsel gelöst zu sehen, ist so all-gemein menschlich, daß seine Beharrlichkeit im Wechsel der Zeiten nichtverwundern kann. Auch die moderne Geschichtsschreibung der Philo-sophie steht in seinem Banne; und die Intensivierung des historischenFragens — nach den ersten Ursprüngen eines Gedankens, nach geschicht-lichen Einflüssen, nach Auswirkung und Umbildung der Motive — hathieran nur wenig geändert. Auch die treffendste Herausarbeitung vonZusammenhängen ist noch weit entfernt vom Unterscheiden zwischenbloßer Lehrmeinung und echter Einsicht.

Wilhelm Windelband trat in seiner Zeit mit dem Programm einer Ge-schichte der Probleme hervor und suchte sie durchzuführen. Von einersolchen sollte man die Verzeichnung des fortschreitenden Eindringens,der Teillösungen und der geschichtlichen Verschiebung der Problemlageerwarten. Im Resultat mußte es dabei auf das Vorwärtskommen der Er-kenntnis hinauslaufen. Statt dessen begnügt sich die Darstellung miteiner Einteilung des Stoffes nach „Gebieten" oder Disziplinen innerhalbder Epochen. Es werden nur die Problemgruppen nach begrenztenLängsschnitten vorgenommen, nicht anders als sonst die einzelnenDenker nach der Ganzheit ihrer Systeme vorgenommen wurden. Dabeigeht die Querverbindung der Problemgruppen teilweise verloren oderwird unübersichtlich; im übrigen aber bleibt es bei Gedanken und Lehr-meinungen, bei Systemen und Ismen. Die Errungenschaften der Ein-sicht heben sich aus der Masse des Gedankenmaterials nicht mehr heraus

1 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorwort zur 2. Aufl., Anfang.2 Eine sehr bedeutende Ausnahme steht übrigens gerade an der Spitze aller

Geschichtsschreibung der Philosophie: Aristoteles war es, der anders verfuhr(zumal in Metaph. A). Er suchte die Vorgänger auf Probleme und Einsichtenkin ab.

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als bei geschlossener Darstellung der Systeme. Die wirkliche Problem-geschichte, die auf dem Wiedererkennen der Probleme in der Gedanken-arbeit der Denker beruhen müßte, ist ungeschrieben geblieben.

Auch die geisteswissenschaftliche Richtung Wilhelm Diltheys undseiner Schule hat in dieser Hinsicht keine Änderung gebracht. Hier läuftalles auf die zeitgeschichtlichen Strukturzusammenhänge der geistigenStrömungen und Bewegungen hinaus; ins Zentrum des Interesses rückendie außerphilosophischen Mächte des Geistes — sei es des Glaubens, desGeschmacks, der sozialen Verhältnisse oder der Art des Sichauslebens.Von überallher werden „Motive" des Gedankens sichtbar; man versteht,warum die Philosophie einer Epoche gerade in die bestimmte Richtunggedrängt wird, die sie nun einmal einschlägt, warum sie bestimmte Lieb-lingsgedanken hegt und fortbildet, bestimmte Vorurteile festhält, für an-dere aber nicht empfänglich ist. Was der Gedanke im Gange der Er-kenntnis leistet, wieweit er die alten Grundprobleme aufgreift, fördertoder umbildet, bleibt dabei von untergeordneter Wichtigkeit1.

Natürlich handelt es sich nicht darum, einer Forschung solcher Ein-stellung ihr Recht zu schmälern. Sie ist in ihren Grenzen berechtigt undnotwendig, wie denn das geistesgeschichtliche Interesse ein durchausselbständiges und von den Problemen der Philosophie relativ unab-hängiges ist. Ja, wir bedürfen ihrer auch mittelbar für die Geschichts-forschung der Philosophie; denn Philosophie ist nun einmal jederzeitgetragen von Voraussetzungen und Tendenzen, die außerhalb ihrerwurzeln. Wir können auf Motive und Strukturzusammenhänge des ge-schichtlichen Geistes genau so wenig verzichten wie auf die Rekon-struktion der Systeme im Sinne der klassischen Geschichtsschreibung.Der Irrtum beginnt vielmehr erst, wenn man Forschung solcher Art fürdas Ganze oder auch nur für das zentrale Stück in der Erforschung des

1 Eine bestimmte Sonderrichtung dieser Art ist die auch von Dilthey selbstin vorbildlicher Weise in Angriff genommene Jugendgeschichte der großenDenker. Es liegt ihr der Gedanke zugrunde, daß alles Verstehen bis in die Anfängezurückgehen müsse. Sie hat bedeutende Fortsetzer gefunden. Aber was ist dasResultat ? Die Jugendgeschichte Hegels hat uns viel über die geistige Persondes Denkers, viel auch zur Zeitgeschichte gelehrt; über das, was Hegel „erkannte",was seine Zeit und die Nachwelt von ihm lernen konnte, hat sie uns weniggelehrt. Verstehen wir etwa den philosophischen Gehalt der Unendlichkeits-dialektik besser, wenn wir wissen, daß sie zuerst eine Dialektik des Gottesbegriffswar ? Das kann nur der bejahen, dem es um traditionelle Dinge der Gottesvor-stellung zu tun ist, nicht aber wer im eigenen Denken das Gewicht der Unendlich-keitsaporien bewegt. — Ähnlich steht es mit den großen Hoffnungen, die manvor einigen Jahren mit der Herausgabe der „Jenenser Logik und Metaphysik"verband. Hat diese Schrift wesentlich neue, wertvolle Einsichten Hegels unszum Verständnis gebracht ? Ich kann es nicht finden. Man sieht nur sehr deutlich,aus wie schiefen und einseitigen Anschauungen sich die späteren herausgeklärthaben. Doch scheinen diese Anschauungen die des ausgereiften Hegel eher zuverunklären als zu klären. Und vielleicht bedarf man noch eher zu ihrem Ver-ständnis der letzteren, als ihrer zu deren Verständnis.

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Werdeganges philosophischer Erkenntnis hält. Dieses Dafürhalten aberist es, das sich heute in den Fachkreisen aller Abstufung breit macht.

Bei solcher Einstellung kann in jeder Darstellung nur das für dieEpoche Aktuelle vorherrschen; denn von daher kommen die sicht-barsten Anstöße. Und bei weniger tiefen Forschern verschwimmt dannmeist alles in den Populärströmungen, Denkmoden und Schlagwörternder Zeitalter. Daß es auch einen eigengesetzlichen Gang der Problemegibt, daß zu allen Zeiten die epochemachenden Gedanken auf umwäl-zenden Einsichten beruhen und daß diese nicht anders als in einem Con-tinuum fortschreitender Erkenntnisarbeit sich einstellen — einem Con-tinuum, das verborgen hinter dem Streit der ausgesprochenen Meinungenhinläuft und stets erst der besonderen Aufdeckung bedarf —, das freilichkann man bei solcher Einstellung nicht sehen.

Die Einstellung selbst ist gerade deswegen so schwer angreifbar, weilihr bei aller Einseitigkeit doch eine gesunde Tendenz zur historischen Tat-sachentreue zugrunde liegt. Diese Tendenz ist natürlich in keiner Weiseanzutasten. Die Frage ist nur: was gilt ihr als „Tatsache" im geschicht-lichen Gange der Philosophie ? Ist es das bunte Spiel der frei schwei-fenden Gedanken, oder ist es das ernste Ringen des forschenden Geistesmit seinem Gegenstande — der Welt, dem Leben, dem eigenen Menschen-wesen ?

Es scheint, daß es sich hier um ein dreifaches Vorurteil handelt, dassich wie eine Mauer vor das historische Denken gelegt hat. Man muß esdurchbrechen, um freie Sicht zu bekommen.

Erstens, man meint, es sei im Grunde alles „gleichwertig", was einDenker lehrt. Man läßt natürlich eine gewisse Abstufung im Gewicht ver-schiedener Lehrstücke gelten, auch eine solche des Zentralen und Peri-pheren (im System), des Originellen und des Übernommenen u. a. m.Aber man hütet sich wohl, eine eigentliche Rangordnung der Gedankenin ihrem Erkenntniswert anzuerkennen. Dem Geschichtsforscher dieserArt scheint das zu gefährlich, er glaubt damit den sicheren Pfad derhistorischen Tatsachentreue zu verlassen. Er merkt es freilich meist nicht,daß er schon in der Auslese, die er trifft, auch von Unterscheidungendieser Art bestimmt ist; aber weil er es nicht weiß, ficht es ihn nicht an,und mit Bewußtsein zu werten, scheut er sich. Er würde sehr wahr-scheinlich in vieler Hinsicht objektiver sehen, wenn er die ohnehin nichtganz vermeidbare Abstufung nach dem Erkenntniswert offen ins Be-wußtsein erhöbe.

Zweitens, man denkt wie Fichte in seinem vielbewunderten Satz:„Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was man für einMensch ist." Man versteht diesen Satz zumeist keineswegs streng imSinne Fichtes; man meint einfach, das Gedanken werk eines Philosophenist der Ausdruck seiner persönlichen Art, seiner Neigungen, seinesWollens. Und rechnet man nun hinzu, ein wie mächtiger Faktor in jedemMenschen seine Zeitkindschaft ist, so kann man eine Fülle geschichtlicherMotive mit in diese Formel hineinnehmen. Dann scheint es sehr verstand-

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lieh, daß die Philosophie in nichts anderem als schlecht begründetenGedankenbauten bestehen kann, die höchst zeitbedingt und subjektiv,und darum geschichtlich flüchtige Erscheinungen sind. Man merkt nicht,daß man auf diese Weise bei einem Begriff der Philosophie anlangt, dergeradezu von vornherein allen Erkenntnisanspruch von ihr ausschließt.Und dann wird es sehr fraglich, warum überhaupt wir uns denn mit ihrerGeschichte als einem Lehrgegenstande beschäftigen, warum lebendeDenker sich mit Denkern der Vergangenheit immer noch auseinander-setzen oder gar bei ihnen Belehrung suchen.

Und drittens, man ist geneigt zu meinen, alles Wesentliche in den Lehr-systemen müßte aus irgendwelchen Quellen außerhalb der Philosophieherstammen, aus den Lebenstendenzen der Zeitverhältnisse, den still-schweigenden Voraussetzungen und Vorurteilen. An alle möglichenMächte denkt man dabei, nur nicht an die Macht der Erkenntnis, derProbleme, der ewigen Welträtsel — als hätte man ganz der ständigenBeunruhigung vergessen, die von diesen ausgeht1. Freilich gibt es dieaußerphilosophischen Mächte — geistige und ungeistige, in uns und außeruns —, sie sind nur nicht die einzigen in der Philosophie und im allge-meinen nicht diejenigen, die das Fortschreiten der Erkenntnis in ihr aus-machen. Am verhängnisvollsten dürften hier gerade die großen ge-schichtlichen Mächte sein, die kirchlichen im Mittelalter, die ökono-mischen, sozialen, utilitären in der Neuzeit. Wohl stehen ganze Lehr-systeme in durchsichtiger Abhängigkeit von herrschenden Überzeu-gungen; aber zweifellos sind es gerade die bahnbrechenden Einsichten,die sich stets erst gegen sie durchringen müssen. Folgt man der Herr-schaft der Überzeugungen allein, so langt man sehr bald bei der Kon-sequenz an, „wahr" sei in jeder Zeit nur, was ihren Tendenzen kon-veniert. Und damit hebt man den ursprünglichen Sinn von Erkenntnisund Irrtum auf und gelangt auf den nackten Pragmatismus hinaus.

II.Wir waren von der Frage ausgegangen, warum die klassische Ge-

schichtsschreibung der Philosophie weder den Bedarf der Philosophieselbst noch den des akademischen Lehrfaches, das sie hervorgetrieben,hat befriedigen können; warum sie trotz geistvoller Fortführung dochschließlich zu einer gewissen Desorientierung geführt hat. Die Antwortliegt jetzt auf der Hand: dem ist so, weil die Geschichte der Philosophie,die von dieser Geschichtsschreibung geschrieben wurde, keineswegs soohne weiteres identisch ist mit der wirklichen Geschichte der Philosophie.Was geschrieben wurde, war und blieb im wesentlichen Geschichte derGedanken, Anschauungen, Lehrmeinungen und Vorstellungsweisen

1 Ich erinnere hierzu an die ersten Worte der Kritik der reinen Vernunft:„Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrerErkenntnisse, daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann,. . . die sie aber auch nicht beantworten kann ...".

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Der philosophische Gedanke und seine Geschichte

sowie ihrer in den breiten Lebenszusammenhängen liegenden „Motive" ;oft auch nur Geschichte der Konstruktionen, Phantasien und Wunsch-träume — also dessen, was höchst relativ auf Menschen und Zeiten ist.Und die Meinung darin war, daß eben dieses auch die eigentliche Ge-schichte der Philosophie sei.

Man schrieb Geschichte der Philosophie, wie man Religionsgeschichteoder Kunstgeschichte schreibt, nicht wie man Geschichte eines Erkennt-niszweiges, einer Wissenschaft schreibt. Es war und wurde immer mehrbloße Geistesgeschichte, was man schrieb; und im Sinne einer solchensind die Resultate denn auch von hohem Wert. Das Hingen um die Be-wältigung von Problemen sowie das — freilich sparsame und oft an dieAnfänge zurückgeworfene — Fortschreiten im Erkenntnisgange kamdagegen zu kurz. Die ungeheure Arbeit, die das historische Denken hieraufgewandt, die Verfeinerung der Methoden, die immer zunehmendeVorsicht der Interpretation — den philosophisch Denkenden mutet dasalles nichtsdestoweniger so an, als wüßten die Historiker nicht mehr,was Philosophie eigentlich ist, als hätten sie vergessen, daß es in ihr umErkenntnis geht.

Was man für echte Geschichte der Philosophie hält, das hängt davonab, was man eigentlich für Philosophie hält. Ich behaupte im Ernst:die Klassiker der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert haben imgroßen ganzen — ähnlich wie schon die alten Doxographen — die Lehr-meinungen und Systembauten für das Wesen der Philosophie gehalten.Daher ihr geschärfter Sinn für Gedankenreichtum, Tiefsinn, Originalität,Geschlossenheit der Weltbilder, geschichtliche Wirksamkeit ; und darüberhinaus für das Wandern der Gedankenmotive und ihren Gestaltwandel.Daher aber auch der empfindliche Mangel an Sinn für den geschicht-lichen Gang der Probleme, für das, was in der Lebensarbeit der großenDenker und ganzer Zeitalter fortschreitendes Eindringen, Einsicht undErrungenschaft ist.

Es erhebt sich nun dagegen die Forderung einer Geschichtsforschung,die es mit den philosophischen Einsichten und Errungenschaften zu tunhat. Für eine solche ist es nicht das Wichtigste und Letzte, zu „ver-stehen", was die Denker gedacht, gemeint, gelehrt, gewollt haben,sondern „wiederzuerkennen", was sie erkannt haben.

Es ist eben dasselbe, was in der Geschichtsschreibung anderer Wissen-schaften selbstverständlich ist, z. B. in der der Naturwissenschaften.Freilich spielt bei diesen das Wissen um ihre eigene Geschichte keine sogroße Rolle; diese Wissenschaften haben ihren inneren stetigen Gang,und ein solcher besteht wesentlich darin, daß sie im Laufe ihrer Ge-schichte ihre Errungenschaften ständig auflesen, sammeln und imWeiterschreiten auswerten. Und ähnlich ist es bei manchen vorge-schrittenen Geisteswissenschaften, z. B. den Sprachwissenschaften.Solche Wissenschaften bedürfen des Wissens um ihre eigene Geschichtenicht in gleichem Maße. Aber wo dieses Wissen in ihnen aufkommt, dabildet der Fortgang der Einsicht naturgemäß das Kernstück, gegen das

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alle Arten phantasievoller Vorwegnahme durchaus zurücktreten. Nurdas Wissen der Philosophie um ihre Geschichte ist einen anderen Weggegangen — als bedürfte sie, die jenen stetigen Gang nicht aufweisenkann, auch nicht des nachträglichen Aufsammeins ihrer Errungen-schaften.

In Wahrheit ist es das umgekehrte Verhältnis: sie bedarf des nach-träglichen Aufsammeins um so mehr, als sie nicht laufend aufliest undauswertet, was sie im Ringen um ihre Probleme an Erkenntnis gewinnt.Hier liegt ein Wesensunterschied im geschichtlichen Gange der Philo-sophie liegen,tue meisten anderen Wissenschaften, zumal die Natur-vjäeensehaftea. Aber der Unterschied bedeutet nicht, daß die Philo-sophie sich weniger als jene um den Werdegang ihres Erkenntnisbe-standes zu kümmern hätte, sondern gerade daß sie weit mehr eigenes,in der jeweiligen Forschung verwurzeltes Interesse daran hat1. Denneben, weil sie nicht stetig aufsammelt, muß sie nachträglich ausgraben,was an Einsichten unter den Trümmern der „Systeme" begraben liegt.Schon allein die Tatsache der ständigen Auseinandersetzung des lebendenDenkers mit den Denkern der Vergangenheit sollte genügen, um dieseNotwendigkeit ad oculos zu demonstrieren.

Auf Auswertung ihres geschichtlichen Ganges kann keine Wissen-schaft verzichten. Es ist eben das natürliche Verhältnis, daß der geistigeNachfahre auf den Errungenschaften des Vorfahren weiterbaue. Wosolche Auswertung nicht laufend im Fortschritt der Erkenntnis ge-schieht, da muß sie nachgeholt werden. Und das Nachholen eben nimmtdie Form geschichtlichen Wissens an. Aber nur die Einsichten und Er-rungenschaften sind es, auf die das Nachholen sich erstreckt. Aus denIrrtümern der Vergangenheit wird der Philosoph freilich auch lernen —aber negativ, so wie auch im Leben jeder Mensch aus den eigenen Ver-fehlungen und Irrungen lernt. Und nicht das geschichtliche Verstehenvon Meinungen und Motiven gibt hier den Ausschlag, sondern die Reifedes Blicks für Erkenntnis und Irrtum.

Meint man nun, es gäbe hier nichts auszuwerten, so hat man schonvorausgesetzt, daß es in der Philosophie keinen Fortgang der Erkenntnisgäbe. Und so muß man urteilen, wenn man nur die Reihe der Systemesieht, oder gar nur die gedankliche Ausprägung von Anschauungen derVölker und Zeiten. In der Tat steht jeder Denker in den Anschauungenseiner Zeit; er kann keineswegs ohne weiteres aus ihnen heraustreten.Aber er ringt auch mit ihnen, und was er im Ringen erarbeitet, ist seineErkenntnis. Auch ist der Ballast an Vorurteilen nicht bei jedem Denker

1 Die Philosophie unserer Tage hat sich hier in eine fälschlich zugespitzteOpposition gegen die Naturwissenschaft begeben. Die Opposition war gesund,soweit sie der im Positivismus überspannten Orientierung am Verfahren derexakten Wissenschaften zu begegnen suchte. Sie ist aber ins Extrem gefallenund hat so die Fühlung mit dem Grundphänomen des stetigen Ganges der Er-kenntnis auf eindeutiger Problemlinie verloren. Hier liegt ein Grund ihrer Des-orientierung im Verhältnis zu ihrer Geschichte.

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der gleiche. Er ist nicht nur inhaltsverschieden bei einem jeden, sondernauch von sehr verschiedenem Gewicht in seinem Denken.

Und ohne Zweifel gibt es Einsichten eben dieser zeitgeschichtlichgebundenen Denker, die sich über die Gebundenheit erheben. In solchenEinsichten besteht das geschichtliche Fortschreiten der philosophischenErkenntnis. Es gibt eben auch einen gewissen Spielraum, innerhalbdessen der philosophische Gedanke gegen Bindungen solcher Art Freiheithat. Diese Freiheit ist nicht das Feld spekulativer Phantasien, auch darfman sie nicht individualistisch mißverstehen. Der Gedanke kann sichstets nur zu dem bekennen, was ihm wirklich einleuchtet; insofern ist erkeineswegs frei. Die Freiheit, um die es sich hier handelt, besteht viel-mehr in der Gebundenheit an eine andere Macht1. Die andere Machtist die der Erkenntnis.

Daß es eine zwingende Konsequenz der Erkenntnis gibt — eine Kon-sequenz, die aus dem Verhältnis zum Gegenstande heraus bestimmtist —, das allein ist es, was den Gedanken des zeitgebundenen Denkersüber seine Zeitgebundenheit hinaustreiben kann. Es gibt eben noch eineandere Notwendigkeit im geschichtlichen Gange der Erkenntnis, als dieHerrschaft der Meinungen und Vorurteile sie ausübt; und weil sieanderen Ursprungs ist als diese, so liegt sie unvermeidlich im Kampfemit ihr und muß sich stets erst durchringen. Wo aber sie sich durch-ringt, da bewegt sie die träge Masse der herrschenden Meinung.

Der Gedanke wird vom Zwange nur frei, indem er sich unter dasGesetz einer anderen Notwendigkeit stellt. Der Unterschied ist nur,daß die andere Notwendigkeit keine äußere ist, wie die der traditionellenMeinung — keine solche des eingefahrenen Gleises —, sondern eine ihminnere: sie hängt am Stande der ungelösten Probleme, vor die dasDenken sich gestellt sieht. Insofern ist auch diese innere Notwendigkeitsehr wohl eine zeitbedingte; denn der geschichtliche Stand eines Pro-blems — die gegebene „Problemlage" — ist nichts anderes als die je-weilige Grenze des Erkannten und Unerkannten am Gegenstande,sofern von ihr aus sehr Bestimmtes auffindbar, angreifbar, spruchreifwird. Aber die Notwendigkeit darin ist nicht die des Gefesseltseins ingegebenen Anschauungen, sondern gerade die des Kampfes mit ihnenund des Hinausdrängens über sie. Es ist das Eigengesetz der Erkenntnisals eines Vordringens in das Unbekannte, das sich darin auswirkt.

1 Mit der sog. „Gedankenfreiheit" 'wird immer wieder ein falsches Spiel ge-trieben. Was man um die Grenzscheide von Mittelalter und Neuzeit zur Forderungerhob, war nicht Freiheit des Denkens, sondern das Recht, den Gedanken auchvertreten zu dürfen. Gerade weil man einsah, daß der Gedanke unter eineranderen, inneren Notwendigkeit steht, mußte man den äußeren Zwang derMeinung ablehnen. Der Gedanke läuft nicht wie wir wollen, sondern wie er muß.Er hält stets zu dem, was ihm einleuchtet, und darüber hat das Belieben desMenschen keine Macht. Gerade das Mittelalter, indem es den Andersdenkendenbestrafte, glaubte an Freiheit des Gedankens; die Abweichung von der ge-glaubten Norm erschien ihm als böser Wille.

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Für die Geschichtsschreibung der Philosophie handelt es sich alsohier nicht um eine Umstellung des geschichtlichen Denkens selbst,sondern nur um eine inhaltliche Gewichtsverlegung der Aufgabe. Esgeht nicht darum, daß wir etwa die Geschichte der Philosophie wenigerhistorisch ansehen sollten. Nicht über geschichtliche Bedingtheit undRelativität gilt es umzulernen, sondern über das, was sich in ihr erhältund über sie hinaus als gültig erweist. Die Zeitbedingtheit der Meinungenund Systeme widerspricht dem bleibenden Wert gewonnener Einsichtenin keiner Weise — auch dann nicht, wenn diese innerhalb jener nursporadisch dastehen.

Ganz ohne eine gewisse Auswahl nach dem Problem und dem Er-kenntnisgewicht ist es ohnehin in der Arbeit des Historikers nie abge-gangen. Aber es muß gesagt werden, daß man hierbei oft von einemsehr primitiven Stande des eigenen philosophischen Denkens ausge-gangen ist; man gelangte auf diese Weise gar nicht bis in den innerenKreis der Probleme, um die es im Denken derer ging, von denen manhandelte. So konnte man dann deren Erkenntnisse auch nicht „wieder-erkennen". Die profundeste Gelehrsamkeit, die größte Beherrschungvon Sprache, Literatur, Begriffsgeschichte, Zeitverhältnissen konntedagegen nicht helfen1.

Man wußte es offenbar nicht, daß es zum philosophischen Verstehennoch anderer Vorbedingungen bedarf als des umfassenden historischenWissens. Es fiel den Epigonen nicht ein, daß auf der Höhe der Problemezu stehen, mit denen die alten Meister gerungen, doch nicht so einfachsei. Die Erforscher und Deuter des geschichtlichen Gutes waren ebenkeine philosophischen Sucher und Forscher — die meisten wenigstens —,und wenn sie es waren, so reichten sie doch mit ihren eigenen systema-

1 Klassische Beispiele dafür zeigt die Platonliteratur. Hermann Bonitz inseinen „Platonischen Studien" handelt beim „Sophistes" ausführlich von derDichotomie, der Definitionstechnik u. a. m., während er für die weit tiefereProblematik des Nichtseins und der nicht den Sinn hat. Er referiertwohl einzelne Punkte und Thesen auch zu diesem Thema, aber bemerkt nicht,daß es hier um ein ontologisches Grundproblem geht. Der Aufbau des Dialogsist ihm weit wichtiger als die Analyse des Problems und der Ertrag an neuerEinsicht. — Diese Haltung der philologischen Deutung ist durchaus herrschendgeblieben; sie ist noch in Julius Stenzels Bearbeitung des gleichen Dialoge die-selbe. Sie findet sich in Wilamowitz' großem Platonwerk wieder; und hiererstreckt sie sich auf den Gesamtaspekt der Platonischen Ideenlehre. Sie läßtdiese fast zu einer populärmetaphysischen Trivialität zusammenschrumpfen. —Jeder dieser Forscher hat natürlich sehr wohl das „Verstehen" dessen, wasPlaton „gemeint"; er hat es wenigstens in den Grenzen der Aufgabe, die er sichstellt. Es fragt sich nur, wie er sich die Aufgabe stellt. Vollends, daß man durch„Gemeintes" auch noch hindurchsehen kann auf etwas anderes, daß es hier etwas„wiederzuerkennen" gilt, was Platon „erkannt", wenn schon nicht in geprägteBegriffe gefaßt hat, dafür fehlt der Blick. Und er fehlt, weil die philosophischeFühlung mit den Problemen fehlt.

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tischen Problemen nicht heran an die Probleme derer, deren Werk zudeuten und darzustellen sie sich anheischig machten1.

Man braucht ihre Leistung in den methodischen Grenzen, die sie nuneinmal hatte, deswegen nicht herabzusetzen. Es kommt hier nur daraufan, diese Grenzen klarzustellen. Auch wird niemand verkennen, dasie trotz solcher Begrenzung manche philosophisch wertvolle Einsichtder Vergangenheit f r die Gegenwart wiedergewonnen haben; sie habennur das, was sie wiedergewonnen, weder als solches erkannt noch ausder Masse l ngst berwundener und abgetaner Lehrmeinung heraus-zuheben gewu t. Es erging ihnen nach dem Worte Heraklits: sie grubenviel Erde und fanden wenig Gold.

Aber suchten sie denn berhaupt Gold? Wohl sind sie auch derschmalen Spur der Erkenntnis auf der breiten F hrte der Lehrmeinungennachgegangen. Aber im gro en ganzen taten sie es nicht um der Er-kenntnis selbst willen. Darum ist am Ertrage ihrer Arbeit in dieserHinsicht ein Moment der Zuf lligkeit haftengeblieben, das sich ver-wunderlich ausnimmt — inmitten eines Zielbewu tseins der Arbeits-weise, das in seiner Art vorbildlich war. Die Ziele eben waren nicht diedes Wiedererkennens, und die Arbeitsweise lief nicht im Gleise der

1 Erstaunlich z. B. bleibt es, da so bedeutende Geschichtsforscher wieAugust Brandis und Eduard Zeller keinen rechten Sinn f r die gewaltige Er-kenntnisleistung der Aporetik des Aristoteles aufbringen, die schon rein extensiveinen so breiten Raum in den Hauptschriften einnimmt. Das Interesse f r dieLehrmeinung hat das Interesse f r die eigentlich analytische Arbeit an denProblemen fast ganz verschlungen; da diese Arbeit den vertretenen Lehr-meinungen im Werte oft weit berlegen ist, entgleitet einer solchen Einstellung.In hnlicher Weise unbemerkt bleibt hier die r tselhafte und schon u erlichdurch Paradoxie auffallende Problemgeladenheit gewisser Aristotelischer Grund-begriffe, z. B. des ατομον είδος, der εσχάτη Ολη, der -πρώτη εντελέχεια, der Be-wegung als τοΟ δυνάμει δντο; η τοιούτον εντελέχεια, des συμβεβηκός καθ' αυτόusw. Es hat des Wiederwachens der Metaphysik in unseren Tagen bedurft, umdie eine und die andere dieser tiefsinnigen Problemfassungen — denn eigentlicheL sungen sind es gar nicht — wieder fa bar zu machen (vgl. meine Schrift „Aristo-teles undHegel", 2. Aufl. Erfurt 1933, in diesemBandeS.214). — Nicht weniger ver-wunderlich ist es, wie dieselben Darsteller — und manche andere, z.B. Prantlin seiner „Geschichte der Logik" — γένος und είδος ohne weiteres als Abstufungendes „Begriffs" verstehen. Es kommt ihnen nicht in den Sinn, da es einen Be-griff des „Begriffs" bei Aristoteles noch nicht gibt, da jene Abstufung einedurchaus ontologische ist, da auch weder λόγος (Aussage) noch ορισμός (Um-grenzung) die eigentlich „logische" Sph re treffen, in der bei den Sp teren notiound conceptus stehen. Bei solcher Problemverkennung ist es auch nicht m glich,die Aristotelische Eidoslehre als das wiederzuerkennen, was sie war. Dieses Bei-spiel ist lehrreich, weil es fast die ganze Aristotelesforschung des 19. Jahrhunderts,ja die meisten Arbeiten zur alten Philosophie berhaupt in dieser Zeit betrifft.Es will mir scheinen, da Hegel allein anders dasteht. Auch er spricht zwar vom„Begriff" bei Aristoteles, aber er versteht darunter etwas anderes. Er ist ebensystematischer Denker und spricht congenial aus der F hlung mit dem Problemheraus.

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durchgehenden, die Zeiten verbindenden Problemgehalte. Trotz dergewaltigen Arbeitsleistung dieser Historiker läßt sich vielleicht sagen,daß in ihrer Zeit immer noch mehr die Systematiker es waren, die wert-volles Erkenntnisgut der Vergangenheit für die Gegenwart wieder-gewonnen haben. Diese Systematiker haben zwar mit durchaus unzu-länglichen Methoden historischen Sehens gearbeitet, sie hatten stetsdie Tendenz umzudeuten und das ihrige hineinzuinterpretieren; auchist ihr Anliegen stets mehr das der Auseinandersetzung gewesen als dasdes reinen Wiedererkennens. Dennoch hatten sie vor jenen Historikerndie eindeutige Einstellung auf Probleme und Errungenschaften derEinsicht voraus. Sie suchten wenigstens bewußt das Gold der Erkenntnis,sie wußten um sein Verschüttetsein im Schutt der Systeme, und sokonnten sie es herausheben, wo sie es fanden1.

Und so verdanken wir ihnen im ganzen mehr echtes Wiedererkennenals jenen. Im Hinblick auf das geschichtliche Bild der philosophischenErkenntnis läßt sich sagen: das historisch fehlerhafte, aber philosophischgeleitete Denken ist, im ganzen genommen, gerade historisch frucht-barer gewesen als das historisch korrekte, aber philosophisch problem-lose. Wohlverstanden: das gilt keineswegs im Hinblick auf die Ge-schichte der Lehrmeinungen, Systeme, Zeittendenzen und geistigenZusammenhänge; es gilt durchaus nur im Hinblick auf den verschwie-genen geschichtlichen Gang der philosophischen „Erkenntnis", der sichstets hinter dem dramatisch bewegten Emporschießen und Einstürzender transzendentalen Kartenhäuser verbirgt. In diesem Hinblick aber istdie Geltung jenes Satzes wohl gar eine innerlich notwendige, die sichgenerell am Wesen der Sachlage einsehen läßt. Der philosophischproblemlose Historiker hat das methodische Mittel nicht, latentes Gutphilosophischer Einsicht aufzuspüren, er gleitet darüber hinweg. Derhistorisch inkorrekte Philosoph dagegen irrt nur im Sinne einseitigerAuswahl und Ausdeutung; er identifiziert zu leicht, zieht zu gewagteSchlüsse. Aber er hat wenigstens die Chance, das kognitiv Wesentliche

1 Das größte Beispiel dieser Art dürfte Hegel gegeben haben. Der Reichtumseiner geschichtserschließenden Arbeit ist im Vergleich mit den meisten derSpäteren geradezu unermeßlich. Das schließt natürlich eine gewisse Unzuver-lässigkeit seiner Deutungen keineswegs aus. Finden und kritisch Klarstellen isteben zweierlei. Seine Größe im Finden steht offenkundig in Abhängigkeit vonder universalen Weite und Tiefe seiner eigenen Probleme. — Wo Köpfe geringerendenkerischen Ausmaßes das gleiche unternehmen, da überwiegt schon viel mehrdie Subjektivität der Deutung und schmälert den Wert des Wiedererkannten.Ein Schulbeispiel dafür ist Eduard v. Hartmann in seiner „Geschichte der Meta-physik", dgl. Natorp in seiner Auslegung von Descartes, Platon, Kant u.a.;jener sucht die ganze Geschichte auf das „Unbewußte" hin ab, dieser macht ausden großen Denkern der Vorzeit unvollständige Neukantianer. Das ist mit Rechtgerügt und bekämpft worden. Dennoch wäre es ein Irrtum zu glauben, sie hättennicht wertvolles geschichtliches Erkenntnisgut wiederentdeckt, das den Histo-rikern entgangen war. Beide haben darin ihre Verdienste. Man sehe sich z. B.daraufhin Natorps Kapitel über den platonischen „Parmenides" an.

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•wiederzuerkennen, wenn er daraufstößt. Im allgemeinen eben sieht,wer „zu viel" sieht, immer noch mehr, als wer zu wenig sieht.

Diese Sachlage wird außerordentlich folgenschwer für die syste-matisch arbeitende Philosophie selbst. Ist doch diese genau so sehr wiejeder andere Wissenszweig auf Auswertung ihrer Geschichte angewiesen.Das einsame Denken des einzelnen käme nicht weit, wenn es in jedemDenker von vorn beginnen müßte; und dasselbe gilt selbst noch für diegesamte Denkarbeit eines ganzen Zeitalters. Erst wo das Erkennen deseinzelnen sich die ungeheuere denkerische Erfahrung der Jahrhundertezunutze macht, wo es auf Erkanntem und Wohlbewährtem fußt und sodie Arbeit aller derer, die in den gleichen Problemen geforscht, in dieeigene Weiterarbeit einbezieht, kann es des eigenen Fortschreitenssicher sein. Gerade für die Philosophie — mehr als für andere Wissens-zweige — ist ihre Geschichte eine unerschöpfliche Fundgrube; für siegilt es, die nicht aufgelesenen Errungenschaften der Erkenntnis aus denTrümmern erst herauszusuchen. Darum gibt es in ihr ein unentwegtesLernen vom Vergangenen, darum lebt sie im ständigen Rückblick, umvorblicken und vorstoßen zu können.

Hier liegt auch der Sinn der riesenhaften Arbeit, die sie sich um dieGewinnung ihres eigenen Geschichtsbildes macht. Von dieser Arbeitnun — so zeigte es sich — ist gerade der wichtigere Teil noch nichtgeleistet. Die klassische Geschichtsschreibung hat die Systeme undihren Einbau in die kulturellen Zusammenhänge der Zeitalter erarbeitet;für die Einsichten und Errungenschaften hat sie ein gleiches nicht ge-leistet. Nun ist aber Geschichte einer Wissenschaft in ihrem Wesennotwendig Geschichte der Einsichten und nicht der Irrtümer — wiesehr solche auch überall mit unterlaufen mögen —, zum mindesten abernicht der Irrtümer um ihrer selbst willen. Ist nun Philosophie mehr alsbloße Meinung über alles mögliche, ist sie Wissenschaft, so muß ihreeigentliche Geschichte in der Reihe der Einsichten bestehen und nichtin der der Lehrmeinungen und Systeme. Diese sind, streng genommen —soweit nicht latente Einsichten dahinterstehen —, gerade das Nicht-philosophische in der Philosophie.

Jene großen Darstellungen waren, ungeachtet der reichen Belehrung,die wir ihnen verdanken, doch noch in weitem Maße Darstellungen desNichtphilosophischen in der Philosophie1. Hier nun ist es, wo die neueAufgabe einsetzt. Die systematischen Denker haben bisher nur gele-gentlich sich um sie bemüht; im allgemeinen ließen sie die Historikerfür sich ihren Weg gehen. Bei solchem Getrenntmarschieren kann es inalle Ewigkeit keine Geschichtsschreibung der philosophischen Erkenntnis

1 Wie sehr das auch noch für heutige Beschäftigung mit dem Gedankengutder Geschichte gilt, sieht man am deutlichsten an denjenigen, die jene „Systeme"als solche zum Gegenstand philosophischer Analyse machen; so z. B. an Jaspers„Psychologie der Weltanschauungen" oder Leisegangs „Denkformen". Wer sichin diese „Denkformen" vertieft, findet zu seinem Erstaunen, daß es im wesent-lichen Formen des philosophischen Irrtums sind.2 H a r t m a n n , Kleinere Schriften II

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geben. Was 'wir brauchen, das ist der Historiker, der zugleich Syste-matiker auf der Höhe seiner Zeit ist — der Historiker, der um die Auf-gabe des Wiedererkennens weiß und für sie die Voraussetzung syste-matischer Fühlung mit den Problemen mitbringt.

III.Hat man diese Sachlage und das Gewicht der Aufgabe, die hier ent-

springt, einmal grundsätzlich erfaßt, so erhebt sich die Frage: ist denneine Geschichtsbehandlung der Philosophie im Sinne dieser Aufgabeüberhaupt möglich?

Tatsächlich gibt es vielerlei Bedenken, die ihr entgegenstehen. Siemüssen sich jedem Sachkenner längst aufgedrängt haben; und es sindim Grunde natürlich dieselben Schwierigkeiten, die es faktisch bewirkthaben, daß die Geschichtsschreibung der Philosophie in dem nachgeradevoll gewordenen Jahrhundert, das sie hinter sich hat, einen so ganzanderen Weg gegangen ist. Die gestellte Aufgabe setzt voraus, daß esim geschichtlichen Gange der Philosophie neben der Flüchtigkeit derentworfenen Weltbilder bleibende Errungenschaften der Erkenntnisgibt; sie setzt voraus, daß es einen Zusammenhang dieser Errungen-schaften gibt, der über den Gegensatz der Systeme und der Zeitalterübergreift. Sie setzt weiter voraus, daß es für den Epigonen eine Mög-lichkeit gibt, im geschichtlichen Gedankengut Erkenntnis und Irrtumzu unterscheiden; und damit scheint es, als setzte sie auch das Besteheneines philosophischen Wahrheitskriteriums voraus. Schließlich stehtdahinter noch die weitere Voraussetzung, daß es ein methodisches Mittelgebe, der Relativität des eigenen historischen Sehens und Verstehenszu entgehen, d. h. den Historiker aus der geschichtlichen Bedingtheit,in der er steht, herauszuheben. So wenigstens muß es zunächst scheinen.

Es sind demnach vier Fragen, die hier zu stellen sind. 1. Gibt es dennso viel „Wahrheit" inmitten des haltlosen Wechsels der Systeme ?2. Läßt sich in seinem Hintergrunde ein Continuum der Erkenntnisaufzeigen ? 3. Da wir doch selbst nicht im Besitz gesicherter philoso-phischer Wahrheit sind, woran sollen wir denn erkennen, was in der Ge-schichte des menschlichen Denkens Wahrheit und Irrtum ist ? 4. Mußnicht jedes Zeitalter und jeder Historiker wieder anderes für Wahrheit,anderes für Irrtum halten ? Verfallen wir also damit nicht erst rechteinem uferlosen, Relativismus ? Es soll versucht werden, im folgendendiese Fragen zu beantworten, resp. sie, soweit sie nicht eindeutig zubeantworten sind, in die ihnen gebührenden Grenzen zu weisen.

1. Zunächst also: haben wir es wirklich in der Vielspältigkeit der ge-schichtlichen Lehrmeinungen mit einem so beträchtlichen Wahrheits-gehalt zu tun, daß die Suche nach ihm sich eines methodischen Vor-gehens verlohnt 1

Ein kleinmütiger Ton von Skepsis klingt aus dieser Frage. DasSchicksal der transzendentalen Kartenhäuser hat sie verschuldet.

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Wollte man sie ganz ernst nehmen, so müßte man der unausgesetztenBemühung der großen Denker um Erkenntnis und Wahrheit den Ernstabsprechen. So fragt nur eine desorientierte, des echten philosophischenFragens müde gewordene und an sich selbst verzweifelnde Vernunft.Nur dadurch, daß wir uns so sehr gewöhnt haben, das bewegliche Ge-dankenspiel der Systeme und Konstruktionen für Philosophie zu halten,ist diese Frage möglich; denn auf diese Weise eben halten wir geradedie großen Irrtümer der Geschichte für Philosophie — wobei es dannfreilich nicht gut möglich ist, in dieser Geschichte nach Wahrheit zusuchen.

Ganz anders ist es, wenn man im Sinne der obigen Erörterungen überden Begriff der „Philosophie" umlernt, wenn man zu ihrem ursprüng-lichen Sinn — der „Streben nach Erkenntnis" bedeutet — zurückfindetund sich darauf besinnt, daß eben dieses Streben in den Denkern derGeschichte lebendig ist. Tatsächlich geht doch jeder philosophierendeKopf von irgendwelchen echten Problemgehalten aus, die er in einerbestimmten Phase ihrer Entfaltung aufgreift und an denen er dann fort-arbeitet. Und wie auch hernach sein Lehrsystem ausfallen mag, zunächsthandelt es sich doch immer darum, daß er mit seinem Suchen in diegewordene Problemlage eintritt, um sie durch sein Forschen fortzu-bewegen. Schon das immer wiederkehrende Moment der Kritik amVorgänger läßt das deutlich erkennen; denn Kritik als solche ist nichtkonstruktiv, sondern destruktiv.

Es kommt hinzu, daß sich im Anfang aller konstruktiven Systemeschlichte und durchaus stichhaltige Einsichten aufweisen lassen —Einsichten, die sich auf dem engeren Problemgebiet, auf dem sie ent-standen, auch geschichtlich erhalten haben, die aber zu Irrtümernwurden, sobald man sie verallgemeinerte und auf heterogene Problem-gebiete übertrug. Man darf sagen: die meisten „Ismen" der Geschichtesind durch solche Verallgemeinerung von Prinzipien entstanden, diezunächst auf einem Teilgebiet entdeckt wurden und dort ihre unbestreit-bare Gültigkeit haben. Es muß wohl irgendwie in der Beschränktheitmenschlicher Vernunft liegen, daß sie immer gerade da, wo sie etwasentdeckt, auch sogleich dazu neigt, das Entdeckte für ein viel Univer-saleres zu halten, als es ist. Für den Blick der Nachfahren aber ist esgerade diese Neigung der Entdecker, die den Wahrheitswert des Ent-deckten verdunkelt, ja ihn geradezu verunglimpft und entrechtet.

Was wir z. B. „Materialismus" oder „Mechanismus" in der Philo-sophie nennen, ist nicht identisch mit jener schlichten, physikalischbahnbrechenden Einsicht in das Wesen der materiellen Welt und der siebeherrschenden Prozesse, die in der antiken Atomistik begann und in derMechanik Newtons ihre klassische Durchbildung erfuhr. Der „Ismus"darin ist vielmehr die Grenzüberschreitung, die man mit dem gewonnenenPrinzip vornahm, seine Übertragung auf das Lebendige, Seelische undGeistige; hier mußte man natürlich mit ebendemselben Prinzip voll-kommen scheitern, mit dem man dort treffende Erklärungen geben2*

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konnte. Aber weil man das Wagnis der Verallgemeinerung einmal unter-nommen, so ist es verständlich, daß der unvermeidliche Rückschlagdagegen auch die Tragkraft des Prinzips auf seinem eigenen Problem-gebiet verdunkelt. So geschieht es denn, daß eine ursprünglich ein-leuchtende Erkenntnis durch einen unbedachterweise darangehängtenIrrtum zugedeckt und verunglimpft wird.

Genau so ist es mit den meisten Ismen. Der Psychologismus im19. Jahrhundert war den seelischen Vorgängen mit eigenen Methodenauf der Spur; aber er übertrug diese Methoden auf die Probleme derLogik, der Erkenntnistheorie, der Ethik usw. und setzte sich damit insUnrecht. Die meisten metaphysischen Theorien verfahren nach einemähnlichen Schema. Sie suchen nach Möglichkeit die ganze Welt auseinem Prinzip — oder doch einer Art von Prinzipien — heraus zu er-klären. Sie wählen das Prinzip mit Vorliebe entweder in der höchstenoder in der niedersten Schicht des Seienden, um es dann auf die übrigenunbesehen zu übertragen. So kann man zwei Grundtypen der Meta-physik unterscheiden: die eine versucht „von oben", die andere „vonunten" zu erklären. „Metaphysik von unten" treibt der Materialismus,der Biologismus, ja selbst noch der Psychologismus; „Metaphysik vonoben" versucht der Idealismus, der Teleologismus, der Pantheismussowie deren Verschmelzungen. Bei den Typen der letzteren Art wirdstets ein Erklärungsprinzip der geistigen Seinssphäre — Vernunft,Denken, Intelligenz — zur Substanz des Ganzen gemacht, man glaubtes auf Grund vager Analogien im Reich des Lebendigen und des Physisch-Materiellen wiederzuerkennen; oder man benutzt gar, um ihm in dieserVerallgemeinerung Geltung zu verschaffen, den traditionellen Gottes-begriff. Und darüber gehen die Einblicke in das Reich des geistigenSeins, von denen man ausgegangen war, ihrer Überzeugungskraft ver-lustig. Die gewöhnlichste Form solcher Grenzüberschreitung — dieseit Aristoteles fast allen großen Systemen der Metaphysik gemeinsamist — dürfte die Übertragung teleologischer Prinzipien aus der Sphäre desmenschlichen Handelns auf die des dinglichen Geschehens sein. Sie istdeswegen so einzigartig verführerisch, weil sie die Verallgemeinerungvon Sinn- und Wertgesichtspunkten auf das Ganze der Welt ermöglichtund so einen abgekürzten Weg zur Befriedigung der extremen meta-physischen Bedürfnisse darstellt.

Das sind wohlbekannte Dinge. Was man aber immer wieder darübervergißt, ist die Tatsache, daß vor der Grenzüberschreitung Einsichtenzugrunde lagen, die unabhängig von ihr zu Recht bestehen. Bringt manes fertig, durch die Verallgemeinerungen hindurchzuschauen, so gewinntman ebendamit diese Einsichten wieder. Und dann wird es klar, daß dieGeschichte der Philosophie an echter Erkenntnis keineswegs so arm ist,wie sie einem erscheint, solange man in ihr nichts als metaphysischeSysteme zu sehen vermag. Damit rechtfertigt sich die oben gestellteAufgabe, die Fäden der „Wahrheit" aus dem Gewirr der Irrtümer her-auszulösen und für das eigene Denken wiederzugewinnen.

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Leibniz ist es, der diese Sachlage grundsätzlich erkannt und aus ihrdie Konsequenz eines groß angelegten Arbeitsprogramms gezogen hat.„Die Wahrheit ist verbreiteter als man denkt, aber sie ist sehr oft ge-schminkt, sehr oft auch verhüllt und gar geschwächt, verunstaltet, ver-dorben durch Hinzufügungen, die sie beflecken und unfruchtbar machen.Wenn man diese Spuren der Wahrheit bei den Alten oder, allgemeinergesprochen, bei den Vorgängern sichtbar machte, man würde das Goldaus dem Staube heben, den Diamant aus dem Gestein, das Licht ausder Finsternis, das wäre dann wirklich eine Art perennis philosophia"1.Die Forderung, die Leibniz hier erhebt, trifft aufs genaueste den Kernder Sache. Es ist das Schicksal der meisten philosophischen Erkennt-nisse, daß willkürliche „Hinzufügungen" sie entstellen, so daß sie demEpigonen unkenntlich werden. Es verlohnt sich aber sehr wohl, ihnennachzuspüren; denn im Resultat wird man so auf eine nicht abreißendeKette von Errungenschaften hingeführt, die sich durch die Jahrhundertezieht und als Ganzes den „sicheren Gang" fortschreitenden Eindringenszeigt, der dem flüchtigen Gaukelspiel der Systeme fehlt.

2. Läßt sich nun an diesen Erkenntnissen im Hintergrund der Systemeein innerer Zusammenhang aufzeigen ? Gibt es also hier, wie in denpositiven Wissenschaften, ein wirkliches Continuum der Erkenntnis ?

In der Leibnizischen Idee der philosophia perennis scheint dieseFrage bereits im positiven Sinne vorentschieden zu sein. Aber es läßtsich auch aus der Sachlage selbst heraus zeigen, daß es den Zusammen-hang gibt, und zwar sowohl allgemein am Wesen der Sache als auchempirisch am geschichtlichen Stoff. Die generelle Überlegung ist diese:die Welt in ihrer Gesamtheit, die uns die großen Rätselfragen aufgibt,ist eine und dieselbe in aller Zeit; was also wahr ist in unseren Gedankenüber sie, das muß sich von selbst ineinanderfügen und auf die Dauereinen Zusammenhang ergeben. Wo Widerstreit zwischen Gedanke undGedanke auftritt, da ist es der Irrtum, der ihn verschuldet. Es kommthinzu, daß auch die Problemgehalte im Denken verschiedener Köpfeund Zeiten unentwegt wiederkehren; was also in ihrem Geleise an Er-kenntnis gewonnen wird, das schließt sich schon durch die Problem-identität zusammen und bildet ein Continuum fortschreitender Einsicht.Han darf sich nur dieses Continuum nicht so denken, als müßte eszugleich auch zeitlich stetiges Fortschreiten sein. Die geschichtlichenIntervalle zerreißen den Faden nicht; nur auf das inhaltliche Sich-Zusammenschließen des sachlich Zusammengehörigen kommt es an, auchwenn es in sehr widersprechende Lehrsysteme eingebaut ist. Die letzterennatürlich können nicht zusammen bestehen. Aber es kommt auf sie auchnicht an, denn nicht in ihnen besteht die philosophische Erkenntnis.

1 Leibniz an Eemond 26. 8. 1714 (Philos. Schriften, hg. von Gerhardt, III.S. 624f.). Mit glücklicher Hand hat Balduin Schwarz (Der Irrtum in der Philo-sophie, Münster 1934, S. 131 f.) diese Stelle ans Licht gezogen und auf ihre Be-deutung für eine neue „Betrachtungsweise der historisch vorliegenden Systeme"hingewiesen.

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Ginge die Philosophie in ihnen auf, es lie e sich in der Tat weder voneinem Fortgang der Erkenntnis noch berhaupt von Erkenntnis in ihrsprechen. Aber sie geht nicht darin auf. Ein gro es Beispiel, das sichfast durch die ganze Geschichte der Philosophie hinzieht, mag daserl utern. Heraklit und Parmenides lehrten Entgegengesetztes, jener dieewig bewegte, dieser die ewig unbewegte Welt; aber beide fu ten aufder gleichen Grundeinsicht, da nicht die Sinne uns das Wesen der Welterschlie en, sondern ein anderer, h herer Erkenntnisfaktor. Der Ephesiernannte ihn λόγος, der Eleate νοεϊν. Und beide sahen deutlich, da eruns im Grunde der Welt ein Identisches, ewig Gleichbleibendes erkennenl t: die Harmonie im Widerstreit, die Einheit im All. Diese Einsichtist nicht wieder verlorengegangen, wie verschieden auch die inhaltlichenErf llungen sein m gen, die man ihr gab. „Liebe und Ha " des Empe-dokles sind ebensosehr den Sinnen entr ckt und nur dem vo $ erschau-bar, wie die qualitativen Elemente und die Weltvernunft des Anaxagoras;dasselbe gilt von dem rrefj ov des Demokrit, den Atomen und demLeeren. Was hier die γνησιη γνώμη ist, kehrt bei Platon als reineSchau, als άνάμνησις, als επιστήμη wieder; Aristoteles nimmt trotzaller Polemik gegen die Ideen diesen selben επιστήμη-Begriff auf. Inder Scholastik kehrt er als intellectio, visio, intuitus wieder. Die Philo-sophie der Neuzeit kl rt ihn dann allm hlich zum Begriff der Erkenntnisa priori und kn pft an ihn den Gedanken einer radikalen Erkenntnis-kritik. Noch die Hegeische Dialektik fu t auf ihm; und nicht wenigerdie Bewegung des Neukantianismus und die der Ph nomenologie.

Es ist leicht zu sehen, da hierin Kontinuit t ist. Der alte Kern einerzentralen Einsicht w chst und reift, erf hrt Best tigung von immerneuer Seite; es entsteht mit der Zeit ein betr chtliches, in sich gerundetesund gefestigtes St ck solider Erkenntnis, mit dem hinfort die Denkerimmer mehr rechnen, ja mit dem sie wie mit einem Instrument arbeitenlernen. Dabei aber klaffen die Systeme, die sie dar ber erbauen, weitauseinander. Ja, indem sie einander zu berbieten suchen, werden sieimmer diskrepanter; ihre Aufeinanderfolge wird immer dialektischer.

Es besteht also in der Geschichte ein doppelter Gang des philoso-phischen Gedankens: der Gang der Erkenntnis und der der Theorien(Weltbilder, Systeme). Beide bewegen sich in Gegens tzen; denn auch

Schema des doppelten Gangea

die Erkenntnis macht jeweilig nur einseitige Fortschritte, auch in ihrgibt es ein Element der Polemik und des Gegenschlages. Aber die Gegen-

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sätzlichkeit ist von sehr verschiedener Amplitude. Die Theorien undSysteme klaffen weit auseinander, ihr geschichtlicher Gang zeigt breiteund immer breiter werdende Pendelausschläge. Sie sind im Inhalt unver-träglich und heben einander auf. Die Einsichten dagegen, über denen sieerrichtet sind, stehen dicht beieinander. Sie vertragen sich sehr wohl,schließen sich von selbst zusammen und stützen sich gegenseitig. Aberdie Bahn, auf der sie sich bewegen, ist inhaltlich eine viel schmälere alsdie der Systeme; darum nimmt sie sich unscheinbar aus gegen diese,wird von deren Blendwerk zugedeckt. Aber gerade in dem bescheidenerenGang der Einsichten ist Stetigkeit und ständiges Anwachsen, währenddie großen Systembauten des Gedankens immer wieder zusammen-brechen. Das Kantische „Herumtappen" gibt es nur an den Systemen,nicht in der soliden Arbeit an den Problemen. In ihr gibt es den „sicherenGang". Von diesem Gesamtverhältnis drückt das hier beigegebeneSchema den Unterschied des Ganges und der Amplitude in den Pendel-ausschlägen aus. Was es nicht mitverzeichnen kann, ist der wichtigereGegensatz von erhaltendem Aufsammeln und Sichzusammenschließeneinerseits, flüchtigem Auftauchen und Zusammenstürzen andererseits.

Daß Erkenntnis und Erkenntnis im geschichtlichen Gange sich ver-trägt und sich von selbst zusammenschließt, kann freilich erst der Epi-gone ganz wissen. Der im Ringen um die Sache stehende Zeitgenosse, undvollends der schöpferisch Forschende, der Entdecker, kann es so nichtsehen. Sein Vordringen hängt an dem Moment der Polemik; er setzt beiden Fehlern oder Einseitigkeiten der Vorgänger ein, hat also notwendiggerade die Systeme vor Augen, und keineswegs die Einsichten allein.So bekämpfen die Theorien einander, jede im Namen neu gefundenerWahrheit, aber selten mit einem Wissen darum, wieviel sie den Ein-sichten der Gegner verdanken. Und je näher der Gegner, um so unge-rechter die Kritik. Auch die größten Denker sind in diesem Punkte mitBlindheit geschlagen1. Hier liegt der Hauptgrund, warum die natürlicheKonvergenz der philosophischen Erkenntnis eben denen, die am leiden-schaftlichsten nach ihr suchen, so leicht verborgen bleibt. Weit eher ge-lingt es damit dem späten Nachfahren.

Überall in der Geschichte kann man dieses Verhältnis wiederfinden.Die Systeme entfernen sich weit voneinander, oft bis zu ausgesprochenantithetischen Theorien; die Entdeckungen, die ihnen zugrunde liegen,fügen sich dagegen leicht ineinander, sie ergänzen sich. Aber die Ent-decker sehen das nicht, sie verfallen in ihrer Entdeckerfreude dem cha-

1 Man vergleiche hierzu das erstaunlich ablehnende Verhältnis zwischenFichte und Schelling nach 1800 sowie das ähnliche, ein knappes Jahrzehnt später,zwischen Schelling und Hegel. Die sachliche Differenz ist in beiden Fällen nureine verschwindend geringe, gemessen an der Gemeinsamkeit der Grundlagen.Ähnlich ist die schweigende Aversion Platons gegen Demokrit zu verstehen, demer doch in der Sache mit seiner Hypothesislehre Recht gab. Desgleichen dieoffene Polemik des Aristoteles gegen Platon, auf dessen Eidoslehre er doch ganzund gar fußte. Nur das Moment des bekämpfte er.

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rakteristischen Entdeckerirrtum. Sie stellen System gegen System und.setzen sich damit ins Unrecht. Es entgeht ihnen, daß sie nichtsdesto-weniger im Grunde etwas anderes tun: Einsicht an Einsicht reihen, denesoterischen Gang der Erkenntnis kontinuierlich fortführen. WederHeraklit noch Parmenides hatten im Ganzen recht, aber beide saheneinen Teil der Wahrheit, die sich erhalten hat. Demokrit und Platonlehrten Entgegengesetztes, Atome haben keine Ähnlichkeit mit Ideen;aber beide suchten nach den und beide fanden sie im gleichenRückschluß auf die Voraussetzungen. Thomas und Duns suchten dasPrinzip der Individuation in durchaus entgegengesetzter Richtung; aberwas sie fanden, ähnelte sich trotzdem — die qualitativ bestimmte Materieund die hochdifferenzierte Form (materia signata und haecceitas) —,beides ergänzte sich ohne Zwang; aber weder sie selbst noch ihre Nach-folger haben das erkannt. Locke und Leibniz sahen je eine Seite desmenschlichen Erkenntnisgefüges; sie setzten sich ins Unrecht, indem siezu extremen Konsequenzen — zum absoluten Sensualismus und zum ab-soluten Apriorismus — fortschritten; diese Konsequenzen lagen in un-heilbarem Widerstreit. Was aber der eine wie der andere ursprünglichgesehen, vertrug sich nicht nur, sondern hat sich hernach — bei Kant —als nur miteinander und durcheinander möglich erwiesen. Man kann hiernoch das Beispiel Hegels und Schopenhauers anführen, die beide eineneinheitlichen Weltgrund meinten; der eine als absolute Vernunft, der an-dere als absolute Unvernunft; doch ist hier die Höhe der Spekulation zugroß und die Ungleichwertigkeit der Durchführung zu auffallend, umein einheitliches Bild zu ergeben. Immerhin aber dürfte der aufweisbareSinngehalt der wirklichen Welt auf einer mittleren Linie zwischen denExtremen liegen.

Wir haben einen bedeutenden Versuch, die Geschichte der Philosophieauf Grund dieser Sachlage auszuwerten. Er liegt in dem GedankenHegels vor, die geschichtlichen Thesen und Gegenthesen als Teilaspekteder Wahrheit aufzufassen. Es gilt hierbei nur, die innere Folgerichtigkeitaufzudecken, in der sie einander ergänzen und ein einheitliches Gesamt-bild ergeben. Die Voraussetzung dafür ist keine andere als die des eigenensystematischen Denkens. Denn — das ist die Meinung Hegels — imGrunde ist der Stufengang des systematischen Gedankens im Denken deaeinzelnen und der des geschichtlichen Denkens in der Reihe der Systemeein und derselbe.

Die Großartigkeit dieses Versuches ist wohlbekannt. Einen Wahrheits-kern wird ihm kein Wissender absprechen. Sonst hätte die klassischeGeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert von ihm nicht die stärkstenImpulse erfahren können. Aber ebenso unverkennbar ist es, daß er zuweit geht, daß er eine Einheitlichkeit herzustellen sucht, die tatsächlichin der Geschichte nicht vorhanden ist und sich nur durch gewagte Deu-tungen hineinbringen läßt. Man kann also auch diesen Versuch nur aus-werten, wenn man den Fehler in ihm aufdeckt und richtigstellt.

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Der Fehler ist dieser. Die Systeme selbst ergänzen sich keineswegs, inihnen ist Widerspruch und weites Auseinanderklaffen; und es ist auchnicht wahr, daß alle Widersprüche „sich aufheben". In jedem Gedanken-bau der Geschichte ist es ein inhaltlich nur schmales mittleres Feld, dashiervon die Ausnahme macht, indem es sich mit ebenso schmalen mitt-leren Feldern anderer Gedankenbauten reimt. Nur die Einsichten, vondenen die Denker ausgingen, vertragen sich miteinander; und auch dasnur, wenn man sie sehr genau auf ihr rechtmäßiges (nachprüfbares) Maßreduziert. Hegel nahm die ganze gewaltige Amplitude der System-Anti-thesen mit hinein in das postulierte Einheitsbild. Darum konnten sichkeine eigentlichen „Synthesen" ergeben. Die Hegeischen Synthesen sindzum Teil unvollständig (ließen viel Wesentliches heraus), zum Teil sehrkünstlich konstruiert.

Was er im Auge hatte, wird sofort haltbar, wenn man es auf die vielgeringeren Pendelausschläge der Einsichten allein bezieht. Denn auchdiese zeigen einen antithetischen Gang, aber sie gehen nicht bis zuWidersprüchen. Hier ist die fortschreitende Ergänzung das natürlicheVerhältnis. Dieses aufzuzeigen bleibt Sache des Historikers, wo dieDenker der Geschichte selbst es nicht erkennen.

3. Wenn die Tatsachenfragen somit als grundsätzlich geklärt geltendürfen, so werden die Methodenfragen damit um so dringlicher. Woransollen wir erkennen, was in der Geschichte selbst Erkenntnis ist und waeIrrtum, Spekulation, Phantasie ist ? Gibt es denn Maßstäbe ?

Die Frage stellt natürlich alles wieder in Zweifel. Was hilft es, wennein Reichtum an Wahrheit in der Geschichte der Philosophie steckt,wenn es sogar einen durchgehenden Zusammenhang von Wahrheit undWahrheit in ihr gibt, wir aber kein Kriterium haben, woran wir das Wahreerkennen könnten ? Das Verlangen nach einem Wahrheitskriterium aberbeschwört die ganzen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten herauf,die seit der alten Skepsis unbewältigt daliegen. Kann denn der Historikermehr an Gewißheit beanspruchen, als die allgemeinen Bedingungenmenschlicher Erkenntnis hergeben ? Das kann die Meinung nicht sein.Es ist deswegen aber doch sehr wohl möglich, daß im besonderen für ihnan seinem Gegenstande die Bedingungen zur Scheidung von wahr undunwahr nicht so ungünstig liegen. Denn natürlich kann es sich nicht umein absolutes Kriterium handeln; das gibt es auf keinem Wissensgebiete,man darf es also auch nicht in der Geschichtsforschung beanspruchen.Relative Kriterien echter Einsicht gibt es dagegen hier so gut wie überall;und man braucht, um sie zu finden, gar nicht weit zu suchen. Es gilt da-für nur die besondere Sachlage des Forschungsgebietes auszuwerten1.

1 Zwei alte Vorurteile haben hier geschadet. Man meint einerseits, nur einabsolutes Kriterium könne helfen; und man meint andererseits, wenn es nurrelative Gewißheit über wahr und unwahr gibt, so könne auch die Wahrheitselbst nur eine relative sein. Das letztere Vorurteil hat dem allgemeinen philo-sophischen Relativismus unserer Tage viel Vorschub geleistet. Die Richtigstellungdieser Vorurteile gehört in die Erkenntnistheorie. Für sie muß ich mich hier auf

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So läßt sich z. B. auf Grund des oben dargelegten Verhältnisseszwischen Einsicht und System ohne weiteres sagen, daß alles, was denStempel des gewagt Konstruierten trägt, von vornherein des Irrtums ver-dächtig ist. Dasselbe gilt von allem, was den Charakter sehr extremerBehauptungen trägt; und dazu gehört sehr vieles von dem, was ammeisten in die Augen springt, was durch interessante, geistreiche odersensationelle Aufmachung verführt. Überhaupt darf das Verführerischeals verdächtig gelten. Solide philosophische Einsicht kündigt sich in derRegel schon durch eine gewisse Schlichtheit an, zum mindesten aberdurch Gleichgültigkeit gegen die allzumenschlichen Gefühlsbedürfnisse.

Schon die bloße Abwendung des Historikers vom herrschenden popu-lärphilosophischen Interesse an den Ismen als solchen, von außerwissen-schaftlichen Motiven der Zeitalter, von der proklamierten Lehrmeinungund dem vorschnellen Sinngebungsbedürfnis der Weltanschauung ist ge-eignet, ihn auf die geschichtlichen Spuren der Erkenntnis zu führen.Denn für das Interesse am Wahrheitsgehalt handelt es sich stets zunächstum den Abbau des Vordergründigen, Exoterischen, bloß Spekulativen,auch wenn dieses sich in seiner Zeit noch so sehr esoterisch, abgründig,geheimnisvoll aufspielt. Das im Erkenntnissinne „Innere" ist nicht dasSubtile, Kühne, Hochf hegende, auch nicht unbedingt das Tiefsinnige undim wörtlichen Sinne Transzendentale, geschweige denn das, was dem welt-anschaulichen Bedürfnis Befriedigung verspricht. Es ist gemeinhin geradedas Unscheinbare, zu dessen Würdigung es schon eines hochentwickeltenphilosophischen Sinnes bedarf; dasjenige also, was dem systematisch un-zureichend Vorgebildeten schwerlich auffallen würde, und selbst wenn esihm einleuchtet, doch unbedeutend erscheint. Das ist der Grund, warumhistorisch wiedererkennen, was,,erkannt" war, nur derjenige kann, der we-nigstens der Problemeinstellung nach eine gewisse Kongenialität mitbringt.

Zu diesen allgemeinen Überlegungen kommen spezielle. An irgend-einem Punkte seines Denkens geht jeder Denker von originärer Einsichtaus. Ist das spekulative Gerüst abgedeckt, so läßt sich dieser Punkt meistals derjenige aufzeigen, an dem ihm etwas Neues, so noch nicht von an-deren Gesehenes aufgeht. Hier stößt man dann oft auf eine Entdeckungmit echtem Erkenntniswert. Es ist keineswegs immer der Ausgangspunktim Sinne äußeren Beginnens der Überlegung oder gar der Darlegung.Meist führt der Gedankengang erst auf Umwegen an ihn heran. Abereine gewisse Aufzeigbarkeit bleibt bestehen; denn immer weist die Art desVorgehens auf diesen Punkt hin1.

meine „Metaphysik der Erkenntnis" berufen (4. Aufl., Berlin 1949), und zwarfür das Verhältnis von Wahrheit und Wahrheitsbewußtsein auf Kap. 6d und55b, für den Sinn des „relativen Kriteriums" auf Kap. 66 und 57.

1 So steht z. B. hinter Lockes Lehre von sensation und reflexion die Einsicht,daß es zwei durchaus verschiedene und gegeneinander selbständige Gegeben-heitsweisen der Wahrnehmung gibt. Diese Einsicht ist vom Weltbilde des Sen-sualismus ganz unabhängig. — Ähnlich ist es mit Descartes' Lehre von den zwei„Substanzen"; in ihr steckt die klassische Formulierung der Heterogeneität und

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Ein zweiter Hinweis liegt in dem Moment der Kritik. Wo ein Denkeran dem Gedanken des anderen — oder auch nur an einer schon vorbe-stehenden Anschauungsweise — mit kritischen Argumenten gegen ihneinsetzt, da findet sich stets im Ausgangspunkt der Auseinandersetzungein Element originärer Einsicht. Denn stets handelt es sich dabei umAuf Weisung einer Unstimmigkeit; die letztere aber ist es, die das Denkenzu neuem Einsatz und Eindringen herausfordert. Das Neue, das hier er-faßt wird, tritt zwar in zunächst negativer Form auf. Aber da der Ge-danke nie bei bloßer Negation stehenbleibt, so taucht dahinter stets einPositives auf, einerlei ob es nun als ein solches ausgesprochen wird odernicht. Man kann es immer in den weiteren Zusammenhängen aufweisen;und meist hält es in den Grenzen der gegebenen Problemlage sehr wohlder Nachprüfung stand. Einsichten dieser Art sind viel häufiger als dieder ersten; sie erstrecken sich auch keineswegs bloß auf die Grundlagen.Das Moment der Polemik beherrscht, wo es auftritt, ebensosehr dieRandprobleme. Natürlich gibt es auch eine Pseudokritik, die nur um desVerfechtens von Thesen willen geführt wird. Aber sie verrät sich in ihrenArgumenten, sie faßt auch in der Regel den Gegner nicht einmal beiseiner eigentlichen Meinung. Echte Kritik ist unschwer daran erkennbar,daß sie Voraussetzungen angreift, nicht aber Voraussetzungen macht.Darum eben ist sie der natürliche Weg neuer Einsicht1.

gegenseitigen Transzendenz von Bewußtseinswelt und räumlicher Außenwelt,das bleibende Wesensstück des neuzeitlichen Erkenntnisproblems. Es wirddadurch nicht geschmälert, daß Descartes selbst diese Zentralstellung nicht aus-gewertet hat; auch nicht dadurch, daß seine Einführung in diese Sachlage eineunzureichende ist. — So steht hinter Hegels Geschichtsbild, hinter seiner Rechts-philosophie und Gemeinschaftsethik die Entdeckung des „objektiven Geistes"als eines Grundphänomens des menschlichen Daseins; eine Entdeckung, diedurch seine idealistische Substantialisierung des Geistes wohl verdunkelt undverunklärt, aber keineswegs entwertet werden konnte. — Auch in dem berühmtenSatz des Sokrates, daß Tugend Wissen sei, steckt eine solche Entdeckung. Sieliegt in der Einsicht, daß zum sittlichen Verhalten ein Wertbewußtsein die Vor-aussetzung ist. Weder die Zuspitzung zu einer offenkundig unhaltbaren Iden-titätsthese noch auch das völlige Fehlen eines dem Problem entsprechenden Wert-begriffs kann diese Errungenschaft schmälern.

1 Die Beispiele hierfür sind zahllos. Man denke etwa an Platons Kritik desProtagoreischen Seins- und Wahrheitsrelativismus im „Theaitetos", an Thomas'Kritik des ontologischen Gottesbeweises, an Leibniz' Kritik der mechanischenNaturauffassung, an Kants Kritik des rational-psychologischen Seelenbegriffsoder des „empirischen Idealismus", an Husserls Kritik des Psychologismus. Eingroßes Beispiel sehr eigener Art ist die ganze antike Skepsis. Sie unterscheidetsich dadurch von den genannten Fällen, daß in ihr das Fortschreiten von dernegativen Einsicht zur positiven in geradezu absichtlicher Weise unterbundenwird. So wenigstens die alte Pyrrhoneische Skepsis und die neuere des Änesi-demus, während die zeitlich dazwischenliegende der Akademiker eine gewissepositive Auswertung kannte. Das Wichtigste aber ist, daß sogar die extremstenegativistische Tendenz der Skeptiker den reichen Ertrag an Einsichten, die dieErkenntnistheorie ihnen verdankt, in keiner Weise hat verdunkeln können.

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Wichtiger noch als diese an Teilaspekten haftenden Kennzeichen echterErkenntnis ist ein Weiteres, das sich im Zuge des geschichtlichen Gangesselbst anmeldet. Als Grundphänomen des letzteren hatte sich gezeigt, daßdie Systeme geschichtliche Augenblicksprodukte sind, daß sie ebensoschnell zusammenbrechen, wie sie aufgebaut wurden. Aber das gilt nurvon ihnen als solchen, nicht von allen gedanklichen Einzelheiten, die inihnen stecken. Und hier ist der Punkt, an dem Erkenntnis und Irrtum inihnen sich im Fortgang der Geschichte von selbst scheidet: was Er-kenntnis ist im Gefüge dieser Gedankenbauten, das fällt nicht hin, wennsie fallen; es wird auch nicht von Kritik widerlegt, ja es wird kaum be-stritten. Und wo es bestritten wird, da geschieht es nicht um seiner selbstwillen, sondern um der spekulativen Irrtümer willen, mit denen es zuUnrecht verbunden dastand. Einsichten, die so in die Masse eines Systemshineinverbaut sind, können wohl, wenn das System einstürzt, im Schuttder Geschichte liegenbleiben und vergessen werden. Auch dann bleibensie bestehen und können wieder ausgegraben werden. Aber wo die Kritikdirekt auf sie stößt, da bestehen sie die Probe und setzen sich durch. Undso läßt sich im Hinblick auf den „doppelten Gang" der Philosophie durchdie Folge der Zeiten wohl sagen, daß die Entscheidung über Wahrheitund Irrtum im weiteren Fortgange der Geschichte selbst gefällt wird.

Das ist gewiß keine absolute Entscheidung. Zumal die nächsten Nach-folger pflegen ungerecht abzulehnen. Aber die Späteren, die Distanz ge-wonnen haben, urteilen im allgemeinen objektiver. Und im ganzen ist zusagen: je mehr Zeit und Anschauungswandel über einen Gedanken hin-gegangen ist, um so einleuchtender und eindeutiger scheidet sich an ihmErkenntnis und Irrtum1.

Freilich gibt es auch Irrtümer, die lange bestehen bleiben. Wie vieleJahrhunderte hat man an die „Seelensubstanz" oder an die Zwecktätig-keit der „substantiellen Formen" in der Natur geglaubt. Doch läßt sichzeigen, daß in solchen Fällen stets die Problemlage selbst, die Lösungs-

1 Man tut in diesem Punkte gut, sich an ältere Beispiele zu halten, zu denenwir Heutigen selbst die genügende geschichtliche Distanz haben. Der Satz derPythagoreer, daß die Prinzipien der Zahlen zugleich Prinzipien der Dinge sind,hat sich trotz vieler Umstrittenheit schließlich im Felde der Naturerkenntnisdurchgesetzt, obgleich diese Naturerkenntnis im übrigen durchaus nicht pytha-goreisch orientiert ist. Dasselbe gilt von Demokrits Wissen, daß Farben und Tönenicht etwas an den Dingen sind, sondern nur für „uns" bestehen; die Einsichthat sich gehalten, obgleich die primitive atomistische Erklärung, die Demokritihr gab, längst gefallen ist. Platons Gedanke vom „Vorwiesen" eines Allgemeinenvor der Erfahrung hat sich im neuzeitlichen Apriorismus bewährt, obgleich seineEinkleidung in eine Ideen- und Erinnerungstheorie schon früh auf Widerstandstieß. Die Argumente des Duns Scotus dafür, daß die Individuation nicht aufeinem eigenen Prinzip neben der Form, sondern auf durchgehender Formdiffe-renzierung beruht, haben sich aller Opposition zum Trotz als unwiderleglicherwiesen; aber den Universalienrealismus, in den sie eingebaut waren, wird des-wegen schwerlich ein heutiger Denker erneuern wollen. t

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versuche dieser Art hervortrieb, eine außerordentlich stabile und gleich-sam schwer fortzubewegende ist; solange sie sich nicht ändert, kann auchder Irrtum nicht aufgedeckt werden. Gerade die angeführten Beispielezeigen aber, daß irgendwann doch die Kritik auch hier einsetzt. Siekommt dann meist von einer Seite, an die niemand gedacht hatte — seies aus dem Bekanntwerden neuer Tatsachen oder aus dem Einsetzenneuer erkenntnistheoretischer Besinnung1. Sieht man aufs Ganze, soleuchtet es ein, daß hier der Fortschritt der Erkenntnis nur sehr ver-langsamt schreitet. Das Grundsätzliche aber in dem geschichtlichen Ver-hältnis von Erkenntnis und Irrtum bleibt vom veränderten Tempooffenbar unberührt.

Das Kriterium der Bewährung im Fortgang der Geschichte ist ebenauch kein absolutes. Auf kurze Sicht ergibt es überhaupt kerne Ent-scheidungen. Aber je weiter man den Blick spannt, um so mehr nähertman sich mit ihm den verborgenen Spuren echter philosophischer Er-kenntnis.

Ein weiteres Anzeichen von Wahrheit liegt in der Übereinstimmungvon Gedankenelementen, die in sehr verschiedenen Zusammenhängen,Systemen oder Zeitaltern auftreten. Es gibt solcher Inhaltsmomentemehr, als man in der üblichen Blickrichtung auf die „Lehre" zu sehen ge-wohnt ist. Es handelt sich in ihnen nicht nur um inhaltliche Gleichheit,sondern auch um zwangloses Ineinanderpassen, um ein natürliches Er-gänzungsverhältnis. Nur ist eines wie das andere meist durch die Ver-schiedenheit der Begriffsbildung verdeckt, und man muß schon durchdiese hindurchsehea auf die Problemgehalte, um das Zusammenstimmenfreizulegen.

Natürlich muß man hiervon alles ausnehmen, was auf der Identitätübernommener Motive beruht. Mit den Motiven werden eben auch diegleichen Voraussetzungen und die gleichen Irrtümer übernommen; undaus gleichen Irrtümern müssen sich natürlich ebenso gleiche Konse-quenzen ergeben wie aus gleichen Einsichten. Bei dem, was ohne ge-schichtliche Abhängigkeit inmitten heterogener Lehrsysteme überein-stimmt oder sich ineinanderfügt, ist gerade die Indifferenz auffallend, diesolche Einsichten gegen die Verschiedenheit der Voraussetzungen zeigen.

In der vergleichenden Betrachtungsweise ist gerade die Unabhängigkeitdes Zusammenstimmenden von den Voraussetzungen der Systeme dasAuffallende und recht eigentlich Erstaunliche. Sie legt beredtes Zeugnisdavon ab, daß es sich hier um direkte Fühlung mit der Sache handelt,d. h. um echte Erkenntnis. Man muß zum Verständnis dieser Sachlage da-von ausgehen, daß auch die spekulativsten Metaphysiker doch vom Be-mühen um Erkenntnis getragen sind und daß man sich schließlich nichtwundern kann, wenn die Erkenntnistendenz in ihnen gelegentlich durch

1 Das erstere trifft auf die Überwindung der „substantiellen Formen" imBeginn der neuzeitlichen Naturwissenschaft zu, das letztere auf die Kritik derrationalen Seelentheorie in Kants „Paralogismen der reinen Vernunft".

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alle selbstgemachten Voraussetzungen und Gedankenkonstruktionenwieder durchbricht. Was aber in ihrem Denken die Spekulation durch-bricht, was im Hinschauen auf die Sache erfaßt wird, also ihr selbst ab-gewonnen wird, das muß bei folgerichtigem Zusammenfügen notwendigsich einfügen in das, was von anderen zu anderer Zeit und in anderemZusammenhange gleichfalls der Sache selbst im Hinschauen auf sie abge-wonnen wurde. Das ist das Verhältnis, das wir von anderen Wissen-schaften her zur Genüge kennen, und dort wundert sich niemand überdas Zusammentreffen der mit sehr verschiedenen Methoden gewonnenenEinsichten. In der Philosophie ist es nur durch das gewaltige Ausmaß desKonstruktiven verdunkelt. Aber es fehlt keineswegs1.

Mit dem Durchbrechen der Systeme aber hat es hierbei noch eine be-sondere Bewandtnis. Man erinnere sich hierzu dessen, was zu Anfangüber das Verhältnis von Systemkonsequenz und Problemkonsequenz ge-sagt wurde. Nicht selten überlagern sich diese beiden Arten der Konse-quenz im Denken eines und desselben Philosophen; und da die Systemestets an bestimmten Voraussetzungen haften, die sich bestreiten lassen,die Probleme aber nur an einem gegebenen, nicht willkürlich veränder-baren Bestand von Phänomenen, so ist es nicht zu vermeiden, daß sie imDenken eines und desselben Kopfes in Konflikt miteinander geraten. Indiesem Konflikt gibt es gewiß oft genug das Abbrechen der Problemkon-sequenz zugunsten der Systemkonsequenz; es gibt aber auch das Um-gekehrte, und dann bricht das Problemdenken durch das Systemgefügehindurch, zerreißt es, sprengt es von innen heraus, weil es für das Er-kannte nicht Raum hat. Diese Durchbrüche sind es, die der Historikermit Erstaunen als „Inkonsequenzen" am Gedankenbau konstatiert. Essind auch in der Tat Inkonsequenzen des Systemdenkens, und zwar ebenweil es Konsequenzen der Sachfühlung und der originären Einsicht sind2.

? An Stelle der zahlreichen Fälle dieser Art in der Geschichte sei hier alsBeispiel nur einer herangezogen. Locke und Leibniz gingen ohne Zweifel von soentgegengesetzten Voraussetzungen aus wie nur möglich, und ihre Weltbilderfielen entsprechend verschieden aus; aber gerade in dem Punkte, wo sie amschroffsten gegeneinander standen, fügen sich ihre Thesen zwanglos ineinander.Das „nihil est in intellectu . . ." widerspricht nicht dem „nisi intellectus ipse".Versteht man das nihil als das Fehlen eines aufweisbaren Bewußtseinsinhaltes,so reimt es sich sehr wohl mit der Apriorität der ersten Erkenntnisprinzipien,die eben als solche kein Inhalt neben dem konkreten Vorstellungsinhalt sind,sondern nur in ihm enthalten auftreten. Ein größeres Beispiel habe ich in meinemVortrag über „das Problem des Apriorismus in der Platonischen Philosophie"gegeben (Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wissensch., Phil.-hist. Klasse, 1935,XV in diesem Bande S. 48). Es zeigte sich dort, wie der Gedanke einer Iden-tität der Erkenntnis- und Seinsprinzipien mannigfach abgewandelt von denPythagoreern bis auf Kant durchgeht.

1 Es gibt Denker, die so sehr in unausgesetzter Fühlung mit den Problem-gehalten stehen, daß ein solches Durchbrechen fast zur ständigen Begleiter-scheinung ihrer Untersuchungen wird. Sie führen unbekümmert auf Wider-sprüche hinaus und lassen sie unbehoben stehen, als müßte das so sein. Aristoteles

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Hier liegt nun, wie ich glaube, ein untrügliches Signum echter Er-kenntnis im Denken der großen Meister; freilich nur der großen, denn imepigonenhaften Denken geringerer Geister ergibt natürlich der Eklekti-zismus genügend Widersprüche sehr anderer Art. Aber da man dieletzteren leicht an der äußerlichen Art des Verbindens und dem losenGeflecht der Systeme selbst erkennt, so ist die Gefahr der Verwechslunghier nicht groß. Die Widersprüche in den Systemen der Großen ver-raten das Durchbrechen selbständiger Erkenntnis durch die aufgebautenSchranken, die der Gedanke sich selbst gezogen hat. Die Systeme ebenerweisen sich schon unter den Händen ihrer Baumeister als zu eng undwerden deshalb von ihrem eigenen unverfälschten Erkenntnisdrangwieder gesprengt. Sie erweisen sich so als das, was sie in Wahrheit sind:Zwangsjacken des Denkens. Was sie zerreißt, ist immer wieder die Kraftder Erkenntnis.

4. Die letzte der aufgeworfenen Fragen ist die dem heutigen Denkenam nächsten liegende. Man kann sie die historische nennen: gesetzt also,wir haben gewisse Anzeichen, nach denen Wahrheit und Irrtum im ge-schichtlichen Stoffsich scheiden, muß nicht dennoch jedes Zeitalter undjeder einzelne Historiker wieder anderes für Wahrheit, anderes für Irr-tum halten ? Verfallen wir also mit der Anforderung einer Auslese nichterst recht einem uferlosen Relativismus ?

Und man möchte hinzufügen: ist es da nicht besser, den alten Weg zugehen und einfach zu konstatieren, was gedacht, gemeint, gelehrt wurde ?

Daraufist zu antworten: wäre jeder einzelne Beurteiler und jedes Zeit-alter mit seinem Urteil auf sich selbst gestellt — auf sein eigenes Dafür-halten, sein Denken und seine Maßstäbe angewiesen —, dann wäre demfreilich so. Steht aber der einzelne und mit ihm sein Zeitalter ganz imZuge eines geschichtlichen Ganges, in welchem die Systeme sich ständigablösen, die Einsichten aber sich langsam ansammeln, dann liegt dieSache ganz anders. Dann ist nicht ein jeder im Urteil auf sich selbst ge-stellt, sondern auf die Erfahrungen dieses geschichtlichen Ganges; derGang der Geschichte hat für ihn gearbeitet, hat das eine als unhaltbarfallen gelassen, das andere aber im Feuer der Kritik erprobt.

Der Historiker ist stets Epigone. Ais Epigone aber ist er in unstreit-barem Vorteil gegen die Denker, die er behandelt, und zwar einfach durchist vielleicht der größte Denkertypus dieser Art — auch wenn man von deneigentlich aporetischen Partien absieht —, eine Tatsache, die m. E. an ihm vielzu wenig gewürdigt worden ist. Man suchte die Widersprüche immer wegzu-deuten. Er aber hatte den Mut, sie offen stehenzulassen. Vgl. hierzu Anm. obenzu Abschn. II, sowie den dort zitierten Artikel „Aristoteles und Hegel"; die dortgegebenen Beispiele aristotelischer Grundbegriffe tragen den Stempel des Dialek-tischen an der Stirn. — Ein gutes Beispiel ist auch Platons im„Symposion", die er sogar den Tieren zusprach, die aber dem Unsterblichkeits-begriff des „Phaidon" ins Gesicht schlägt. — Auffälliger vielleicht noch istKants Durchbruch durch seinen eigenen transzendentalen Idealismus in derFormulierung seines „obersten Grundsatzes aller synthetischen Urteile". Es istein Grundsatz, der offenkundig diesseits von Idealismus und Realismus steht.

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die geschichtliche Entwicklung im Streit der Meinungen, die dazwischen-liegt. Alte und neue Kritik, alte und neue Einsicht ist über die Gedanken-welt jener Denker hingegangen und hat voneinander geschieden, wasfallen mußte und was standhielt.

Der Epigone hat es hierin in der Tat nicht so schwer, als man meinenkönnte. Der zeitliche Abstand erschwert ihm zwar in vieler Hinsicht das„Verstehen" des Gemeinten, aber er erleichtert ihm das „Wiederer-kennen" des Erkannten. Es ist keine Anmaßung von ihm, wenn er sichzutraut, in vielem wissender zu sein als der um vieles größere Meistereiner früheren Epoche, seine Fehler und Einseitigkeiten klar bestimmen,ja seine Einsichten reiner fassen zu können als er selbst. Es ist dieselbeÜberlegenheit, die auch jeder systematische Philosoph einer spätenEpoche sich zutraut, wenn er sich mit den großen Altvordern ausein-andersetzt. Wie könnten wir uns sonst anmaßen, über Aristoteles oderKant kritisch zu urteilen, eigene heutige Gedanken gegen die ihrigen zustellen ? Das Recht hierzu wird niemand bestreiten. Es ist ja auch nichtdie persönliche Überlegenheit des einzelnen und auch nicht die eines ein-zelnen Zeitalters, sondern eine solche, die in der gedanklichen Fortarbeitvon Generationen gewonnen wurde.

Bei geringer zeitlicher Distanz verschwindet diese Überlegenheit freilichso gut wie ganz; darum dauert es so lange, bis die Nachwelt großenDenkern gegenüber ein selbständiges Urteil gewinnt. Eine bestimmteZeitgrenze läßt sich dafür nicht angeben1. Die Unterschiede hängen hieran der Problemtiefe des Denkers, der Kraft seiner Formulierungen undBegriffsprägungen — denn diese sind es, die eine Nachwelt länger zu be-herrschen pflegen als selbst die inhaltlichen Lehrmeinungen —, aber auchan der selbsttätigen Erkenntnis- und Gestaltungskraft der Nachfahren.Über lang oder kurz setzt über jede geschaffene Theorie die Tendenz desUmlernens ein. Und auf weite Sicht scheidet sich eben doch Erkenntnisund Irrtum auch in der Philosophie durch ihr Eigengewicht. Das schnelleHinfallen offenkundiger Konstruktion, die langsam bohrende Arbeit anungelösten oder unbefriedigend gelösten Problembeständen, die nie ein-schlafende Polemik, rührige Kleinarbeit beschränkter, aber scharf-sichtiger Köpfe, die großen Entdeckungen und neuen Perspektiven derGroßen — das alles ergibt auf die Dauer eine sich ständig befestigendeGrenzziehung zwischen unwiederbringlich Versunkenem, Totem, nichtWiedererweckbarem und Lebendiggebliebenem, sich fortlaufend Bestä-tigendem und Bewährendem. Es ist die in der Geschichte selbst sich fort-laufend vollziehende Scheidung des bloß Geschichtlichen und des Über-geschichtlichen im Gedankengute der Philosophie2.

1 Zu Aristoteles hatte man noch im 16. Jahrhundert keine innerlich freieStellung; in der Regel dürfte sie auch größeren Denkern gegenüber in drei bisvier Generationen erreicht sein.

2 Es ist das Gesetz des „objektiven Geistes", daß er in jeder jüngeren Gene-ration älter und erfahrener geworden ist, als er in der älteren war. Sein Älter-werden ist keineswegs in jeder Hinsicht ein Vorzug. Aber gerade im Felde der

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Dem Epigonen fällt sie bereits als Frucht zu. Er kann unterscheiden,weil er die Unterschiede nicht erst selbst zu finden braucht. Er kann esnur dann nicht, wenn er es nicht will, d. h. wenn sein Interesse am Stoffihn gar nicht dazu drängt. Und das ist dann der Fall, wenn er selbst keinphilosophischer Kopf ist, wenn es ihm gar nicht um Erkenntnis und Irr-tum geht, sondern nur um die bunte Fülle geistesgeschichtlicher Er-scheinungen. Man sage nicht, daß es solche Gleichgültigkeit ja gar nichtgäbe. Es gibt sie sehr wohl, und sie ist seit hundert Jahren fast die herr-schende — ja die für eigentlich „historisch" ausgegebene — Haltung derHistoriker geworden. Es ist ein unphilosophisches und wissenschaftlichungesundes Denken, das so denkt, es ist der Zeitkrankheit des Relati-vismus und der philosophischen Impotenz verfallen.

Hier liegt auch der Grund, warum eine auswertende Geschichtsfor-schung der Philosophie nicht mehr, sondern weniger dem Relativismusausgesetzt ist als eine rein „Gedanken verstehende". Ohne Auswahl undWertgesichtspunkte geht es ohnehin auch bei der letzteren nicht ab; nurdaß hier die Gesichtspunkte willkürlich bleiben und je nach den Vor-zugstendenzen der Zeit wechseln, während bei jener der Gesichtspunktder Bewährung ein durch den Gang der Geschichte selbst gegebener istund so ein natürliches Auswahlprinzip darbietet. Gerade der philo-sophisch problemlose Geschichtsforscher — also der scheinbar objek-tivere — ist der Subjektivität der zeitbedingten Auffassungsweise ver-fallen. Er kann den vorliegenden Stoff nicht zwingen, ihm zu verraten,wie es im Innern des fremden und fremdartig inspirierten Gedankenseigentlich aussieht. Gerade die reine Tatsachenfrage nach dem damaligen,und nur damaligen, so nie wieder möglichen Gedanken ist in sich rich-tungs- und hilflos, wenn ihr nicht ein Gemeinsames, Bleibendes, alsomehr als Damaliges im Denken des Historikers zu Hilfe kommt. DieHilfe aber ist da, sobald es sich um Erkenntnis, Wahrheit, Bewährunghandelt. Denn die großen philosophischen Problemgehalte gehen durch,an ihnen bleibt etwas wesensidentisch und wiedererkennbar; und wasimmer an ihnen geklärt wird, bleibt ebenso wiedererkennbar, solangenur irgend die Welt, in der wir leben, uns vor dieselben Rätsel stellt.

Es ist mit alledem natürlich nicht gemeint, daß sich die historischeRelativität der Deutung durch ein problemgeschichtliches Verfahreneinfach aufheben ließe. Das Unmögliche verlangen ist unbillig. AbsoluteMaßstäbe gibt es in keiner Erkenntnis. Innerhalb der Abstufung aber,die jede Art von Relativität zuläßt, ist in der Geschichtserforschung derPhilosophie durch das Wiedererkennen von einmal Erkanntem besser ge-sorgt als auf den meisten Gebieten der Geistesgeschichte. Gäbe es in derPhilosophie hinter dem Widerspiel der Systeme keinen stetigen Fortgangder Erkenntnis, so könnte freilich auch hier von einem leitenden PrinzipErkenntnis ist es ein Vorzug. In der Wissenschaft gerade gibt es das, was eskeineswegs auf allen Geistesgebieten gibt: ein wirkliches Fortschreiten und Vor-wärtskommen. Und stillschweigend nimmt jeder Forscher auf seinem Arbeits-gebiet ein solches in Anspruch. Der Philosoph macht darin keine Ausnahme.3 H a r t m a n n , Kleinere Schriften II

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nicht die Rede sein. Soweit es ihn aber gibt — und davon ließen sich dieSpuren aufzeigen —, fehlt es an einem solchen nicht. Und der Gang derGeschichte selbst sorgt dafür, daß wir es auch greifen können. Nur derGebrauch, den wir davon machen, läßt viel zu wünschen übrig1.

Die Faktoren der Relativität liegen eben doch je nach der Stellung derAufgaben und dem Verfahren sehr verschieden. Wo es um Meinungenund Anschauungen geht, die selbst wiederum zum Gegenstand vonMeinung und Anschauung gemacht werden, da liegt weder in der Sachenoch im geschichtlichen Gange ein Korrektiv, und die Relativität wirduferlos. Geht es aber um Erkanntes, das wiedererkannt werden soll, soist die Sache identifizierbar am Leitfaden der einschlägigen Probleme,die eigene Auffassung aber vorgezeichnet durch ihre Eingliederung in den-selben geschichtlichen Gang, in dem auch Erkenntnis und Irrtum ver-gangener Zeiten seine bestimmte Stelle hat. Das bricht aller Relativitätdie Spitze ab, und zwar ohne sie aufzuheben: der wiedererkennendenAuffassungen sind viele, aber sie treten selbst in geschichtlicher Reihen-folge auf. Und da jede Auffassung dem Erkenntnisstande ihrer Zeit ent-spricht, die Erkenntnis aber geschichtlich fortschreitet, so ist auch dieReihe jener Auffassungen eine geschichtlich fortschreitende. Sie brauchtdeswegen keine stetige und auch keine geradlinige zu sein, sie läßt viel-

1 Er läßt sogar, wie gezeigt wurde, nach beiden Seiten zu wünschen übrig.Im allgemeinen entgleitet dem Historiker die große Chance ganz, die sich ihmdarbietet, weil er selbst nicht auf der systematischen Problemhöhe seiner eigenengeschichtlichen Zeit steht. Es gibt aber auch das umgekehrte Verhältnis. Es gibtdie Gefahr, daß der Systematiker die eigene Gedankenkonstruktion für das voll-wertige Besultat der Geschichte nimmt und nun nicht mehr nach Problemgehalten,sondern nach den eigenen Thesen und Lehrmeinungen das geschichtliche Ge-dankengut auf „wahr und unwahr" hin zu sichten beginnt. Er ist dann natürlichgeneigt, den fremden Gedanken im Sinne des eigenen umzubiegen, umzudeuten,zu verfälschen. Beispiele dafür wurden oben gebracht (Anmerkungen). Doch willmir scheinen, daß diese Gefahr — auch abgesehen von dem dort geltend ge-machten Gesichtspunkt — nicht ganz so groß ist, wie unsere heutigen Historikersie unter dem Druck ihrer auf reine Tatsachen gerichteten Methoden zu veran-schlagen gewohnt sind. Denn einmal pflegen Konstruktionen nirgends schnellerzusammenzubrechen als in den Geschichtsbildern; die historische Konstruktionist eben noch schwächer als die systematische. Und andererseits ist die Zeit derSystembildungen überhaupt so gut wie vorbei, und die systematische Philosophiehat sich auf den anspruchsloseren, aber solideren Weg der Problemforschungzurückgefunden. Vgl. hierzu meine „Systematische Philosophie" 2. Aufl., Berlin1935, Kleinere Schriften I S. 2, sowie „Zur Grundlegung der Ontologie" 3. Aufl.Meisenheim 1948, S. 31. — Das philosophisch Interessante hieran aber ist, daßder Fehler, den solche Systematiker am geschichtlichen Gut begingen, imletzten Grunde auf dasselbe hinausläuft wie der, den die problemlosen Historikerimmer wieder gemacht haben. Diese wie jene haben sich die kritisch sichtendeund klärende Arbeit, die sich im Gange der Geschichte selbst vollzieht, nichtzunutze gemacht: die einen, weil sie nicht auf der Höhe des in ihrer Zeit Er-reichten standen, die anderen, weil sie es unter dem Druck der Verführung, dievon ihrer eigenen Spekulation ausging, in den Wind schlugen.

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leicht jede Art von Windung zu; aber im ganzen gesehen ist ein Vorwärts-kommen in ihr. Darum, müssen sich in ihr Fehlurteile und Einseitig-keiten auf die Dauer ebenso ausgleichen, wie sie sich im geschichtlichenGange der systematischen Probleme und Erkenntnisse selbst ausgleichen.

Und darum kann man es bei solcher Einstellung getrost auf die Ein-seitigkeit der eigenen zeitbedingten Sehweise ankommen lassen. Sieschadet nur dem eigenen Eindringen, nicht dem künftigen, sie verbautkeine Zugänge, sie schneidet keine Wege ab. Die Bedingungen der An-näherung an die Wahrheit liegen also hier günstiger als bei anderer Auf-gabestellung. Sie verbürgen von vornherein eine gewisse Konvergenz derLinien. Nur darf man die Konvergenzpunkte nicht zu nahe suchen, nichtim eigenen Denken. Sie liegen aber gleichwohl in einer Ebene mit ihm, aufder geschichtlichen Linie der sich folgenden Geschichtsbilder. Dieletzteren — wo sie am Leitfaden der die Zeiten verbindenden Problemegewonnen werden und im Fortgänge der historischen Erkenntnis dauerndder Kritik ausgesetzt bleiben — verhalten sich zueinander ähnlich wiedie Lösungsversuche systematischer Probleme. Sie rücken dadurch ineinen durchgehenden Zusammenhang, der jederzeit über sie hinausweist.

Wie alle Geschichte, so muß auch die Geschichte der Philosophieimmer wieder neu geschrieben werden. Es fragt sich dabei nur, wievielvon der einmal geleisteten Arbeit brauchbar bleibt. Auch in dieser Hin-sicht liegen in der Problemgeschichte die Bedingungen relativ günstig.Denn auch in der Bemühung des Wiedererkennens gibt es, genau wie imGange der systematischen Problembehandlung selbst, den Unterschiedvon Einsicht und bloßer Meinung, von Errungenschaften, die bleiben,und Konstruktionen, die fallen. Und wie dort, so scheidet sich auch hierbeides durch sein eigenes Gewicht bereits im Prozeß selbst.

Wir lernen zwar immer wieder um, aber nicht anders als auf Grund vonimmer neuer und immer feinerer Unterscheidung zwischen Erkenntnisund Irrtum im geschichtlichen Gedankengut. Gerade diejenigen, die dameinen, sie könnten unter Verzicht auf Unterscheidung dieser Art nurreine Denktatsachen herausheben und verzeichnen, setzen einen festenBestand des Verzeichneten voraus. Darum gehen sie über ein Verstehendes Konstatierbaren nicht hinaus. Darum auch verfallen sie gar nicht aufdie Frage, ob sie die Probleme derer überhaupt sehen, deren Gedankensie nachzuzeichnen suchen. So fragen kann eben nur, wer in lebendiger,um der Probleme willen gesuchter Auseinandersetzung mit der Ver-gangenheit steht.

IVUnter dem Gesichtspunkt einer echten Problemgeschichte kommt es

auf sehr andere Dinge an als diejenigen, die zumeist im Zentrum des In-teresses gestanden haben. Die Aufgabe wird damit enger, und doch auchwiederum weiter. Nicht alles, was einer „gelehrt", erweist sich als gleich-wertig, nicht alles, was er „gemeint", als philosophisch relevant. Aristo-

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teles „lehrte" das Von-außen-Kommen des ; aber das Gewicht derSache wird erst sichtbar, wenn man das Problem wiedererkennt, auf dasdie These antwortete. Und das ist nicht die Frage nach der Gottver-bundenheit der Seele, die man nachmals immer wieder hier supponierthat, sondern die nach Selbständigkeit oder Unselbständigkeit dergeistigen Funktionen gegenüber den niederen seelischen Funktionen.Kant „lehrte" den Primat des Praktischen, die Unerkennbarkeit derDinge an sich; aber die „Lehre" besagt wenig, ja sie kann sehr verschie-denartiges bedeuten, je nachdem in welchen Problembestand sie einzu-beziehen ist. Und über diesen belehrt Kant selbst nicht so eindeutig, wieman wohl wünschen möchte. Nicht nur die Systeme sind undurchsichtig,solange man sie nicht von ihren Problemen her zu durchleuchten weiß,sondern auch die einzelnen Lehrmeinungen.

Wichtig ist in allem, was die Denker der Vergangenheit „gelehrt",nur das, was sie „erkannt" haben. Und da es dieses erst wiederzuer-kennen gilt, so ist es von erster Wichtigkeit, welche Probleme sie erfaßthaben — oder vielleicht sollte man lieber sagen, von welchen Problemensie erfaßt sind. Man kann sich dabei nicht an das allein halten, was sieselbst als Probleme aufgestellt und formuliert haben; die wenigstenhaben explizit aporetische Arbeit geleistet wie Aristoteles. Es geht auchselten der ganze Gedankenweg in die geschriebenen Werke mit ein; geradedie Ausgänge lassen sich oft nur erraten. Hier aber liegen die Problem-aufschlüsse.

Der Blick hierfür hat den Historikern nicht gefehlt. Man zog, wo es an-ging, die Anfänge, die Jugendstadien der Denker heran; man suchte da-nach, woran sie anknüpften, welche Strömungen sie gefangen hielten,welche Motive sie aufgriffen. Aber man hat über dieser Bemühungdoch schließlich die Hauptsache vergessen. Wichtig war eben doch nichtso sehr, wie sich solche Einflüsse in ihnen auswirkten, als gerade das, wo-mit sie in ihrem Denken durchbrochen wurden, womit gegen alles Über-nommene die neue Einsicht einsetzte, was entdeckt oder auch nur wieder-entdeckt wurde. Und nicht weniger wichtig war es, wieweit sie das Er-kannte ausgewertet, seine Tragweite ermessen haben. Denn wohl gibtes geniale Entdeckungen, die ahnungslos gemacht und gar nicht alssolche erkannt wurden. Dieser Fall ist so selten nicht. Und gerade hierhat der Historiker ein fruchtbares Feld des Wiedererkennens und Ans-Licht-Hebens. Selbstverständlich bedarf es auch dazu einer solidenDurchdringung von Meinung, Lehre und System — schon weil mannicht zum voraus sehen kann, wo die Einsichten stecken. Es bedarfsogar noch eines weiteren: man muß sich in der Begriffs- und Gedanken-welt eines Philosophen frei bewegen, in seinen Begriffen denken lernen.Aber auch das ist nur Vorspiel. Wer es zum Selbstzweck macht, verfehltdennoch den Kern.

Philosophisch zentral ist überhaupt in jedem systematischen Denkernur der Problemdenker, d. h. der den Problemen um ihrer selbst willenNachgehende. In gewissen Grenzen ist es von vornherein unwahrschein-

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lieh, daß die sog. „Hauptlehren" eines Systems etwas philosophischWesentliches — d. h. Einsichten — enthalten. Im allgemeinen sind ebendie Systeme Konstruktionen, und was in ihnen als Grundlage auftritt,ist konstruierte Grundlage. Hauptlehren dieser Art bewegen sich imGeleise von Scheinproblemen, von Problemen, die erst durch das ange-nommene Weltbild entstehen, mit dem Phänomenbestand der wirklichenWelt aber wenig zu tun haben. Die Lösungen, die sie anbieten, sinddaher bei größter logischer Folgerichtigkeit doch nur Scheinlösungen.

Und umgekehrt läßt sich sagen: es ist hoch wahrscheinlich, daß Ge-dankenelemente, die den Hauptlehren der Systeme zuwiderlaufen oderauch nur sich nicht recht mit ihnen reimen, irgendwelche originärenEinsichten enthalten — am meisten dann, wenn sie am System alsInkonsequenz wirken. In ihnen eben durchbricht die Erkenntnistendenzdie aufgerichteten Schranken. Wo die Systematik ganz versagt, wo sieeinem Denker von innen heraus in Verwirrung gerät, da gerade drängensich die philosophisch gewichtigen Einsichten zusammen. Das ist z. B.überall der Fall, wo der Gedanke vor dem Unbewältigten haltmacht,ja schon wo er um ein solches weiß und es respektiert — gerade da also,wo scheinbar die Erkenntnis versagt. Formen solchen Wissens sind dasProblembewußtsein, das „Wissen des Nichtwissens", die aporetischeErörterung, das Auftreten von Antinomien, dialektischen Begriffenu. a. m.

Die Größe der Großen unter den Denkern der Geschichte ist ein-deutig erkennbar an der rücksichtslosen Kühnheit, mit der sie solchesscheinbare Versagen der Erkenntnis im eigenen Denken bloßgestellthaben; und am meisten dort, wo sie selbst es nicht für ein scheinbareshielten. An solchen Punkten besteht die Kraft des Wahrheitsdrangesin ihnen die Feuerprobe. Davor versinkt der Glanz des metaphysischenSchwindels. Die Größe der Großen liegt im Unscheinbaren: im unbe-irrbaren Ausharren bei den Problemen, im Aufnehmen der Schwierigkeit,in nüchterner Selbstbescheidung angesichts des Unmöglichen. DieKleinheit der Kiemen ist das Unmaß der Behauptung und die Ge-wissenlosigkeit der Spekulation.

Der Irrtum in der Philosophie ist im wesentlichen eine Funktion derSystemtendenz1. Es ist eine Unsitte heutiger Darsteller, die alten Meisterum jeden Preis auf Systemkonsequenz hinauszuspielen, sie womöglicheinheitlicher und konsequenter zu machen, als sie waren. Man tut ihremAndenken nichts Gutes damit; man verwischt nur die Spuren lebendigerEinsicht, gibt das Wertvollste an ihnen der Verkennung preis, verdecktihre Entdeckungen und Errungenschaften.

Man müßte nun eigentlich die ganze Reihe der großen Denker ab-leuchten, um dieses Verhältnis darzutun. Das ist eine Aufgabe, die aufdie neue Geschichtsschreibung der Philosophie selbst hinausläuft. Sie in

1 So die These von Balduin Schwarz (Der Irrtum in der Philosophie, Münsteri. W. 1934), S. 126ff. Daselbst die genauere Begründung dazu.

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Angriff nehmen, würde das Lebenswerk einer Generation von Forschernbedeuten. Getan ist dafür einstweilen nichts. Die heute Lebenden stehenim alten Geleise, ihnen gelten noch die Lehrmeinungen als die Philo-sophie; die Jüngeren, die heraufgekommen, sind aktuelleren Aufgabenzugewandt. Ich muß mich also hier auf einige wenige Beispiele be-schränken, die mir in meiner eigenen Auseinandersetzung mit denDenkern der Vergangenheit aufgefallen sind. Daß eine solche Auswahlnicht anders als einseitig ausfallen kann, ist eine Selbstverständlichkeit.

Als erstes Beispiel sei hier die Kantische Philosophie herangezogen.Seit dem Niedergang des Neukantianismus im Beginn unseres Jahr-hunderts ist die Schwäche des „transzendentalen Idealismus" als einesSystemstandpunktes bis ins letzte durchsichtig geworden. Für einSubjekt höherer Ordnung über dem empirischen Subjekt hat sichkeinerlei Phänomenbasis und keine mögliche Seinsweise aufzeigen lassen.Weder die strenge Scheidung von Erscheinung und Ding an sich nochder subjektive Ursprung der Prinzipien, weder der „formale" Charaktervon Kategorien und Sittengesetz noch der metaphysische Anspruch derPostulatenlehre hat die Probe der Kritik bestanden. Ist damit dieKantische Philosophie erledigt ? Es läßt sich nicht leugnen, daß Kantdiese Dinge gelehrt hat. Aber es gibt eine viel ernstere Frage als die,was er gelehrt habe: die Frage, welche Einsichten in seiner Lehre stecken.Und es ist sehr wohl möglich, daß gerade erst nach dem Abbau desidealistischen Systembildes die Einsichten als solche greifbar werden1.

Man kommt so auf eine Scheidung des Geschichtlichen und des Über-geschichtlichen in der Kantischen Philosophie hinaus. Die Anfänge derKritik der reinen Vernunft stehen in erstaunlicher Unabhängigkeit vomIdealismus da. Der Phänomenaufweis der synthetischen Urteile a prioriin den Wissenschaften ist nicht zu widerlegen, die Frage nach ihrerMöglichkeit nicht abzuweisen. Ob Kant sie zureichend beantwortet habe,ist eine andere Frage; aber sie ändert nichts mehr am philosophischenWert der Ausgangsposition. Fast auf derselben Linie hält sich die Er-örterung von Raum und Zeit, sowohl die „metaphysische" als die „trans-zendentale". Auch daß der reine Anschauungscharakter von Raum undZeit aus ihr folgt, besteht unabhängig von idealistischen Voraussetzungenzu recht; hier freilich meint Kant mehr erschließen zu können, nämlichdaß sie „nur" Anschauungsformen sind. Das folgt aber keineswegs —weder daraus, daß Raum und Zeit keine Begriffe sind, noch daraus, daßsie Bedingungen der Erscheinung sind, noch auch daraus, daß auf ihnendie Apodiktizität mathematischer Urteile beruht. Deswegen könntensie sehr wohl „auch" etwas an den Gegenständen selbst sein, wie diese„an sich sind". Charakteristischerweise nun trifft gerade dieser nicht„folgende" Punkt eine ausgesprochen idealistische These. Hier scheiden,

1 Die Nachweise zum Folgenden sind enthalten in meiner Schrift „Diesseitevon Idealismus und Realismus", Sonderdruck der Kantstudien, Berlin 1924, indiesem Bande S. 278.

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sich also ganz zwanglos Problemkonsequenz und Systemkonsequenz,Einsicht und Fehlschluß.

Sie scheiden sich genau so in anderen Punkten. Innerlich ganz ohneBeziehung zum Standpunkt steht der Gedanke da, daß Erkenntnis aufdem Ineinandergreifen von Anschauung und Denken beruht. Dasselbegilt vom Restriktionsgesetz am Schluß der transzendentalen Deduktion;aber wenn daraus geschlossen wird, daß nur Erscheinung erkennbar ist,nicht Dinge an sich, so ist dabei stillschweigend vorausgesetzt, daß Er-scheinung gar nicht Erscheinung eines an sich Bestehenden zu seinbrauche, also Schein sei. Was Kants Meinung erwiesenermaßen nicht ist.Der Idealismus ist es, der den Widerspruch hineinträgt.

Wie wenig Kant seine eigenen tiefsten Einsichten auszuwerten gewußthat, zeigt am deutlichsten das Schicksal des Problems der „objektivenGültigkeit" der Kategorien in seinem Hauptwerk. Die „Deduktion"der ersten Ausgabe löste es nicht, sie gab nur den Stufengang der Syn-thesen, ohne deren „Gültigkeit" auch nur zu diskutieren. Kant merktees zu spät, erst die zweite Ausgabe bringt die Aufrollung des Problems.Aber die vorgeschlagene „Lösung" ist — allem Tiefsinn der Unter-suchung zum Trotz — auch hier keine Antwort auf die Frage. Sie kommtüber eine inhaltliche Grenzziehung nicht hinaus. Dagegen steht einigeKapitel später die fertige Lösung in aller Klarheit da, formuliert als„oberster Grundsatz aller synthetischen Urteile". Sie hat die Formeiner Identitätsthese und fordert als Bedingung objektiver Gültigkeitnichts, als daß die Prinzipien der Erfahrung „zugleich" die der Gegen-stände sein müssen. Das Interessanteste daran aber ist, daß dieseLösung mit dem komplizierten Gerüst des transzendentalen Idealismusnicht das geringste zu tun hat, ja daß sie der ungeheueren — und ver-geblichen — Zurüstung jener „Deduktion" geradezu Hohn spricht1.

Genau so ist es überall bei Kant, wo geniale Einsichten sich durch-ringen. Und deren gibt es viele. So steckt in der Idee des „transzenden-talen Gegenstandes" ein großzügiger Ansatz zur Überwindung derKluft zwischen Ding an sich und Erscheinung; der empirische Gegen-stand zeigt sich hier als erkennbarer Ausschnitt aus einer Totalität, die wirnicht kennen. Auch das durchbricht den Idealismus. — Schärfer nochprägt sich das gleiche Verhältnis an der Lösung der Kausalantinomie aus.Kant setzte hier den transzendentalen Idealismus als Schlüssel ein: was„als Erscheinung" kausal gebunden ist, kann als das, was es „an sich"ist, sehr wohl frei sein. Es bedarf nur dieser Doppelnatur. Es entging ihm,daß die Doppelnatur ja auch ebensogut eine andere sein konnte als dievon An-sich undErscheinung. Die Zentralstellung des Begriffs der, ,Freiheitim positiven Verstande "belehrt darüber aufs eindeutigste. Die Lösung, dieer fand, war so tatsächlich keine idealistische; er hat ihre Tragweite durchdie Einzwängung in das einmal gewonnene Systembild nur verdunkelt.

1 Vgl. hierzu „Metaphysik der Erkenntnis", 4. Aufl., Berlin 1949, Kap. 46und 47.

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So gibt es bei Kant noch eine lange Reihe bahnbrechender Einsichten,von denen sich jedesmal eindeutig zeigen läßt, daß sie dem proklamiertenIdealismus eher widerstreiten als entsprechen, jedenfalls aber unab-hängig von ihm dastehen. Dahin gehört die Aufdeckung des Verhält-nisses von Sittengesetz und Freiheit, die Analyse des Schönen, die Kritikder Teleologie in den biologischen Wissenschaften, die dynamischeGrundlegung der Naturphilosophie, ein Teil der (allzu kurz geratenen)Thesen zur Geschichtsidee und manches andere1.

Hält man diese Dinge zusammen, so ergeben sich die Grundlinieneines Gesamtbildes der Kantischen Philosophie, das von dem der Lehr-bücher sehr wesentlich abweicht. Es stellt den Versuch dar, den blei-benden Erkenntnisertrag von Kants Arbeit an den großen Grund-problemen der Philosophie, abgelöst von den Vorurteilen seiner Zeitund seinen eigenen metaphysischen Neigungen, zusammenzufassen;und es dürfte kein Zufall sein, daß die Einzelzüge dieses Bildes sich auchohne das Bindewerk des idealistischen Systems sehr wohl zur Einheit

1 Es ist selbstverständlich, daß die hier gebrachten Andeutungen nicht ge-nügen, um das Gesagte einleuchtend zu machen. Man müßte sie dazu Punkt fürPunkt auf ihre Bewährung in der Geschichte selbst hin durchdiskutieren (für daszur Kausalantinomie Gesagte kann ich hier noch auf die Durchführung in meiner„Ethik", 3. Aufl., Berlin 1949, Kap. 68—71, verweisen); das könnte nur ineinem Kantwerk geschehen, das sich die oben umrissene Aufgabe wirklich stellte.Daß unsere Zeit eines solchen dringend bedarf, ist allerdings meine Meinung. DieKantforschung der letzten Jahrzehnte aber ist weit entfernt, dieser Aufgabe ent-gegenzukommen. Sie hat den umgekehrten Weg beschritten, hat gesucht, die„metaphysischen Hintergründe" im Denken Kants herauszuarbeiten und seinePhilosophie dadurch nur noch mehr auf zeitbedingte Lehrmeinung hinausge-spielt; ja man darf sich fragen, ob nicht diese „Hintergründe" noch eher alsbloße „Vordergründe" — sei es traditioneller, sei es gar populärphilosophischerArt — zu gelten haben, gegen die sich erst der wirkliche Tief sinn jener Ein-eichten im Denken Kants durchsetzen mußte. Man darf den geistesgeschicht-lichen Wert solcher Arbeiten deswegen nicht herabsetzen. Aber das Desiderateiner Erfassung dessen, was wir aus Kant zu lernen haben, erfüllen sie nicht. Eskann natürlich nicht ausbleiben, daß die Historiker alter Schule gegen jeden Ver-such, ein solches Desiderat zu erfüllen, den alten Einwand vorbringen werden,Kant habe so etwas nicht gelehrt, gemeint, gewollt. Dieser Einwand ist, wörtlichgenommen, im Recht; nur ist er kein Einwand. Daß der Historiker auch nachetwas anderem fragen kann, als was Kant „gelehrt oder gemeint" habe, darandenkt man eben gar nicht; noch weniger hat man es im Gefühl, daß ein philoso-phisches Interesse an Kant sogar notwendig anders fragen muß. Dagegen erinnertman sich jederzeit leicht, wie die Neukantianer ein Kantbild konstruierten, beidem auch nicht nach der „Meinung" Kants gefragt wurde, und man meint, sowerde es nun wieder gehen. Soweit aber vertieft man sich nicht in die Sachlage,um zu begreifen, daß es dort um zuvor entworfene und bewußt supponierteSystemkonzeptionen ging, die weder mit Kants „Meinung" noch seinen „Ein-sichten" etwas zu tun hatten, während es hier um ein aufweisendes Aufsammelnvon Errungenschaften geht, deren Systemzusammenhang dabei gar keine Bollespielt.

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ineinanderfügen. Es ist vielleicht sogar die bessere Einheit, wenn schonnicht eine so umfassende. Doch würde es verfehlt sein, den Wert jenerEinsichten von ihr abhängig zu machen. Einsichten als solche stehenvon vornherein unter dem Aspekt eines anderen Zusammenschlusses;Maßstäbe und Grenzen des letzteren liegen nicht in der Gedankenwelteines einzelnen Denkers, sondern im Fortgange der Erkenntnis überihn hinaus. —

Ein zweites Beispiel ist Hegel. Hier sollte man meinen, daß sich schondurch das dramatische Schicksal der Hegeischen Philosophie die Schei-dung von Erkenntnis und Spekulation aufdrängen müßte. Einen Augen-blick konnte es auch so aussehen, als vor drei Jahrzehnten das Interessean Hegel sich wieder zu regen begann; gar zu einleuchtend war es dochgeworden, daß seine Naturphilosophie von vornherein ein Fehlschlag,sein teleologischer Vernunftoptimismus ein frommes Traumbild war.Aber der Fortgang der Hegelrenaissance hat einen anderen Lauf ge-nommen. Statt nach dem Bleibenden zu fragen, das hier überall mittenzwischen den spekulativen Irrtümern steht, verstrickte man sich aufsneue in die dialektischen Fäden des Systems; man stritt sich um „Systemund Methode", als wäre beides um seiner selbst willen da. Man tat, alswäre dieses System nie gefallen, diese Dialektik nie ihres Formalismus,dieser Vernunftdogmatismus nie seiner Wirklichkeitsferne überführtworden. Man schlug die Erfahrungen eines Jahrhunderts in den Wind,vermengte wieder, was längst begonnen hatte sich zu scheiden, Le-bendiges und Totes im Hegeischen Gedankengut, suchte das großeKartenhaus wieder aufzubauen und sich darin einzurichten. Es sindForscher großen Namens, die sich an diesem Spiel beteiligt haben.

Man könnte nun dazu sagen: habeant sibi, das Spiel schädigt janiemand. Aber ist das ganz wahr ? Gibt es denn nicht große Einsichten,die Hegel hatte, und die es wirklich wiederzugewinnen gilt 1 Und kannman sie denn wiedergewinnen, ohne sie aus den Trümmern des Systems,dem Schlinggewächs der Dialektik, herauszulösen 1

Schon das wenige, was die Philosophie unserer Zeit davon wieder-gewonnen und einigermaßen klargestellt hat, ist von so überragenderGröße, daß es verwunderlich bleibt, wie man bei Einzelheiten stehen-bleiben konnte, wie man aus dem Herauslösen nicht eine grundsätzlicheAufgabe machte und sie um ihrer selbst willen in Angriff nahm. DieWahrheit aber ist, daß diese Aufgabe auch denen, die wirklich mit ge-nialem Zugriff unverlierbare Einsichten Hegels ans Licht zogen, garnicht als Aufgabe bewußt wurde. Der Zugriff gelang dem systematischenDenken; das historische hinkte weit nach und läßt noch heute auf sichwarten.

Es handelt sich hier in erster Linie um eine Reihe von Einsichten, dasWesen und den Aufbau der geistigen Welt betreffend, die sich schonlängst als fruchtbar erwiesen und mannigfacher Kritik standgehaltenhaben — von Einsichten also, deren Unabhängigkeit von der Hegel-schen Systematik sich bereits eindeutig herausgestellt hat, von der Ge-

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Schichtsschreibung aber noch keineswegs erfaßt, noch viel weniger alsozur Geltung gebracht worden iat. Die „Phänomenologie", die „Bechts-philosophie", sowie die Vorlesungszyklen sind übervoll von solchenEinsichten. Was sie verdunkelt, ist aber bis heute noch die Vordring-lichkeit ihres Eingefügtseins in das System. Die Zentralstellung unterihnen dürfte der Gedanke des „objektiven Geistes" einnehmen. Es liegtihm die Aufdeckung eines Grundphänomens alles geistigen Lebens zu-grunde, das Hegel erstmalig beschrieben hat, das er aber durch meta-physische Auslegung im Sinne seines Vernunftidealismus selbst wiederzweideutig gemacht hat. Bis heute hängt dem Begriff des objektivenGeistes die verwirrende Vorstellung einer allgemeinen geistigen „Sub-stanz" an und hat die Aufhellung der Phänomene des geschichtlichenGeistes, die Hegel in großem Stile begann, ernstlich behindert. Und bisheute hat jeder ernsthafte Versuch, die Sachlage zu klären und die Ent-deckung Hegels auszuwerten, an dieser metaphysischen Belastung zutragen. Dabei tritt schon in Hegels eigener Arbeitsweise die Unabhängig-keit des Geschauten und konkret Aufgewiesenen von der spekulativenEinkleidung deutlich zutage; ja, sie meldet sich schon beim unbe-fangenen Lesen — etwa der „Phänomenologie" — im spontanen Ein-springen des Gedankens auf die anschaulich geschilderten Einzelheiten,während deren Verbindung zum metaphysischen Ganzen auf die Ab-wehr des nüchternen Denkens stößt. Hier hat der Historiker noch einweites Arbeitsfeld für echtes philosophisches Wiedererkennen des Er-kannten1.

Eine ähnliche, aber weit schwierigere Aufgabe stellt die HegeischeDialektik dar. Sie ist bei Hegel kein Thema neben anderen Themen, siedurchzieht vielmehr als Methode das Ganze und läßt sich deswegenschwer anders betrachten als im Zusammenhange dieses Ganzen.Dennoch liegt das Problem zutage, das sie dem Epigonen aufgibt:einerseits kann es keinem Zweifel unterliegen, daß Hegel mit ihr er-staunliche Einblicke in schwer zugängliche Gegenstandsgebiete getanhat, die sich als bahnbrechend bewährt haben; andererseits hat er mit ihrden konstruktiven Aufbau des Systems durchgeführt, das als solchesganz zuerst gefallen ist. Dem entspricht die Doppelsinnigkeit ihresWesens; sie tritt einerseits als Bewegung des Gedankens, andererseits

1 Als Beleg für die Gangbarkeit eines solchen Weges kann ich hier wiederumnur meine eigenen Versuche anführen: „Die Philosophie des deutschen Idea-lismus", Bd. II, Hegel, Berlin 1929, 4. Abschn., 2. Kap., „Begriff und Theoriedesobjektiven Geistes", insonderheit S. 299—303; sowie „Das Problem des geistigenSeins", 2. Aufl., Berlin 1949, II. Teil „Der objektive Geist", insonderheit Kap. 18,„Stellungnahme zu den Hegeischen Thesen". — Zum folgenden Absatz, dieDialektik betreffend, vgl. aus dem erstgenannten Werk den III. Abschnitt,Kap. 2 „Sinn und Problem der Dialektik" und Kap. 3 „Das formale Gesetz derDialektik"; desgl. „Hegel und das Problem der Bealdialektik", Blätter fürdeutsche Philosophie, 1935, Heft l, in diesem Bande S. 323; sowie daselbst denAufsatz von W. Sesemann „Zum Problem der Dialektik".

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als Bewegung des Gegenstandes auf. An dem letzteren Anspruch hängtdie Schwierigkeit in ihr. Woran liegt es, wenn sie das eine Mal Ver-borgenes offenbar macht, das andere Mal fragwürdige Konstruktionenaufrichtet ? Es liegt auf der Hand, daß es auch hier zu unterscheidengilt: ein Leitfaden echter Erkenntnis und ein Element spekulativer Ver-führung überkreuzen sich in der Dialektik. Hegel hat sie so wenig unter-schieden, wie er geschautes Phänomen und Substanzmetaphysik imobjektiven Geiste unterschieden hat. Die Hegelianer alter und neuerSchule haben die Verwirrung nur noch schlimmer gemacht. Das hat siegehindert, das Hegeische Gedankengut auszuwerten. Hier aber ist derPunkt, an dem es einer noch ausstehenden Klärung bedarf, um Le-bendiges und Totes im Erbe Hegels zu scheiden. —

Leichter wird die Scheidung, wo die Denker in größerer geschicht-licher Distanz zu uns dastehen, wo mannigfache Kritik, Auswertung,Verkennung und Wiedergewinnung über ihre Gedankenwelt hingegangenist. Als Beispiele dafür können die Klassiker der Antike, Platon undAristoteles, dienen.

Es wird heute schwerlich mehr jemand die Platonischen Unsterblich-keitsbeweise ernst nehmen, von einer Staatsutopie das Heil der Menschenerwarten, oder auch nur ein Ideenreich neben die reale Welt stellen.Längst hat sich von diesen und ähnlichen „Hauptlehren" Platons einengerer Kreis von Gedanken herausgelöst, die sich als Einsichten be-währt haben und bleibendes Gut der Philosophie geworden sind. Vondieser Art ist die Begründung der Ethik durch ideelle Maßstäbe vonGut und Böse, die der privaten Meinung überhoben sind, die Lehre vonder Einheit des Bewußtseins ( ) hinter der Vielheit der Wahr-nehmungen (im „Theaitetos"), die scharfe Unterscheidung des Wissensvon der Meinung und die erstmalige Schaffung eines tragfähigen Wissen-schaftsbegriffs. Wichtiger aber noch als diese Errungenschaften dürftedie Entdeckung des Apriorischen in der Erkenntnis sein, zumal wennman hinzunimmt, daß Platon sich hier nicht auf den Nachweis der Tat-sache beschränkte, sondern in wiederholten Ansätzen eine sehr genaueBeschreibung des einschlägigen Verfahrens der Wissenschaft sowiedie Grundzüge einer erkenntnistheoretischen Begründung des Aprioris-mus gegeben hat1.

Das sind nur Einzelheiten. Die Fülle der Einsichten, die wir Platonverdanken, ist nicht leicht zu erschöpfen. Vielleicht liegen die bedeu-tendsten gerade dort, wo dem Interpreten die größten Schwierigkeitenerwachsen (etwa im Dialog „Parmenides" mit seiner tiefsinnigen Seins-dialektik) ; von diesen ungehobenen Schätzen läßt sich einstweilen nicht

1 Die Beschreibung des Verfahrens erblicke ich in der Lehre von der ,wie sie im Menon, Phaidon und im 6. Buch der Republik vorliegt. Die theore-tische Begründung des Apriorismus erfordert einen ausführlicheren Nachweis; ichhabe einen solchen in meinem vorjährigen Bericht an dieser Stelle zu geben ver-sucht: „Das Problem des Apriorismus in der Platonischen Philosophie", Sit-aungsber. d. Preuß. Akad., phil.-hist. Klasse, 1935, XV, in diesem Bande S. 48.

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reden. Aber die gebrachten Beispiele genügen, um an ihnen einzusehen,daß das bleibende und philosophisch fortwirkende Erkenntnisgut Platonsnicht identisch ist mit dem spekulativen Zweiweltensystem, das in denGeschichtswerken traditionellerweise als Platonische Philosophie gilt. —

Noch weniger geht bei Aristoteles die Fülle des Erkannten in demSystembilde auf, das sich im Laufe der Zeit bei seinen Interpreten fest-gesetzt hat. Zwar finden sich gerade bei ihm als erstem die klar um-rissenen Grundlinien eines Weltsystems, aber das in seiner Forscher-arbeit Geleistete erschöpfte sich von Anbeginn in diesem System nicht.Es durchbrach dessen Grenzen auf Schritt und Tritt, und es ist ge-schichtlich bestehen geblieben, als jenes nach vielhundertjähriger Herr-schaft zusammenbrach.

Was zusammenbrach, waren gerade die metaphysischen „Haupt-lehren". Die Lehre von den immanenten Zwecken, und mit ihr die ganzeTeleologie des in den Realprozessen der Welt, ist gefallen; derDualismus von Form und Materie hat sich als ein sehr relativer erwiesen;die substantielle Form hat ganz ausgespielt; Potenz und Aktus sindnicht mehr die maßgebenden Modi; die Rückführung der Individualitätauf die Materie scheiterte schon im 13. Jahrhundert; die supponierteIdentität logischer und ontischer Struktur konnte sich länger halten,endgültig ist sie erst der Kantischen Philosophie gewichen.

Aber was will das Überwundensein von „Hauptlehren" metaphysischerArt nach so wechselvollem Wandel im Stand der Wissenschaften be-deuten gegen die reifen Früchte an erstmaligen Einsichten, wie semeWerke sie heute noch dem Lernwilligen darbieten! Es wurde schon obenauf die gewaltige aporetische Arbeit des Aristoteles hingewiesen, dieüber alle seine Schriften verstreut ist und in unzähligen Stücken in-haltlich weit über das hinausgeht, was er positiv auch nur zu „lösen"versucht hat. Ich wage zu behaupten, daß dieses große Material bis aufunsere Zeit wenig beachtet dagelegen hat und seiner Auswertung nochwartet. Nicht nur die Historiker, sondern auch wirklich kongenialesystematische Köpfe wie Leibniz und Hegel sind an dieser ungeheuerenFundgrube originärer Denkarbeit vorbeigegangen; auch sie hielten sichzu sehr an das positiv Greifbare der ausgereiften Formulierungen1.

Es ist wohl bekannt, daß die Aristotelische Logik bis auf unsere Zeitunverändert fortbesteht. Es ist wohl manches an ihr erweitert worden,aber das Grundgerüst ist noch dasselbe. Weniger bekannt ist es, daßauch die Wissenschaftstheorie der zweiten Analytik in ihren Grund-zügen bestehen geblieben ist; insonderheit gilt das vom Stufengang derErkenntnis und von der Gewinnung des Allgemeinen. Noch greifbarer

1 Ein schönes Beispiel solcher Problemaufrollung ist die der im Buchder Metaphysik. Sie geht partienweise über den eigenen Potenzbegriff des Aristo-teles weit hinaus, antizipiert manches aus der viel späteren Lehre vom comple-mentum possibilitatis und weist selbst über diese hinweg auf einen rein modalon-tologischen Möglichkeitsbegriff voraus, der heute noch philosophisch unfertig ist.

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vielleicht ist — zumal in der Neuzeit — der bleibende Wert der Lehrevom „für uns" und „an sich" Früheren. Bedenkt man, daß der Gedankedes Gegensatzes von. ratio cognoscendi und essendi auf ihr beruht, sosieht man, wie hier auch das Systemschema der logisch-ontologischenIdentität durchbrochen ist.

Von größerem Gewicht als diese Dinge, aber bis heute unausgewertet,dürfte seine Fassung des ontologischen Grundproblems sein. Die Fragenach dem ov fj öv ist zwar im Mittelalter formal festgehalten, zugleichaber durch die Entwertung der realen Welt zugunsten einer Sphärereiner Wesenheiten ihres Gewichts beraubt worden; die Neuzeit aberhat sie unter dem Hochdruck der erkenntnistheoretischen Problematikmit dem Gegenstandsproblem verwürfelt. Das hat sich bei ChristianWolf gerächt, denn das Sein geht im Gegenstandsein nicht auf. DieAristotelische Fassung des Problems ist die allein zureichende undwirklich ontologische. Sie allein trifft das Seiende nicht als Gegenstand,— auch nicht als essentia oder als existentia —, sondern „als Seiendes".Das Schicksal der heutigen Versuche, den Boden ontologischen Denkenswiederzugewinnen, hängt wesentlich davon ab, wie weit sie es zuwegebringen, die Aristotelische Ausgangsfrage zu treffen und auf den er-weiterten Umkreis heutiger Probleme auszudehnen.

Und wie im Großen so im Kleinen. Eine bleibende Errungenschaftwar die Unterscheidung der zweierlei Unendlichkeit und ihre Anwen-dung — z. B. auf die Paradoxien des Zenon. Ein genialer Griff war inder Nikomachischen Ethik die Fassung der Tugend als ; es liegtdarin der Gedanke einer Wertsynthese, insofern die sittlich wertvolleHaltung stets zweien „Schlechtigkeiten" gegenüber steht, also auchihnen entsprechend je zweien Arten des Gutsems zugleich genügenmuß1. Eine sehr bedeutende Einsicht dürfte auch die Schrift „Über dieSeele" in ihrer Analyse des Verhältnisses der drei Stufen oder Funktionender enthalten. Diese Stufenordnung ist die erste genau durch-geführte Schichtungstheorie, die wir besitzen; sie weist auch bereitsdie beiden Grundgesetze ontischer Schichtung auf: das der Abhängig-keit der höheren Schicht von der niederen und das der Autonomie(Selbständigkeit) der höheren in ihrer Abhängigkeit. Sieht man genauerzu, so lassen sich über die philosophischen Schriften des Aristoteles hinverstreut sogar die Spuren einer Ausdehnung dieses Schichtungsprinzipsauf die ganze reale Welt aufweisen, vom aufwärts bishinauf zum reinen .

Diese wenigen Hinweise mögen genügen. Die wirkliche Fülle des vonAristoteles Errungenen ist nicht leicht erschöpfbar. Die Sehweise der

1 Zur Begründung dieses Verhältnisse vgl. meine „Ethik", Berlin 1935(2. Aufl.), Kap. 61 c—f. Für die ethischen Tugenden lassen sich durchweg diebeiden Wertkomponenten aus dem Gegensatz zu den herausanalysieren. —Im übrigen vgl. zum Vorhergehenden „Aristoteles und Hegel", 2. Aufl. Erfurt1933, in diesem Bande S. 214.

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Scholastik hat sich für Jahrhunderte verschleiernd darübergelegt. Sieist bis heute nicht endgültig behoben. So stehen wir in diesem eigen-artigen Verhältnis zu Aristoteles, daß sein Erkenntnisgut erst langsamfür uns wiederersteht, und fast jede systematisch bahnbrechende Ein-sicht uns auch ihn historisch mit neuen Augen sehen lehrt. Denn ge-schichtlich wiedererkennen können wir auch an ihm nur, wofür unssystematisch die Augen aufgegangen sind. —

Die Reihe der Beispiele läßt sich beliebig erweitern. Vielleicht gibtes keinen Denker der Geschichte, an dem nicht wertvolles Erkenntnisgutwiederzugewinnen wäre, wenn man die spekulativen Hüllen erst einmalabbaut. So haben die Meister der Scholastik im Universalienstreit eineProblematik des Allgemeinen und Individuellen in der Welt entwickelt,die zugleich die des Idealen und Eealen sowie die des Soseins und desDaseins mitumfaßt. Auf ihrer Höhe brach sie ab, der große Streit kamnicht zum Austrag, die aufgerollten Probleme sind liegengeblieben,obgleich sie implicite in fast allen größeren Versuchen der Neuzeit ent-halten sind. Die Historiker haben aus ihr kaum mehr als ein paar Unter-scheidungen, Schlagworte und Ismen in die Gegenwart hineingerettet;sie erkannten die Probleme nicht wieder, um die es ging, sie standen vielzu sehr unter dem Eindruck der Systeme, der metaphysischen, undpopulärtheologischen Fragen, um zu sehen, daß es hier um echte onto-logische Fundamentalprobleme ging. Wie hätten sie das auch sehenkönnen, nachdem der Sinn der ontologischen Frageweise einmal ver-lorengegangen war ?

Im ganzen dürften die weniger tiefsinnigen Denker weit besser weg-gekommen sein. Man kann nicht sagen, daß Locke und Hume nichtgründlich ausgewertet worden wären. Aber schon bei Descartes ist esanders. Die metaphysischen Umwege der „Meditationen" zum Wissenum die reale Welt, die schon in ihrer Zeit nicht, geschweige denn heute,zu überzeugen vermochten, findet man bei allen Darstellern im Vorder-grunde ; die wertvolle Analyse des Problembewußtseins in den „Regulae",die in manchen Stücken unübertroffen geblieben ist, trat dagegenzurück, und nur wenige haben die Errungenschaften in ihr erkannt.Die gnoseologische Bedeutung der Zweisubstanzenlehre, an der dieneuzeitliche Erkenntnisproblematik sich recht eigentlich vertieft hat,ist vollends, wie von ihm selbst, so auch von der Geschichtsschreibung,nicht ausgewertet worden. Aus dem Gedankengut des Arnold Geulingxist fast nur der sog. Occasionalismus ans Licht gezogen worden — dienotorisch schwächste Seite seiner „Metaphysik". Dieser Ismus aberwar nur ein Lösungsversuch; hinter ihm stand die voll ausgereifte, sehrbedeutende Fassung eines Grundproblems, die auf der Entdeckung desHiatus zwischen den Cartesischen Substanzen beruhte. Die Unüber-brückbarkeit dieses Hiatus hatte Geulingx in seinem axioma inconcussaeveritatis unübertrefflich herausformuliert. Aber die Geschichtsschreibunghat das Axiom vergessen, ihr lagen Problemfassungen fern, sie hielt sichan das Affirmative der metaphysischen Konstruktion.

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Solcher Unterlassungen und Verkennungen ist kein Ende abzusehen.Je mehr man sich in sie vertieft, um so mehr sieht man, daß fast überalldie eigentliche Arbeit noch zu leisten ist, um hinter der Geschichte derSysteme erst die Geschichte der philosophischen Erkenntnis freizulegen.

Greift man, wie hier geschehen, nur Einzelheiten heraus, so kann esnicht anders sein, als daß statt eines geschichtlichen Zusammenhangesder Einsichten nur ein fragwürdiges Mosaik herauskommt. Gelingt esaber, die ganze Reihe der Denker in der geforderten Weise zu behandeln,so schließen sich die Errungenschaften zusammen und ergeben ganzvon selbst ein Gesamtbild, dessen Einheitlichkeit sich auch bei allerLückenhaftigkeit nicht wohl verkennen lassen dürfte. Das aber heißt:an ihnen vollzieht sich eben das, was sich an den Systemen und Lehr-meinungen niemals vollziehen kann. Erkenntnisse eben widersprecheneinander nicht; nur wo Irrtum ist, gibt es Widerspruch und Ratlosigkeit.

Das ist dann ein Geschichtsbild der Philosophie, um das sich die Be-mühung in einem ganz anderen Sinne verlohnt als um das bloße Kommenund Gehen der Gedankentatsachen. Ein solches Geschichtsbild ist nichtmehr die Verzweiflung der Lehrenden und Lernenden, es besteht nichtin verwirrender Menge, zeigt kein planloses „Herumtappen", es stellteine einheitliche große Linie dar. Und damit stellt sich an ihm auchjener didaktische Wert her, den man mit Recht im Geschichtsstudiumder Philosophie erwartet.

Vor dieser Perspektive dürfte auch der Einwand verschwinden, esginge ja dann nicht mehr um Geschichte, sondern um Philosophie. Beiallem „Geschehen" eben geht es um etwas, was im Werden ist; in der„Geschichte" der Philosophie ist die Philosophie im Werden. Im Rück-schauen stellt sich Geschichte stets als das Werden eines Gewordenendar. Sofern aber der Historiker selbst mitten im Werdegange steht,muß er ebenso wie jeder Systematiker davon ausgehen, daß hierdurchdie natürliche Richtung philosophischen Denkens vorgezeichnet ist. Esdarf sich also auch für ihn um nichts anderes handeln als um die Philo-sophie — um nichts als um die werdende Einsicht, keineswegs aber umWucherungen der Phantasie, die den Namen der Philosophie nicht ver-dienen.

Blickt man von hier aus zurück, so zeigt diese Geschichtsidee nun-mehr ein merkwürdig einfaches Gesicht — gleich als wären die Schwierig-keiten, durch die sie sich den Weg bahnen mußte, gar nicht die ihrigen.Sie scheinen von ihr abzufallen und einen Weg freizugeben, der sichim Gegensatz zu all jenen Umwegen als der gerade erweist. Was ist dasGeheimnis dieser Einfachheit ?

Es ist kein anderes als das der sachgerechten Methode. Methode istdie Art, einen Gegenstand anzupacken; sachgerecht ist eine Methode,die ihn dort anpackt, wo er seine freiliegenden Angriffsflächen hat. Wer ihnanders anpackt, dem gleitet er zwischen den Fingern durch. Es ist ein Irr-tum zu meinen, man könne dieselbe Sache so oder auch anders in Angriffnehmen; man „kann" freilich, aber man bekommt sie nicht zu fassen.

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48 Das Problem des Apriorismus in der Platonischen Philosophie

Methode, die zur Erkenntnis führen soll, kann nicht willkürlich ge-wählt werden. Sie ist uns durch die Artung des Gegenstandes vorge-zeichnet; man kann sie im eigenen Vorgehen nur entweder treffen oderverfehlen. Und zwar: verfehlen auf vielerlei Art, treffen nur auf eine.Solange man fremdartige Methoden an die Sache heranträgt und mitihnen nicht vom Fleck kommt, sieht die Aufgabe verwirrend kompliziertaus; hat man die sachgerechte Methode getroffen, so erscheint sieeinfach und übersichtlich.

Das gilt auch von derjenigen Erkenntnis, welche die Philosophie ver-gangener Zeiten zu ihrem Gegenstande macht. Auch dieser Gegenstandhat seine sehr bestimmten Angriffsflächen, und auch sie kann man mitder Art des Vorgehens treffen oder verfehlen. Man kann philosophischeErkenntnis nicht auf beliebige Weise wiedererkennen, sondern nur aufeine. Es gibt hier keine anderen Zugänge als die philosophischen Pro-bleme, die unser Suchen und Forschen mit dem vergangener Zeiten ver-binden. Und nur von ihnen aus läßt sich ermessen, wie Spekulationund Einsicht in der Geschichte sich scheiden.

Das ist der Grund, warum ein problemgeschichtlich wiedererkennendesVorgehen — und nicht ein bloß Lehrmeinungen verstehendes — denSchlüssel zu einem Geschichtsbilde der philosophischen Erkenntnis gibt.Es ist die Methode, die sich an das hält, woran Einsichten als solcheallein kenntlich werden können. Darum ist es auch die Methode, mitder allein wir einen einheitlichen Gang des forschenden Vordringens inder Geschichte der Philosophie aufzuweisen vermögen.

Das Problem des Apriorismusin der Platonischen Philosophie

Aus den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der WissenschaftenPhü.-hist. Klasse. 1935. XV

Das Problem des Apriorischen erfuhr durch die Kantische Philosophieeine Prägung, die ihm zwar eine entscheidende Vertiefung, zugleich aberauch eine verhängnisvolle Vereinseitigung brachte. Von einem allge-meinen Element aller menschlichen' Erkenntnis schrumpfte das A priorizu einem solchen der „Urteile" zusammen. An Raum und Zeit blieb nochein Rest des alten Intuitivismus haften; im übrigen ging es nur noch umdie „synthetischen Urteile" in der Wissenschaft und Philosophie, soweitsie nicht empirischen Ursprungs sein konnten.

Den Nachfahren im 19. Jahrhundert war das Problem fast nur nochin dieser Form bekannt. Es machte sich die Tendenz breit, auch allenälteren Apriorismus nach diesem Schema zu verstehen. Es mochte nochhingehen, daß man Descartes oder Leibniz in solchem Sinne umdeutete;

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